Duell - Joost Zwagerman - E-Book

Duell E-Book

Joost Zwagerman

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Beschreibung

Was passiert, wenn die Faust eines Museumsdirektors ein 30 Millionen Euro teures Gemälde durchschlägt? Eine meisterhafte Satire auf den Kunstbetrieb: Jelmer Verhooff ist der junge Direktor des »Hollands Museum« in Amsterdam, ein hipper Aufsteiger innerhalb der Kunstwelt. Nun aber muß sein Museum wegen Brandschutzmängeln geschlossen werden. Als letzte Ausstellung vor der Schließung hat er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht: Junge holländische Künstler sollen sich mit Meisterwerken der Sammlung auseinandersetzen. Der Titel der Schau: »Duel. Dutch Artists Challenged by Modern Masters.« Besonders angetan ist er von einer jungen Malerin, die sich darauf spezialisiert hat, bedeutende Gemälde detailgenau zu kopieren. Diese wählt ein Schlüsselwerk von Mark Rothko und schafft ein verblüffend originalgetreues Abbild. Nach dem Ende der Ausstellung stellt dann allerdings der Restaurator des Museums fest, daß nun die Kopie in der Sammlung ist. Das Original wurde von der Malerin gestohlen. Und Jelmer Verhooff stellt seinerseits fest, daß Emma Duiker nicht nur Gemälde kopiert, sondern eine Konzeptkünstlerin ist, deren eigentliches Werk darin besteht, Rothkos Gemälde ohne jeden Hinweis auf dessen Wert und Bedeutung an alltäglichen Orten auf einfache Menschen wirken zu lassen. Verhooff macht sich sofort daran zu recherchieren, wo sich das Original befindet, um es zurückzustehlen. Er läßt Emma Duikers Computer hacken, und als er erfährt, daß sich der Rothko in der Schule für Lernbehinderte einer slowenischen Kleinstadt befindet, macht er sich zusammen mit dem Restaurator auf den Weg. Doch er hat Emma Duiker weit unterschätzt …

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Seitenzahl: 196

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Über das Buch

Was passiert, wenn die Faust des ­Museumsdirektors ein 30 Millionen Euro teures Gemälde durchschlägt?

Diese Frage beantwortet Joost Zwagerman in seiner 2010 in Holland erschienenen Novelle. Es geht dabei um ein (fiktives) Werk von Mark Rothko, das von einer Konzeptkünstlerin entführt wurde. Die meisterhafte Satire auf den Kunstbetrieb erreichte in Holland eine Auflage von 960.000 Exemplaren.

Über den Autor

Joost Zwagerman (1963–2015) war einer der bedeutendsten niederländischen Autoren, er schrieb Lyrik, Romane und Essays. Vor Duell erschienen bereits vier Romane in deutscher Übersetzung.

Joost Zwagerman

Duell

Novelle

Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe, »Duel«, erschien 2010 bei De Arbeiderspers, Amsterdam. © 2010 Joost Zwagerman.

Wir danken der niederländischen Stiftung für Literatur für die Förderung der Übersetzung.

Printausgabe: © Weidle Verlag 2016

Lektorat: Kim Keller

Korrektur: Nele Kather, Hendrik Vatheuer

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: August 2016

ISBN 9783959880534

Prolog

Verdammt, die Hand, die Faust! Jelmer Verhooff sah auf die zerrissene Leinwand und spürte, daß tief in seinem Inneren ein kleiner Knirps aufzustehen versuchte, der nach seiner Mutter rief. Nun ja, ein kleiner Knirps. Ein Junge. Ein großer Kerl. Ein großer Kerl von neun Jahren, der beim Schulschwimmen endlich den Kopfsprung gelernt hatte und am Ende dieser Schwimmstunde, während der letzten zehn Minuten des »freien Schwimmens« und vor den Augen all seiner Klassenkameraden, furchtlos auf das hohe Sprungbrett stieg. Fast sechs Meter hoch. Er wollte der ganzen Welt zeigen, wer er war.

