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Manchmal haben wir so intensive Gefühle, dass wir davon regelrecht überrollt werden und sie ohnmächtig über uns ergehen lassen. Wir sind nervös und fahrig, wenn ein kühler Kopf gefragt wäre, oder reagieren übertrieben wütend bei einer unbedachten Äußerung unseres Gegenübers. In wieder anderen Situationen erstarren wir, lassen uns zu viel gefallen, lassen es zu, dass unsere Grenzen übertreten werden, stehen nicht zu unserer Meinung. Solche Reaktionen sind ein Hinweis darauf, dass sich das autonome Nervensystem in einem dysregulierten Zustand befindet. Der Zustand unseres Nervensystems spielt eine essentielle Rolle für unsere körperliche und geistige Gesundheit, die Qualität all unserer Beziehungen, dabei, ob wir unsere Ziele erreichen, ob wir glücklich und erfolgreich sind. Jeannine Mik zeigt in ihrem Buch, wie es uns gelingt, uns nicht mehr von unseren starken Gefühlen überwältigen zu lassen, Sicherheit in uns selbst zu finden und bei uns zu bleiben, wenn das Drama uns entgegengrinst und uns zu sich ziehen will. Mit einfachen Werkzeugen und Übungen, basierend auf den Erkenntnissen der Polyvagaltheorie und körpertherapeutischen Ansätzen wie Somatic Experiencing (SE)® lernen wir, starke Emotionen, Stress und Überwältigung besser zu regulieren. LeserInnen begeben sich in "Du bist viel mehr als deine Gefühle" auf eine Reise in ihr Nervensystem und in ihren Körper: hin zu innerer Ruhe, Sicherheit und Verbindung. Sie erfahren, warum sie sich fühlen, wie sie sich fühlen und auch, wie sie selbst starke und unangenehme Emotionen auf ihrem Weg zu mehr Wohlbefinden als hilfreiche Wegweiser für sich nutzen können.
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2025
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eBook: © 2025 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Grillparzerstraße 12, 81675 München
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ISBN 978-3-8338-9728-3
1. Auflage 2025
GuU 8-9728 04_2025_01
DIE BÜCHERMENSCHEN HINTER DIESEM PROJEKT
Verlagsleitung: Eva Dotterweich
Lektorat: Pascal Frank
Covergestaltung: GROOTHUIS. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH
eBook-Herstellung: Evelynn Ruckdäschel
BILDNACHWEIS
Coverabbildung: anni’s. art fotografie
Illustrationen: anni’s. art fotografie
Fotos: anni’s. art fotografie; iStockphoto
Syndication: Bildagentur Image Professionals GmbH, Tumblingerstr. 32, 80337 München, www.imageprofessionals.com
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WARUM UNS DAS BUCH BEGEISTERT
Schluss mit all der Überforderung, Ohnmacht und den schlechten Gefühlen? Mit Jeannines Buch lernen wir endlich in uns selbst Sicherheit zu finden.
Eva Dotterweich, Verlagsleitung
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
wie wunderbar, dass du dich für ein Buch von GU entschieden hast! In unserem Verlag dreht sich alles darum, dir mit gutem Rat dein Leben schöner, erfüllter und einfacher zu machen. Unsere Autorinnen und Autoren sind echte Expertinnen und Experten auf ihren Gebieten, die ihr Wissen mit viel Leidenschaft mit dir teilen. Und unsere erfahrenen Redakteurinnen und Redakteure stecken viel Liebe und Sorgfalt in jedes Buch, um dir ein Leseerlebnis zu bieten, das wirklich besonders ist. Qualität steht bei uns schon seit jeher an erster Stelle – jedes Buch ist von Büchermenschen für Buchbegeisterte gemacht, mit dem Ziel, dein neues Lieblingsbuch zu werden. Deine Meinung ist uns wichtig, und wir freuen uns sehr über dein Feedback und deine Empfehlungen – sei es im Freundeskreis oder online. Viel Spaß beim Lesen und Entdecken!
Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung des Verfassers dar. Sie wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbstverantwortlich. Weder Autoren noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.
ZUR AUTORIN
JEANNINE MIK begleitet Menschen, die bewusster leben wollen, als holistisch-somatische Trainerin. Ihre leicht erlernbaren Körperübungen, klugen Selfcare-Impulse und Tools aus der Traumatherapie führen raus aus der Ohnmachtsspirale, direkt rein in die emotionale Sicherheit. Jeannine zeigt in ihrem Buch eindrucksvoll, wie wir unsere seelische und körperliche Gesundheit selbst in die Hand nehmen können und endlich nachhaltig die Veränderungen einladen, nach denen wir uns sehnen. Damit es uns jeden Tag besser gehen kann.
Besuche Jeannine Mik auf:
• … in kritischen Situationen souverän bleibst.
• ... endlich chronischen Stress und Erschöpfung überwindest.
• ... frühe Traumata integrierst.
• ... gesunde Grenzen setzt – auch in engen Beziehungen.
• ... aus Burn-out und Überforderung herausfindest.
