Du lebst ja auch für deine Überzeugung - Wencke Mühleisen - E-Book

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Wencke Mühleisen

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Beschreibung

„Eine so ehrliche wie schmerzliche Abrechnung aus dem Inneren der Muehl-Kommune“ (Martin Pollack) – Wencke Mühleisens Auseinandersetzung mit extremen Ideologien

Weil er „einen Neger nicht als Familienmitglied akzeptieren“ könne, komme er nicht zum Familientreffen; sie, die Tochter, werde das gewiss verstehen, da auch sie für ihre Überzeugungen und gegen den Strom lebe.
Acht Jahre war Wencke Mühleisen bereits in der Kommune von Otto Muehl, als sie diesen Brief ihres Vaters erhielt. Der Schock saß tief. Hatten sie womöglich etwas gemeinsam? Er, Freiwilliger der Wehrmacht und Nationalsozialist bis zuletzt, und sie, die durch befreite Sexualität das bestehende Gesellschaftssystem zum Einsturz bringen wollte? Schonungslos und sensibel vergleicht Wencke Mühleisen die beiden Leben. Sie erzählt vom Sog, den die sektenhafte Gemeinschaft um Muehl ausübte, schließlich vom Ausstieg und davon, wie aus einem radikalen Lebensentwurf eine autoritäre Unterdrückungsmaschine werden konnte.

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Über das Buch

»Eine so ehrliche wie schmerzliche Abrechnung aus dem Inneren der Muehl-Kommune« (Martin Pollack) — Wencke Mühleisens Auseinandersetzung mit extremen Ideologien Weil er »einen Neger nicht als Familienmitglied akzeptieren« könne, komme er nicht zum Familientreffen; sie, die Tochter, werde das gewiss verstehen, da auch sie für ihre Überzeugungen und gegen den Strom lebe.Acht Jahre war Wencke Mühleisen bereits in der Kommune von Otto Muehl, als sie diesen Brief ihres Vaters erhielt. Der Schock saß tief. Hatten sie womöglich etwas gemeinsam? Er, Freiwilliger der Wehrmacht und Nationalsozialist bis zuletzt, und sie, die durch befreite Sexualität das bestehende Gesellschaftssystem zum Einsturz bringen wollte? Schonungslos und sensibel vergleicht Wencke Mühleisen die beiden Leben. Sie erzählt vom Sog, den die sektenhafte Gemeinschaft um Muehl ausübte, schließlich vom Ausstieg und davon, wie aus einem radikalen Lebensentwurf eine autoritäre Unterdrückungsmaschine werden konnte.

Wencke Mühleisen

Du lebst ja auch für deine Überzeugung

Mein Vater, Otto Muehl und die Verwandtschaft extremer Ideologien

Aus dem Norwegischen von Sylvia Kall und Ina Kronenberger

Paul Zsolnay Verlag

Für Stein

Den Körper eingepackt. Eine Schicht Kleidung über der anderen. Ein warmes Korsett, das den Körper im Halblicht aufrecht hält. Ich bin gerüstet.

Nachts: die von Mamas Mutter geerbte Wolldecke. Sie muss ganz innen liegen. Schlafe mich tief durch die Nächte des Dunkels wie ein Kind oder eine alte Katze. Nichts will ich wissen.

So vergingen viele Jahre. Dann flackerte das Licht der Schlaflosigkeit hinter empfindlicher gewordenen Augenlidern auf.

Zeit, zu wachen. Zu wissen.

1

Auch an diesem Abend faltete ich meine Hände über der Brust, ließ die Augenlider zufallen. Der Brustkorb hob sich in einer vom Bauch ausgehenden Wellenbewegung. Pause. Die Atemwelle zerlief sich in entgegengesetzter Richtung, hin zum Venusberg, wo sie zum Stillstand kam. Pause. Skelett, Herz, all das Innere, von dem ich kaum etwas ahne, füllte den Körper. Alles sank hinab, wurde von der Matratze in Empfang genommen. Aber die Flüssigkeiten sammelten sich nicht in einer kalten Lache an der untersten Linie des Körpers, wie bei den Toten. Nein, mein Herz ruht nie. Es pumpt Blut. Die Wärme blieb auch an diesem Abend bei mir. Der gnädige Augenblick des Tages, das Einschlafen, holte mich ein. Alles verschwand.

Dann hörte ich im Hinterhof einen Knall. Riss erschrocken die Augen auf, sah mich ängstlich um. Im Halbdunkel erkannte ich die gewohnten Umrisse der Dinge, doch der Takt meines Herzens verlangsamte sich nicht. Ich blieb reglos im Bett liegen, bis ich begriff, dass der Knall mich nicht betraf. Der Schreck hatte sich festgesetzt und ging beim Gedanken an einen völlig normalen Tag, der mich in einigen Stunden zu sich rufen würde, in Entsetzen über. Mit trockenem Mund und ohnmächtig angesichts dieser jämmerlichen Angst ließ ich den Blick über das große Bücherregal schweifen, das die Längsseite des Raumes links neben dem Bett einnimmt. Ganz oben erblickte ich die alten Fotoalben, die meine Mutter über meine Kindheit angelegt hatte. Dort war kaum Sicherheit zu finden. Ich hatte mein Kindheits-Ich und mein junges Ich hinter mir gelassen. Diese Ichs entschieden beiseitegeschoben. Meine Ichs auf falsche Art geliebt und auf falsche Art gehasst. Entweder log ich romanhaft oder sprach verlogen und mit gedämpfter Stimme von mir. Schob alles an mir, was ich nicht haben wollte, von mir.

Im Bücherregal herrschte Unordnung. Vor allem ganz oben, wo ich nur mit der Leiter hinkam. Im Halbdunkel erkannte ich schemenhaft Papierstapel, Plastikmappen, graue Ordner, Tagebücher und Notizbücher. Eine Bürde. Mit einem Seufzer voller Selbstmitleid nahm ich das oberste Buch vom Stapel auf dem Nachttisch. Die Gnade des Schlafs war fort, es würde mehrere Stunden dauern, bis sie sich wieder einstellen konnte. Und weil ich schon immer eine Frau der Tat war, fasste ich auf der Stelle einen Entschluss: Ich würde aufräumen. Wegwerfen. Simple living. Easy going.

