DUNKELKAMMER - Bernhard Aichner - E-Book
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DUNKELKAMMER E-Book

Bernhard Aichner

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Beschreibung

Es ist Winter in Innsbruck. Ein Obdachloser rettet sich in eine seit langem leerstehende Wohnung am Waldrand. Im Schlafzimmer findet er eine Leiche, die dort seit zwanzig Jahren unentdeckt geblieben war. Ein gefundenes Fressen für Pressefotograf David Bronski. Gemeinsam mit seiner Journalistenkollegin Svenja Spielmann soll er vom Tatort berichten und die Geschichte der Toten recherchieren. Dass dieser Fall jenseits des Spektakulären aber auch etwas mit ihm zu tun hat, verschweigt er.

Seit er denken kann, fotografiert Bronski das Unglück. Richtet seinen Blick auf das Dunkle in der Welt. Dort wo Menschen sterben, taucht er auf. Er hält das Unheil fest, ist fasziniert von der Stille des Todes. Es ist wie eine Sucht. Bronski ist dem Tod näher als allem anderen, er lebt nur noch für seine Arbeit und seine geheime Leidenschaft. Das Fotografieren, analog. Dafür zieht er sich zurück in seine DUNKELKAMMER. Es sind Kunstwerke, die er hier schafft. Porträts von toten Menschen. Es ist sein Versuch, wieder Sinn zu finden nach einem schweren Schicksalsschlag.

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Seitenzahl: 325

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Zum Buch

Es ist Winter in Innsbruck. Ein Obdachloser rettet sich in eine seit langem leerstehende Wohnung am Waldrand. Im Schlafzimmer findet er eine Leiche, die dort seit zwanzig Jahren unentdeckt geblieben war. Ein gefundenes Fressen für Pressefotograf David Bronski. Gemeinsam mit seiner Journalistenkollegin Svenja Spielmann soll er vom Tatort berichten und die Geschichte der Toten recherchieren. Dass dieser Fall jenseits des Spektakulären aber auch etwas mit ihm zu tun hat, verschweigt er.

Seit er denken kann, fotografiert Bronski das Unglück. Richtet seinen Blick auf das Dunkle in der Welt. Dort wo Menschen sterben, taucht er auf. Er hält das Unheil fest, ist fasziniert von der Stille des Todes. Es ist wie eine Sucht. Bronski ist dem Tod näher als allem anderen, er lebt nur noch für seine Arbeit und seine geheime Leidenschaft. Das Fotografieren, analog. Dafür zieht er sich zurück in seine Dunkelkammer. Es sind Kunstwerke, die er hier schafft. Porträts von toten Menschen. Es ist sein Versuch, wieder Sinn zu finden nach einem schweren Schicksalsschlag.

Zum Autor

BERNHARD AICHNER (1972) schreibt Romane, Hörspiele und Theaterstücke, er ist einer der erfolgreichsten Autoren Österreichs – aber er ist auch Fotograf. Bevor er sich der Werbefotografie zuwandte, war er jahrelang als Pressefotograf für den KURIER tätig. Bei der zweitgrößten Tageszeitung Österreichs erlernte er das journalistische Handwerk. Seine Aufgabengebiete waren vielfältig, im Besonderen war er von der Polizeifotografie fasziniert. Hier ging es um Unfälle, Mord und Naturkatastrophen. Aus diesem Grund siedelt Aichner nun seine neue Buchreihe genau in diesem Milieu an, in dem er sich jahrelang bewegt hat. Er weiß also aus erster Hand, worüber er schreibt. Für seine Kriminalromane wurde Aichner mit mehreren Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt mit dem Burgdorfer Krimipreis 2014, dem Crime Cologne Award 2015 und dem Friedrich-Glauser-Preis 2017.

BERNHARD AICHNER

DUNKELKAMMER

EIN BRONSKI KRIMI

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Copyright © Bernhard Aichner by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Thomas Raab

Umschlagmotiv: © www.fotowerk.at, Ursula Aichner

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22503-2V004

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

EINS

Er wäre beinahe erfroren in dieser Nacht.

Keine Stunde länger hätte er die Kälte ertragen, sie hätte sich ganz tief in ihn hineingeschlichen, ihn langsam und leise kaputt gemacht.

Der Schnaps wäre seine vermeintliche Rettung gewesen. Er hätte so lange weitergetrunken, bis er nichts mehr gespürt hätte. Er wäre für immer eingeschlafen. Ein Spaziergänger hätte ihn am nächsten Tag in seinem Zelt gefunden.

Am Boden festgefroren.

Nur noch ein Klumpen kaltes Fleisch.

Ein stilles Ende wäre es gewesen.

Kurt Langer.

Verstorben am 21. Jänner 2021.

Ein obdachloser Spinner, der eineinhalb Wochen am Waldrand in einem Zelt geschlafen hatte. Kurt Langer war überzeugt davon gewesen, dass ihm der Winter nichts anhaben konnte. Doch die Minustemperaturen hatten ihm wehgetan, er war den Steilhang hinuntergerutscht und schließlich über die Brüstung geklettert. Er zweifelte nicht daran, dass es der einzige Weg war, die Pechsträhne in seinem Leben zu beenden. Er tat endlich, wozu er sich seit Tagen zu überreden versuchte. Kurt traf die Entscheidung gerade noch rechtzeitig, bevor er erfror.

Er nahm einen Stein und schlug das Fenster ein.

Wenig später wäre er bereits zu betrunken dafür gewesen, sich aufzuraffen und in dieses Penthouse einzubrechen.

Das Timing war perfekt.