• ... mit Selbstvertrauen und ohne Angstzustände durchs Leben gehst.
• ... Vertrauen in deinen Körper findest.
• ... notwendige, herausfordernde Gespräche endlich führst.
• ... chronische Symptome wie Migräne, Tinnitus oder Verspannungen löst.
• ... einen Weg heraus aus Panikattacken und Depressionen findest.
»Du bist nicht kaputt.
Du wirst nicht verrückt.
Du fühlst nicht falsch.
Du ergibst Sinn. Alles an dir. Immer.
Eine einfache, wohltuende und sofort spürbare Übung ist das Abklopfen. Der große Vorteil: Du kannst sie individuell anpassen. Balle deine Hände zu Fäusten, forme kleine »Schüsseln« oder lasse sie flach – je nachdem, was sich für dich gut anfühlt.
Dann klopfe sanft deinen gesamten Körper ab. Beginne bei der Brust, ähnlich einem Gorilla, und arbeite dich über Rippen, Bauch, Rücken, Po, Beine und Füße nach unten. Dann klopfe wieder nach oben, nimm die Arme, Schultern, den Nacken und behutsam auch das Gesicht und den Kopf mit.
Vielleicht möchtest du anschließend einige Stellen reiben, etwa das Gesicht. Probiere es aus und spüre, wie du dich danach fühlst. Passe die Intensität an deine Bedürfnisse an: Bei viel Energie klopfe fester, bei Müdigkeit sanfter.
Jedes Nervensystem ist formbar und veränderlich. Jedes. Auch deines. Hier gibt es keine Ausnahmen.
Genau wie auch unser Gehirn die Fähigkeit besitzt, neu zu lernen, können wir auch neue Regulationshighways in unseren Nervenbahnen etablieren.
Egal wie lange und wie oft unser Nervensystem in einer Dysregulation war, es möchte in die Regulation kommen. Auch wenn es zunächst nicht oder mit Widerstand reagiert. Es fragt einfach: Ist das wirklich sicher? Wir müssen ihm nur den Weg zeigen.
Das tun wir, indem wir uns immer wieder bewusst Zeit nehmen für Momente der Regulation. Und zwar dann, wenn wir uns gerade sicher fühlen.
So erschaffen wir neue neuronale Netzwerke.
Geh für deinen exklusiven Zusatzcontent auf >. Dort findest du den QR-Code, unter dem du Mini-Übungstutorials und Begleitmaterial zum Download findest.
Für E. und A.,meine zwei größten Lehrmeisterinnen
Du bist nicht kaputt.
Du wirst nicht verrückt.
Du fühlst nicht falsch.
Du ergibst Sinn. Alles an dir. Immer.
Du machst diese intensiven, unangenehmen und mitunter auch lebenseinschränkenden Erfahrungen auch nicht, weil du »dich nicht genug anstrengst«. Du verfügst ganz einfach noch nicht über die richtigen Werkzeuge, um das, was in deinem Inneren geschieht, zu verändern.
Du fühlst jede Menge. Zu viel, manchmal. Du denkst auch viel. Und bist oft gestresst. Ich verstehe das so gut. Weil ich auch »so« bin: Da ist so viel, es ist so laut und mal zu leise. Da ist die niemals enden wollende Liste an »To-dos« und daneben eine voller »Must-bes«, die wir und die Welt uns auferlegen. Da sind Schablonen, in die wir passen müssen, und Termine, die einzuhalten sind. Da sind Bedürfnisse, die erfüllt werden wollen – für die meisten von uns nicht nur unsere eigenen.
Wir versuchen, uns abzugrenzen. Und hinterfragen alles. Immer dieses Überlegen, Zerdenken, Achtsamsein: Tausende Gedanken, die entweder Karussell fahren oder wie Duracell-Häschen ständig im Kopf lärmen. So vieles haben wir schon erlebt – wann kommt endlich diese Abhärtung, von der alle sprechen? »Du musst härter werden, die Welt ist hart!«
Es ist so unsagbar anstrengend. Schnell eine Stunde Yoga, irgendwie zwischendrin hineingepresst. Was entspannen soll, stresst zusätzlich. Wieso schaffen die anderen immer alles? Da sind Fremdbestimmung, Leistungsdruck, offene Rechnungen. Und irgendwo auch noch der Wunsch, sich selbst nicht zu verlieren unter der Last des Alltags in einer komplett überreizten Welt, der wir an manchen Tagen gefühlt dabei zusehen können, wie sie sich zerstört. Und wir sind immer in der Mitte. Wir, die wir Beziehungen gestalten wollen und uns selbst erleben möchten: Abenteuer, Gesundheit, Lebendigkeit, Genuss, Freude, Lachen, Liebe, Ruhe … endlich mal Ruhe. Aber die gute Art von Ruhe. Durchatmen. Weite und gleichzeitig Geborgensein. Ein Fallenlassen, bei dem wir wissen, dass wir aufgefangen werden. Ein Loslassen ohne Gefahr. Leichtigkeit. Präsenz. Liebe ohne Angst.