Der große Kerl stieß sich mit den Fußballen ab – und von dem Moment an, als seine Füße vom Sprungbrett federten und er das Wasser auf sich zukommen sah, wußte er, daß er einen fürchterlichen Fehler gemacht hatte. Wie ein Versorgungssack, der aus nicht geringer Höhe aus einem Hubschrauber geworfen wird, fiel der große Kerl senkrecht in die Tiefe. Als er mit dem Bauch auf der Wasseroberfläche landete, brannte seine Haut sofort lichterloh. Sobald er unter Wasser war (immer noch brennend), sah und hörte er nichts mehr, und der große Kerl wünschte, er würde nie wieder auftauchen. Am Beckenrand stand natürlich die ganze Klasse, achtundzwanzig Schüler mit Stielaugen, die nicht wagten zu lachen – das taten sie erst später, im blau-weiß gefliesten Umkleideraum und im Bus zurück zur Schule, und dieses Lachen sollte das ganze Schuljahr anhalten, ein Tornado aus Gejohle und Gekicher.

Doch zuerst waren da die Hände, die er auf dem Rücken und in der Taille spürte. Wie sich zeigte, war der Bademeister ihm mit Kleidern und allem hinterhergesprungen und lotste ihn mit fester Hand zum Beckenrand. Prusten, husten, schlucken, heulen. Der große Kerl mußte auf dem Rücken liegen bleiben, auf den kalten Fliesen. Er wurde beklopft und befingert, der Bademeister in seinem durchweichten Shirt hielt die ganze Zeit mit einer Hand seinen Nacken.

Als er endlich aufstehen durfte und schwankend auf den Beinen stand, sah er, daß seine Lehrerin, die herbeigeeilt war, schreckensbleich auf seine Oberschenkel und den Bauch starrte. »Mensch, Junge ...« Frau Vreugdehil trug blaue Plastiktüten um ihre Schuhe, eine Art Bademütze für Füße.

Sein Bauch war knallrot. Vielleicht, dachte er, geht die Farbe nie wieder weg. Sein Gesicht brannte am stärksten. Die Lehrerin hatte sich über ihn gebeugt und streichelte ihm mit beiden Händen das Haar – auch das noch! Diese Geste war der Gnadenstoß; die Hände von Frau Vreugdehil waren die geschweiften Klammern um seine Erniedrigung.

In den Tagen nachdem seine Hand, halb zur Faust geballt, die Leinwand berührt hatte, mußte Verhooff des öfteren an jenen Nachmittag im Schwimmbad denken. Aber konnte man die beiden Situationen wirklich miteinander vergleichen? Was kostete Chlorwasser eigentlich? Hing ein Preisschild an all den Kubikmetern Wasser im Schwimmbad? Das Wasser hatte ihm Schmerz zugefügt, doch hatte er auch das Wasser beschädigt? Ach, was!

Über den Wert der zerrissenen Leinwand würde niemand Scherze machen. Der betrug – er hatte zur Sicherheit bei Olde Husink nachgefragt – schlappe dreißig Millionen Euro. Das war eine konservative Schätzung. Und dann die komische Figur, die er bei dem Ganzen gemacht hatte. Achtundzwanzig Klassenkameraden hörten, so kam es ihm vor, das ganze Schuljahr nicht auf zu lachen. Haha, da kommt der Ziegelstein Verhooff! Wenn herauskam, daß er eigenhändig Untitled No. 18, 1962 beschädigt hatte, von wem würde er dann bis ans Ende aller Zeiten verspottet und ausgelacht werden? Er mußte Realist sein: von – und auch das war eine konservative Schätzung – der ganzen Weltbevölkerung.

Nein, das ist der Prolog

Amerikaner können das sehr gut: eine rhetorische Frage stellen und diese dann mit fast denselben Worten zustimmend beantworten.

Is Muhammad Ali the best boxer of all times? I’ll say, Muhammad Ali is definitely the best boxer of all times!

In der Art.

Genau so sprach der Kurator des Museum of Modern Art in New York während eines Dinners mit vielen Kunstkollegen in Amsterdam über meine vorläufige Unterkunft. Der Kurator, ein hübscher, blonder Bursche mit Mittelscheitel und einem Schuppenhalbkreis auf dem dunkelblauen Blazer, kriegte sich nicht mehr ein über meinen, ja, Coup – denn das war es irgendwie.