Seit er sein Zelt nahe des Hangs aufgestellt hatte, war niemand in dieser Wohnung gewesen. Kurt hatte immer wieder hinübergeschaut, an keinem der zehn Tage hatte Licht gebrannt. Der Wohnblock schmiegte sich an den Hang, von der Straße konnte man die oberste Terrasse nicht einsehen. Ohne Blicke auf sich zu ziehen, schaffte Kurt es über die Brüstung. Ohne zu zögern, schlug er die Scheibe ein.

Das Glas brach.

Er war in Sicherheit.

Endlich hatte er ein Dach über dem Kopf.

Kein Wind, kein Schnee.

Doch es war kühl.

Mehrere Fenster waren gekippt, ein eisiger Luftzug wehte.

Schnell schloss Kurt die Fenster. Er bewegte sich beinahe lautlos. Obwohl er betrunken war, gelang es ihm, bedacht und vorsichtig vorzugehen. Das Adrenalin steuerte ihn. Er zog seine Schuhe aus, um keine Spuren zu hinterlassen. Er behielt seine Handschuhe an, nahm ein Kissen vom Sofa und schloss das Loch, durch das er seine Hand gestreckt hatte, um die Terrassentür von innen zu öffnen. Er klemmte das Kissen zwischen Scheibe und eine Stuhllehne.

Kurt machte alles richtig.

Er stand im Dunklen.

Nur ein bisschen Mondlicht erhellte den großen Raum.

Er drehte an den Reglern der Heizkörper, hörte das Wasser in den Leitungen, spürte, wie sie sich langsam erwärmten, dann setzte er sich. Holte die Schnapsflasche aus seinem Rucksack und trank. Für den Moment war er einfach nur zufrieden, weil er die Nacht im Warmen verbringen durfte. Er breitete sich einfach auf dem herrlich weichen Sofa aus und deckte sich mit einer Decke zu.

Trank die Flasche leer und schlief ein.

Vierzehn Stunden lang rührte er sich nicht.

Die Sonne schien ihm ins Gesicht, als er aufwachte. Ihm war heiß, er hatte immer noch die Handschuhe an, seine Winterjacke, er schwitzte, zog sich aus. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich zu erinnern, wie er in diese Wohnung gekommen war. Der Einbruch, der Schnaps, dieses schöne Gefühl, endlich wieder einmal in Geborgenheit schlafen zu können.

Kurt schaute sich um.

Alles, was in der Nacht in Schwarz getaucht war, zeigte sich jetzt im Licht. Die cremefarbene Ledercouch, auf der er lag, der große Esstisch, eine Jugendstilkommode, ein imposanter Gläserschrank, alle Möbel schauten so aus, als wären sie von Wert. Genauso wie die Bilder an den Wänden. Antiquitäten und Kunst. Kurt ließ sich Zeit, studierte alles im Detail. Seine Blicke blieben an der Silberkaraffe und den Bechern auf der Kommode hängen, er überlegte, wem er all die Dinge verkaufen könnte, die er gleich in seinen Rucksack packen würde. Er schätzte den Wert der Halskette, die auf dem Couchtisch lag, und er malte sich aus, was er noch alles finden würde in dieser Wohnung. In Schubladen und Schränken.

Kurt freute sich.

Er sah es nicht sofort.

Dass irgendetwas nicht stimmte an diesem Ort. Es war ihm zuerst nicht aufgefallen. Dass da überall Staub war. Zentimeterhoch.

Der gedeckte Frühstückstisch. Vertrocknetes Essen.

Ein verdorrter Strauß Rosen.

Kurt versuchte es zu begreifen. Das unnatürliche Bild, das sich ihm bot, zu verarbeiten. Er nahm es wie in Zeitlupe in sich auf. Schüttelte den Kopf. Leckte sich mit der Zunge die Lippen ab. Im ersten Moment schob er es auf den Alkohol, machte seine Kopfschmerzen dafür verantwortlich, er schlug sich sogar ins Gesicht. Dann beugte er sich über die Titelseite der Zeitung, die vor ihm lag. Kurt schloss die Augen. Öffnete sie wieder.

Er fragte sich, ob er verrückt geworden war.

Es war das Datum.

Es waren die Fotos.

Ein Politiker, der schon lange nicht mehr im Amt war, schaute betroffen in die Kamera. Er stand zwischen Trümmern und sprach mit Journalisten. Kurt konnte sich noch an alles ganz genau erinnern. Diese Bilder hatten sich in seinem Kopf eingebrannt. Das Lawinenunglück in Galtür.

Die Zeitung war vom 27.02.1999.

Vier Tage vorher waren in einem Tiroler Bergdorf einunddreißig Menschen gestorben. Schneemassen hatten alles unter sich begraben, Häuser wurden zerstört, Familien auseinandergerissen, das Urlaubsparadies war über Nacht zum Inferno geworden. Überall nur Zerstörung und Schmerz. Die ganze Welt hatte damals darüber berichtet.

Reporter, Kameraleute und Fotografen.

Und Kurt war einer von ihnen.

Mit den ersten Journalisten war er ins Tal geflogen. Wie die Geier waren sie über das Dorf hergefallen, hatten gefilmt, Fotos gemacht, die Angehörigen der Toten vor die Linse gezerrt.

Kurt zitterte.

Der Blick auf die Zeitung katapultierte ihn zurück.

Damals war er ein erfolgreicher Pressefotograf gewesen.

Jetzt war er kaputt. Betäubte sich mit Alkohol. Gierte danach.

Er ging in die Küche.

Öffnete Vorratsschränke, suchte nach Schnaps.

Aber da war keiner.

Nur Frauenkleider, die am Boden lagen.

Ein Rock.

Eine Bluse.

Unterwäsche.

Fallen gelassen vor einundzwanzig Jahren und fünf Tagen.