Lass uns einmal durchatmen, wenn du möchtest. Diese Zeilen, die du eben gelesen hast, zu tippen und den gefühlten »Dauerlauf« zu beschreiben, berührt mich. Ich nehme mir einen Moment, dies zu spüren. Das Gefühl sitzt in meiner Brust. Ich fühle, wie Tränen in meine Augen steigen. Aber nur kurz. Sie versiegen, bevor eine über meine Wange laufen kann. Ich höre Musik von Norah Jones aus dem Lautsprecher neben mir. Die Luft ist kühl. Herbst. Ich fühle den Stoff des weichen Pullovers an meiner Haut, den ich vor Jahren in Orlando gekauft habe. Das war ein schöner Tag. Ich nehme den Holzboden unter meinen Füßen wahr. Sie sind kalt. Wo bist du gerade, was ist um dich herum, und was nimmst du wahr? Ich sehe mich in meiner Küche um, atme einmal tief ein und seufze. Und dann ist es wieder in Ordnung. Ich bin hier.
Das allermeiste zum bewussten Umgang mit Gefühlen, was ich heute weiß, musste ich mir als Erwachsene selbst aneignen. Vielleicht geht es dir ja ähnlich. Zeit meines Großwerdens wusste ich nur, dass ich etwas spüre. Oft. Oft auch sehr viel. Aber was dann? Was mit den Gefühlen tun? Das wusste ich nicht. Außer, dass Tränen kamen, wenn ich traurig war, und auch, wenn mich etwas ärgerte und ich mich machtlos fühlte, etwas daran zu ändern.
Dass ich angeblich zu sensibel sei, das wusste ich auch: »Was ist eigentlich mein Problem? Warum fühle ich so intensiv, warum bin ich so empfindlich und warum kann ich nicht einfach normal sein?« Ich erinnere mich an Ängste, für die ich keine Strategien hatte. Viel Angst, Liebe, Freude und Sorge. Und Wut. Eine unbändige Wut, die ich mich oft nicht zu zeigen traute. Wenn ich sie mal zeigte, kamen als Antwort darauf manchmal Verständnis, manchmal noch mehr Wut und manchmal Enttäuschung. Die starken Emotionen, die schier überwältigende Menge an Gedanken, meine oftmals unangenehmen Körperempfindungen und auch immer wiederkehrende, frustrierende Verhaltensweisen stellten mich oft vor ein Rätsel. »Warum kann es nicht leichter sein?« Es gab Momente, da habe ich Abneigung und Ekel weggedrückt. Weil der Preis, sie auszudrücken, zu hoch gewesen wäre. Es gibt so viele Gefühle, die zu zeigen sich nicht »ziemt«. Gerade für Kinder. Und insbesondere für junge, weiblich sozialisierte Menschen: »Mädchen«.
Welche Erfahrungen hast du selbst gemacht? Weißt du noch, welchen Raum deine Gefühle bekommen haben, als du klein warst? Wie haben deine Bezugspersonen reagiert, wenn ganz viel in deinem Inneren los war? Wenn du wütend warst, traurig, dich geschämt hast? Die längste Zeit meines bisherigen Lebens hatten mich meine Gefühle im Griff, nicht umgekehrt. Daran, selbst das Lenkrad meines Erlebens in die Hand zu nehmen und auch dann zu behalten, wenn es drunter und drüber geht, arbeite ich bis heute.
Vieles konnte ich bereits bewegen. Ich habe jede Menge dazugelernt und tue es weiterhin jeden Tag. Was für mich persönlich und auch für meine Klientinnen und Klienten nach vielem Ausprobieren, Suchen und Finden letztlich jene grundlegenden, wohltuenden Veränderungen brachte, die wir uns so lange gewünscht hatten, kannst du in diesem Buch lesen. Das, was wirklich wirkt. Es kann dir besser gehen. Jeden Tag. Egal wo du startest.
Dass so viele erwachsene Menschen nur wenig Ahnung vom bewussten Umgang mit Gefühlen haben, ist nicht verwunderlich. Es gibt verschiedene Größen, die hierbei von Bedeutung sind. Unsere Eltern oder primären Bezugspersonen sind die prägendsten Menschen in unserer Kindheit. Wie sie mit Gefühlen umgehen und ob sie selbst es gelernt haben, spielt eine wesentliche Rolle dafür, ob und wie wir es lernen. Es beeinflusst all unsere »Werkseinstellungen«, die sich weit über den Umgang mit Gefühlen und Stress hinaus erstrecken. Unsere ersten Bindungserfahrungen haben einen enormen Einfluss darauf, ob wir mit dem Gefühl geboren werden, einen Platz in der Welt zu haben, und ob wir ein grundsätzliches Vertrauen in uns tragen, dass sich um uns gekümmert wird. Ob wir sicher sind und unterstützt werden – oder eben nicht. Wir erfahren, ob uns geholfen wird, wenn wir Hilfe brauchen.
