Duke - Ein weiter Weg zurück - Kerstin Rachfahl - E-Book

Duke - Ein weiter Weg zurück E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

Es war die Schuld, die mich von zu Hause fortgetrieben hat, obwohl ich in meinem ganzen Leben noch keinen Tag woanders gewesen war. Die Schuld ist es auch, die mich nach Hause zurückgeholt hat, weil ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die mit der Vergangenheit zu kämpfen hat. Womit ich nicht rechnete, war der Schmerz. Ich dachte, ich hätte ihn und alles hinter mir gelassen, fest in meinen Erinnerungen verschlossen, sodass es sich nur nachts in meine Träume schleicht. Aber jetzt weiß ich, dass ich mir in den letzten Jahren nur etwas vorgemacht habe. Niemals werde ich ihn vergessen. Niemals wird die Wunde heilen, die er in mein Herz geschlagen hat. „Ja, Vera, du hast recht, ich habe nicht die geringste Ahnung von dem, was in deinem Kopf vorgeht. Verschwinde nur, geh. Duke ist nicht dein Pferd, also was kümmert es dich, was mit ihm passiert? Soll er doch verrecken, nicht wahr? Hauptsache, du kannst dich raushalten. Geh nur, verkriech dich unter deiner Bettdecke. Bemitleide dich selbst. Stefan hatte recht, du hast dich verändert.“ Liebe hinterlässt tiefe Spuren, und im Grunde meines Herzens weiß ich, dass ich ihm nicht gerecht werde. Er hätte nicht gewollt, dass ich mit dem Reiten aufhöre. Er hätte nicht gewollt, dass ich aus meinem Leben flüchte. Er hat mir all sein Vertrauen geschenkt, und ich habe es gleich mehrmals gebrochen. Werde ich mir das je verzeihen können?

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DUKE - EIN WEITER WEG ZURÜCK

KERSTIN RACHFAHL

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Nachwort

Impressum

Deutsche Erstausgabe September 2011

Copyright © 2011 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Dritte Auflage März 2013

 

Lektorat, Korrektorat: Dr. Werner Irro

Umschlaggestaltung: Paulina Ochnio

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

Email: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

 

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

In Erinnerung an SF Silver Star. Die für immer einen Platz in meinem Herzen hat.

1

Kapitel

Rund und voll stand der Mond am Himmel. In den Bäumen wisperte die Nacht ihre Geschichten. Zweige knackten unter den Füßen der schleichenden Jäger. Eine Eule breitete die Schwingen aus und stieß sich ab, aufgescheucht von den weichen Tritten des Pferdes. Gespenstische Schatten zogen vorbei. Ich spürte den Wind, der die Wolken am Himmel entlangjagte, er zog an meinen Haaren. Von unter mir stieg die Wärme des Pferdekörpers auf. Gleichmäßig und sicher stapfte Flying High den dunklen Waldweg entlang. Wenn keine Wolke den Mond verdeckte, konnte ich den Weg erkennen. Ich versuchte erst gar nicht, mein Pferd zu lenken, vertrauensvoll überließ ich Fly die Führung. Seine Augen waren besser, seine Sinne in der Dunkelheit feinfühliger als die meinen.

Eigentlich hatte ich nur eine kleine Runde mit Fly drehen wollen, bevor es morgen nach Aachen ging. Eine lange Fahrt im Hänger, endloses Stehen in einer Box. Im Gedanken sah ich bereits die vorwurfsvollen Blicke von Fly, weil er beides nicht mochte. Dafür liebte er den Wettbewerb, das Springen und vor allem das Siegen wie kein anderes Pferd.

Ich hätte ewig durch die Nacht reiten können. Immer weiter, immer tiefer in den Wald. Weg von den Menschen mit all ihren komplizierten Gefühlen, den falschen Worten, die sie sprachen. Hinein in die Stille, der Rhythmus von zwei Körpern im Gleichklang. Diese Harmonie hatte mir in den letzten Wochen beim Reiten so schmerzhaft gefehlt. Was ganz allein an mir lag. An mir und an meiner Blödheit. Wieso um alles in der Welt hatte ich auf dieser dämlichen Wohltätigkeitsgala mit Thomas Sander geschlafen? War es seine Art gewesen, mich beim Tanzen so eng an seinen Körper zu drücken? Seine warme Stimme, die mir zärtliche Worte ins Ohr flüsterte? Oder der Alkohol, der mir zu Kopf gestiegen war? Vermutlich alles zusammen, ich war berauscht gewesen von all der Aufmerksamkeit, die er mir an diesem Abend schenkte. Von seinen braunen Augen, die so lebendig gefunkelt hatten wie sonst nur die seines Bruders Henning. Seinen geflüsterten Liebesbeteuerungen. Es war allein meine Schuld. Wie dumm war ich gewesen! Die Quittung erhielt ich direkt danach. Schon beim Aufwachen war er aus dem Hotelzimmer verschwunden gewesen. Und die letzten Wochen? Kein Thomas, kein Anruf, kein Zettel. Nichts, als wäre er ein Gespenst.

Und dann war Henning mit seiner Verlobten aufgetaucht. Selina Sanchez. Allein schon der Name ließ mich aufstöhnen, ein Blick hatte gereicht und jedes Selbstwertgefühl in mir war abgestorben. Ein Albtraum für jedes Mädchen, das so durchschnittlich aussah wie ich. Sie hatte schwarzes langes, lockiges Haar. War mindestens 1,80 Meter groß, wog höchstens sechzig Kilo und bestand vor allem aus Beinen. Beine, die in schlanken Fesseln endeten, so wie ich es bei Pferden schön fand. Der Busen üppig genug, dass er einen guten Blick in ihr Dekolleté gestattete, und mit einer schmalen Taille. Sie war sogar nett gewesen, als Henning mich ihr vorstellte. Noch jetzt schüttelte es mich bei dem Gedanken an diese geballte Weiblichkeit. Sie in Jeans, dunkles T-Shirt, tiefer Ausschnitt und eine weiße Bluse darüber. Dezent geschminkt, die braunen Augen mit einem Hauch Gold betont, reichte sie mir ihre gepflegte Hand mit den gestylten Fingernägeln. Ich unterdrückte meinen Impuls, mir erst meine Hände, die kurz zuvor den Pferdemist aus den Hufen von Fly gekratzt hatten, an der Hose abzuwischen. Tapfer ergriff sie die raue Hand von mir, runzelte kurz die Nase, als ihr mein Geruch von Mist entgegenwehte, und schüttelte sie. Insgeheim verfluchte ich Henning, der mich in diese missliche Lage gebracht hatte. Er ignorierte meine Signale zu verschwinden geflissentlich. Stattdessen grinste er mich frech an, schenkte Selina verliebte Blicke und erzählte ihr von den Streichen unserer Kindheit. Ich verdrehte genervt die Augen, während Selina höflich an den richtigen Stellen lachte. Die Pointen gingen natürlich auf meinen Kosten. Mit einem kurz gemurmelten „Ich muss trainieren“ schwang ich mich auf Fly und steuerte auf ein Hindernis zu in der Absicht, wenigstens in einer Sache eine gute Figur zu machen. Es war, als hätte sich alles gegen mich verschworen. Drei Stangen flogen vom Hindernis. Wild buckelnd machte Fly mir bewusst, auf was ich mich zu konzentrieren hatte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Henning mit Selina Hand in Hand in Richtung des Anwesens der Sanders im Wald verschwand.

Während sich Thomas mit Selina und Henning die Zeit in den Nachtclubs vertrieb, hatte ich mich um Dumont zu kümmern. Dabei gab es auf dem Hof schon genug Arbeit. Was für eine Idiotie. Ich, Vera Kamphoven, trainierte das Pferd meines stärksten Konkurrenten. Das einzige Paar, das es derzeit mit mir und Fly aufnehmen konnte. Bald ist es vorbei damit, dachte ich grimmig. Wenn ich erst den Pokal in meinen Händen hielt, würde ich triumphieren. Die Sanders konnten mir den Buckel runterrutschen: Dann würde Fly mir gehören. So lautete mein Deal, den ich vor acht Jahren mit Erich Sander geschlossen hatte. Erich Sander, mein Chef und der Vater von Thomas und Henning, der Patriarch dieser eingebildeten Familie, die sich alle für etwas Besseres hielten. Aber nicht mehr lange, dachte ich frohlockend. Wenn Flying High erst mal mir gehörte, würde ich meine eigenen Wege gehen.