Y’know, it’s incredible when you think about it. Does Jelmer Verhooff have the most sensational loft in Amsterdam? Well, in my opinion Mr Verhooff surely has the most sensational loft in Amsterdam!

Wie ich schon sagte: in der Art.

Seit es aus MoMA-Kreisen auf diese Weise in Worte gefaßt wurde, ist es offiziell und unwiderlegbar: Ich habe die spektakulärste Wohnung in Amsterdam.

Das darf man unter Niederländern selbstverständlich niemals so direkt sagen. Doch nach dem Blitzbesuch des amerikanischen Kurators (im Zusammenhang mit der Ausleihe eines Malewitsch aus unserer Sammlung) sage ich es dennoch weiterhin: Niemand in Amsterdam wohnt schöner als ich. Mein Wohnzimmer ist ein halber Museumssaal. Nur um einen Eindruck zu vermitteln.

Ehe bei anderen Neid auflodert, füge ich schnell hinzu, daß es »nur befristet« ist. Und wenn ich dann auch noch erwähne, daß ich nicht einmal über ein Bade­zimmer oder eine Dusche verfüge und in meiner spektakulären Unterkunft eigentlich nichts anderes bin als ein besserer Besetzungsverhinderer, ist jeder Wohnungsbrand aus Neid schnell gelöscht.

Trotz des phantastischen Gebäudes und der gigantischen Quadratmeterzahl muß man durchaus auch Abstriche machen. Die Räume lassen sich im Winter kaum heizen. Und kann man ein Minimum an häuslicher Atmosphäre in den Bürotrakten und dem kleinen Mu­seumssaal im sogenannten Neuen Flügel schaffen, die jetzt mein Wohn-, Arbeits-, Eß- und Schlafzimmer bilden? Gut, ich habe Ausblick auf den Museumplein, doch tagsüber gehen auf dieser Grünfläche allerlei freudlose Figuren mit ihren Hunden Gassi – daher ist dieser über das übliche Maß hinausgewachsene Rasen natürlich ein einziger Scheißhaufen –, und am Wochenende bevölkern Hobbyfußballer ihn, die ihre Grätschen auf einer Schicht aus breitgetretenem Hundekot machen und beim Schuß aufs Tor – mit zwei Kleiderhäufchen als provisorische Pfosten – einen hart gewordenen Bolusbrocken mit in die Luft treten. Abends und nachts gibt es kaum Beleuchtung, und die diagonale Linie, die einen streng geometrischen Lichtstreifen über das Gelände ziehen soll, ist immer kaputt, so daß von der anvisierten Grandezza eines von einer futuristischen Bodenbeleuchtung geschmückten Platzes nicht viel mehr übrigbleibt als eine zwielichtige Fläche, ein finsteres Vakuum zwischen dem Concertgebouw und dem Koninklijk Museum.

Währenddessen kann ich mein Glück kaum fassen. Ich bewohne einen Teil des ersten und zweiten Stockwerks im Neuen Flügel (der schon längst nicht mehr neu ist und demnächst abgerissen werden soll) des Hollands Museums, und mit dieser Heldentat in der Tasche ist der dreckige Rasen des Museumpleins eine Bagatelle. Auf der einen Seite habe ich Ausblick auf das geschäftige Treiben in der Van Baerlestraat; auf der anderen Seite erstreckt sich die weitläufige Fläche, und ich kann sozusagen dem Direktor des Koninklijk Museums ins Büro gucken, das, einen Steinwurf vom eigentlichen Museum entfernt, in einem imposanten Haus untergebracht ist. Kollege Henfling residiert dort. Zu meiner Zeit als Direktor der Kunstloods in Rotterdam hatte ich gelegentlich, etwa um die Ausleihe eines Hobbema zu besprechen, einen Termin bei ihm. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing ein Interieur von van der Helst, das man so hätte ausstellen können.