Um in einer Gemeinschaft zu überleben, passen Kinder sich an ihr Umfeld an. Sie lernen schnell, was zu tun ist, um akzeptiert zu werden. Dabei ist diese Akzeptanz und »Teil von etwas« zu sein in der Tat überlebensnotwendig, weil in uns urzeitliche Systeme am Werk sind, die mit dunklen Höhlen und Säbelzahntigern mehr anfangen können als mit Fußbodenheizung und Smartphone. Die Anpassungen, die wir seit unserer frühesten Kindheit vollbringen, um nicht ausgeschlossen zu werden, schreiben sich in unser System ein.
Das betrifft auch den Umgang mit Gefühlen: Was darf ich ausdrücken und was nicht? Welche meiner Teile werden akzeptiert und welche führen dazu, dass ich ausgeschlossen oder bestraft werde? Alles, was zum Ausschluss führen könnte, wird in kleine Boxen gepackt und tief nach unten in den Keller unseres Selbst gesperrt. So kommt es, dass wir uns ganz viele Gefühle nicht mehr erlauben. Diese bräuchten aber dringend Raum, damit es uns wirklich gut gehen kann. Unterdrückte Emotionen und deren hormonelle Aufladung sammeln sich in unserem Inneren über die Jahre als Gift an, das uns krank machen kann. Je mehr Emotionen wir abschneiden, je mehr Teile wir wegpacken, desto mehr trennen wir uns auch von echter, verkörperter Lebendigkeit. Von unserem Spüren, von der Weite in uns, von Freude, Abenteuer, Sinnlichkeit, unserer Motivation, Begeisterung und unserem eigentlichen, echten Willen. Auf was für eine Entdeckungsreise wir uns begeben dürfen, um all das wieder zu bergen!
Weiten wir den Blick, stellen wir zudem fest, dass noch ganz andere Kräfte am Werk sind, die es uns seit vielen Jahren auch gesellschaftlich schwer machen, einen gesunden Zugang zu dem, was wir fühlen und spüren, zu entwickeln. In unserer westlichen Welt haben Gedanken oftmals einen höheren Stellenwert als Gefühle. Sowohl die Erziehung als auch unser gesamtes Schulsystem zielt darauf ab, kognitive Prozesse zu fördern. Was wir spüren und wahrnehmen und das Bedürfnis nach Bewegung sind nicht nur kaum relevant, sondern werden mitunter auch gehemmt: Stundenlanges Stillsitzen ist definitiv nicht, was unser Körper braucht oder will. Das Gehirn und das Denken scheinen wichtiger als unsere Körperempfindungen zu sein. Dr. Stephen Porges, der Begründer der Polyvagal-Theorie, schreibt dazu: »Erst in den letzten 50 Jahren sind Emotionen […] in der Psychologie zu einem anerkannten Forschungsgegenstand geworden. Vorher standen die Kognitionen und ihre Förderung im Zentrum aller Bemühungen, […] während subjektive Berichte über Gefühle in den Hintergrund verbannt wurden.«1 Als Porges in den 1960er-Jahren als Student die wissenschaftliche Welt kennenlernte, wurden Emotionen laut ihm nur in Verbindung mit Motivation erforscht. Das Beispiel, das er schildert, gewährt Einblicke in die damals zum Teil absurde Auslegung unserer Gefühle: Man beeinflusste die Motivation von Laborratten, indem man ihnen Nahrung zuführte oder vorenthielt. Ihre emotionalen Reaktionen maß man anhand der Kotmenge, die sie ausschieden. Ich musste das zweimal lesen. Der berühmte Philosoph Descartes sagte »Ich denke, also bin ich« und nicht »Ich spüre, also bin ich« und gab damit einem Phänomen Worte, das sich durch unsere gesamte Kultur zieht: Gedanken sind wichtig, man fokussiert auf das, was sich im Kopf abspielt. Und im besten Fall kann man es auch noch messen, neue Daten erheben und dann Aussagen treffen und Schlüsse ziehen, die für alle gelten. Unser subjektives Empfinden, die vielfältigen Emotionen und das, was wir in uns ganz individuell spüren, waren lange nicht weiter von Bedeutung. Wir leben in einer Welt, die das Vermeiden von Gefühlen und die Unverbundenheit mit unserem Körper normalisiert.
Auch in vielen Therapien gibt es bis heute eine Top-down-Tendenz, bei der mentale Prozesse im Zentrum der Betrachtungen stehen und Körperempfindungen eine Rolle im Hintergrund einnehmen. Dabei wissen wir mittlerweile, dass die prägendsten aller Erfahrungen – also jene, die uns bis ins Mark beeinflussen – an einem Ort in uns gespeichert sind, der keine Worte kennt. »Darüber zu reden« ist daher nicht einmal die halbe Miete. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und jene der Traumaforschung verlangen aber zum Glück immer dringlicher nach Beachtung. Sie machen deutlich, wie notwendig es ist, den Blick zu weiten und die fundamentale Rolle unserer Emotionen und unseres Körperempfindens anzuerkennen: für unsere seelische und körperliche Gesundheit, für gelingende Beziehungen zu uns selbst und anderen Menschen und letztlich auch für uns als Gesellschaft.