Bereits am Tag nach meinem nächtlichen Entschluss saß ich auf dem Fußboden meiner Osloer Wohnung, umgeben von Stapeln, die ich von den obersten Brettern des Bücherregals geholt hatte. Neben mir einen schwarzen Abfallsack für das, was ich wegwerfen wollte. Vergangenheit wegräumen, um mehr Gegenwart zu bekommen — denn mitten in der Semesterendphase an der Universität Stavanger hatte ich mehr als genug zu tun, war beschäftigt mit Examensbenotung, Studentenbetreuung, den ewigen Berichten und Sitzungen. Dem wöchentlichen Pendeln zwischen Stavanger und Oslo. Aufsätzen, die geschrieben werden sollten, aber immer wieder verschoben werden mussten.

Ich zog einige Mappen zu mir heran. Zuoberst ein schmutzig brauner, schmaler Kunststoffordner. Papas Papiere. Vor seinem Tod 1996 hatte er systematisch Dinge weggeworfen — bis auf einige Geburtsurkunden und Todesanzeigen verstorbener Eltern und Geschwister, Zeugnisse, Führerschein. Das fand ich in seinem Schreibtisch, als ich nach dem Tod meiner Mutter 2006 aufräumte. Wir, seine Kinder, sollten nackte Fakten finden können: Name, Geburtsdatum, Geburtsort. Ausbildung.

Ich habe mit Papa in vielen Wohnungen und Häusern gelebt. Meine drei Geschwister, die Eltern und ich, wir haben in engem Körperkontakt gelebt. Der Geruch meines Vaters, seine körperliche Anwesenheit im Raum ist mir innig vertraut. Ich kann die Wärme seines Atems spüren, wenn er mich mit seinem nicht ganz frisch rasierten Kinn kitzelte. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, Löffelchen zu liegen. Ich war der kleine Löffel und Papa der große, als ich im Alter von zwei bis fünf Jahren eine Zeitlang die Angewohnheit hatte, nach dem Aufwachen ins Schlafzimmer meiner Eltern zu laufen, um in den schlafenden Papalöffel aufgenommen zu werden, in die Papawärme. Von dieser Wärme ist jetzt nichts mehr übrig.

Ich schlug eine andere dünne Plastikmappe mit handgeschriebenen Karten und Briefen auf. Einige davon hatten all meine Umzüge mitgemacht. Trivialitäten, über das Wetter, vor allem. Der ein oder andere Geburtstagsgruß, auch wenn er solche Tage meist vergaß. Mein Vater war kein Briefschreiber. Er war ein eher schweigsamer Mann.

Ganz hinten in der Plastikmappe fand ich ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das ich ausbreitete. Eine halbe Seite in der ordentlichen Schreibschrift meines Vaters. Datiert vom 11. April 1984. Da war ich 31. Das ist ein halbes Leben her. Ein Brief von meinem Vater an mich, auf Deutsch:

»Liebe Wencke,wenn Du mir den genauen Zeitpunkt angibst, wann Du in Oslo bist, können wir uns dort treffen, und ich bleibe so lange in Oslo oder irgendwo in der Gegend, bis Du das Familientreffen absolviert hast. Ich freue mich schon, Dich und Dein kleines Kind zu sehen. Du mußt nicht glauben, daß ich ein unverbesserlicher alter fanatischer Faschist und Rassist bin (mein bester Freund war zum Beispiel ein Jude), aber ich habe einen höllischen Krieg in Ungarn, Rußland, Finnland und den arktischen Regionen mitgemacht, verloren und überlebt. In der Zeit sind Tausende aus meiner engsten Umgebung, mit denen ich teilweise befreundet war, gefallen, erfroren, verhungert, zerrissen, pulverisiert oder sonst elend zugrunde gegangen. Sowas verpflichtet. Ich habe diesen Krieg für mein Volk, meine Überzeugung und meine Gesellschaft, aus der ich herausgewachsen bin, mitgemacht. Da gab es keine Alternative. […] Ich kann nicht meine Familie verraten, indem ich einen Neger hineinschwindle und als Familienmitglied akzeptiere, weil ich sonst meine Selbstachtung verliere. Die Kommunisten nennen das Solidarität. Wir haben einen ganz altmodischen Begriff dafür, nämlich Ehre und Gewissen. Ich hoffe, Wencke, daß Du mich verstehst? Du lebst ja auch für deine Überzeugung gegen den Strom.

PS: Anders leben als denken (verschiedene Wirklichkeiten) nennt man Schizophrenie. Grüß mir den Guru Muehl und meine anderen Freunde und Freundinnen in der Kommune und sei selbst herzlichst gegrüßt. Vater«

Nachdem ich den Brief gelesen hatte, pochte mein Herz so stark in meiner Brust, dass jeder Schlag einen dumpfen Stoß hinterließ. Ein dünner Schweißfilm legte sich auf die Haut. Wie hatte ich das vergessen können? Und so lange vergessen? Obwohl ich allein war, fühlte ich, wie Schamröte sich ausbreitete. Mein Vater hatte zweifellos rassistische Einstellungen. Und ich war unbestreitbar seine Tochter. Aber das vielleicht Erschütterndste war die Verknüpfung, die er in dem Brief zwischen uns herstellte: »Du und ich«, schien er zu sagen. »Wir beide.« Was hatte ich, eine linke Feministin, getan, das ihn, ganz rechts stehend, dazu veranlasste, uns in einem einzigen Satz zu nennen und auf die gleiche Stufe zu stellen?