Niemand hatte die Kleider aufgehoben. Keiner hatte den Tisch abgeräumt. Tassen und Teller abgespült. Unheimlich war es. Am liebsten wäre er davongelaufen, doch er blieb. Er hasste sich dafür, dass er sich auf all das eingelassen hatte. Hektisch riss er die restlichen Schränke auf, suchte weiter nach Schnaps, doch da waren nur abgelaufene Lebensmittel.

Nudeln. Thunfisch. Cornflakes.

Nüsse. Haltbar bis 12/1999.

Das kann doch alles nicht sein, flüsterte er.

Bis zum Schluss wollte er es nicht wahrhaben.

Es nicht sehen. Dass vermutlich außer ihm noch jemand in der Wohnung war.

Ganz in seiner Nähe.

Kurt betrat das Schlafzimmer.

Er setzte einen Schritt vor den anderen.

Ging auf das Bett zu.

Er sah die vielen braunen Flecken auf den Laken.

Blut.

Ein Massaker musste es gewesen sein.

Kurt starrte den Körper an. Die ledrig braune Haut, die hervorstehenden Knochen. Für einen Moment vergaß er den Alkohol, er stand da, über der Leiche, und würgte. Zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde wurde er in seine Vergangenheit zurückgeworfen. Es war so, als würde ihn das Schicksal mit Gewalt daran erinnern wollen, dass er früher ein besseres Leben geführt hatte.

Da waren glückliche Tage, die Fotografie, ein gefülltes Bankkonto, der Journalismus, für den er einmal brannte. Alles war wieder da. Denn der Anblick war ihm vertraut.

Anfang der neunziger Jahre in den Ötztaler Alpen.

Ein deutsches Ehepaar war beim Wandern über die Mumie gestolpert. Kurt war einer der Ersten, der von dem über fünftausend Jahre alten Körper Bilder machte. Ötzi. Die wohl bekannteste Leiche aller Zeiten. Kurt war hautnah dabei, verdiente ein Vermögen damit, seine Aufnahmen gingen um die ganze Welt.

Die Mumie von damals war gut für ihn.

Die Mumie, die jetzt vor ihm lag, war es nicht.

Sie hatte keinen Kopf mehr.

Jemand hatte ihn abgeschnitten.

Kurt verfluchte sich. Diese Nummer war eindeutig zu groß für ihn. Man würde zuerst die Wohnung auseinandernehmen und dann ihn, man würde ihn wegen Einbruchs belangen, ihm endlos Fragen stellen und ihn am Ende auf die Anklagebank zerren.

Kein Schnaps mehr, Gefängnis vielleicht.

Damit hatte er nicht gerechnet. Er geriet in Panik. Verzweifelt versuchte er ein paar klare Gedanken zu fassen.

Da waren nur Fragen.

Keine Antworten.

Wer war diese Frau?

Was war mit ihr passiert?

Warum war ihr Körper nicht verwest?

Warum hatte niemand sie vermisst?

Warum hatte sie in all den Jahren niemand gefunden?

Wer schneidet jemandem einfach den Kopf ab?

Wie war das alles nur möglich?

Kurt erinnerte sich daran, wie gut er einmal darin gewesen war, Schlüsse zu ziehen, den richtigen Antworten hinterherzujagen. Jetzt aber war er nur noch ein versoffener alter Sack. Träge und leer, er hatte keine Energie mehr, der Wunsch zu trinken war stärker als alles andere. Er stahl, log und betrog, wenn es nötig war, er hatte jedes Gespür für sich und die Welt verloren. Was früher für ihn ein Volltreffer gewesen wäre, bedrohte ihn jetzt.

Diese Leiche, die vor ihm lag.

Eine Mumie.

Er musste eine Entscheidung treffen. Abwägen, was klüger war. Bleiben oder abbrechen. Die Polizei rufen, oder einfach tun, wozu er hier war. Fieberhaft überlegte er, beinahe panisch lief er durch die Wohnung, suchte weiter nach Schnaps. Kurt war gerade dabei durchzudrehen, als er den Einkaufskorb in der Vorratskammer fand. Er stand in einem Regal neben Konservendosen.

Kurt hätte beinahe alles übersehen.

Eine Geldtasche.

Schokolade und Wein. Sechs Flaschen.

Er suchte einen Öffner, zog den Korken aus der ersten Flasche.

Kurt setzte an und trank. Einen langen Schluck.

Dann noch einen.

Langsam beruhigte er sich.

Dann öffnete er die Geldtasche.

Da waren Kreditkarten, ein paar Scheine und ein Ausweis.

Langsam hörte er auf zu zittern.

Eine Stunde noch dachte er nach. Trank.

Dann wählte er Bronskis Nummer.

ZWEI

KURT LANGER & DAVID BRONSKI

– War gar nicht so leicht, deine Nummer rauszubekommen.

– Wer spricht da?

– Ganz schön teuer so ein Gespräch nach Deutschland. Hab nur so ein billiges Wertkartentelefon. Außerdem ist es nass geworden letzte Nacht.

– Was soll das? Wer ist da?

– Ein Kollege von früher. Du erinnerst dich doch noch hoffentlich an mich.

– Kurt?

– Gut, deine Stimme zu hören, Bronski.

– Was willst du, Kurt?

– Was ich will? Mich mal wieder melden. Hab eben an dich gedacht. Ein bisschen über die alten Zeiten plaudern. Über die Arbeit. Und vielleicht habe ich einen Job für dich.

– Ich habe jetzt keine Zeit. Bin in der Dunkelkammer.

– Dunkelkammer? Du entwickelst immer noch selber?

– Ja. Und deshalb muss ich jetzt auflegen, die Negative müssen gleich aus dem Entwickler.