Ein Trauma und Stress finden nicht nur in unseren Gehirnen statt. Dasselbe gilt für Gefühle: Wir spüren sie mit unserem Körper, erleben starke Emotionen mit jeder Zelle. Es geht nicht um »Kopf oder Körper« und welcher von beiden bedeutsamer ist. Wichtig ist die Erkenntnis, dass beide unzertrennlich miteinander verbunden und ständig im Austausch sind und der Körper ein wesentlicher Part dieser Gleichung ist.
Gefühle sind im Grunde nichts anderes als interpretierte Körperempfindungen.
Wir nehmen etwas körperlich wahr, und unser System baut innerhalb von Millisekunden eine »Meinung« ringsherum, die wir dann als Gefühl erleben. Stell dir zum Beispiel vor, du bist im Supermarkt. Als du mit dem Einkaufswagen in den nächsten Gang fahren willst, steht da plötzlich jemand, den du eigentlich nicht sehen möchtest und mit dem du auch nicht gerechnet hast. Huch! Was passiert in dir? Was spürst du? Ja, da kommt eine Emotion …, aber zuerst ist da ein Körperempfinden. Spür einen kleinen Moment in deinen Körper. Was nimmst du wahr? Wahrscheinlich kennst du Redewendungen wie »Da ist mir mein Herz in die Hose gerutscht«.
Nun stell dir vor, du bist einkaufen und plötzlich steht da jemand, den du richtig gern magst. Wieder hast du nicht mit der Person gerechnet. Die Situation ist dieselbe, beide Male passiert etwas Unerwartetes. Deshalb könnte auch der als sicher empfundene Mensch erst einmal ein kurzes »Huch« in uns auslösen. Aber danach können wir uns in die Situation hineinentspannen – und beispielsweise Freude empfinden. Nach der kurzen Anspannung in Form der Überraschung folgt eine Entspannung. Zumindest im zweiten Fall. Bei der ersten Person wird die Spannung aufrechterhalten, bis unser System das Gefühl hat, dass wir wieder »sicher« sind.
Ob wir »aus der Haut fahren«, »den Boden unter den Füßen verlieren« oder »Schmetterlinge im Bauch haben« – in jedem Fall finden wir sprachliche Ausdrücke für eine somatische Erfahrung.
Ich schlage dir bei dem Beispiel bewusst keine spezifische Person vor, weil ich nicht weiß, wer für dein System nur unangenehm ist und wer in der Tat als Gefahr eingestuft wird. Ich will zwar, dass es dir etwas unangenehm ist, diesen Menschen zu treffen, damit das Beispiel funktioniert. Aber viele von uns kennen Personen, bei denen allein die Vorstellung, ihnen zu begegnen, eine starke körperliche Reaktion hervorrufen würde. Das ist für das Beispiel nicht notwendig und auch überhaupt nicht im Sinne der Arbeit, die wir hier gemeinsam machen wollen. Unsere Lebensrealitäten sind viel zu bunt und einzigartig, als dass ich unter Garantie die für dich »richtige« Person vorgeben könnte.
Ich verspreche dir, dass ich achtsam in Hinsicht darauf sein werde, in welche inneren Bilder ich dich auf unserer Reise führe. Du kannst deine Erfahrung hier immer mitgestalten. Das ist eine Voraussetzung für traumainformiertes Arbeiten. Zugleich ist Wahlfreiheit eine der drei Komponenten, die unser Nervensystem braucht, um sich sicher fühlen zu können. Die Therapeutin Deb Dana etablierte die »3 C«: Context, Choice und Connection. Also Kontext, Wahlfreiheit und Verbindung. Sind diese drei in einem hinreichenden Ausmaß gegeben, kannst du dich sicher fühlen und »bei dir« bleiben oder zu dir zurückkommen.
Intensive unangenehme Emotionen wie Wut, Angst, Trauer oder Überwältigung sind also Erfahrungen, die sich nicht nur in unseren Köpfen abspielen. Das gilt genauso für Gefühle wie Freude, Dankbarkeit, Zufriedenheit oder Hoffnung – sie finden überall statt. Wir spüren mit allem, was wir sind, auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig. Es gibt einen »Felt Sense«, einen »gefühlten Sinn«, zu diesen Gefühlen: ein komplexes Körpererleben. Du kannst Wut in deinem Körper spüren, genau wie zum Beispiel auch Angst. Vielleicht wird deine Atmung flacher, dein Herz schlägt schneller, dein Blick wird fokussiert, dein Körper spannt sich an, du spürst eine Enge in der Brust, zusammengepresste Zähne, einen Überschuss an Energie. Auch Trauer nimmst du in deinem Körper wahr, etwa mit einer Last auf deinen Schultern, einem Loch in deiner Brust, einer Schwere, die dich einnimmt, mit dem Verlust von Körperspannung oder einem Kloß im Hals.2
Wenn wir lernen wollen, mit unseren Gefühlen umzugehen, und uns wirklich Veränderung wünschen, müssen wir uns als die Systeme begreifen, die wir sind.