Während mich Fly durch die Nacht trug, malte ich mir unser Leben in allen Einzelheiten aus. Zuerst war da mein eigener kleiner Hof. Zwei, drei Stuten, die ich von Fly decken lassen würde. Ein kleiner Springplatz, schöne Koppeln mit einem Bach, damit ich mich nicht um das Wasser kümmern musste. Ein Platz für das Training mit einem Dach, aber ohne feste Wände. Ich brauchte Luft beim Training. Nichts verabscheute ich mehr als staubige Hallen. Ich grinste, meinen Grundstock für den Traum hatte ich bereits zusammengespart. Ein Investor noch dazu würde natürlich nicht schlecht sein. Ja, genau so würde meine Welt in weniger als zehn Tagen aussehen. Gut, noch fehlte mir die passende Immobilie. Na ja, ich konnte ja noch ein wenig bei meinen Eltern bleiben.

Ich träumte mit halboffenen Augen, als sich Worte flüsternd einen Weg durch meine Bilder bahnten. Was, wenn du es nicht schaffst? Ärgerlich schob ich den Gedanken beiseite, ich und Fly waren besser als Thomas und Dumont. Vor allem, da sich Thomas während der letzten Wochen nicht dazu herabgelassen hatte, sein Turnierpferd zu reiten. Ein Fuchs huschte über den Weg. Fly machte einen Satz rückwärts, brachte mich aus dem Gleichgewicht. Mein Herz raste, ich sprang ab, tastete vorsichtig die Beine von Fly ab. Alles in Ordnung. Das fehlte mir noch, eine Verletzung kurz vor der Abfahrt zum Turnier.

Ich sah zum dunklen Himmel hoch, wie spät mochte es sein? Papa reißt mir den Kopf ab, dachte ich, und dazu hatte er jedes Recht. In der Dunkelheit mit Fly, der in den nächsten Tagen Höchstleistung zeigen musste, durch einen Wald zu reiten. Ich stieg wieder auf. Es war dort oben sicherer, als im Dunkeln über den Weg zu stolpern. Zehn Minuten später öffnete sich der Wald. Vor mir breitete sich der Hof der Sanders aus.

Der Stall, die Reithalle, der Springplatz, das kleine Gutshaus, in dem ich mit meinen Eltern wohnte. Ich atmete erleichtert auf, wir waren heil angekommen, dank der Instinkte meines Pferdes. Wieso auch nicht, dachte ich aufmüpfig und zuckte mit den Achseln.

Früher hatte ich mir über mögliche Verletzungen nie Gedanken gemacht. Das war vor der Zeit des großen Turniersports gewesen. Vor dem ganzen Druck, der dazu geführt hatte, dass ich mich heute mit Papa gestritten hatte. Seine Kritik an meinen Sprüngen mit Fly ärgerte mich maßlos. Natürlich wusste ich, dass es an mir lag. Ohne ihm ein Wort zu gönnen, war ich über den Zaun vom Platz gesprungen und mit Fly in den Wald galoppiert.

Jetzt lenkte ich Fly sanft auf den Stall zu, löste meine Beine aus den Steigbügeln, ließ sie baumeln. Die Muskeln schmerzten von dem langen Ausritt. Ich war ja den ganzen Tag bereits im Sattel gewesen und hatte die Jungpferde trainiert. Sie alle würden die nächsten Tage auf der Weide verbringen. Fly griff freudig aus, um die letzten paar Meter zum Stall zu überwinden, und ich ließ ihn gewähren.

Abrupt unterbrach Flying High seine Schritte, kurz vor den Paddocks, die die Boxen der Pferde um einen Auslauf erweiterten. Alle vier Beine in den Boden stemmend, verharrte er auf der Stelle, sodass ich von dem unerwarteten Stillstand nach vorne rutschte. Nur der aufgerichtete Hals des Pferdes verhinderte, dass ich auf dem Boden landete. Die Ohren wachsam nach vorne gerichtet, die Muskeln unter mir gespannt, starrte er vor sich auf die kleine Baumgruppe, die sich an das erste Paddock anlehnte. Ich wusste, dass Duke, der kleine Bruder von Fly, wie jede Nacht statt in seiner Box im Paddock stand. Ich ahnte seine Gestalt in der Dunkelheit mehr, als dass ich sie sah. Aber das konnte nicht der Grund sein, weshalb Fly so beunruhigt war. Die Anspannung von Fly übertrug sich auf mich. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten. Flying High machte einen Satz zur Seite und brachte mich erneut aus dem Gleichwicht. Ich geriet in eine gefährliche seitliche Rutschlage, krallte mich schnell in seiner Mähne fest und zog mich langsam wieder in den Sattel.

„Sachte, mein Süßer, ganz sachte, wir brauchen beide heile Knochen“, sprach ich beruhigend auf ihn ein. Angespannt und jede Sekunde bereit, vor der Gefahr wegzugaloppieren, verharrte er. Ich kraulte seinen Mähnenkamm, murmelte weiter beruhigende Worte in sein Ohr. Die Gestalt blieb regungslos stehen und wartete ab. Fly beruhigte sich, ich konnte spüren, wie sich sein Körper entspannte. Unser beider Herzschlag verlangsamte sich. Jetzt konnte ich es wagen, mich aus dem Sattel gleiten zu lassen. Die Zügel behielt ich fest in der Hand aus Sorge, er könnte doch noch eine Kehrtwendung vollziehen und vor der vermeintlichen Gefahr flüchten. Wütend wendete ich mich der Gestalt zu. Mein Vater konnte es nicht sein, er wäre niemals aus den Bäumen getreten und hätte riskiert, dass Fly durchging. Wer immer es war, von Pferden hatte er keine Ahnung.

„Tut mir leid, ich wollte euch nicht erschrecken“, flüsterte es mir leise entgegen.

„Bist du völlig übergeschnappt, hier draußen unter den Bäumen zu stehen? So viel Pferdeverstand müsstest selbst du haben.“ Ärgerlich schlug ich Henning vor die Brust. „Mann, du hast uns fast zu Tode erschreckt. Was suchst du hier überhaupt?“

„Ich habe auf dich gewartet, tut mir leid, ehrlich. Ich habe einfach nicht darüber nachgedacht“, beteuerte Henning. Er streckte Fly seine Hand hin, der keinen Schritt näher kam, dafür den Hals streckte und vorsichtig an seiner Hand roch. Ich kraulte die Stirn des Pferdes, mein Ärger wich langsam der Neugier, warum Henning hier in der Dunkelheit auf mich wartete. Bei meinen Eltern im Haus wäre er garantiert mit Essen und Trinken versorgt worden. Überhaupt hatte er gar nicht wissen können, wann ich nach Hause kam, schließlich war es kein geplanter Ausritt gewesen.

Henning zog die Hand von Fly zurück und beobachtete mich. Ich drehte mich zu ihm um. Er hatte die Hände in der Hose vergraben, die Schultern eingezogen, ich musste zu ihm aufblicken, da er ein Stück größer war als ich. Er sah so schuldbewusst aus, dass ich mir ein Grinsen nun doch nicht verkneifen konnte. Typisch dieser Hundeblick, mit dem er immer alles erreicht hatte, während ich trotzig reagierte, wenn man mich bei einer Missetat erwischte. Erleichterung machte sich in seinem Gesicht breit.

„Wieso wartest du hier draußen auf mich?“

„Tja, vielleicht könntest du selber darauf kommen. Bei euch ist gerade keine gute Stimmung. Der wollte ich mich freiwillig nicht aussetzen. Ich war erst im Stall, bis mich dieser kleine Kerl“, er zeigte auf Duke im Paddock, „rausgelockt hat. Ich glaube, er hat gespürt, dass ihr kommt.“

Puh, mein Vater, den hatte ich völlig vergessen. „War er verärgert oder sauer?“

Henning zuckte mit den Schultern. „Das lässt sich bei deinem Vater schwer einschätzen. Aber wenn ich es mir recht überlege, doch, ja, er war richtig sauer.“ Er grinste breit, vermutlich weil er sich vorstellte, was mich zu Hause erwartete.

Papas Vorwürfen würde ich nichts entgegensetzen können, denn er hatte recht: Ich war in meiner Wut leichtsinnig gewesen. Im Grunde genommen hatte ich genauso wenig Pferdeverstand gezeigt wie Henning gerade. Ich zog sachte an den Zügeln und ging mit Fly zum Stall, meine Neugier war verflogen. Stattdessen überlegte ich, was ich Papa sagen sollte. Tut mir leid, ich bin total durcheinander, weil ich mit Thomas geschlafen habe und er, seitdem kein Wort mehr mit mir redet? Einen Herzinfarkt würde er kriegen, und Mama gleich mit. So ein verfluchter Mist! Besser, er regte sich über meinen mangelnden Pferdeverstand auf.