– Du sitzt also tatsächlich immer noch bei Rotlicht in deinem Kämmerchen und vergrößerst deine Bilder? Du bist echt ein Spinner, Bronski. Wofür du drei Stunden brauchst, braucht man bei Photoshop drei Minuten. Warum tust du dir das an?

– Ist mein Hobby. Aber jetzt sag mir bitte einfach, was du willst, Kurt.

– Und was fotografierst du so? Hobbymäßig. Nackte Frauen?

– Sprich oder schweig, Kurt.

– Warum denn so abweisend? Wir haben uns doch immer gut verstanden, oder? Du und ich, Bronski. Wir waren ein gutes Team. Deshalb rufe ich dich auch an. Weil ich dir vertrauen kann. Und weil ich denke, dass du genau der richtige Mann bist für das hier.

– Wofür?

– Ich bin da auf etwas gestoßen. Eine große Nummer, Bronski. Das bringt ordentlich was ein. Du hast die Kontakte, du kannst das zu Geld machen.

– Nett von dir, Kurt, dass du an mich denkst, aber ich habe wirklich genug zu tun. Es ist besser, wenn du jemand anderen anrufst.

– Wenn du diese Bilder machst, kannst du ein paar Monate lang die Beine hochlegen. Das bringt richtig Kohle.

– Und warum erledigst du es dann nicht selber? Mach deine Bilder und verkauf sie. Dafür brauchst du mich nicht, Kurt.

– Doch, Bronski. Ich brauche dich.

– Sag mir wofür, oder ich lege jetzt auf.

– Ich bin leider nicht mehr im Geschäft. Du aber schon, wie ich gehört habe. Läuft prima bei dir, du scheinst Berlin ganz gut im Griff zu haben. Arbeitest jetzt für die ganz Großen. Wirst es mir nicht glauben, aber wegen dir hole ich mir immer wieder mal die Zeitung am Kiosk. Und wenn ich dann ein Foto von dir sehe, freue ich mich. Bronski hat es geschafft, sage ich mir dann. Er fotografiert jetzt für eine seriöse, große deutsche Tageszeitung. Respekt, mein Lieber.

– Klingt besser, als es ist. Am Ende mache ich denselben Mist wie vor zwanzig Jahren. Aber jetzt sag schon. Was ist los mit dir? Warum fotografierst du nicht mehr?

– Bin ziemlich am Ende, Bronski.

– Soll heißen?

– Ich bin obdachlos. Seit über drei Jahren schon.

– Das ist nicht dein Ernst, oder?

– Doch. Und ich saufe. Spätestens in einer Stunde werde ich wieder so betrunken sein, dass ich mich nicht mehr daran erinnern werde, dass wir überhaupt miteinander telefoniert haben.

– Das tut mir leid, Kurt.

– Muss es nicht. Es ist nur wichtig, dass du jetzt nicht auflegst.

– Ich lege nicht auf.

– Ich hatte doch immer einen guten Riecher, oder?

– Ja, den hattest du.

– Ich wusste immer, wenn eine Geschichte etwas wert war. Und ich weiß es auch jetzt noch. Deshalb musst du nach Tirol kommen, Bronski. So schnell es geht. Ich weiß nämlich nicht, wie lange die Sache hier noch unentdeckt bleibt.

– Tirol? Was soll ich da? Das ist nicht mein Revier, Kurt. Das sollen die Jungs vor Ort machen, rentiert sich nicht.

– Doch, es rentiert sich.

– Sag mir, was du hast.

– Nein. Ich gebe dir die Adresse, und du setzt dich ins Auto. Wenn du da bist, bezahlst du mich, ich verschwinde, und du kannst deine Fotos machen.

– Ich soll die Katze im Sack kaufen?

– Keine Katze.

– Was dann?

– Erinnerst du dich an die deutsche Milliardärin, die vor zwanzig Jahren verschwunden ist? War eine Belohnung auf sie ausgesetzt. Wir haben damals davon geträumt, das Kopfgeld abzugreifen. Eine Million Mark.

– Ja, ich erinnere mich. Aber was hat das mit dir zu tun?

– Ich habe sie gefunden, Bronski, ich habe sie gefunden.

DREI

Es war das Einzige, was ich wirklich wollte.

Meine Bilder entwickeln. Die Negativstreifen im Dunklen aus dem Gehäuse holen, sie auf eine Spule wickeln und in die Entwicklerdose legen. Chemie einfüllen, warten, fixieren, spülen. Nichts machte ich lieber.

Weit weg sein von der Welt. In meiner rot beleuchteten Kammer darauf warten, bis die Bilder, die ich aufgenommen hatte, zum Leben erwachten. Etwas Schönes auf Papier gebannt, behutsam belichtet, es war jedes Mal wie ein Wunder. Zuzusehen, wie aus dem Nichts etwas entstand. Mein Glück in Schwarz und Weiß.

Altmodisch und längst überholt.

Ich war ein analoger Spinner, wie Kurt sagte.

Einer, der einfach stehengeblieben war, den digitalen Weg nur zum Teil beschritt. Alles, was ich beruflich fotografierte, landete natürlich auf einer Speicherkarte, das musste schnell gehen, noch am Unfallort saß ich in meinem Wagen und schickte die Bilder von meinem Notebook in die Redaktion. Wenn es noch schneller gehen musste, jagte ich sie ohne Bearbeitung direkt von der Kamera ins Netz. Ohne Liebe fürs Detail, ohne Anspruch, ich fotografierte einfach nur das Unglück der anderen, ich dokumentierte es. Wie ein Arzt vielleicht, der am Operationstisch steht, ein Rettungssanitäter, ein Feuerwehrmann. Ich war bei den Ersten am Unfallort. Am Tatort. Ich ging dorthin, wo Menschen starben. Wo es brannte, wo eingebrochen wurde, wo geraubt und geprügelt wurde, wo die Natur gegen den Menschen gewann. Katastrophen, Unruhen, Ausschreitungen. Ich machte Fotos.