Wie ich mich erinnerte, war der Brief die Antwort auf ein Schreiben von mir aus demselben Jahr gewesen. Ich hatte erfahren, dass er meiner Schwester verboten hatte, nach Hause zu kommen, er weigerte sich, sie zu sehen, nachdem sie einen nichtweißen Mann aus Nigeria geheiratet und ein Kind mit ihm bekommen hatte. Daraufhin hatte ich meinen Vater gebeten, diese irrsinnige Entscheidung zu revidieren und zusammen mit meiner Schwester, ihrem Mann und Kind an einem Familientreffen in Oslo teilzunehmen. Dieser kurze Brief war seine Antwort. Es wirkte, als habe er seit 1945 all die Jahre eingekapselt und fertig vorgeschrieben in ihm gelegen. Erst als ich eine Erklärung verlangte, brach der braune Eiter unübersehbar hervor. 1984, fast vierzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, stand nichts zwischen ihm und der Ideologie, mit der er in den Krieg gezogen war.

Schrieb er nicht auch mit unverkennbarem Stolz und rhetorischer Eloquenz; so als habe er lange darauf gewartet, ebendiese kleine Verteidigungsrede loswerden zu können? Mit verschwörerischem Humor umriss er das Weltbild, das dem Nationalsozialismus zugrunde lag — trotz der Wendung »Du mußt nicht glauben, daß ich ein unverbesserlicher alter fanatischer Faschist und Rassist bin«. In der Verneinung liegt die Bestätigung, das weiß schließlich jeder. Wie hatte mir dieser Brief so lange entfallen können? 28 Jahre waren vergangen, bis ich ihn wiederfand.

Ich verspürte den zwingenden Drang, ihn wegzuwerfen. Doch, nein. Stattdessen las ich ihn noch einmal.

2

In der ersten Zeit, nachdem mir der Brief wieder in die Hände gefallen war, konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Fragen kreisten ununterbrochen in meinem Kopf, ich ertrug das in dem Brief hergestellte »Wir« nicht. Ich dachte an meinen Vater, und ich dachte an mich selbst. Nachts schlief ich unruhig, biss die Zähne zusammen, erwachte mit schmerzendem Kiefer. So alt und ein so nützliches und gut funktionierendes Mitglied der Gesellschaft hatte ich also werden müssen, bis ich es über mich brachte, diese schmutzige Gedankenarbeit in Angriff zu nehmen. Denn jetzt führte kein Weg mehr an ihr vorbei.

Er hatte mich in eine Gemeinschaft geschleust: die Gemeinschaft derjenigen, die extreme Ideologien vertraten, die den Willen zum Handeln besaßen und Handlanger charismatischer, autoritärer Persönlichkeiten wurden. Der Brief schien eine jahrelange Paralyse in mir aufzulösen, ein selbst induziertes Vergessen. Die in mir bohrenden Gedanken gaben keine Ruhe, wobei ich besonders über meinen Hang zu grenzüberschreitenden Handlungen nachgrübelte, den ich trotz aller Wachsamkeit, die ich mir im Lauf der Zeit als Schutz davor angeeignet hatte, noch nicht überwunden hatte. Nachts schlief ich wenig, tagsüber bekam ich von meiner Arbeit nicht viel geschafft.

Einige Tage, nachdem der Brief aufgetaucht war, ging ich den Bogstadveien in Oslo entlang, was ich normalerweise vermeide, obwohl ich in unmittelbarer Nähe wohne. Aber ich wollte in der Eisenwarenhandlung dort Holzleim kaufen. Gewöhnlich fahre ich mit dem Rad, an diesem Tag ging ich jedoch mit fest auf den Asphalt gerichtetem Blick. Ich wollte all die Frauen, Damen, die jungen und die kleinen Mädchen nicht sehen. Sie tun mir immer so leid und erfüllen mich mit einer derart anstrengenden Verachtung, dass ich mich völlig kraftlos fühle. All diese aufdringlichen Frauenkörper. All diese eingeschlossenen weiblichen Geschlechtsorgane ohne ausreichende Blutzirkulation in hautengen, luftdichten Hosen. Dieses automatisierte Feilbieten, als sei es zwingend notwendig, sich in den Blick der Passanten zu drängen. Es ist so beschämend, dass Frauen sich genötigt sehen, dabei mitzumachen. Und während ich mit Blick auf den Boden weiterlief, wurde mir etwas klar, worüber ich vorher noch nie nachgedacht hatte: dass mein Vater und ich die Verachtung für Frauen teilten. Dass wir beide vom selben Gift infiziert waren: der lüsternen, antiquierten Verachtung von Schwäche.

Was hatten wir wohl sonst noch gemeinsam? Ich wusste, dass wir ungefähr gleich alt waren, beide in den Zwanzigern, als wir uns in den Dienst einer umwälzenden Vision stellten. 1976, im Alter von 22 Jahren, zog ich in die W-Künstlerkommune in Österreich. Ziel der Kommune war es, durch die Vereinigung von Kunst, Zusammenleben und Politik die Menschen zu befreien und ein neues Gesellschaftsmodell zu begründen. 1941 war Papa 25. Damals schloss er sich der Wehrmacht an der Ostfront an. Das wusste ich seit 1980, dem einzigen Besuch meines Vaters in der Kommune, bei dem er mir zum ersten Mal erzählte, dass er Deutschland als Soldat gedient habe.

Wir saßen in einem Café in Neusiedl am See, einem Ort in der Nähe der Kommune. Ich genoss die Anonymität der Öffentlichkeit. Den frisch zubereiteten Kaffee, ein reichhaltiges Geschmackserlebnis verglichen mit der Variante aus der Großküche der Kommune. Und dann der ganz gewöhnliche, für mich jedoch erlesene Kuchen, ein Stück trockene Sachertorte. Zu dieser Zeit war mein Verteidigungswall, die lebensnotwendige Eigenliebe, bereits etwas geschwächt. Ich sehnte mich nach alltäglichen Dingen. Ruhe, zum Beispiel. Danach, mich zurückzuziehen, um einfach nichts zu tun. Ziellos umherzuschlendern, ohne Aufgabe. Abende mit dem Lesen von Romanen zu verbringen. In erster Linie verspürte ich eine unklare Sehnsucht nach Frieden. Muße.