Ich kenne fast alle Direktionsbüros der niederländischen Museen für moderne Kunst. Man schaut überall ein paarmal im Jahr vorbei, um über die Planungen und zukünftigen Ausleihen zu sprechen. Wo ist der Aufenthalt am angenehmsten? Bei uns, am Museumplein. Im Van Effen Museum in Eindhoven liegen die Räume der Kuratoren und der Direktion zur Hälfte unterirdisch. Durch eine Reihe von Oberlichtern auf der Straßenseite fällt ein spärlicher Streifen Tageslicht ins Innere. Angestellte des Van Effen wußten zu berichten, daß Künstler der albernen Art oft durch die Oberlichter ins Direktionszimmer klettern, wenn sie einen Termin haben.

Im IJzinga in Maastricht befindet sich das Direktionszimmer im Erdgeschoß, und man muß erst um eine Ecke schauen, wenn man die Maas sehen will. Die Aussicht wird zum Teil durch eine schäbige Terrasse versperrt. Außerdem steht noch etwas Rauhes und Rostiges von Richard Serra ziemlich im Weg. Im Direktions­zimmer des Krammer-Steinbach mitten in der Veluwe herrscht, wie zu erwarten, eine pastoral-arkadische Atmosphäre. Manchmal hoppeln Hasen am Fenster vorüber. Geräusche von außen beschränken sich auf die Rasenmäher der Gemeinde, die während der Sommermonate wöchentlich den Rasen stutzen. Natürlich übertrifft der Direktor des Hoofdstadmuseums in Den Haag all seine Kollegen. Die Architektur dieses Museums ist dergestalt, daß der Direktor dort auch tatsächlich residiert, in einem Zimmer, das selbst ein Kunstwerk ist. Doch keiner meiner Kollegen durfte oder konnte je in seinem Museum wohnen.

Konservatoren und Direktion des Hollands Museums sind für die Zeit des Umbaus in den Büros im westlichen Hafengebiet untergebracht, in einer alten Zigarettenfabrik, wo sich auch die Depots befinden. Ich pendle am Morgen vom Herzen der Stadt in die Peripherie und abends wieder zurück.

In den ersten Monaten besuchten mich Politiker, CEOs, Medienleute, Schriftsteller und Künstler, die sich meine Wohnung von innen ansehen wollten. Manche sprachen davon, daß sie »dabeisein« wollten; als erwarteten sie ein Event. Die meisten hatten sich an den drei Büroräumen, in denen ich mich eingerichtet hatte, rasch sattgesehen – die Museumssäle selbst ließ ich »unbewohnt«. Niemand hatte ein Auge für den Konferenztisch, den Donald Judd für das Hollands gemacht hatte. Heute sage ich meinen Gästen manchmal, daß sie sich gerade mit den Ellenbogen auf einem echten Judd abstützen, der anderthalb Millionen wert ist. Wohlmeinende streicheln dann pflichtbewußt mit der Hand über die Tischplatte, doch die meisten Besucher pressen ganz unwillkürlich den Rücken gegen die Stuhllehne, aus Verärgerung ein wenig zurückweichend. Man sieht ihnen an, was sie denken: Treib es nicht zu bunt, du blutjunger Direktor. Eine Studentengruppe von der Kundstakademie machte große Augen. Die jungen Leute starrten die Tischplatte an, als würde sich Donald Judd persönlich jeden Moment daraus erheben. Sie nahmen, bereits am Tisch sitzend, Haltung an. Ich machte mit ihnen eine extralange Führung.

Für die meisten Gäste ist es vor allem ein Erlebnis, durch die leeren Säle zu streifen. Manche waren dutzendmal dort und haben sich Ausstellungen angesehen, und jetzt, da alle Säle leer sind, schwebt für sie pure Magie durch das Gebäude. Unbewohnt und ungenutzt – leere Räume regen immer die Phantasie an, nicht nur die von Kindern. In jedem Mann steckt ein ungezogener Junge. Sogar wenn sie schon beinahe sechzig sind, müssen sie etwas in den Saal hineinrufen. »E-chooo!« Das leere Gebäude verschafft jedem das – wie soll ich es nennen? – Nachts-im-Museum-Gefühl, allerdings ohne die Kunstwerke, die nach Sonnenuntergang zum Leben erwachen. Man kann nicht alles haben.