Zuerst die, die ich machen musste.

Dann die anderen.

Meine Fotos.

Analog. Nur für mich. Mit einer alten Olympus 10, meiner allerersten Kamera und einem Ilford Film, 400 Iso. So hatte ich es vor einer Ewigkeit gelernt, so machte ich es immer noch. Auch wenn man mich auslachte. Kollegen, die mich fragten, was ich mit dem alten Ding wollte, warum um Himmels willen ich analog fotografierte. Sie verstanden es nicht. Und ich erklärte mich auch nicht. Für sie war ich ein Freak. Anfangs sprachen sie noch darüber, irgendwann ließen sie mich aber einfach in Ruhe, es interessierte niemanden, warum ich zusätzliche Bilder machte.

Es blieb mein Geheimnis.

Alles, was in meiner Dunkelkammer passierte.

Niemand wusste davon. Der Einzige, der vielleicht hätte ahnen können, was ich dort machte, war Kurt. Er kannte mich noch von früher. Mit ihm hatte ich darübergeredet vor vielen Jahren, er hatte mich nicht verurteilt, er hatte nur gegrinst. Gesagt, dass wohl jeder auf seine Art ein bisschen durchgeknallt sei. Er wunderte sich, aber er mischte sich nicht ein.

Kurt Langer.

Nach so vielen Jahren rief er mich an.

Was er sagte, schockierte mich. Machte mich neugierig. Er wusste, welche Tasten er drücken musste, damit ich zu laufen begann. Kurt kannte mich. Und ich kannte ihn. Es war ein Anruf aus einer anderen Welt, aber ich erinnerte mich. Kurt war kein Freund, aber er war immer einer von den Guten gewesen. Wir hatten viel zusammen erlebt, über zehn Jahre lang hatten wir uns gemeinsam auf der Straße herumgetrieben, er war so etwas wie mein Mentor gewesen, als ich damals ganz neu im Geschäft war. Kurt war immer kollegial, nicht so neidzerfressen und egoistisch wie andere Kollegen, ihm ging es immer nur um den Nervenkitzel, darum, dieses Gefühl mit jemandem teilen zu können.

Meistens war ich das.

Wir hatten Spaß an der Arbeit, wir tranken zusammen. Kurt mehr als ich. Er hatte immer schon einen Hang zum Übertreiben. Wo es hinführen sollte, interessierte ihn nicht, er wollte leben, aus dem Vollen schöpfen, solange es ging. Ein Leben im Rausch. Dass es irgendwann so enden musste, wusste er. Trotzdem berührte es mich.

Dass er jetzt obdachlos war.

Ich hörte es an seiner Stimme, dass er tatsächlich ganz unten angekommen war. Keine Arbeit mehr, keine Wohnung, da war nur noch dieser Spürsinn, für den er bekannt gewesen war. Sein Händchen für die ganz großen Geschichten und ein letzter klarer Blick, bevor er sich ins Delirium soff. Kurt hatte meine Nummer gewählt. Wahrscheinlich weil er wusste, dass ich ihm glauben würde. Auch wenn es noch so verrückt klang, was er sagte. Ich wusste, dass er mich nicht umsonst nach Innsbruck holen würde. In die Stadt, in der ich aufgewachsen war, in der ich mich verliebt hatte. Obwohl ich alle Brücken abgebrochen hatte, trieb es mich dorthin.

Zurück in die Vergangenheit.

Mein Leben spielte sich in Berlin ab, es gab nichts mehr, das mich mit früher verband. Da war nichts mehr, worüber ich hätte reden müssen. Ich hatte alles verloren und nicht wiedergefunden. Hatte mir erfolgreich eingeredet, dass ich es aufgearbeitet hatte, dass alles Bestimmung war, was geschehen ist. Ich hatte mich damit abgefunden, dass so etwas wie Glück auf Dauer für mich nicht vorgesehen war.

Tirol gab es für mich bis zu diesem Moment nicht mehr.

Doch dann stieß Kurt diese Türe wieder auf.

Mit seinem Anruf riss er mich aus meiner Welt dumpfer Behaglichkeit. Die Milliardärin, die damals verschwunden war, das Kopfgeld, das auf sie ausgesetzt war. Es war alles wieder da, Kurt hatte auf die richtige Taste gedrückt.

Meine Anfänge fielen mir wieder ein.

Mitte der neunziger Jahre.

Vom Kunststudenten wurde ich zum Bluthund.

Von jetzt auf nachher verdiente ich mein Geld mit dem Unheil von anderen. Ich machte Bilder davon. Rund um die Uhr war ich im Einsatz, immer wartete ich darauf, dass etwas passierte. Wenn andere weinten, freute ich mich. Wenn sie entsetzt waren, verdiente ich Geld. Ich war der Geier, der über den Toten kreiste. Mehr als zwanzig Jahre später war ich es immer noch.

Fotos: David Bronski.

Ich hatte irgendwann damit begonnen und konnte nicht mehr aufhören. Wie eine Sucht war es. Ganz harmlos fing es an, dann wurde ich von diesem Gefühl verschluckt. Ich hatte alles vergessen, was vorher gewesen war. Die Finsternis zog mich an, mehr als das Licht. Ich war wie ferngesteuert. Alles passierte einfach.