Die einzige Erinnerung an das Treffen mit meinem Vater ist, dass er mir unaufgefordert ein Schwarzweißfoto zeigte, auf dem er in Uniform, in deutscher Uniform, abgebildet war, als wäre das Bild ein selbsterklärendes Dokument. Und vielleicht war es das ja auch. Ich glaube, er sagte lediglich, er habe im Zweiten Weltkrieg als Soldat gedient. Und sei an der Ostfront gewesen. Ich meine, er habe Finnland erwähnt. Das sagte mir wahrscheinlich nichts. Damals wusste ich so gut wie nichts über den Zweiten Weltkrieg, abgesehen von der verbreiteten Meinung zu Hitlers Rohheit und der Judenverfolgung. Außerdem war ich so vollständig auf mein eigenes Leben und die wachsenden Sorgen darum fixiert, dass ich die möglicherweise in der Mitteilung enthaltene Hinwendung nicht wahrnahm. Die Information sickerte nicht als bedeutsam durch. In Österreich hatten ja die meisten in meiner Generation Väter, die in der Wehrmacht gewesen waren. Aber seit diesem Tag wusste ich etwas, über das mein Vater vorher nie mit mir gesprochen hatte: dass er Soldat für die Nazis gewesen war. Indem er mich ins Café einlud und mir dieses Foto zeigte, hatte er sein Schweigen brechen wollen. Mir klarmachen wollen, dass es bedeutsam war. So muss es gewesen sein.

Nachdem ich den Holzleim, den praktischen Grund für meinen Ausflug zum Bogstadveien, besorgt hatte, bog ich in die Holtegata ein und trat auf die Uranienborg-Kirche zuhaltend den Heimweg an. Inmitten von Straßenbahnlärm, Bauarbeiten, hektischen Horden von Frauen, die mir auf dem Weg in die Modeboutiquen des Bogstadveien entgegenkamen, einem quengelnden Kind in einem beigen Designerkinderwagen, Hundegebell aus einem Hinterhof, gurrenden Tauben und einem neuen Licht am Himmel wurde mir eins klar: Es würde mich nicht loslassen.

Ich fasste einen Entschluss. Ich musste anfangen, die Geschichte meines Vaters aufzudröseln, auch wenn ich nur den Brief als abscheuliches Zeugnis besaß. Mein Vater war schon viele Jahre tot, aber mir war, als hätte ich nie getrauert. Der Schmerz beim Tod ist blind, wohingegen die Trauer sehend ist. War auch sein Brief eine aufrichtige Hinwendung? Aus dem Wunsch heraus, mit mir ins Gespräch zu kommen? Sich an jemanden zu wenden ist mit dem Risiko verbunden, die kontrollierte Selbstdarstellung zu verlieren. Versuchte er in dem Brief bloß, eine Form von Moral aufrechtzuerhalten, mit der er seinem alten Ich und der Ideologie seiner Familie treu blieb? Aber war der Ton des Briefs nicht auch appellierend? Bat er nicht um Verständnis und Anerkennung für seine Lebensgeschichte? Ich musste versuchen, mehr zu erfahren. Warum wurde er Wehrmachtssoldat? Was war vom Beginn seines Kriegsdienstes bis zu der Zeit passiert, als er mir 1984 diesen Brief schrieb? Und nicht zuletzt: Gab es möglicherweise eine Ähnlichkeit — eine Verwandtschaft — zwischen dem, was ich als meine grenzüberschreitenden Jahre betrachtete, und seinem Lebenslauf?

Jahrelang war ich panisch vorwärtsgestürmt, hatte nach vorne geblickt, nach vorne gedacht. Im Frühling dachte ich, dass sich im Sommer alles klären würde. Dann würde ich tun können, was ich musste, was ich wollte. Im Sommer dann — dass es wohl im Herbst passieren würde. Im Herbst — dass im Winter alles gut werden würde. Aber jetzt musste ich versuchen, Gedanken und Blick in eine andere Richtung zu zwingen. Ich war davon überzeugt, zu einer Maschine zu werden, wenn ich nicht zurückschaute, wenn ich nicht anhielt und die Zeit in mir aufsteigen ließ.

3

An einem Nachmittag im Oktober 1976 saß ich in der Tram vom Wiener Westbahnhof zum Prater. Der Prater ist Wiens Vergnügungspark, ursprünglich der Park, den Kaiser Joseph II. 1766 für die Allgemeinheit geöffnet hat. Das wusste ich nicht. Ich war noch nie in Wien gewesen, trotz der Ferienaufenthalte, die ich in meiner Kindheit bei den Großeltern in dem kleinen Gebirgsdorf Grundlsee in der Steiermark verbracht hatte.

Ich war 22 und lehnte an der Fensterscheibe, in der Hand einen Zettel, auf dem »Praterstraße 32« stand. Der Regen rann über das glänzende graue Stadtbild. Die Tram vollgestopft mit Menschen. Ein Geruch von nasser Wolle. Ich fühlte mich seltsam in der Zeit zurückversetzt, obwohl ich aus einer nördlichen Provinz in eine Metropole gereist war und eine alte, aber zeitgemäße Schaffelljacke anhatte, die ich auf einem Dachboden in der Hjelmelandsgata in Stavanger gefunden hatte. Unter der Jacke trug ich ein langärmeliges Herrenunterhemd, das ich moosgrün gefärbt hatte, und eine ausgebleichte Cordhose in Burgunderrot. Die Leute in der Tram sahen alle aus, als seien sie in den mittleren Jahren. Aber das war sicher nicht der Fall, vielmehr entstand dieser Eindruck, weil die meisten traditionelle österreichische Kleidung trugen. Dem Wetter angepasste Kleidung, das heißt einen sogenannten Lodenmantel, einen Mantel oder ein Cape aus schwarzem, alternativ grauem oder dunkelgrünem, wasserabweisendem Wollstoff.

Ich war auf dem Weg zu dem avantgardistischen Künstlerkollektiv Die AAO-Kommune. Im Frühsommer jenes Jahres hatte ich im Kino in Tønsberg zusammen mit meinem Freund den Film Sweet Movie des serbischen Regisseurs Dušan Makavejev gesehen. Wir arbeiteten beide in der freien Theatergruppe am Thesbi-Theater. Im Abspann des Films hieß es, Mitglieder der AAO-Kommune seien engagiert worden, um einige Szenen einzuspielen, unter anderem die, in denen sich nackte Menschen gegenseitig mit flüssiger Schokolade beschmierten, oder war es Erde? Gerade diese Szenen hatten mich irgendwie berührt. Ich hatte noch nie von der AAO gehört, aber kurze Zeit später war ich in einer Ausgabe der Gateavisa auf eine Reportage über die Kommune gestoßen. Sie zeigte Fotos von Menschen mit kahlrasierten Köpfen und seltsam offenen Gesichtern.