Praktische Details finden die Leute weniger spannend. Leer oder nicht, die Säle müssen mit Blick auf den bevorstehenden Umbau saubergehalten werden. Die Reinigungsfirma arbeitet daher einfach weiter. Ich darf nicht den Eindruck entstehen lassen, eine Putzfrau zu haben, die für fünftausend Euro im Monat den Laden sauber hält, denn das riecht nach Verschwendung und Bevorzugung. Und über die Heizkosten schweige ich lieber ganz. Das sind Beträge, die auch mir für einen Moment die Sprache verschlagen haben. Dennoch habe ich während der Wintermonate ordentlich gefroren. An manchen Januarabenden, wenn der Museumplein am dunkelsten ist, hockte ich zitternd unter drei Decken auf meinem Chesterfield, und es kostete mich keine allzu große Mühe, mich in den sprichwörtlichen Künstler in seinem Mansardenzimmer hineinzuversetzen. Doch auch in solchen Momenten vergesse ich nicht, daß mein Aufenthalt hier befristet ist.

Meine Wohnung wird zu einem der beeindruckendsten Museen Europas umgebaut werden. Das ist ein Satz wie aus einem Knabentraum. Zweimal habe ich mit meinen beiden Söhnen Inliner angezogen. Wie Königskinder sind wir durch die Säle geflitzt. Der erste Saal oben an der Treppe bot das größte Spektakel. Sonnenlicht fiel durch die großen Dachfenster. Hier und da hinterließen wir Streifen auf dem alten Parkett. Das war nicht weiter schlimm – nichts ist noch schlimm, weil alles gut war so. Zwei Jungen und ein Mann, die eine zermürbende Leere bezwangen. In einem der Säle hatten wir ein provisorisches Ziel eingerichtet, mit einem alten Fußballwimpel und drei zusammengeknoteten Gürteln von alten Bademänteln. Alle drei schafften wir es bis zum Ziel. Der Stadtlärm von draußen war wie ein Applaus aus der Ferne, hin und wieder begleitet vom Klingeln einer Straßenbahn, die durch die Paulus Potterstraat fuhr. Ein kunstliebendes Publikum hätte unsere Runden auf Inlinern vermutlich für eine Art von Performance gehalten. Doch dieses Publikum gab es nicht, und meine Söhne drehten noch eine Runde, während ich beschloß, das Ziel zu bemannen, dem dumpfen Poltern der Inlineskates auf dem Eichenparkett lauschend. Mit dem Poltern stanzten sie pures Glück in all die leeren Säle. Später, als ich wieder allein war, ging ich die Skatestrecke ab. Es war, als hätte sich Amsterdam in eine jahrhundertealte, riesige Eiche verwandelt, und in ihrem Wipfel, hinter Laub verborgen, gab es ein Baumhaus, Hollands Museum genannt. Laut zählte ich meine Schritte. Ich kam auf über zweihundert. Das waren natürlich nicht nur meine Schritte. Das waren meine Segnungen.

1

Selbst mit Vierzig wurde Jelmer Verhooff von Kollegen und Medien noch als »jung« bezeichnet. Wie schafft man es, bereits in diesem Alter Direktor des wichtigsten Museums für moderne Kunst in den Niederlanden zu werden? Die Worte eines Mannes bildeten die Grundlage für seine Karriere. Verhooff hätte nie zur modernen Kunst gefunden, wenn er nicht während seines Studiums einen Vortrag des amerikanischen Kunsthistorikers Bernard Shorto besucht hätte, der den Titel The End Of Arts As We Know It trug. Trotz des Titels war es ein vitales und optimistisches Referat über Kunst und Wirklichkeit mit dem Tenor, daß »alles« Kunst sein konnte, nun da die Künstler sich dank dieser Idee aus dem Reich von Atelier und Werkstatt befreit hatten. Künstler waren »Ausdenker« geworden, und das war laut Shorto keine Verarmung, sondern ein Gewinn. Für die Künstler. Und für uns, für diejenigen, die Kunst betrachteten oder besser gesagt: erfuhren.