Am Ende des vierten Studienjahrs begann es. Ich musste Geld verdienen im Sommer, arbeitete als Aushilfe im Büro einer großen Zeitung in Innsbruck. Es war ein Job in der Bildredaktion, ich scannte Fotos ein, beschriftete und archivierte sie, es war ein langweiliger Sekretariatsjob, aber ich mochte, was ich tat. Es war schön, wieder eine Zeit lang in meiner Heimat zu verbringen, ein paar Wochen lang Wien den Rücken zu kehren. Die Stadt, in der ich studierte. Die Stadt, die im Sommer unerträglich war.

Ich freute mich, die Berge wiederzusehen.

Und Mona.

So lange war ich schon verliebt in sie gewesen, doch es hatte sich nie ergeben, dass wir uns näherkamen. Ich war nach Wien gegangen, sie war in Innsbruck geblieben. Nur in den Ferien sahen wir uns hin und wieder. Bis sie mir diesen Job vermittelte. Mit dem Chefredakteur sprach und sich für mich einsetzte. Mona nahm das Ruder in die Hand und steuerte. Obwohl sie erst fünfundzwanzig war, hatte ihr Wort Gewicht, insgeheim war sie die Seele der Redaktion, alle konnten sich auf sie verlassen, sie war die Sonne, die jeden Morgen aufging. Zumindest für mich.

Für so lange Zeit war es mein größter Wunsch gewesen, sie in die Arme zu nehmen, sie zu berühren, sie zu küssen. Ich wollte es. So wie Mona auch. Deshalb bin ich nicht in mein Studentenleben zurückgekehrt, als der Sommer vorbei war. Ich brach meine Zelte in Wien ab, nahm die Einladung zu bleiben, an. Alles ergab sich einfach so, ich hatte eine Chance bekommen und sie genutzt. Der damals fest angestellte Pressefotograf war schwer erkrankt, von heute auf morgen nicht mehr aufgetaucht, ein Loch wurde in die Redaktion gerissen, das ich füllen sollte.

Der Chefredakteur hatte mich gefragt, ob ich Freude daran hätte, einzuspringen. Ich hatte plötzlich ein Jobangebot, einen Grund zu bleiben. Dass man es mir zutraute, freute mich. Alle wussten, dass ich Kunst studierte, Schwerpunkt Fotografie, ich hatte die Ausrüstung, war technisch versiert, alles sprach dafür, dass es funktionieren konnte. Sie motivierten mich, verführten mich, obwohl ich damals noch absolut keine Ahnung von diesem Geschäft hatte, traute man es mir zu.

Ich sprang ins kalte Wasser.

Und ich genoss es.

Vom ersten Tag an war ich begeistert. Ich war plötzlich im ganzen Land unterwegs, ich fotografierte bei Pressekonferenzen, Eröffnungen, Verleihungen, ich machte Bilder von Unfällen, Polizei- und Rettungseinsätzen. Da waren keine leeren Worte mehr, alles, was ich auf Film bannte, passierte wirklich, aus Theorie wurde Praxis. Ich schrieb keine Arbeiten mehr, ich belichtete Filme und entwickelte sie, ich fühlte mich zuhause im Redaktionslabor, die Universität vermisste ich nicht. Den Wunsch, Künstler zu werden, verwarf ich. Das schnelle Geld lockte mich, ich verdiente plötzlich in einer Woche mehr, als ich als Redaktionsassistent in einem Monat verdient hatte. Ich hatte einer künstlichen Welt den Rücken gekehrt und war in der Realität angekommen. Und ich hatte Freude daran.

Da war das Lächeln von Mona bei der Redaktionskonferenz.

Die neuen Aufträge, die ich jeden Morgen bekam.

Die Wertschätzung der Kollegen.

Ich fühlte mich wie ein Cowboy, der gut bewaffnet durch die Gegend ritt, ich fotografierte alles, ich füllte das Archiv mit Landschaftsaufnahmen, Architekturfotos, ich machte Portraits von Menschen, die es irgendwann garantiert in die Zeitung schaffen würden, Wirtschaftstreibende, Kulturschaffende, Politiker aus allen Reihen, irgendwann wurden all diese Bilder gebraucht. Jeder Schuss ein Treffer. Landeshauptleute und Minister in unvorteilhaften Posen, Fotos von Gerichtsprozessen, Angeklagte, Richter und Staatsanwälte. Ich war richtig gut in meinem Job. Wenn jemand mit dem Auto verunglückte, wenn es brannte, wenn eine Tankstelle überfallen wurde, wenn ein Reisebus eine Schlucht hinunterstürzte, ich fotografierte es. Alles, was irgendwann gedruckt werden konnte. Ich machte jeden Moment zu Geld, der wichtig zu sein schien, ich dokumentierte jedes Unglück, jeden Tropfen Blut.

Ich gierte danach.

Der Chefredakteur sprach von einem Glücksfall. Regelmäßig hob er bei den Sitzungen die Zeitung hoch und schwärmte von meinen Bildern. Er streute mir Rosen, motivierte mich, immer noch mehr zu geben, ich schlief neben dem Polizeifunk, vierundzwanzig Stunden am Tag war ich auf Abruf, bis der Sommer vorbei war, war ich unabkömmlich geworden. Ich verdiente jede Menge Geld, Mona und ich kamen uns näher. Wir waren unzertrennlich, wir arbeiteten zusammen, wir schliefen im selben Bett, wir liebten uns. Weil wir uns tatsächlich geküsst hatten irgendwann. Alles, was ich mir gewünscht hatte, war in diesem Sommer in Erfüllung gegangen.