Ich hatte gelesen, dass die AAO-Kommune 1970 in Wien ins Leben gerufen wurde, in ebendieser Wohnung in der Praterstraße 32. Ihr Gründer war der 45-jährige Aktionskünstler Otto Muehl. Die AAO-Kommune war eine der vielen Antworten auf die große Frage der 68er-Generation, die in der Gateavisa häufig diskutiert wurde: Ist eine andere Lebensweise möglich? Ein wichtiger Bestandteil unterschiedlicher Gegenkulturen der 1970er Jahre war die Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft, aber damit diese sich vollziehen konnte, musste auch der Mensch eine Verwandlung durchlaufen. Ja, eine solche innere Transformation wurde als Voraussetzung für eine endgültige Abrechnung mit der alten Gesellschaftsordnung betrachtet.

In der Gateavisa stand, dass psychoanalytische Methoden und diverse neue therapeutische Errungenschaften nicht nur der Schlüssel zur individuellen Psyche, sondern auch ein Instrument zur Flucht aus der familiären Zwangsjacke des monogamen Heterolebens seien. Befreite Sexualität sei nicht bloß ein Mittel zum Erreichen des kleinen privaten Glücks, sondern ein Anfang, das Bestehende zum Einsturz zu bringen: das Leben als Kunst und Politik.

1970 hatte die Künstlerkommune AAO aus einem festen Kern von etwa zehn Personen bestanden. Im Volksmund wurde sie auch die Muehl-Kommune oder die Sex-Kommune genannt. Die Bewohner waren Künstler, Hippies und junge Leute aus dem linken Spektrum. Ihr Ziel war es, die Mängel sowohl des Kapitalismus als auch des Kommunismus zu beseitigen. Die Gateavisa referierte die wichtigsten Prinzipien der wachsenden AAO-Kommunebewegung: 1. Selbstdarstellung (SD), 2. Freie Sexualität, 3. Gemeinschaftseigentum, 4. Gemeinsame Arbeit und Produktion, 5. Gemeinsames Kinderaufwachsen, 6. Direkte Demokratie.

Am Ende des Artikels wurde darauf hingewiesen, dass die Kommune einen zwölftägigen Kurs zu den Themen Selbstdarstellung und Kommunelehrgang anbot. Beim Kommunelehrgang ging es um die Prinzipien des Zusammenlebens in der Kommune, während die Selbstdarstellung als eine Mischung aus Kunst, Improvisation und Therapie beschrieben wurde. Diese Beschreibung hatte ich sofort mit den seltsam berührenden Szenen aus dem Film Sweet Movie in Verbindung gebracht.

Für diesen Herbst hatte ich eine längere Reise geplant, um experimentelle Theatermilieus zu besuchen. Wien und die AAO-Kommune waren der erste Stopp, aber ich hatte vor, nach einer Weile weiterzureisen. Ich hatte noch weitere Adressen in meinem Rucksack. Wollte nach Paris, nach London, ja sogar in die USA, wo im Bereich des experimentellen Theaters viel passierte, wie ich zu wissen glaubte.

Spürte ich an diesem Nachmittag in der Tram, in diesem stickigen, feuchten Geruch nach nasser Wolle, zusammengepfercht mit einigen Einwohnern Wiens, in einer Atmosphäre unzeitgemäßer Volkstümlichkeit, ein vages Ziehen in der Herzgegend? Ich weiß es nicht mehr, aber ich dachte wohl, ich müsse tapfer sein. Denn obwohl ich danach hungerte, mich lebendig zu fühlen und aus dem Selbstverständlichen gerüttelt zu werden, aus dem, was bereits geschehen war, trug ich zugleich an einer Angst, die ich nicht verstand. Daher musste ich mich selbst ermahnen: Bleib in der Tram sitzen. Steig an der richtigen Haltestelle aus. Such die Adresse!

Nr. 32 stand direkt über einem dunklen Tor. Praterstraße Nr. 32. Ich atmete tief ein, der Kragen meiner Schaffelljacke war mit einer dünnen Schicht Nieselregen benetzt. Ich studierte das Klingelbrett mit deutsch und osteuropäisch klingenden Namen, als die schwere Tür im Torbogen plötzlich aufschwang. Nervös trat ich zwei Schritte zurück, denn heraus kamen vier, fünf laut lachende junge Leute; deutsche Satzbrocken flogen hin und her. Alle trugen handgestrickte Wollmützen in Komplementärfarben, einige von ihnen hatten ebenso farbenfrohe dicke Wollpullover an, andere große, gefütterte Militärjacken und schwarze, abgenutzte Militärstiefel. Zusammen trugen sie einen riesigen zusammengerollten Teppich auf den Schultern. Bei der Begegnung mit der übermütigen Energie, die aus dem Tor strömte, fühlte ich mich augenblicklich kläglich grau, doch ich nahm mich zusammen und fragte die erste Wollmütze, ob die AAO-Kommune in diesem Hof zu finden sei. Die vorwärtsstürmende Teppichtruppe kam abrupt zum Stehen, und die Person, an die ich meine Frage gerichtet hatte und die ich erst da als junge Frau erkannte, musterte mich konzentriert, bevor sie strahlend lächelte und antwortete: »Hier rein, die mittlere Tür, drei Treppen hoch, dann durch einen schmalen Gang nach links, und Simsalabim!« Woraufhin sich alle wieder in Bewegung setzten und durch das Tor zu einem geparkten Lieferwagen eilten.