Wir müssen erkennen, wie alles in uns in jeder Millisekunde unseres Lebens zusammenspielt und unsere täglich gelebte Realität erschafft. Das eröffnet unzählige Möglichkeiten für ein besseres Leben, echtes Wohlbefinden und körperliche sowie seelische Gesundheit. Der Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther formulierte in einem Gespräch mit mir: »Wir müssen beginnen zu verstehen, dass an unserem Kopf auch noch ein Körper dranhängt.«3
Recht hat er. Einerseits geht es also um Bewusstwerdung und dann – tja, was dann? An diesem Punkt tritt ein mächtiges, uraltes System in deinem Körper auf den Plan. Ein System, das die Macht hat, dein komplettes Erleben zu verändern, weil es die Basis deiner gesamten Wahrnehmung ist. Es bestimmt über deine Gefühle, deine Gedanken, dein Verhalten und deine Körperempfindungen. Die Rede ist von deinem autonomen Nervensystem.
»Wie jetzt, Nervensystem? Ich dachte, es geht um Gefühle und Stress und darum, endlich nicht mehr davon überwältigt zu werden?« Stimmt! Genau das werden wir uns ansehen. Mehr noch, du wirst eine Anleitung bekommen, mit der du es schaffst, dich in die innere Sicherheit zu führen. Du selbst, für dich. Aber alles der Reihe nach.
Zunächst einmal: Ja, das hier ist ein Buch über dein Nervensystem. Weil einer der Hauptgründe für starke Emotionen, fehlende Verbindung, innere Unruhe, ständiges Grübeln, Überforderung, Überwältigung, Angst, Panik und Depression eine sogenannte »Dysregulation« im autonomen Nervensystem ist. Dieser mächtige, selbstschützende Kreislauf ist Hunderte Millionen Jahre alt und befindet sich in jedem von uns. Was in unserem Leben passiert, ist eine direkte Folge davon, was in diesem System passiert. Alles, was wir erfahren, wie wir diese Welt wahrnehmen, was wir denken und auch, was wir fühlen, wird davon bestimmt, in welchem Zustand sich unser Nervensystem befindet.
Als ich das erfuhr und es mir langsam dämmerte, wie essenziell diese Erkenntnis ist, fiel ich erst einmal aus allen Wolken. Die eine Frage, die sofort wie ein riesiges Werbebanner über meinem Kopf erschien, war: »Wieso hat mir das bisher nie jemand gesagt?« Seit mehr als 20 Jahren hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits mit Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt. So viel Erhellendes, Sinnvolles und auch jede Menge Unfug hatte ich schon gelesen und unendlich viele Dinge ausprobiert. Aber das war mir so lange schlicht nicht bewusst gewesen. Und es ändert alles.
Wahrscheinlich trifft auf dich zu, was für die allermeisten von uns wahr ist: Wir wissen so vieles, aber niemand gibt uns ein Handbuch dafür, wie wir uns in dieser Welt zurechtfinden sollen und dem Sinn verleihen, was in unserem Inneren geschieht. Wie wir uns gut um uns selbst kümmern können, mit großen Emotionen umgehen, Beziehungen gestalten, achtsam Eltern sein, unsere privaten und beruflichen Träume verfolgen und endlich nicht mehr feststecken in jenen Bereichen, wo wir eigentlich so viel bewegen wollen. Niemand hat uns gelehrt, die Kontrolle über all das zu gewinnen, was in jeder Sekunde dieses Lebens in uns geschieht.
Aber es gibt eine Möglichkeit, Einfluss darauf zu nehmen, und zwar durch Regulation. Das ist nämlich die zweite bahnbrechende Information: Wir können lernen, unser »Innendrin« aktiv zu beeinflussen und tatsächlich nachhaltig zu verändern.
Das Buch in deinen Händen enthält die verständlichste, einfachste und kraftvollste konkrete »Anleitung« zur aktiven Nervensystemregulation, auf die ich bisher gestoßen bin.
Die einzige Krux bei der ganzen Sache ist, dass Wissen allein nicht ausreicht, sondern sich nur etwas ändert, wenn du dein Nervensystem auch wirklich regulierst, also die Ressourcen, die du hier kennenlernst, tatsächlich anwendest. Die gute Nachricht ist, dass das keine Stunden dauert. Fünf Minuten können einen riesengroßen Unterschied machen. Meine Klientinnen und Klienten haben mir immer wieder gezeigt, wie bewegend die Ergebnisse sein und was für einen enormen Unterschied für ihr gesamtes Leben sie machen können.