Ich stellte mir vor, dass ich mit Mona bei der Zeitung alt werden würde. Ich wollte unbedingt daran glauben. Die Zwischenrufe meines Professors aus Wien ignorierte ich, seine Versuche, mich dazu zu bringen, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Ich überhörte seine gut gemeinten Ratschläge, widersprach ihm in Gedanken, als er sagte, ich würde mein Talent verschwenden, meine Gabe nicht richtig nutzen. Ich wollte nicht, dass er an meiner Entscheidung rüttelte, alles sollte so bleiben, wie es war. Es fühlte sich gut und richtig an. Der neue Job. Das neue Leben mit Mona.

Fünf Jahre lang war ich der König der Welt.

Zufrieden mit allem.

Wunschlos, weil ich alles hatte.

Bis mir irgendwann alles genommen wurde.

Mein Glück.

Das Leben in Tirol.

Plötzlich war es zu Ende.

Aus der Traum.

Nachdem das Entsetzliche passiert war, fanden wir nicht zu einer gemeinsamen Sprache zurück. Mona und ich. Wir verdrängten es. Liefen einfach davon. Nach Berlin.

Ein Anfang in einer neuen Stadt hatte es sein sollen. Wir wollten es beide. Wir taten alles dafür, damit wir es schaffen. Neue Jobs, neue Wohnung, neue Landschaft. Aber es funktionierte nicht. Wir hatten es uns leichter vorgestellt. Hofften, dass sich die dunklen Wolken über uns verziehen würden, aber so kam es nicht.

Wir scheiterten.

Und Berlin blieb mir fremd.

Obwohl ich mittlerweile schon seit vierzehn Jahren dort lebte, war ich immer noch nicht zuhause an diesem Ort. Obwohl ich mich wahrscheinlich besser in dieser Stadt auskannte als viele, die dort geboren wurden, fand ich keinen Zugang zu ihr. Ich kannte jeden Stadtteil in- und auswendig, in den ersten Wochen war ich jeden Meter mit dem Rad abgefahren. Mit dem Stadtplan in der Hand erarbeitete ich mir jeden Winkel, ich lernte die Straßennamen. Prägte mir alles ein. Ämter, Behörden, alle öffentlichen Gebäude, schnelle Wege, Parks, Rotlichtviertel, Touristenhotspots, ich las Bücher über diese Stadt, besuchte Museen.

Ich lernte Berlin auswendig.

Ich sollte für eine von Deutschlands erfolgreichsten Zeitungen arbeiten, man hatte mich zum Vorstellungsgespräch geladen. Ich war perfekt vorbereitet, als ich zum ersten Mal das Büro der Chefredakteurin betrat. Regina hieß sie. Coole Frau, mein Alter, Beine am Schreibtisch, ich mochte sie. Und sie mochte mich. Regina brauchte keine zwei Minuten, um mich einzustellen, sie sagte, dass sie sich darüber freue, einen so erfahrenen Fotografen an Bord begrüßen zu dürfen. Sofort bot sie mir das Du an, wir tranken ein Glas von dem Tiroler Schnaps, den ich ihr mitgebracht hatte, dann schüttelte sie meine Hand und stellte mich der Redaktion vor. Alles war ganz einfach. Dieser Moment, vor dem Mona und ich uns so gefürchtet hatten. Neue Menschen. Neue Namen. Neues Leben.

Ich fotografierte.

Mona arbeitete in einer Kneipe in Berlin Mitte.

Wir gaben uns Mühe.

Doch am Ende scheiterten wir.

Die Arbeit blieb die einzige Konstante. Der Tresen, hinter dem Mona stand. Und die Bilder, die ich machte. Alltag war es, der uns Sicherheit gab. Beinahe fühlte es sich an wie früher. Wir waren abgelenkt, schoben das eigentliche Problem zur Seite, verdrängten es. Wir wollten beide nicht wahrhaben, dass unsere Beziehung wie ein Buch war, das wir zu Ende gelesen hatten.

Wir vermieden es, darüber zu reden.

Judith. Unser Schmerz. Die Leere, die laut war.

Mona schenkte Bier aus, ich drückte auf den Auslöser.

Tat, was ich am besten konnte.

Fotos machen. Jahrelang.

Bis Kurt anrief.

VIER

DAVID BRONSKI & REGINA MASEN

– Und?

– Was soll das, Bronski?

– Du hast die vielen schönen Bilder also bekommen.

– Natürlich habe ich sie bekommen. Aber ich frage mich, was verdammt noch mal du mir da geschickt hast?

– Du bekommst die Fotos exklusiv. Musst nur ein bisschen tiefer in die Tasche greifen als sonst.

– Langsam, Bronski. Du sagst mir jetzt zuerst, wo du bist. Wer das ist auf den Bildern. Und warum ich noch nichts davon gehört habe. Unsere Polizeireporter wissen nichts über diese Leiche.

– Niemand weiß davon. Noch nicht. Wir sind mehr oder weniger die Einzigen, die wissen, dass diese Frau tot ist. Dass sie umgebracht wurde. Und wo sie abgeblieben ist.

– Sprich nicht in Rätseln. Sag endlich, um was es da geht.

– Verrückte Geschichte. Hat sich einfach alles so ergeben. Wenn du mir gestern um diese Uhrzeit gesagt hättest, dass das alles passieren würde, hätte ich dich ausgelacht. Ich fange tatsächlich gerade an, an das Schicksal zu glauben. So viele Zufälle gibt es nämlich nicht im Leben.

– Rede endlich, Bronski, oder ich reiß dir den Arsch auf. Wenn du uns mit dieser Nummer in Schwierigkeiten bringst, hast du ein Problem mit mir, versprochen.

– Ich kümmere mich nur darum, dass du Auflage machst. Kennst mich ja mittlerweile, oder? Bronski hat alles unter Kontrolle.

– Na dann, erzähl mal, du Genie.