Allein im Halbdunkel des Hofs, schaute ich zu den Fenstern hoch, gelbes, schwaches Licht wurde vom Regen draußen zurückgedrängt. Im Treppenhaus roch es nach alter Feuchtigkeit und undefinierbarem Essen, durch die Türen der Wohnungen oben drangen die gedämpften Laute der dahinter lebenden Menschen. Dann kam ich zu einem schmalen Gang mit Fenstern, die zum Hof und in die kompakte Herbstdunkelheit wiesen, an seinem Ende gab es nur eine einzige Tür. Eine graue Tür, die einmal weiß gewesen sein musste. Während ich mich ihr langsam näherte, dachte ich, dass ich immer noch umkehren könnte, die Treppen mit dem in der Luft hängenden Essensgeruch hinuntergehen, durch den Hof, das Tor öffnen — und raus auf die Straßen Wiens. Das hier musste nicht mein erster Stopp sein. Ich konnte ohne Weiteres ein paar Tage als Touristin in Wien bleiben, in der Jugendherberge übernachten, und dann zum »Théâtre du Soleil« in Paris weiterreisen. Mit diesen Gedanken im Kopf ging ich auf die schmutzige Tür zu, blieb direkt vor ihr stehen, hob den Arm, legte den Zeigefinger auf den schwarzen Knopf in einer runden Klingel aus gelbweißem Porzellan und schrak vor dem grellen, durchdringenden Klingelton direkt hinter der Tür unwillkürlich zurück. Mein Herz schlug schneller, die Tür wurde erst einen Spalt, dann weit geöffnet, von einem jungen Mann Anfang zwanzig mit blondem, raspelkurz geschnittenem Haar, in einer blauweiß gestreiften Latzhose und mit einer Scheibe Brot in der Hand. Er kaute, machte einen albernen Knicks und winkte mich mit einer weit ausholenden Armbewegung herein. Ich folgte der Aufforderung und trat ein. Ich wollte keine Angst mehr haben.

4

Ich blieb in einem geräumigen Korridor stehen. Der Mann, der mir geöffnet hatte, war verschwunden, aus einem Zimmer auf der rechten Seite drang jazzartiges Klaviergeklimper. Stimmengewirr, Leute, die im Korridor hin und her liefen, alle mit kurzgeschorenen Haaren und alternativ gekleidet. Vertrauensvolle Gesichter, vielleicht wegen der kurzen Haare. Niemand schien Notiz von mir zu nehmen. Links ein Raum ohne Tür, der, den Geräuschen nach, eine Küche sein musste. In der Schaffelljacke war mir entsetzlich warm. Ich versuchte, irgendjemandes Blick aufzufangen, aber anscheinend war es für diese Leute ohne Bedeutung, dass eine Fremde mit Rucksack in ihrer Wohnung stand. Ich zog die Jacke aus, heftete die Augen auf die nächste Person, die — mit einem Stoß Papier, anscheinend Rechenblätter, in der Hand — vorbeieilte, und machte einen Schritt auf sie zu. »Guten Tag«, sagte ich, etwas verlegen, weil dieser Gruß in der hippiehaften Atmosphäre so unangebracht formell klang. Die junge Frau blieb vor mir stehen, und ihr freundlich wirkender Blick erfüllte mich mit Dankbarkeit. Ich wurde etwas abgelenkt, als ich sah, dass ihr Oberkörper unter den Trägern der Latzhose nackt war, und geriet mit meinem Kindheitsdeutsch ins Stottern, als ich etwas von einem zwölftägigen Kurs in Selbstdarstellung murmelte. »Ein neuer Gast!«, rief sie erfreut, und im Nu hatten sich drei, vier andere Neugierige um uns geschart. Die Frau sagte etwas von einem Wagen, der am Abend zum Friedrichshof rausfahren würde, sechzig Kilometer außerhalb von Wien, wo die Kurse stattfanden. Dort könne ich bestimmt mitfahren. Dann eilte sie weiter, und die Versammlung löste sich auf.

Da stand ich also. Ich stellte den Rucksack ab und entdeckte einen Tisch mit Broschüren und mehreren Exemplaren eines Buchs mit oranger Schrift auf blauem Hintergrund: Das AA-Modell. Ich nahm eines der Bücher in die Hand und blätterte darin herum, blieb bei einer Passage über den Künstler Otto Muehl hängen. Dort stand, er habe auf Lehramt studiert und sei später Künstler geworden. Er war einer der Hauptakteure in der Künstlergruppe, die als Wiener Aktionismus bezeichnet wurde, einer Gruppe, die in den 1960er Jahren ihre Blütezeit hatte. Muehl und die anderen Aktionisten hätten der Rolle der Kunst in der kapitalistischen Nachkriegsgesellschaft und der »austrofaschistischen spießbürgerlichkeit« ihrer Gegenwart grundlegend kritisch gegenübergestanden, hieß es in dem Buch. Die Aktionisten betrachteten ihre Kunst als Auflehnung gegen den österreichischen Staat, der versuchte, die Erinnerung an die Kollaboration Österreichs mit den Nazis hinter einer Fassade nationaler Harmlosigkeit zu verstecken. Mithilfe dessen, was sie Direkte Kunst nannten, wollten sie erstarrte Kunstformen sprengen und die neurotischen Bürger der Nation aus Schweigen und Verdrängung rütteln. Alle Angehörigen des Kreises hatten Verbindung zur bildenden Kunst, waren aber buchstäblich durch die Leinwand und aus dem Rahmen gebrochen und nutzten stattdessen den Körper als Material und Medium, zusammen mit Lebensmitteln, Lehm, Eingeweiden und anderen kunstfremden Elementen. Die Künstler stellten »die hässliche seele der österreicher« aus, und das war, wie ich lesen konnte, nicht unbeachtet geblieben. Mehrere von ihnen waren in den 1960er Jahren wegen Verstoßes gegen das Sittengesetz zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, und sie hatten in der Öffentlichkeit moralische Entrüstung hervorgerufen. Zum Beispiel mit der Aktion Kunst und Revolution, die am 7. Juni 1968 an der Universität Wien stattgefunden hatte und als Uni-Ferkelei bekannt geworden war. Die Aktionisten Otto Muehl, Günter Brus und Oswald Wiener hatten vor den Studenten im Audimax der Universität ein Manifest verlesen. Zum Abschluss spielten sie die Nationalhymne ab und kackten dabei auf das Katheder. Für diese Aktion saß Muehl zwei Monate im Gefängnis, während es seinem Kollegen Brus gelang, nach Berlin zu fliehen, um der Verhaftung zu entgehen.