Nicht nur der Vortrag brachte Verhooff zur bildenden Kunst. Am Rednerpult stand kein grübelnder Kulturpessimist in einem hippen schwarzen Anzug, sondern ein munterer Herr in einem schlabbrigen Holzfällerhemd. Er war nahezu kahl und hatte einen dichten, wolligen Bart. Er sah noch am ehesten aus wie ein dauerbegeisterter Teilnehmer an Volkswandertagen. Shorto erwies sich als Liebhaber von allem, was in der Kunst auf den ersten Blick verrückt und exzentrisch wirkte, das sich aber, von seinem Standpunkt aus betrachtet, als eine Feier von Freiheit, Kreativität und Eigensinnigkeit entpuppte. Wer sein Leben dem Nachdenken und Schreiben über Kunst widmete und dabei so gutgelaunt und tatendurstig blieb, der war bestens gerüstet, um als Vorbildfigur zu dienen.

Was sagte Shorto sonst noch? Weil Kunst sich immer mehr ihrer eigenen Künstlichkeit bewußt geworden und zugleich der Unterschied zwischen Kunst und Wirklichkeit durch Andy Warhols Beschluß, daß ein bestimmter Gegenstand, die Brillo Box, Kunst ist, aufgehoben worden war, war eine zuvor nicht dagewesene Freiheit entstanden: Das »Ende« der Kunst bedeutete de facto einen Beginn, der ungeahnte Perspektiven bot. Verhooff hörte atemlos zu, beteiligte sich anschließend an hitzigen Diskussionen in Kneipen und in Studentenbuden, sagte so gerade eben noch nicht »Halleluja«, hängte aber dennoch sein Studium an den Nagel und eröffnete im Hinterzimmer seiner kleinen Wohnung in Amsterdam-West eine, nun ja, »Galerie«.

Weil Verhooff in Kunstakademien und Galerien in der Provinz forsche Talente ausgrub, zog sein Unternehmen – die neunziger Jahre hatten gerade begonnen – aufgrund des großen Erfolgs sehr bald in eine ehemalige Steindruckerei im Herzen der Stadt. Von dort katapultierte er, obwohl die Kunstbranche sich in einer vorübergehenden Baisse befand, spektakuläre Arbeiten junger Künstler in die Welt.

Nicht nur Künstler aus seinem Stall wurden Stars, Jelmer Verhooff selbst wurde auch einer. Er bekam Einladungen aus dem Ausland, um dort Ausstellungen zu organisieren. Seine Amsterdamer Galerie blieb das Hauptquartier und entwickelte sich zu einem Exporthafen für Ausstellungen und Museen in ganz Europa. Und bei jeder Aktivität, die er entfaltete, betonte die in- und ausländische Presse sein Alter. Kaum Anfang Dreißig und schon ein halber Kunstpapst.

Ende der neunziger Jahre eröffnete Verhooff in Düsseldorf eine Dépendance. Eine Zeitlang hielt er sich mehr in Deutschland als in den Niederlanden auf, und er kehrte erst in die Niederlande zurück, nachdem er seine Galerien an Gefährten der ersten Stunde übergeben hatte, weil ihm die Direktion der Kunstloods in Rotterdam angeboten worden war.

So wurde Verhooff lange vor seinem vierzigsten Geburtstag Museumsdirektor in der zweitwichtigsten Museumsstadt des Landes, und fünf Jahre nach seiner Ernennung war der Stadtrat von Amsterdam sich nahezu märchenhaft darüber einig, wer der Direktor des Hollands Museums werden sollte: Jelmer Verhooff, Sonntagskind und Teufelskerl, Schlüsselfigur des Kunstbetriebs, Botschafter der neuen niederländischen Kunst, unermüdlicher Organisator und vor allem jemand, der die Kunst des Bewunderns tadellos beherrschte, ohne jemals in Schwärmerei oder Populismus zu verfallen. Er bekam zunächst einmal einen mehrjährigen Vertrag.