Ich öffnete die Tür der Box, streifte die Trense von Flys Kopf und ließ ihn das Gebiss ausspucken. Kaum war es raus, macht er sich über das Kraftfutter her. Henning war mir in den Stall gefolgt. Er blieb vor der Box stehen und sah Fly beim Fressen zu. Ich holte ein Handtuch sowie einen Hufkratzer aus der Sattelkammer. Fly ließ es sich gefallen, dass ich ihn mit dem Handtuch abrieb. Gelegentlich zuckte er unruhig mit den Ohren oder schlug mit dem Schweif. Mit gebührender Vorsicht kratzte ich ihm die Hufe aus und achtete auf jedes noch so kleine Steinchen. Er mochte das nicht beim Fressen, doch ich war müde und wollte ins Bett. Das rechte Vordereisen gab leicht nach, als ich den Huf auskratzte. Ich rüttelte dran, es blieb fest am Huf. Vermutlich nur Einbildung. Aber ich würde es in den nächsten Tagen im Auge behalten.

„Morgen geht’s los, euer großer Tag.“

Ich zuckte zusammen. Völlig in Gedanken versunken hatte ich tatsächlich vergessen, dass Henning an der Boxentür stand.

„Wie meinst du das?“ Selbst in meinen Ohren klang meine Stimme barsch und abweisend. Es war unfair, Henning konnte nichts für meinen Ärger. Mit einem schiefen Grinsen versuchte ich ihn entschuldigend anzusehen. Seine braunen Augen fingen meinen Blick auf und hielten ihn fest. Schnell wandte ich mich ab, seine Augen waren so lebendig. Manchmal schien es mir, als ob er allein mit ihnen alles erzählen konnte, was er dachte oder fühlte. Wenn er mich so intensiv ansah, dann ging es mir mit ihm wie mit den Pferden. Ich sah in die Augen hinein, verschwand in den Tiefen des Brauns, und unten angekommen sah ich mich wie in einem Spiegel selbst.

„Na ja, wenn du auf dem Turnier den ersten Platz machst, gehört Flying High dir.“

Ich lehnte meine Stirn an den warmen Pferdehals, schloss die Augen. Tiefe Ruhe kehrte in mir ein, ich spürte ein Lächeln auf meinen Lippen. „Das weißt du noch?“

„Ich war damals dabei, falls du dich nicht mehr erinnerst“, antwortete er ernst.

Ich schüttelte den Kopf. Als ob ich diesen Abend jemals vergessen konnte. Den Abend, an dem ich, die kleine sechzehnjährige Vera Kamphoven, dem großen Erich Sander die Stirn bot. Dieser Abend war eingebrannt in meinem Gedächtnis. Der Tag von Flying Highs Geburt.

Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Nein, wenn ich ehrlich war, liebte ich ihn bereits, seit ich wusste, dass Nobless sich heimlich in der Nacht auf und davon gemacht hatte, um sich selbst einen Hengst für ihr nächstes Fohlen auszusuchen. Es gab sonst auf dem Hof der Sanders, den mein Vater führte, nur sorgsam geplante Fortpflanzungen. Und nun so etwas. Wie ein Wunder war es mir erschienen. Gemeinsam mit Papa hatte ich die ersten Aufstehversuche von dem kleinen Wesen beobachtet. Ich erinnerte mich genau an das Fohlen beim ersten Trinken – und wie Papa es mit traurigem Blick angesehen hatte. „Schade, dass es weg muss. Schau mal, wie frech er auf seinen wackligen Beinen Nobless anstupst. Ein wackerer kleiner Bursche, der weiß, was er will.“

„Wieso weg?“, hatte ich ihn erstaunt gefragt. Schließlich bildeten wir, mit wenigen Ausnahmen, den Nachwuchs auf dem Hof selber aus, und erst dann verkauften wir ihn. Meist zu einem sehr guten Preis, denn Papas Züchtungen waren begehrt unter den Turnierreitern. Papa hatte nur mit den Schultern gezuckt.

„Das ist eine Entscheidung von Erich. Er möchte kein Pferd großziehen von einem Hengst, der keine Turniererfolge in seinem Lebenslauf aufweist. Das lohnt sich finanziell nicht.“

„Aber der Hengst hat doch Papiere und wir haben ihn uns angesehen. Ein wenig kurz im Rücken, aber dafür macht er einen charakterstarken Eindruck.“

Er hatte mir lachend meine Haarsträhne, die sich ständig aus meinem Pferdschwanz löste, hinter mein Ohr gesteckt.

„Vera, du solltest langsam wissen, dass ein guter Körperbau, starke Beine und gute Gelenke am wichtigsten für ein Springpferd sind. Erst dann kommt der Charakter. Und der Körperbau von Regent entspricht nun mal nicht diesem Ideal. Hänge dein Herz lieber nicht an diesen kleinen Burschen.“

Oh, wie gut mich Papa kannte, doch mein Entschluss war bereits gereift. Ich würde das Fohlen kaufen und ausbilden. War ich nicht letztlich dafür verantwortlich, dass es ihn gab? Ich war mit Nobless an der Koppel von Regent vorbeigeritten. Woraufhin die Stute in der Nacht ausgebrochen und in die Koppel von dem Hengst gesprungen war. Ja genau, es war Schicksal. Ich und dieses Fohlen gehörten zusammen.

Als Mama und Papa in der Küche saßen, machte ich mich durch den Regen auf den Weg zum Anwesen der Sanders. Leise schlüpfte ich über die Hintertür durch die Küche in das Haus. Mathilda, die Köchin, bemerkte mich nicht. Sie sang ein Lied im Radio mit. Ich kannte mich bestens in dem Haus aus. Schließlich hatte ich viel Zeit dort mit meiner Mama verbracht, als ich noch klein war.

Ich folgte den leisen Stimmen. Erst als ich die Tür zum Wohnzimmer öffnete und ein Blick auf die fein gekleidete Abendgesellschaft warf, rutschte mir das Herz in die Hose. Ich hätte mir einen besseren Zeitpunkt für mein Anliegen aussuchen müssen, spürte ich. Aber ich blieb, denn ich hatte Angst, dass ich nie wieder den Mut für mein Vorhaben aufbringen würde. Nass wie ich war vom Regen bildete sich ein feuchter Fleck auf dem Parkett, wo ich stehen geblieben war. Erich Sanders Blick richtete sich abschätzig auf mich. Er musterte mich von oben bis unten, und einen Moment befürchtete ich, dass er mich wie eine nasse Katze mit einem Tritt aus dem Haus befördern würde.

In dem Raum war es absolut still, bis seine leise tiefe Stimme sie durchbrach. Er hatte eine faszinierende Stimme, wohltemperiert und klangvoll. „Was ist passiert, Mädchen?“ Er nannte mich nie bei meinem Namen. Warum sollte er sich auch den Namen von den Kindern seiner zahlreichen Angestellten merken. Ich unterdrückte meine Angst, hob trotzig das Kinn und sah Erich Sander fest in die Augen.

„Ich möchte Flying High kaufen. Ich biete ihnen dafür 3000 Euro.“ Einen Moment sah mich Erich irritiert an, dann lachte er los. Tränen der Wut füllten meine Augen und ich ballte die Fäuste.

„Sprichst du von dem Fohlen, das Nobless heute geboren hat? Ich wusste noch gar nicht, dass es einen Namen hat.“

„Den habe ich ihm gegeben.“ Ich schob mein Kinn ein wenig weiter vor.

„Flying High, soso, ist es nicht ein bisschen früh für so einen Namen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, er wird mal Olympiasieger.“ Die Worte rutschten mir aus dem Mund, bevor ich wusste, was ich sagte. Es klang selbst in meinen Ohren kindisch. Diesmal lachte die ganze feine Abendgesellschaft zusammen mit Erich Sander. Ich blieb tapfer und verkniff mir die Tränen. Stattdessen hob ich den Kopf ein Stück höher und versuchte, ihm weiter ins Gesicht zu sehen. Sollte er doch ruhig lachen. Ich würde es ihm schon beweisen, dass in Fly das talentierteste Pferd steckte, welches je auf diesem Hof geboren worden war. Meine selbstbewusste Haltung brachte den alten Herrn aus seinem Konzept. Er spürte, dass es mir ernst war, und das schien ihn, zu meinem Ärger, noch mehr zu amüsieren.

„Ist es in diesem Fall nicht etwas wenig Geld, was du mir anbietest, wenn es einmal Olympiasieger wird? Überhaupt, Mädchen, woher hast du so viel Geld?“

Darauf hatte ich gewartet. Ich zog mein Sparbuch aus der Hosentasche. Es war ebenfalls nass geworden. Ich ging die fünf Schritte zu seinem Tisch und reichte es Erich Sander. Er nahm es an, öffnete es aber nicht. Auf dem Sparbuch war alles, was ich jemals gespart hatte. Mein ganzes Taschengeld und das Geld, das meine Großeltern mir zum Geburtstag oder bei einem Besuch schenkten. Scheine, die mir ab und zu die Käufer der Pferde zusteckten, damit ich es in den Hänger brachte. Nicht zu vergessen die Trinkgelder, wenn ich meiner Mutter beim Servieren auf einem Fest der Sanders half.