Ich fuhr zusammen, als die Frau mit den Rechenblättern zu mir kam und sagte: »In der Zwischenzeit kannst du beim Essenmachen in der Küche helfen. Wenn du Lust hast und hungrig bist«, fügte sie freundlich hinzu, aber auf eine Art, dass ich sofort nickte. Ich legte das Buch weg und ging mit ihr in die große Küche. Hoher Geräuschpegel, viele junge Frauen und Männer, einige am Herd, einige um einen Tisch versammelt, wo sie Gemüse schnitten. In der Ecke neben dem Herd bemerkte ich eine Duschkabine ohne Vorhang. Ein Mann in den Dreißigern stand vor mir — dunkle, kurzgeschorene Haare, braune, fröhliche Augen. Er reichte mir ein Messer. Zögernd schloss ich mich der Gruppe am Tisch an und begann etwas unbeholfen, Karotten in feine Streifen zu schneiden. Es kam mir vor, als verstünde ich kein Deutsch. Nicht dieses Deutsch. Alle redeten. Aber keiner sprach mich direkt an. Ich schnitt weiter, schwitzte in dem Essensdunst und der Wärme der Menschen. Plötzlich hörte ich die Stimme des Mannes mit den dunklen Haaren. Hatte er schon vorher mit mir geredet, ohne dass ich es gehört hatte?

»Wie heißt du?« Alle schauten mich an.

»Wencke«, antwortete ich.

»Myhre«, ergänzte er grinsend. Jetzt sah ich, dass auch sein Oberkörper nackt war.

»Otmar«, sagte er und schlug sich mit der Hand, die das Küchenmesser hielt, gegen die behaarte Brust.

»Du schwitzt«, fügte er hinzu. »Zieh den Pullover aus, der ist ja viel zu warm.« Automatisch legte ich das Messer hin und wand mich aus dem Pullover. »Das Unterhemd auch«, sagte Otmar aufmunternd. Alle sahen mich an. Ich zog das Unterhemd aus. Warum?

»Wencke Myhre trägt einen BH!«, rief er triumphierend. »Den brauchst du hier nicht!«

Gelächter. Niemand schnitt mehr Gemüse.

»Zieh den BH aus«, sagte Otmar.

Ein Mädchen, das nicht älter als 17 oder 18 sein konnte, johlte, alle applaudierten. Ich senkte den Blick, drehte mich um und verließ die Küche.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich die folgenden Stunden verbrachte. Aber ich weiß, dass Stunden vergingen, bis der Wagen endlich kam, der mich zum Friedrichshof, dem Hauptsitz der Kommune, bringen sollte. Ein unbeheizter Kastenwagen. Ich setzte mich ganz nach hinten, und vier, fünf andere folgten mir, Gäste oder frisch angekommene Kursteilnehmer wie ich. Wir waren junge, verfrorene Körper auf dem Weg zur gesellschaftlichen Avantgarde auf einem windgepeitschten Feld irgendwo zwischen Wien und der ungarischen Grenze.

5

In den Tagen nach meinem in der Holtegata gefassten Entschluss vertiefte ich mich in Bücher. Ich wusste nichts über den Geburtsort meines Vaters: Maribor in Slowenien, oder Marburg, wie die Stadt früher hieß. Sie war Teil des Habsburgerreichs beziehungsweise der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, mein Vater wuchs in einer Familie mit deutsch-österreichischen Wurzeln auf. Slowenien mit der Bezirkshauptstadt Marburg gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Herzogtum Steiermark im früheren Habsburgerreich. Die Doppelmonarchie umfasste ein Gebiet, das heute aufgespalten ist und nun Österreich, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Italien, Montenegro, Polen, Rumänien, Serbien, Slowakei, Slowenien und Ukraine heißt. In der Doppelmonarchie wurde offiziell Deutsch, Ungarisch, Tschechisch, Polnisch, Ukrainisch, Rumänisch, Serbisch, Kroatisch und Italienisch gesprochen sowie inoffiziell Slowakisch, Slowenisch, Bosnisch, Jiddisch und Ruthenisch. Die Gläubigen in diesem Reich hingen dem Katholizismus, dem Protestantismus, dem Judentum, der orthodoxen Lehre und seit der Eingliederung Bosniens auch dem sunnitischen Islam an. Franz Joseph I. regierte die Doppelmonarchie von 1848 bis zwei Jahre vor Ende des Ersten Weltkriegs. Dann brach infolge des Krieges das multiethnische Großreich auseinander. Österreich schrumpfte zu einem kleinen unbedeutenden Nationalstaat zusammen, und Slowenien wurde 1918 zu einem Teil des Königreichs Jugoslawien, das nun große Minoritäten (Deutsche, Österreicher, Ungarn, Juden, Ukrainer) beherbergte. Nach 1918 wurde allen aus dem ehemaligen Österreich-Ungarn hervorgegangenen neuen Staaten das Nationalstaatsmodell aufgezwungen. Im Sinne dieses Modells übernahm in den neuen Nationalstaaten ein Volk die Herrschaft, was destruktive Konflikte zwischen den Volksgruppen zur Folge hatte.