Der Zustand unseres Nervensystems bestimmt die Gedanken, die wir denken, die Verhaltensweisen, die wir an den Tag legen, unsere Gefühle und Körperempfindungen und wie wir die Welt und die Menschen darin sehen.Das Nervensystem ist ein so mächtiger Organismus. Ist es dysreguliert – und das ist es bei vielen Menschen oft –, dann fühlt sich das nicht gut an. Wie soll es das auch, schließlich bedeutet Dysregulation immer einen aktiven Überlebensmodus. Sind wir tatsächlich in Gefahr, ist das von überlebenswichtiger Bedeutung. Aber wenn keine Gefahr im Verzug ist und unser System dennoch Alarm meldet, setzt uns das eine Brille auf, die die Realität verzerrt. Wissen wir darüber nicht Bescheid, wird die Verzerrung zu unserer Wahrheit und wir agieren und reagieren entsprechend. Das hat Auswirkungen auf unser eigenes Leben und das aller Menschen, die mit uns in Kontakt sind.
Chronische Dysregulation, ausgelöst durch dauerhaften Stress oder traumatische Erfahrungen, versetzt dich in einen anhaltenden Überlebensmodus, in dem nichts gedeihen kann: weder du selbst noch deine Beziehungen oder deine Gesundheit. Für Abenteuer, Entspannung, Lust, Freude und Lebendigkeit ist auch kein Raum. All dem werden wir uns widmen und tief in die Thematik eintauchen, damit du nicht nur wirklich Bescheid weißt, sondern auch mehr Regulation in dein Leben einladen kannst. Egal wie dein Startpunkt aussieht.
Eine gute Regulation des Nervensystems ist die Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben. Denn solange wir in einer Dysregulation sind, ist es unmöglich, bewusst im Hier und Jetzt zu sein, klar zu denken, zu gestalten, vorwärtszukommen, uns mit anderen Menschen verbunden zu fühlen, alte Muster zu durchbrechen, Herausforderungen zu meistern, authentisch wir selbst zu sein und das Leben zu genießen.
Dabei kann sich eine Dysregulation auf sehr viele unterschiedliche Weise zeigen.
Das sind ein paar Beispiele einer endlosen Liste an Symptomen, die auf eine Dysregulation im Nervensystem zurückzuführen sein können. Hättest du gedacht, dass all das mit dem Zustand deines Nervensystems zusammenhängt?
Die Werkzeuge und Übungen, die wir entdecken werden, sind wissenschaftlich fundiert und keine »Quick Fixes«. Wir behandeln keine oberflächlichen Symptome, sondern arbeiten direkt an der Wurzel dessen, was dich davon abhält, das zu leben, was du eigentlich leben möchtest. Das dauert eine Weile, weil echte, verkörperte Veränderung nun mal eine gewisse Zeit braucht.
»Heilung« durch einen somatischen beziehungsweise körperbasierten Ansatz bedeutet, das Nervensystem zu regulieren, dich aus chronischen Überlebenszuständen herauszuholen und in die Sicherheit der Gegenwart zu bringen.
Ein bekannter Satz in der Körperarbeit lautet: »Gehe nur so schnell, wie dein langsamster Teil es zulässt.« Das mag für andere Teile in uns wahnsinnig frustrierend klingen. Aber wenn wir nicht anfangen, unsere Erwartungen und Taten dem anzupassen, was unser Körper wirklich braucht, bleiben wir an der Oberfläche.
Viele Menschen sind in einem ermüdenden Kreislauf gefangen, wenn sie Dinge verändern wollen. Dann wird ein Symptom nach dem anderen behandelt, kurzfristige Erleichterung stellt sich ein. Aber bereits nach kurzer Zeit kommen die Symptome zurück. Diese »Quick-Fix-Lösungen« bringen keine echten Veränderungen, sondern erzeugen oft lediglich Symptomverschiebungen. Dabei ist es ganz egal was dir irgendjemand in der Welt da draußen verspricht und wie »sexy« manche Versprechen klingen. All unsere Bemühungen können in Kombination mit unbefriedigenden »Quick Fixes« zur Folge haben, dass wir eine Mauer um uns errichten, die es uns noch zusätzlich erschwert, etwas zu bewegen.4
Dabei dient sie einzig unserem Selbstschutz. Dr. Linnea Passaler zufolge kann sich dieser Mauer-Teil auf folgende Weisen zeigen:
Er ist überanalytisch, will alles ergründen und hinterfragt jedes kleinste Detail 50 Mal.Er beschützt dich, indem er dir Gründe liefert, warum du etwas nicht tun solltest. Weiter sucht er ständig nach Dingen, die schieflaufen könnten.Er ist extrem kritisch: Wenn etwas nicht »perfekt« ist, dann verdient es deine Aufmerksamkeit nicht. Wenn du beispielsweise nicht stundenlang Yoga machen, meditieren oder nicht jeden Tag ins Fitnesscenter gehen kannst, wird er dir zuflüstern: »Dann bringt es nichts. Lass es ganz.«Er ist sehr ungeduldig und lässt dich nicht zur Ruhe kommen. Wenn es keine schnellen Ergebnisse gibt, möchte er dich davon überzeugen, dass es die Sache nicht wert ist und dass du etwas anderes versuchen solltest.Der Mauer-Teil spiegelt zugleich das Verhalten großer Teile unserer Gesellschaft wider, wenn es um unsere mentale und physische Gesundheit geht:
Wir wollen rasche Ergebnisse und nehmen vielversprechende Abkürzungen, die am Ende aber nichts bringen.Wir sollen noch besser werden, noch weiterkommen, noch mehr schaffen. Der Fokus liegt auf dem »Tun« statt dem »Sein«. Noch mehr Dringlichkeit entsteht und infolge zudem mehr Ausgebranntsein.Wir sollen unsere beste Version werden und immer dem Pfad der Selbstoptimierung folgen.Angesichts des ungesunden, völlig verzerrten Bildes, das unsere Gesellschaft rund um die Themen bewusste Lebensführung, Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung, Spiritualität und Heilung hat, sind wir gut beraten, ihren Applaus nicht als Gradmesser für eine gelingende Reise zu uns selbst zu sehen. Die neueste Kur, die nächste fancy Diät, die verrückteste Meditationstechnik: Wie ein ausgehungerter Hund dem kleinsten Knochen hinterherjagt, klammert sie sich an den nächsten Strohhalm, der vermeintlich »Heilung« verspricht. Dabei brauchen Heilung und verkörperte Veränderung neben Zeit und Geduld auch die radikale Annahme unserer unvollkommenen Menschlichkeit. Je verbundener wir mit uns selbst sind und je mehr wir wieder in unseren Körper finden, desto stärker wird unser Sinn dafür, was uns – ganz individuell – wirklich dienlich ist. Wende dich also dir selbst zu. Deine Symptome, dein Erleben ist valide. Du selbst weißt am besten, wenn sich etwas komisch anfühlt oder nicht stimmt, auch wenn du nicht genau sagen kannst, was es ist. Es ist dein Körper. Es ist dein Erleben. Deshalb ist es nur sinnvoll, dass du selbst es bist, die deine ganz persönliche Reise anführt.
REFLEXION
Wie war dein Weg bis hierher? Was hast du bereits unternommen, gelernt, gelesen und ausprobiert, um mit dem »Unrunden« in dir besser umzugehen – und mit welchen Folgen? Gibt es Symptome, die dich begleiten? Wie haben sie sich im Laufe der Zeit verändert? Reflektiere deine individuelle Reise bis zu diesem Punkt und beschreibe in einem Notizheft auch, welche Gedanken und Gefühle sich zeigen, wenn du darüber nachdenkst.
Wenn du bemerkst, dass dein Mauer-Teil bei der Reflexion laut wird, möchte ich dich einladen, ihn nicht zu unterdrücken oder wegzuschieben. Das gilt auch, wenn du künftig mit deinem Nervensystem arbeitest. Versuche nicht, mit ihm zu argumentieren. Spüre stattdessen deinen Körper und fühle, mit welchen Empfindungen deine »Mauer« sich zeigt. Wenn du diese Empfindungen sehen könntest, wie würden sie aussehen, welche Farbe und welche Form hätten sie? Es kann sich gut anfühlen, deine Hände auf die Körperstellen zu legen, die du am stärksten spürst. Anstatt den Mauer-Teil wegzuschieben, wende dich ihm zu und lass ihn wissen, dass du gut auf dich selbst aufpasst – etwa mit den Worten: »Danke, dass du mich beschützt.«
Alles, was du hier erfährst, dient dazu, dein Gehirn und deinen Körpertatsächlichneu zu »verdrahten«. Wege, die zuvor nur Trampelpfade waren, da dein System sie so gut wie nie genutzt hat, werden so nach und nach zu mehrspurigen Autobahnen – du erbaust neue Datenhighways. Nervensystemregulation bedeutet 0,1 Prozent Veränderung und die Gewissheit, dass diese kleine Prozentzahl sich im Laufe der Zeit zu 100 Prozent summiert. Dieses Buch kann ein Teil deines Weges sein. Ich hoffe, er bringt dir so viele Einsichten und gutes, neues »Spüren«, dass du mit viel mehr Verbindung zu dir selbst weitergehst. Mein Ziel ist es, dass du für dich – mit all deinen Gefühlen, deinen Gedanken, deinen Körperempfindungen und deinen Verhaltensweisen – eindeutig Sinn ergibst, und zwar jeder Teil von dir in jedem Moment. Wir können gestalten. Du kannst dir im Hier und Heute alles geben, was du brauchst und früher gebraucht hättest. Es geht darum zu lernen, mit dem Leben, wie es ist, zu tanzen – zu deinem eigenen Beat, in deinem eigenen Rhythmus.
Das autonome Nervensystem versteht keine Worte. Wollen wir es ansprechen, müssen wir deshalb eine neue Sprache erlernen. Diese »somatische Sprache« ist dabei viel simpler als jene, die wir hier gerade nutzen. Unser Kopf – oder genauer: der Teil des Gehirns, wo die höheren geistigen Funktionen angesiedelt sind wie logisches und abstraktes Denken, Planung und so weiter – macht die Dinge manchmal kompliziert. Der Körper mag es einfach und direkt. Versteht dein System dich, kannst du ihm zeigen