„Ich finde, das ist ein gutes Angebot. Schließlich ist er ein Fohlen und hat keine Ausbildung. Ein Händler bezahlt Ihnen auf keinen Fall mehr.“ Ja, das wusste ich von meinem Papa. Ich ignorierte, dass es durchaus Käufer gab, die für ein Fohlen vom Sanderhof gerne mehr bezahlen würden.

Meine Worte waren gut gewählt, das konnte ich Erich Sander ansehen. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er schob seinen Stuhl zurück und stand langsam auf, mein Sparbuch in der Hand. Wie groß er war. Er betrachtete das Buch in seiner Hand, dann schlug er es unter einigen Schwierigkeiten auf, denn die feuchten Seiten ließen sich nicht so leicht trennen. Er prüfte den Betrag, dann reichte er mir das Buch zurück. Seine grauen Augen bohrten sich in meine, die Geräusche um mich herum waren verschwunden, sein Blick hielt mich gefangen. Wir sahen uns an. Es schien, als würde er in die Tiefe meiner Seele blicken und nach einer Antwort suchen auf eine Frage, die er mir nicht stellte.

„Tut mir leid, Mädchen, das Fohlen ist nicht zu verkaufen.“

Eine Lüge. Das war eine glatte Lüge. In mir brodelten die Worte bereits hoch, doch ich blieb stumm, als er die Hand hob.

„Aber ich mache dir einen Vorschlag. Du gibst mir die 3000 Euro, dafür finanziere ich die ersten zwei Jahre. Du kommst für das Futter und die Ausbildung der nächsten Jahre auf. Dann kann es hier bleiben.“

„Pah, und was hab ich davon?“, fauchte ich ihn an.

„Du kannst beweisen, dass du recht hast“, erwiderte er gelassen.

„Und dafür bekommen Sie das Geld?“

Erich Sander verzog den Mund. Es sollte ein Lächeln sein, doch es erreichte seine Augen nicht.

„Ich dachte, du wärst dir so sicher? Dann muss dir das Fohlen doch so viel wert sein.“

„Aber wenn er so gut ist, dann verdienen Sie hundert Mal mehr durch die Preisgelder.“

Erich Sander ging einen Schritt auf mich zu. Er stand dicht vor mir. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um den Augenkontakt zu halten. Ich blieb stehen, zitternd, aber ich wich nicht zurück.

„Wenn du den ersten Platz im Springen beim Großen Preis von Aachen machst, bevor das Pferd neun Jahre wird, dann gehört es dir.“ Warum er sich zu der Aussage hinreißen ließ, ich wusste es bis heute nicht. Doch ich ergriff ohne zu zögern die Gelegenheit und hielt ihm wortlos die Hand hin. So wie es mein Vater machte, wenn er eine Abmachung mit einem Käufer traf. Einen Moment sah Erich Sander auf meine Hand, dann ergriff er sie. Seine Hand war groß, stark und kraftvoll. Ich drückte mit aller Kraft zurück.

„Abgemacht, und jetzt sieh zu, junges Fräulein, dass du nach Hause kommst, bevor du mein Parkett ruinierst.“ Damit wandte er mir den Rücken zu.

Ich rannte die ganze Strecke zurück nach Hause. Getragen von dem Sieg, den ich errungen hatte. Vor meinem geistigen Auge sah ich bereits den Pokal. Und mein eigenes Pferd, Flying High. Das Donnerwetter meiner Eltern, als ich zu Hause eintraf, und das Fieber am nächsten Tag ertrug ich mit Leichtigkeit.

„Ich fand dich damals beeindruckend. Wie ein nasser Pudel standest du da und hast mit Erich verhandelt“, nahm Henning den Faden wieder auf. Er nannte seinen Vater immer beim Vornamen. Ich konnte es verstehen. Einen Mann wie Erich Sander mit Papa anzusprechen, hätte ich mir im Traum nicht vorstellen können.

Ich war fertig mit Fly. Meine Finger streichelten ein letztes Mal seinen Hals, dann kam ich aus der Box, verriegelte die Tür und gesellte mich zu Henning. Wir hörten dem Mahlen der Zähne zu, die Korn für Korn das Futter verkleinerten. Fly ließ sich Zeit beim Fressen.

„Erst mal müssen wir gewinnen.“ Ich sprach aus, was ich den ganzen Abend zu ignorieren versucht hatte. Wieder schlich sich die Angst der letzten Tage in mein Herz.

„Du zweifelst nicht ernsthaft daran, oder?“ Er musterte mich von der Seite. Ich vermied seinen Blick. „Ihr habt bei fast jedem Turnier den ersten Platz gemacht. Weißt du eigentlich, wie viel Stress Thomas deshalb mit Erich hat?“ Seine Stimme klang amüsiert. Die Brüder verstanden sich nicht besonders gut, sie waren zu unterschiedlich. Ich biss mir auf die Lippen und schüttelte den Kopf. War das der Grund für Thomas’ Schweigen? Weil er wegen mir Stress mit Erich hatte? Lag es gar nicht daran, dass er es bereute, mit mir geschlafen zu haben? Fehlte ihm der Mut, zu mir zu stehen? Auch ich hatte meinen Eltern gegenüber kein Wort darüber verloren, was in der Nacht des Wohltätigkeitsballs passiert war. Ich war genauso feige wie er. Henning wartete darauf, dass ich redete.

„Es kommt auf viele Dinge bei einem Turnier an“, beendete ich mein Schweigen. Was würde Henning dazu sagen, dass ich mit Thomas geschlafen hatte? Ein Schauer lief über meinen Körper. Henning zog seine Jacke aus und legte sie mir um, seine Hände blieben einen Moment auf meinen Schultern liegen. Die Jacke war warm von seinem Körper. Ein bisschen fühlte ich mich geborgen, wie immer, wenn er den großen Bruder spielte.

„Du machst dir wirklich Gedanken?“ Er ließ nicht locker. Ich zuckte nur mit den Achseln. „Was ist mit deinem Traum?“, forschte er nach und stupste mich sanft am Arm. „Dein Haus in den Bergen mit dem Stall und einem Bach?“ Seine Worte lockten ein Lächeln auf mein Gesicht. Er kannte mich so gut wie niemand sonst auf der Welt, außer vielleicht Papa. Ja, es wurde Zeit, dass ich meine Flügel ausbreitete und woanders hinflog.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du hier bist“, kehrte ich den Spieß mit der Ausfragerei um.

„Ich wollte euch beiden viel Erfolg für das Turnier wünschen.“ Erstaunt sah ich ihn an. Immerhin war er ein Sander und musste zu seiner Familie halten. Sein Blick war ehrlich.

„Und deshalb wartest du im Dunkeln seit…“, ich zuckte die Achseln, da ich keine Ahnung hatte, seit wann er auf mich wartete.

„Seit über einer Stunde.“

„Was um alles in der Welt hast du in der Zeit hier gemacht?“

„Nachgedacht und mich mit diesem kleinen Kerl da vorne befreundet.“ Mit dem Kopf nickte er zu der ersten Box, die zu dem Paddock gehörte auf dem Duke stand. „Übrigens, ein hübsches, freundliches Pferd, nicht so wie Fly.“

Ich lachte. „Ach nein? Er hat aber die gleichen Eltern.“

„Ehrlich? Na, dann hat er die besseren Eigenschaften von seinen Eltern abbekommen.“

Ich verzog das Gesicht. Henning und Fly mochten sich nicht besonders. Warum, war mir schleierhaft, denn es hatte eine Zeit gegeben, wo sich Henning sehr um die Freundschaft mit dem Pferd bemühte. Seine indirekte Kritik an Fly verletzte mich. Feinfühlig bemerkte Henning meinen Stimmungswechsel.

„Sei nicht böse, dass ich das jetzt gesagt habe.“

„Doch, ein bisschen schon.“ Ich wollte ehrlich sein.

„Es gibt noch einen Grund, weshalb ich mit dir sprechen wollte.“

Seine Stimme war ernst. Ich musterte ihn von der Seite.

„Brauchst du noch einen Investor für dein Projekt?“ Er grinste mich spitzbübisch an.