Mich hatte eine hektische Energie erfasst, sodass ich Probleme hatte, mich auf ein Thema zu konzentrieren. Neben meiner Lektüre über Slowenien fand ich Bücher mit Briefen, die deutsche Soldaten nach Hause geschrieben hatten, Kriegserinnerungen der Opfer und Kriegsliteratur, durch all das wühlte ich mich gierig hindurch, unsystematisch und mit zunehmend bulimischem Brechreiz. Meine Augen waren entweder zu trocken oder zu feucht. Ich kniff sie zusammen, öffnete sie wieder. Dachte darüber nach, was mein Vater in den Jahren seines Kriegseinsatzes an seine Eltern und drei Schwestern zu Hause in Maribor geschrieben haben könnte. Vermutlich hatte er gegen Ende dieser Zeit über Norwegen geschrieben. Zum Beispiel, dass er im Frühsommer 1945 in Kirkenær bei Kongsvinger meine Mutter kennengelernt hatte, die dort ein paar Tage Ferien machte, um sich auf dem Bauernhof ihrer Tante Hedvig einmal wieder richtig satt zu essen, wie meine Mutter mir auf ihre alten Tage erzählt hatte. Mama konnte es gebrauchen, weil sie ihrem alten, dementen Vater in Stavanger, der partout nicht einsehen wollte, dass er nicht immer genug zu essen haben konnte, einen Teil ihrer Lebensmittelkarten geschickt hatte. Bevor ich als längst Erwachsene erfuhr, dass meine Mutter meinen Vater im Frühjahr 1945 in Norwegen getroffen hatte, wurde uns Kindern auf die Standardfrage »Wo habt ihr euch kennengelernt?« geantwortet, meine Eltern hätten sich Hals über Kopf ineinander verliebt, als sie sich 1948 bei der Olympiade in St. Moritz in der Schweiz begegnet sind.

Dass sie in St. Moritz waren, ist wahr. Dass sie sich dort kennengelernt haben, ist eine Lüge, das hat meine Mutter später zugegeben. Im Frühjahr 1945 war mein Vater auf dem Weg von Nordnorwegen nach Süden. Mindestens 350.000 deutsche Soldaten wurden auf Veranlassung der Alliierten gesammelt und in die Gefangenschaft nach Deutschland geschickt.

Auf Basis der unzusammenhängenden Erzählung meiner Mutter war es schwierig, sich ein Bild der weiteren Entwicklung zu machen. Sie hatte ihn an einem warmen Frühsommertag auf einer Brücke getroffen. Zusammen mit einer Freundin war sie mit dem Rad unterwegs zum Baden. Auf der Brücke wurden sie von zwei Männern angehalten, die sich zunächst als ehemalige jugoslawische Kriegsgefangene auf dem Weg nach Süden ausgaben. Sie fragten nach dem Weg zur nächsten Kirche, bevor sie verabredeten, sich am nächsten Nachmittag am Badeplatz zu treffen.

»Der eine hatte so schöne Augen«, sagte meine Mutter.

»Knapp der Abstemplung als ›Deutschenflittchen‹ entgangen«, antwortete ich.

Angeblich verliebten sich meine Mutter und mein Vater spontan ineinander. Mutter hat erzählt, dass zwischen ihrem ersten Zusammentreffen in Kirkenær und ihrer Wiederbegegnung in St. Moritz drei Jahre vergingen. Was geschah in der Zwischenzeit? Ein paar Bruchstücke der Geschichte sind mir bekannt: Als ich meine Mutter einmal gefragt habe, wie die Wartezeit für sie war, hat sie gesagt, ihr seien Bedenken gekommen. Sie schrieben sich Briefe, und der Briefwechsel machte ihr bewusst, dass sie nicht viele Gemeinsamkeiten hatten. Zudem machten ihr neue Verehrer den Hof.

»Aber er hat mir leidgetan«, sagte sie. »Er hatte ja so viel verloren. Sein Land, sein Zuhause, so viele Kameraden. Sollte er mich auch noch verlieren?«

Auch ein Argument, dachte ich. Typisch Frau.

Was machte mein Vater, nachdem er irgendwann im Herbst 1945 aus britischer Gefangenschaft entlassen worden war? Als ehemaliger Soldat Nazideutschlands, das sein Heimatland Slowenien besetzt hatte, konnte er in dieses Land, das jetzt ein Teil des neuen kommunistischen Jugoslawien war, nicht zurückkehren. Wahrscheinlich wäre er von den neuen Machthabern sofort umgebracht worden. Vor allem musste er seine Papiere in Ordnung bringen. Eine ganze Weile streifte er als einer von vielen Staatenlosen durch Österreich, bis man ihm 1949 schließlich die österreichische Staatsbürgerschaft zuerkannte. Wovon lebte er? Tja, laut meiner Mutter überlebte er die erste Zeit, indem er alte Uniformen aufkaufte, die er — Textilfachmann, der er war — in fröhliche Friedensfarben umfärbte und weiterverkaufte. Dann bekam er einen Job in einer Textilfabrik in Wien. Der Besitzer war einer der wenigen überlebenden Juden Wiens. Er nahm sich meines arbeitslosen Vaters an, der keine Papiere besaß, aber Jahre in der Wehrmacht damit zugebracht hatte, »den jüdisch-bolschewistischen Todfeind« zu bekämpfen und zu vernichten. Ich erinnere mich daran, dass wir einmal Besuch von dem Fabrikbesitzer bekamen, der ein Freund meines Vaters geworden war. Zu dieser Zeit lebten wir in der Schweiz. Ich weiß nicht, ob er von Papas Vergangenheit wusste. Dieser Freund, an dessen Namen ich mich leider nicht erinnere, saß lange Abende bei Essen und Wein am Tisch meiner Eltern, während meine Schwester und ich im Kinderzimmer im Bett lagen und durch die Wand die angeregten Stimmen der Erwachsenen hörten. Ich freute mich auf das Resteessen am nächsten Tag. Es ist schön, Kind zu sein, wenn die Erwachsenen zusammen fröhlich sind.

Mir fiel auf, dass ich keinerlei Informationen über die Wehrmachtszeit meines Vaters besaß. Es war zwingend notwendig, andere Quellen zu finden als die aus dem Zusammenhang gerissenen Erinnerungsfetzen meiner befangenen, verstorbenen Mutter. Ich brauchte etwas Konkretes. Etwas, das die Wahrheit sagte. Wo hatte er sich aufgehalten? Wie lange? Welche Rolle hatte er gespielt? Daher nahm ich Kontakt zum slowenischen Nationalarchiv in Ljubljana und einem lokalen Archiv in Maribor auf, danach wandte ich mich an ein Archiv in Österreich. Die Archive wiesen viele Lücken auf, und man teilte mir mit, dass es keine Informationen über die Kriegslaufbahn meines Vaters gebe. Schließlich stieß ich auf die »Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WAS