Als er ein knappes Jahr als Direktor des Hollands Museums amtierte, mußte er zwei Rückschläge hinnehmen. Der erste war, daß seine Ehe explodierte. So wie in Actionfilmen der Held manchmal ruft, alle sollten in Deckung gehen, weil etwas, meistens ein Auto, zu explodieren droht, so rief auch eines Tages seine Frau bei einem Ehestreit, er, Verhooff, solle in Deckung gehen. Nach dem darauffolgenden Wutausbruch kam er vorsichtig wieder aus seinem Unterstand, um verdattert auf die Trümmer seiner Ehe zu starren. Er solle sich eine andere Wohnung suchen, sagte seine Frau. Sie werde die Kinder behalten, fügte sie hinzu.

Das war der kleine Rückschlag. Niemals ist eine Frau, so besagt das Klischee, ein bißchen schwanger, doch Legionen von Männern sind ein bißchen verheiratet. Verhooff war noch weniger als das gewesen. Dennoch mußte seine Ehe auf offiziellem Weg geschieden werden. Dabei kam es zu allerlei kostspieligen Streitereien zwischen Anwälten und Mediatoren. Doch als er schließlich geschieden war, änderte sich nicht sonderlich viel, da seine Ehe immer nur an der Peripherie seines Lebens geköchelt hatte.

Verhooff vermißte seine Söhne, das schon. Während der seltenen Momente des Selbstmitleids bejammerte er sich, weil er sie kaum sah. Doch diesen Verlust wog er auf gegen die Erleichterung darüber, daß seine Frau ihrer Ehe den Sprengstoffgürtel umgeschnallt hatte. Nach der Beseitigung des durch die Scheidung angerichteten Chaos erstreckte sich vor ihm eine inspirierende Landschaft, ein verschönertes Lebens- und Arbeitsterrain. Er wurde ein typischer Weihnachts- und Geburtstagsvater. Die Jungen, die würden sich schon melden, wenn sie ein wenig älter waren. Das würde schon wieder werden.

Der zweite, viel größere Rückschlag ereilte ihn, nachdem die Amsterdamer Feuerwehr routinemäßig den Zustand seines Museums untersucht hatte. Das zum Teil veraltete Gebäude erwies sich als derart brandgefährdet, daß es unverantwortlich war, weiterhin Besucher in das Museum zu lassen. Das Gebäude war nicht sicher für das Publikum, die Angestellten und für die vielen Hundert Kunstwerke. Das Hollands Museum bekam von der Stadt Amsterdam sechs Monate Zeit, die Pforten zu schließen. Es mußte ein Um- und Neubauplan erarbeitet werden.

In den Medien setzte sich die Gerüchtemaschinerie in Gang. Zum ersten Mal machte Verhooff Bekanntschaft mit dem Phänomen Reputationsschaden. Hatte die Stadt Jelmer Verhooff mit Absicht angestellt, in dem Wissen, daß er in absehbarer Zeit ein Direktor ohne Museum sein würde? War er ein Zwischenpapst? Durfte man einem Schwergewicht so etwas denn antun? War Verhooff dann nicht, mutatis mutandis, ein Leichtgewicht, ein aufs Glatteis geführter Kraftmeier?

An die einige Jahre dauernde Schließung knüpfte die Stadt Amsterdam ehrgeizige Pläne, das Museum mit einem teilweisen Neubau zu erweitern. Für die sechs Monate, die das Hollands noch geöffnet sein würde, organisierte Verhooff im Eiltempo eine letzte Ausstellung, die zunächst Reactions heißen sollte. Zwanzig junge niederländische Künstler, die nicht älter als Dreißig sein durften, sollten in einen »Dialog« mit einem klassisch-modernen Meisterwerk aus der Sammlung des Museums treten. Jemand aus dem Mitarbeiterteam wandte gegen diese Beschränkung ein, daß man so eine Reihe von »Cracks« der Generation um die Fünfzig ausschließe: Walter van Raamsdonck, Massimo Groen, Theo Eckhardt. Seien diese Namen nicht untrennbar mit dem Hollands Museum verbunden, und sei es auch nur wegen der inzwischen legendären Ausstellung The Amsterdam Dream Ende der achtziger Jahre? Das Plädoyer für die midcareer artists führte zu nichts. Diese Künstler waren mittlerweile bereits zu arriviert, und ein Abschied mit diesen Altgedienten würde nicht zum Ruf des Museums beitragen, ein dynamisches Kunstlaboratorium zu sein.