Viel hätte ich mir vorstellen können, das nicht. Er hatte mich überrumpelt. „Das würdest du riskieren? Du willst in meinen eigenen Zucht- und Ausbildungsstall investieren?“ Aufmerksam betrachtete ich sein Gesicht, suchte nach einem Anzeichen von Spott. Doch ich konnte keinen Spott finden, seine Augen waren vertrauensvoll auf mich gerichtet.

„Ja, Vera, jederzeit. Ich glaube an das, was du vorhast. Ich habe noch keinen Menschen kennengelernt, der so zielstrebig seine Träume verwirklicht wie du. Der harte Arbeit nicht scheut und der, nicht zu vergessen, eine Menge Talent hat.“

Zum ersten Mal in den letzten Tagen fühlte ich, wie so etwas wie Zuversicht in mir aufstieg.

„So, das Lächeln gefällt uns viel besser, nicht wahr, Fly?“, fragte er den Hengst, der den Kopf erhoben hatte und aufmerksam unserem Gespräch zu lauschen schien. Fly nickte mit dem Kopf, als hätte er die Frage von Henning verstanden. Wir lachten. Was für eine Seltenheit, Henning und Fly waren einer Meinung. Freundschaftlich knuffte ich Henning in seinen Arm.

„Siehst du, er mag dich. Bist du auf dem Turnier?“

„Nein, Selina und ich fliegen morgen nach Kanada. Noch ein Grund, weshalb ich heute so lange ausgeharrt habe, um auf dich zu warten.“

Wir schwiegen. Ich war traurig, die Vorstellung, dass Henning beim Turnier dabei gewesen wäre, sich für mich freute, mir den Rücken stärkte, hätte mir gefallen. Aber was für ein unsinniger Gedanke, dass er nach all den Jahren ausgerechnet für mich da sein sollte. Ich biss die Zähne aufeinander. In letzter Zeit hatte ich ganz schön nah am Wasser gebaut. Bloß nicht heulen, dachte ich, auf keinen Fall heulen. Doch da suchte sich bereits eine Träne einen Weg über meine Wange. Ich schämte mich und wollte sie heimlich mit dem Ärmel wegwischen. Henning hatte sie bereits bemerkt, behutsam fasste er mich an den Schultern. Seine Hände zuckten kurz zurück, als er mich berührte. Vermutlich war er keine Muskelpakete gewohnt, sondern eher schmale Schultern. Er zögerte, griff erneut zu, diesmal fester, und drehte mich zu sich herum. Mit seinem Finger wischte er mir die Träne von der Wange.

„Was ist los, Vera? Stefan hat auch schon gesagt, dass du im Moment ganz durcheinander bist. Bedrückt dich etwas?“

Ich schüttelte den Kopf, befreite mich von seinen Händen. Ihm konnte ich am allerwenigsten erzählen, was mich beschäftigte.

„Ich bin immer noch dein Freund.“ Er zögerte kurz. „Okay wohl eher Brieffreund. Es tut mir leid, dass ich mich in den letzten Jahren nicht mehr hab sehen lassen. Ich glaube, ich brauchte einfach etwas Abstand von all dem hier.“ Ich spürte in seinen Worten die alte Vertrautheit zwischen uns. Außerdem verstand ich zum ersten Mal, was er meinte.

„Ich glaube, ich habe furchtbar Angst, etwas falsch zu machen“, rutschte es mir raus.

Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. „Das kann ich sehr gut verstehen.“ Konnte er das wirklich? Konnte ein Henning Sander verstehen, wie sich eine Vera Kamphoven fühlte? Ich schüttelte den Kopf. „Nein, kannst du nicht.“

„Warum nicht? Ich habe in meinem Leben schon viele Fehler gemacht, mehr als du.“

„Das ist etwas anderes.“

„Inwiefern? Erkläre es mir.“

„Wenn ich morgen nicht gewinne, verliere ich alles.“

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Du verlierst nicht.“

„Und wenn doch?“

„Dann kaufst du Fly und verwirklichst deinen Traum.“

„Ich wusste, du verstehst es nicht.“

„Warum, weil ich der Sohn von reichen Eltern bin und du die Tochter unserer Angestellten?“ Er verdrehte die Augen. „Manchmal bist du wirklich etwas kompliziert. Ich habe dir doch gesagt, ich gebe dir das Geld, was immer du brauchst, damit du deine Träume verwirklichen kannst.“

„Und woher kommt das?“

„Ah, daher weht der Wind. Es ist meines. Schon seit unserer Geburt besitzen Thomas und ich Anteile an der Firma. Die Dividende ist gut, da kommt was zusammen. Bisher habe ich davon nichts gebraucht.“

Ich schüttelte den Kopf. Aus Hennings Perspektive sah die Welt leicht und einfach aus. Er trennte zwischen sich und dem Rest der Familie. Ich nicht, er war ein Sander, und es kam nicht infrage, dass ich mir für den Kauf von Fly von ihm Geld leihen würde. Eine Diskussion über unsere verschiedenen Standpunkte machte keinen Sinn. Er würde es nicht verstehen. Also wechselte ich das Thema.

„Wann heiratest du deine Selina? Darf ich Brautjungfer sein?“ Er schwieg. Ich sah, wie sich sein Körper anspannte. Verwirrt musterte ich ihn von der Seite, da mir nicht bewusst war, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. Ich versuchte einen Scherz, als mir sein Schweigen zu lange dauerte.

„Oder besser nicht, sonst kommt noch jemand auf die Idee, ich wäre das hässliche Entlein neben dem Schwan.“

Er ging nicht darauf ein. Die Stirn in tiefen Falten sah er Fly an. Das Pferd hörte mit dem Kauen auf, fixierte ihn. Es erstaunte mich, das Fly heute so feinfühlig auf die Stimmungsschwankungen von Henning reagierte. Ich boxte ihn vor die Brust. „Hey, du bekommst doch jetzt keine kalten Füße bei der Frau?“

Ein schiefes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Sie gefällt dir?“

Ich nickte. „Klar, wäre ich ein Mann, würde ich sie dir ausspannen“, versuchte ich noch einen Scherz, der in einem neuen Schweigen verebbte.

„Sie ist doch nicht lesbisch?“

Ein scharfer Blick aus seinen Augen traf mich.

„Nein, ganz bestimmt nicht.“ Der Unterton in seiner Stimme klang seltsam in meinen Ohren. Zumal ich ja nur witzig hatte sein wollen. War er unsicher, was ihre Gefühle für ihn betrafen?

„Sie liebt dich“, flüsterte ich mit sanfter Stimme, die ich benutzte, um Fly zu beruhigen.

„Tatsächlich? Woher willst du das wissen? Du hast sie nur einmal mit mir gesehen.“ Seine Augen durchbohrten mich.

Ich zuckte mit den Achseln. Im Grunde hatte ich es nur so dahergesagt. Das ganze Gespräch wurde mir zu ernst. „Genug geplaudert. Morgen wartet ein anstrengender Tag auf mich, und du musst einen Flieger nach Kanada bekommen.“

Ich fühlte mich stark, voller Zuversicht. Nach dem Turnier würde ich mich der Sache mit Thomas stellen. Ich musste mir erst über meine eigenen Gefühle klar werden, bevor ich diesen Schritt wagen konnte, und im Moment war es wichtiger, dass ich mich auf mein Ziel konzentrierte. Dank Henning sah ich mein Ziel wieder klar vor Augen. Ich brauchte nur noch zu gewinnen. Ich wusste, Henning würde mich niemals im Stich lassen, er würde mir mit Geld dann weiterhelfen. Egal, wie sehr sich sein Vater darüber aufregen würde. Im Gegensatz zu Thomas scheute er die Konfrontation mit seinem Vater nicht.

Ich gab Henning seine Jacke zurück und ging zur Stalltür. Er folgte mir. Ich knipste das Licht aus und verriegelte die Tür. Als ich mich umdrehte, zog mich Henning in seine Arme und drückte mich fest an sich. Völlig überrumpelt von seinem plötzlichen Gefühlsausbruch, verharrte ich in seiner Umarmung.

„Ich weiß, ihr beiden schafft das, aber tu mir bitte einen Gefallen, pass auf dich und Fly auf, versprichst du mir das?“, flüsterte er in mein Ohr.

„Wie meinst du das?“ Ich wusste nicht, woran ich mit Henning und seinen Stimmungsschwankungen war. Das war doch immer mein Part in unserer Freundschaft gewesen. Gleichzeitig fühlte ich wieder die Angst aus einer der hintersten Ecken meines Herzens hervorkriechen.

„Wir Sanders verlieren nicht gerne.“ Seine Stimme war ganz rau.

„Nun, dann werdet ihr das wohl lernen müssen“, erwiderte ich mit fester Stimme. Der Angst wollte ich heute Abend keine Nahrung mehr geben. Ich befreite mich aus seiner Umarmung.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht so überfallen“, entschuldigte er sich.

„Ist okay. Ich glaube, wir sind beide heute nicht ganz wir selbst. Ich geh jetzt besser. Papa hat bestimmt schon gesehen, dass ich zurück bin. Je länger ich warte, desto wütender wird er.“

Ich hob die Hand kurz zum Gruß und drehte mich um.

„Vera?“, bremste er mich.

„Ja“, wandte ich mich ungeduldig noch einmal um. Inzwischen war es vollkommen dunkel. Ich konnte gerade noch seine Umrisse an der Stalltür sehen. Er hüllte sich wieder in Schweigen.

„Henning, du bist heute echt komisch.“ Ich schüttelte den Kopf, wandte mich ab und ließ ihn stehen. Mutig ging ich auf unser Haus zu meinem Vater entgegen.

2

Kapitel

Ich kam als letzte Reiterin auf den Springplatz. Drei Reiter ohne Fehler, sie waren damit bereits im Stechen. Ein Stechen, in dem neben den Abwürfen die Zeit entscheiden würde. Davor lag ein Parcours, den ich ohne Fehler absolvieren musste. Ich parierte Fly durch, der sofort stillstand, und in diesem Moment fiel jede Nervosität von mir ab. Seine Ruhe, seine Gelassenheit, ja die Freude, die er in den letzten Tagen am Springen gezeigt hatte, flossen durch meinen Körper und gaben mir Sicherheit. Natürlich trugen dazu auch meine Erfolge in den letzten Tagen bei, der vierte Platz beim Stawag-Preis, ein zweiter Platz beim Warsteiner-Preis und der erste Platz beim RWE-Preis. Bereits beim ersten Umlauf im Großen Preis von Aachen waren wir nur so über die Hindernisse geflogen. Meine Aufgabe in dieser Runde würde darin bestehen, Fly die richtige Reihenfolge zu zeigen und ihn zu bremsen, denn noch war die Zeit nicht wichtig und ich wollte mir auf keinen Fall einen Flüchtigkeitsfehler erlauben. Mit einem Lächeln auf meinen Lippen hob ich die Hand zum Richtergruß an die Kappe, der Startgong ertönte.

Fly reichte es, dass ich mein Gewicht nach vorne verlagerte, er sprang in den Galopp, ich lenkte ihn auf das erste Hindernis zu. Ein Steilsprung, und schon waren wir drüber. Mit Fly zu springen, glich für mich dem Gefühl zu fliegen. Unsere Körper waren eins. Er bewegte sich mit großer Leichtigkeit über die Hindernisse und federte jeden Sprung über seine Gelenke ab. Ich lächelte, als wir die Kombination mit den drei Hindernissen übersprangen. Ein leises Raunen ging durch die Zuschauermenge. Fly spielte kurz mit den Ohren, und fast wäre uns ein Fehler passiert. Ich legte kurz meine Hand auf seinen Hals. Ein Weitsprung, ein Steilsprung und der letzte Sprung, dann waren wir durch.

„Null Fehler für Vera Kamphoven auf Flying High. Damit stehen die vier Teilnehmer für das Stechen fest.“ Der Beifall der tobenden Zuschauer legte sich über die Stimme des Stadionsprechers. Menschen sprangen von ihren Plätzen, winkten mir zu und pfiffen. Fly galoppierte buckelnd zum Ausgang, sodass ich Mühe hatte, auf ihm zu bleiben. Ich winkte grüßend in den Zuschauerraum.

So war es die ganzen letzten Tage gewesen. Wir beide ritten auf einer Welle der Sympathie, und Fly genoss jede Sekunde. Was er nicht leiden konnte, war, wenn ihn jemand von den Besuchern streicheln wollte. Ich lenkte Fly zum Ausgang, dort standen Mama und Papa, beide strahlten.

„Ihr habt es geschafft“, sagte Stefan, „ihr seid im Stechen.“

Ich sprang von Fly und klopfte ihm den Hals. „Kannst du ihn nehmen, ich muss mal ganz dringend.“

Papa nahm die Zügel, und ich rannte zu den Toiletten für die Reiter. Aachen war in vieler Hinsicht ein besonderes Turnier. Es gab so viele Menschen aus verschiedenen Nationen und mit unterschiedlicher Herkunft, die sich hier tummelten. Es fanden sich Leute in eleganten und teuren Markenklamotten genauso wie welche in Shorts und T-Shirts aus irgendwelchen Billigläden. Manch einer kam sogar, um zu shoppen. Ja, es gab eine regelrechte Einkaufsmeile, bestehend aus Zelten, mit Geschäften, die alles Mögliche anboten. Nicht jeder der anwesenden Besucher interessierte sich für Pferde. Manch einer kam, um gesehen zu werden. Natürlich waren auch die Vertreter von den Sponsoren anwesend, zusammen mit wichtigen Kunden. Darunter befanden sich auch die Sanders. Um das VIP-Zelt machte ich aus diesem Grund einen großen Bogen, obwohl ich als Reiterin durchaus Zutritt dazu hatte. Na ja, vielleicht nicht zu allen Bereichen. Das Medieninteresse bei diesem Turnier war besonders groß. In dem letzten Jahr war es eine richtige Plage für mich geworden. Es lag mir nicht, im Rampenlicht zu stehen. Sobald mir jemand ein Mikrofon unter die Nase hielt, trocknete mir der Mund aus und meine Stimme überschlug sich vor lauter Nervosität.

Den ganzen Vormittag über war es heiß gewesen. Am Nachmittag war es dann kühler geworden und es war Wind aufgekommen. Um die Essstände hatten sich dichte Trauben gebildet. Bei den Würstchenbuden trafen sich die normalen Menschen, wie ich es empfand. Während man bei den Buden mit exquisiteren Essen die feinere Gesellschaft fand. Auch um diese Bereiche machte ich sicherheitshalber einen Bogen. Ein paar Mädchen in Reithosen erkannten mich und fragten nach einem Autogramm. Mir stieg die Röte ins Gesicht. Als sie mich danach fragten, ob es schwierig sei, Fly zu reiten, weil er so gerne buckelte, verflog meine Unsicherheit. Ich erklärte ihnen, dass es sicherlich nicht seine angenehmste Eigenschaft wäre, dass es aber auch einfach seine Freude am Springen ausdrückte.

Als ich von meinem Gang zurückkam, konnte ich meine Eltern nicht mehr sehen. Sie waren vermutlich schon zu den Ställen gegangen, damit sich Fly vor dem Stechen ausruhen konnte. Wir hatten gut eineinhalb Stunden Zeit, bevor es in die letzte Runde ging. Dazwischen gab es Siegerehrungen aus den anderen Disziplinen. Heute war der letzte Abend des Turniers.

Auch für den Weg zu den Ställen hatte ich meine Schleichwege. Ich betrat den Stall, wo unsere Pferde untergebracht waren. Neben Fly und Dumont hatten wir noch Pippa, Sir Henry, Grimaldis und Vanderbilt dabei. Pippa und Sir Henry war ich geritten, Grimaldis und Vanderbilt Thomas. Papa stand bei Fly, der bereits abgesattelt war. Ich sah, wie er das rechte Vorderbein von Fly in der Hand hielt. Seine Stirn war gerunzelt, ich spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend.

„Das Hufeisen sitzt locker.“ Papa reichte ein Blick. „Kein Wunder, wenn du stundenlang in der Nacht im Wald herumreitest.“

Ich stöhnte innerlich auf. Diesen Spruch hatte ich in den letzten Tagen mindestens tausend Mal gehört. Was in mich gefahren sei. Ob mir klar wäre, welche Verantwortung wir Menschen für ein Tier hätten. Anfangs hatte mich das schlechte Gewissen geplagt, inzwischen war ich es nur noch leid.

„Bring Fly nach draußen, ich gehe und hole den Hufschmied“, befahl Papa mir knapp. Gemeinsam gingen wir raus, dann machte er sich auf die Suche nach einem der Turnierschmiede. Papa mochte es nicht, wenn unbekannte Menschen an „seine“ Pferde gingen.

Draußen vor den Ställen war alles gut ausgeleuchtet, die Luft war angenehm kühl. Das war der eigentliche Grund, warum Papa lieber nach draußen wollte, denn im Stall steckte noch die Hitze des Tages und die Luft war stickig. Ich atmete tief durch. Es war nie gut, vor einem Stechen die Grundlagen zu verändern. Ich hoffte, dass Fly das alte Eisen dran behalten konnte. Ich machte einen weiteren bewussten Atemzug, als ich merkte, dass ich die Luft angehalten hatte. Jetzt nur nicht nervös werden, durchfuhr es mich. Mein Ziel war zum Greifen nahe. Wir waren drin im Stechen. Im ersten Durchlauf war es knapp gewesen. Das lag nicht an Fly, sondern an mir. Ich war nicht konzentriert bei der Sache, immer wieder tauchte das Bild von Thomas in meinen Gedanken auf, ich spürte seine Lippen auf meinen. Unwillig hatte Fly mit dem Schweif geschlagen, wenn ich wieder abgelenkt war. Ich verstand, was er mir damit sagte: Bleib verdammt noch mal bei mir.