Der Titel Reactions verschwand ebenso vom Tisch wie der Zusatz »Künstler im Dialog«. Das klang zu wenig deskriptiv und zu altmodisch. Wer den Vorschlag gemacht hatte, wußte Verhooff später nicht mehr, aber die Ausstellung hieß am Ende: Duel. Dazu als Appetitmacher: Dutch Artists Challenged by Modern Masters. So suggerierte man Kräftemessen, Reibung und, möglicherweise, Kontroverse.

Mit seinen Kuratoren stellte Verhooff die Liste der jungen Künstler zusammen. Darunter relativ viele Photographen und, wie Verhooff sie gelegentlich scherzhaft-spöttisch nannte, »Installateure«. Alle wurden gebeten, einen Klassiker aus den Museumsbeständen auszuwählen. Es zeigte sich, daß Verhooff, obwohl die Außenwelt ihm die Amtskette der ewigen Jugend umgehängt hatte, nicht im Detail darüber informiert war, was die jüngste Künstlergeneration so alles machte. Er mußte wiederholt von seinen Mitarbeitern auf den neuesten Stand gebracht werden. Trotzdem war die Liste recht schnell erstellt. Nur der ein oder andere Kandidat war umstritten.

Als jemand den Namen Emma Duiker nannte, brach kultivierter Tumult aus. Die Hälfte des Mitarbeiterstabs fand ihre Serie Doppelgänger spannend und kontrovers. Die andere Hälfte bezeichnete ihr Werk als ein Gimmick, als eine Masche, auf der sie schon seit Jahren herumritt. Ein überschätztes Ding sei sie, das in einem fort ihr Image als bezauberndes Mädchen geschickt ausspielte. Hätte ein fünfzigjähriger Mann ihre Werke geschaffen, kein Hahn hätte danach gekräht.

Verhooff hielt sich raus – er hatte noch nie von Emma Duiker gehört. Er erfuhr, daß sie Gemälde zeitgenössischer Meister bis ins kleinste Detail kopierte, immer mit Zustimmung der betreffenden Künstler, die ihr manchmal sogar mit Informationen zu praktischen Dingen wie Farbsorten, Farbschichten, Impasto, Pigmenten, Bespannung halfen. Mitunter arbeitete Emma Duiker überdies mit Röntgen- und Mikroskopieuntersuchungen, die Restauratoren durchgeführt hatten. Sie hatte sogenannte Doubles von Arbeiten von Sigmar Polke, Gerhard Richter, Jörg Immendorff, Cy Twombly und anderen weltberühmten Malern gemacht. Die künstlerische Intention war keine postmoderne Spielerei und kein Fälschungsscherz, sondern es ging um die Offenlegung der Entstehungsgeschichte eines Kunstwerks, so Emma Duikers eigene Charakterisierung. In einer Vitrine, die gleich neben dem jeweiligen nachgemachten Kunstwerk stand, zeigte Duiker allerlei Dokumente – Briefe, Restaurierungsberichte – und sogar die benutzten Pinsel, Farbtuben und Pigmente. Diese Präsentation unterstrich noch einmal, daß sie nicht aus Sensationslust kopierte, sondern aus Faszination für Quellenforschung, für die handwerklichen, technischen und prosaischen Aspekte der zeitgenössischen Meisterwerke. Verhooff verstand die Kontroverse über ihr Werk nicht so recht. In seinen Augen strahlte all das eine beinah rührende Gründlichkeit aus, der man in der aktuellen Kunst nur noch selten begegnete. Aber vielleicht waren ja Gediegenheit und Gründlichkeit heute Anlaß für eine Kontroverse.