Die Preisgelder der letzten Jahre, die wir gewonnen hatten, waren hoch gewesen. Allein auf dem CHIO lagen wir bereits bei 38000 Euro aus meinen Platzierungen. Der erste Platz beim Großen Preis war mit 115000 Euro hoch dotiert. Zwar floss der größte Teil davon zurück in den Hof, doch ein Teil würde bei mir bleiben. Erich Sander würde vermutlich heute mit wechselnden Gefühlen dem Geschehen folgen, lagen die Preisgelder von Thomas doch weit hinter Meinen.

Heute war Thomas mit Dumont allerdings in Topform. Die beiden hatten sich bereits für das Stechen qualifiziert, genauso wie der Engländer David Livingston mit Dancing Girl und die Kanadierin Lucy Melbourne auf King Lui. Nur noch das Stechen, vier Reiter, sieben Einzelsprünge und die zweifach Kombination lagen vor mir. Ich wusste, dass wir die Schnellsten waren. Einzig Dancing Girl konnte das Tempo genauso anziehen, Abkürzungen reiten und die Kraft aufwenden für einen sauberen Sprung. Also mussten wir fehlerfrei bleiben. Und das lag ausschließlich an meinem Vermögen, mich voll und ganz auf den Parcours zu konzentrieren. Fly sprang in die Höhe so gut wie in die Weite. Doch die Reihenfolge und den kürzesten Weg, der für einen guten Absprung noch reichte, den musste ich finden. Dass Dumont und Thomas ins Stechen gelangt waren, ärgerte mich. Die Topform des Pferdes war ganz allein mein Verdienst. Thomas hatte jeden Kontakt mit mir vermieden, was gar nicht einfach gewesen war, da ich mich mit Papa um die Pferde gekümmert hatte. Er hatte ein Gespür dafür entwickelt, immer dann aufzutauchen, wenn Papa alleine im Stall war.

„Atme, Vera“, flüsterte Mama neben mir, und ich gehorchte. „Mein Gott, Kind, so nervös habe ich dich noch nie erlebt. Möchtest du eine Baldrianperle?“ Ich starrte meine Mutter an und schüttelte den Kopf, unsicher, ob sie das tatsächlich ernst meinte. Sie zuckte mit den Achseln und warf sich selbst vier Dragees in den Mund. Marianne kam selten auf ein Turnier mit.

„Wie fühlen Sie sich als Neuling, der gegen so ein hochkarätiges Feld antritt?“ Ein Reporter, dem ein Kameramann dicht folgte, hielt mir ein Mikrofon unter die Nase. Fly machte einen Satz zur Seite.

„Hoppla, ihr Pferd ist aber schreckhaft“, rutschte es dem Reporter heraus.

Ich verkniff mir eine bissige Bemerkung, stattdessen setzte ich mein öffentliches Lächeln auf. Mein Mund wurde trocken, Schweiß trat auf meine Stirn. Ich beantwortete freundlich alle Fragen des Reporters, egal, wie blödsinnig sie mir erschienen. Gleichzeitig sah ich mich nach einem Ordner um. Es gab Zonen, wo die Reiter ungestört von Reportern waren, und dieser Platz vor den Ställen gehörte eindeutig dazu. Papa kam mit einem Hufschmied im Schlepptau zurück. Er nahm mir Fly ab und stellte sich mit dem Schmied ein wenig abseits. Marianne begleitete das Trio, während ich weitere Fragen beantwortete.

Im Augenwinkel sah ich, wie Papa dem Hufschmied das lockere Eisen zeigte. Endlich kam ein älterer Mann vom Ordnungsdienst heran, entschuldigte sich bei mir und brachte den Reporter weg. Ich ging rüber zu meinem Pferd. Papa sah kurz auf.

„Wir können das alte Eisen dran lassen. Es müssen nur ein paar neue Nägel rein, das sollte genügen“, erklärte er mir. Der Schmied nickte zustimmend.

Ich blickte hoch und sah zu meiner Überraschung Thomas mit einer Frau auf uns zusteuern. Sie trug eine Kamera um den Hals. Es konnte nicht wahr sein, dass wir zum zweiten Mal hier in der reporterfreien Zone von den Medien gestört wurden. Thomas stoppte bei uns, lächelte höflich und wandte sich dann der Frau zu.

„Das, Frau Wolfram, ist Vera Kamphoven.“ Er deutete auf mich. „Stefan Kamphoven“, er zeigte auf Papa „und die Mutter Marianne Kamphoven.“ Meinem Blick ausweichend, wandte sich Thomas meinen Eltern zu. „Frau Wolfram ist ganz angetan von Vera und Fly. Sie möchte gerne einen kleinen Bericht schreiben und ein Foto von der Familie machen. Wärt ihr so nett?“

Ich starrte ihn an. Das war doch jetzt nicht sein Ernst? Oder war es eine Taktik, um mich aus meiner Konzentration zu bringen? Während Marianne sich mit einem freundlichen Lächeln an Frau Wolfram wendete, sah Papa mit gerunzelter Stirn Thomas an, er öffnete den Mund, doch Thomas kam ihm zuvor. „Es ist wichtig für uns. Frau Wolfram schreibt für die St. George.“

Papa schüttelte den Kopf. „Tut mir leid Thomas, aber Fly geht vor. Ich habe für solche Sachen jetzt keine Zeit. Dumont steht auch noch im Stall und muss fertiggemacht werden.“

Frau Wolfram mischte sich ein. „Aber vielleicht könnte Herr Sander das Pferd halten, es dauert auch wirklich nicht lange.“

„Klar kann ich das“, sagte Thomas. Er kam zu uns rüber, nahm Papa Fly ab. Wir beide waren viel zu überrascht, um ihn abzuweisen oder weiter zu protestieren. Ehe wir uns versahen, posierten wir vor dem Zaun, der den Aufwärmplatz abgrenzte, und ließen uns von Frau Wolfram fotografieren. Papa war kurz angebunden, fast unhöflich zu der Dame. Daran merkte ich, wie nervös er war. Auch mir behagte es nicht, Fly in der Obhut von Thomas und einem wildfremden Menschen zu haben, ohne Sichtkontakt zu ihm.

Schließlich war Frau Wolfram zufriedengestellt. Gemeinsam gingen wir zurück zu den Ställen. Der Hufschmied war bereits weg, Thomas kam aus dem Stall. „Ah, da seid ihr ja wieder. Ich habe Fly in seine Box gebracht, weil ich nicht sicher war, wie lange ihr noch braucht.“ Mit einem strahlenden Lächeln ging er auf Frau Wolfram zu, die errötete und die Augen niederschlug. Verwirrt sah ich mir die Frau genauer an. Sie war absolut nicht der Typ von Thomas. Er wich meinem forschenden Blick aus. Mein Vater runzelte die Stirn, schüttelte irritiert den Kopf. „Möchtest du vielleicht Dumont selber fertigmachen?“ Das konnte Papa nur ironisch meinen, denn ich konnte mich nicht erinnern, wann Thomas zuletzt sein Pferd auf einem Turnier geputzt oder gesattelt hatte.

Bedauernd zog Thomas die Schultern hoch. „Würde ich sehr gerne, aber ich möchte Frau Wolfram noch zu Erich bringen. Es wäre klasse, wenn du alles vorbereiten könntest.“ Mit offenem Mund starrten Papa und ich Thomas hinterher, der in einem vertrauten Gespräch vertieft mit der Reporterin verschwand.

„Was sollte denn die Show?“, rutschte es mir endlich heraus.

„Keine Ahnung, vielleicht macht sich das gut bei der Presse“, antwortete Papa.

„Ihr seid wirklich schlimm. Immer müsst ihr so schlecht von Thomas denken. Er hat es im Moment nicht leicht in der Familie, und ich fand es sehr nett, dass er geholfen hat.“ Klar, das war Mutter.

Ich öffnete schon den Mund, als ich einen mahnenden Blick von Papa auffing. Er hatte recht, das war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion über Thomas. Schon gar nicht, wenn die Gefahr bestand, dass mir etwas herausrutschte, das ich später womöglich bereuen würde.

Inzwischen war es frisch geworden, ich zitterte in meiner kurzärmeligen Bluse. Ich sah auf die Uhr. Dreißig Minuten blieben mir bis zum Start. Nach mir kamen Lucy Melbourne und David Livingston, und zuletzt würde Thomas starten.

„Bist du nervös?“, fragte mich Papa. Ich nickte. Er lächelte mir zu und legte mir einen Arm um die Schulter. „Du schaffst das, Vera, ganz bestimmt. Ihr zwei seid so gut, und wenn nicht, werde ich mit Erich reden. Egal, was ihr damals vereinbart habt, du hast es verdient, dass Fly dir gehört. „Ich umarmte meinen Vater und küsste seine Wange. Mir war klar, dass ihm sein Angebot nicht leichtfiel. Papa war nicht der Mensch, der Wünsche an seinen Arbeitgeber stellte. Lieber überzeugte er mit seiner Leistung. Allein deshalb würde ich heute gewinnen. Mama lächelte mich an.

„Du schaffst das, Vera, ganz bestimmt“, erklärte sie zuversichtlich.

Mein Vater löste sich aus meiner Umarmung, wischte sich verlegen über die Augen und gab mir einen Klaps. „Und jetzt mach dein Pferd fertig.“

Gemeinsam gingen wir zum Stall zurück. Während sich Papa um Dumont kümmerte, putzte ich Fly den getrockneten Schweiß aus dem Fell. Seine Mähne bürstete ich durch, bis sie seidig an seinem Hals lag. Sorgfältig bearbeitete ich die Sattellage. Kein Dreck sollte uns stören. Zuletzt sattelte ich ihn und führte ihn hinaus zum Aufwärmplatz. Als ich mich auf seinen Rücken schwang, drehte Fly den Kopf zu meinem linken Fuß und biss rein. Ich klopfte seinen Hals. „Keine Angst, mein Großer, diesmal bin ich ganz bei dir.“

Ich lenkte Fly auf den Platz. Vom Stadion konnte ich die Musik für die Siegerehrungen herüberschallen hören. Meine Hände krampften sich um die Zügel, mein Herzschlag beschleunigte sich. Das Licht der Lampen leuchtete jeden Zentimeter des Platzes aus. Kalt und nackt wirkte das Gras unter dieser Beleuchtung, jeder Gegenstand zeichnete sich scharf ab. Die Umgebung wirkte unnatürlich, genauso wie der grünliche Schimmer meiner Haut. Ich schluckte, Schweiß bildete einen feinen Film auf meiner Stirn. Abrupt blieb Fly unter mir stehen. Ich fühlte, wie sich die Augen der paar Reiter, die sich noch auf dem Platz mit ihren Begleitern und Fans befand, auf mich richteten. Den Bruchteil einer Sekunde erwog ich, Fly vom Platz zu reiten und einfach mit ihm zu verschwinden, so wie damals im Wald. Der Kopf von Fly drehte sich zu mir. Ich streckte mich, kraulte sein Ohr. „Ich fürchte, ich bin ein wenig nervös, mein Süßer.“

„Is everything all right with you?“, kam eine Stimme von der Seite. Ich richtete mich auf. Neben mir tänzelte Dancing Girl unter David Livingston. Die Nervosität seiner Stute übertrug sich auf Fly. Ich nahm die Zügel auf. „Yes, I’m okay, thanks for asking.“

Er grinste und nickte kurz, dann hatte er alle Hände voll mit seiner Stute zu tun. Livingston hielt die Stute kurz, was ihre Aufregung nur noch verstärkte.

Mit einem leichten Andrücken der Schenkel setzte ich den Impuls für Fly, gehorsam ging er los. Ich achtete darauf, dass ich zu der Stute Abstand hielt, verlängerte die Zügelführung, sodass sich Fly unter mir lang machen konnte. Meine Konzentration richtete sich nach innen. Tief atmend versuchte ich, meinen Körper dem Rhythmus von Fly anzupassen. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Zusammenspiel unserer Körper. Ich konnte das Kauen seiner Zähne auf dem Gebiss, die schwingenden Muskeln unter meinem Hintern spüren. Es war wie ein Tanz, dem ich folgte. Entspannt prustete das Pferd unter mir ein paarmal.

Langsam nahm ich die Zügel auf, spürte, wie Fly sich im Rücken verkürzte und die Hinterhand vermehrt das Gewicht in der Bewegung auf sich nahm. Ich schaltete die Geräusche um mich herum ab, nahm die anderen Reiter auf dem Platz nur noch als Schemen wahr, die meinen Weg kreuzten. Ich tauchte noch tiefer ein in Fly, brachte unsere Körper in Einklang. Spürte, wie sich der Rhythmus unseres Atems und des Herzschlags in unterschiedlichem Tempo anpasste. Ich lächelte, in diesem Moment hier lag mein ganzes Glück.

Wir wechselten in den Trab. Seine Beine flogen mit Schwung nach vorn. Das Pferd liebte die Show. Sein Hals wölbte sich stolz, und ich konnte die Blicke der Menschen auf dem Abreitplatz erneut auf uns spüren. Vor allem die von David Livingston. Ja, mein Lieber, du hast dich zu früh gefreut, dachte ich grimmig, wir werden es dir schwermachen, denn wir wollen gewinnen. Federnd drehten wir unsere Runden. Flying Highs Kraft war unglaublich, und das nach drei Wettbewerben und den ersten zwei Umläufen. Er war das jüngste Pferd im Starterfeld, dennoch zeigte er eine Ausdauer, hinter der sich die anderen verstecken konnten. Bei seiner ganzen Ausbildung war ich darauf konzentriert gewesen, dass ich seine Kondition und Muskulatur aufbaute. Genauso hatte die Gymnastizierung einen großen Teil eingenommen, ich hatte sie mit allen möglichen Elementen aus anderen Reitweisen angereichert. Ich wollte, dass er die Belastung von den vielen Turnieren in so jungen Jahren ohne Schaden überstehen sollte.

Als ich in den Galopp wechselte, geschah das in einer fließenden gemeinsamen Bewegung. Vor uns lag eine Erfolg versprechende Laufbahn im internationalen Sport. Schon jetzt waren wir im deutschen Kader der Springreiter für die Weltmeisterschaft. Ich hob mein Gesäß aus dem Sattel, verlängerte die Zügel und klopfte mit beiden Händen den Hals meines Pferdes.

„Vera!“ Die Stimme meines Vaters riss mich aus meinen Träumen. „Ihr seid aufgerufen worden.“

Auf der kurzen Strecke vom Abreitplatz ins Hauptstadion ging ich im Geist den Parcours, der vor uns lag, durch. Die Strecke zwischen dem dritten Hindernis, einem Steilsprung, und dem Vierten, einem Weitsprung, war die längste Distanz. Hier würden die Pferde mit großen Galoppaden im Vorteil sein. Zu viel Geschwindigkeit barg die Gefahr, dass der Reiter das Pferd nicht mehr rechtzeitig für den Sprung in die Hand bekam. Dennoch musste ich es an dieser Stelle riskieren. Der Gong ertönte, wir überquerten die Startlinie, ab jetzt lief die Zeit. Jetzt gab es kein Stadion mehr, keine Richter, keine Zuschauer. Es gab nur noch mich, Fly und die Hindernisse.

„Erste Starterin im Stechen ist Vera Kamphoven auf Flying High, ein achtjähriger Hengst, der hier in Aachen bereits gezeigt hat, dass er Potential besitzt. Vera Kamphoven geht das Stechen zügig an. Die kompakte Bauweise des Pferdes kommt ihr bei den engen Wendungen entgegen. Sie ist schnell unterwegs, bisher keine Fehler. Hält sie das Tempo durch, wird es für die anderen Teilnehmer schwer.“

Auf der langen Strecke zwischen dem dritten und vierten Hindernis gab ich Fly die Zügel. Er machte sich lang und flach und legte die Ohren an. Eng schmiegte ich meinen Körper an seinen. Die Luft über uns zischte, es war absolut still im Stadion, die Spannung der Zuschauer war förmlich zum Greifen. Ich lächelte. Mir war klar, dass viele dachten, ich könnte Flying High aus dem Tempo nicht mehr kontrolliert zum nächsten Sprung bringen. Doch es reichte schon, dass ich den Oberkörper anhob, mein Gewicht wieder in den Sattel verlagerte und die Zügel leicht annahm. Sofort verkürzten sich seine Galoppsprünge. Seine Ohren richteten sich aufmerksam zu dem nahenden Hindernis. Den Weitsprung schafften wir locker, die nächste Kurve nahm ich zu eng. Fly glich es aus und sprang mit viel Kraft ab.

---ENDE DER LESEPROBE---