– Ein alter Freund hat mich gestern Abend angerufen. Hat mich gebeten, nach Tirol zu kommen. Hat mir gesagt, dass er da eine Story für mich hat. Etwas, das gut in unser Blatt passen würde. Also habe ich alles liegen und stehen lassen und bin sofort los. Berlin–Innsbruck in sechseinhalb Stunden. Ich wurde zweimal geblitzt, aber es hat sich gelohnt. Ich habe schon lange keine so unfassbaren Bilder mehr gemacht.

– Du bist in Innsbruck?

– Ja. Fällt mir schwer diese Stadt zu hassen. Ist einfach wunderschön hier. Du weißt ja, dass ich hier aufgewachsen bin, oder?

– Es ist mir scheißegal, wo du aufgewachsen bist, Bronski. Ich will wissen, was mit deinem Freund los ist. Wer ist der Mann? Was hat er damit zu tun? Man findet doch nicht einfach so eine Leiche, oder?

– Er ist obdachlos. Ist hier eingebrochen. Er war wohl kurz davor zu erfrieren. Ist echt scheißkalt da draußen.

– Er hat sich also intuitiv genau die Wohnung mit der Leiche ausgesucht? Scheint ein gutes Händchen zu haben, der Mann.

– Ich sagte doch, dass das alles Schicksal ist. Es hat einen Grund, warum ich hier bin. Warum er mich angerufen hat.

– Dich und nicht die Polizei. Genau das ist der Punkt. Hier hört nämlich der Spaß auf, Bronski. Du hattest in der Wohnung nichts zu suchen. Du hast dich strafbar gemacht, ich kann dir da nicht helfen, wenn dieser Schuss nach hinten losgeht.

– Ob ich hier bin oder nicht, interessiert keine Sau. Die gute Frau ist schon lange tot, ob sie noch ein bisschen länger hier unentdeckt rumliegt, interessiert niemanden.

– Du willst mir jetzt aber nicht sagen, dass du immer noch in dieser Wohnung bist, oder?

– Doch. Ich sitze im Wohnzimmer. Die Leiche liegt drüben im Schlafzimmer.

– Was redest du da?

– Während ich hier noch ein Glas Wein trinke, kannst du ja schon mal überlegen, wie viel du mir für diese Bilder bezahlen willst.

– Drehst du jetzt völlig durch?

– Kurt hat Gott sei Dank noch eine Flasche für mich übrig gelassen. Ohne Alkohol wäre das hier alles schwer zu verkraften.

– Kurt?

– Der Freund von früher.

– Zuerst wird also jemand umgebracht, dann brecht ihr in die Wohnung ein, du fotografierst alles, machst es dir am Tatort gemütlich und rufst mich an. Ist ein bisschen viel auf einmal, findest du nicht?

– Du hast vergessen zu erwähnen, dass ich Geld von dir will. Viel Geld.

– Bist du betrunken?

– Nicht wirklich. Es ist nur so, dass ich so etwas in all den Jahren noch nie gesehen habe. Die Frau ist völlig mumifiziert. Irgendein Psychopath hat ihr den Kopf abgeschnitten. Ist schon krass, wenn man das so aus der Nähe sieht.

– Wie lange liegt die Leiche schon da?

– Das kann ich dir genau sagen. Ich gehe davon aus, dass sie am Morgen des 27.02.1999 umgebracht wurde.

– Du sprichst von der Zeitung am Frühstückstisch, oder?

– Ja. Aufgrund der zwei Gedecke und der Klamotten am Boden nehme ich an, dass sie vor dem Frühstück noch Sex hatte. Nach dem Kaffee musste sie dann sterben. Pech für sie, Glück für den Mörder. Seit damals ist nämlich niemand mehr in der Wohnung gewesen. Hier steht alles still. Ist wie ein Museum. Könnte eine Kunstinstallation sein.

– Ist es aber nicht, Bronski. Und deshalb musst du da raus. Man darf dich da nicht finden, wenn irgendein Nachbar die Polizei ruft, dann war es das für dich.

– Wie gesagt. Um mich musst du dir keine Sorgen machen. Du sollst mir jetzt besser sagen, wie viel dir die Fotos wert sind.

– Ach, komm schon, Bronski. Das sind nur Fotos von einer Leiche. Zugegebenermaßen etwas Besonderes, aber am Ende können wir das nicht drucken.

– Natürlich könnt ihr. Es gibt genügend Material, auf denen die Leiche nicht ganz zu sehen ist. Nur Andeutungen, ein Bein, ein Arm, das blutige Laken, sehr dezent alles, ich weiß doch, wie das Spiel funktioniert.

– Was ist mit dem Kopf?

– Ist leider nirgendwo zu finden. Hat wohl jemand als Souvenir mit nach Hause genommen. Aber das macht die ganze Sache nicht billiger für dich.

– Wie viel willst du?

– Zwanzigtausend.

– Spinnst du?

– Ich kann die Bilder auch der Konkurrenz anbieten.

– Kannst du nicht. Ich bin es nämlich, die seit vielen Jahren darauf schaut, dass du nicht verhungerst. Ich bin die, die dich füttert, also werde auch ich diejenige sein, die dir diese verdammten Bilder abkauft. Niemand sonst, verstehst du das?

– Sie gefallen dir also doch?

– Fünftausend und keinen Deut mehr. Ich handle mir damit jede Menge Schwierigkeiten ein, Polizei und Staatsanwaltschaft werden das gar nicht lustig finden, dass wir am Tatort Spuren verwischt und Fotos gemacht haben.

– Wir haben keine Spuren verwischt. Zumindest nicht allzu viele. Außerdem musst du ja niemandem sagen, woher du die Bilder hast. Das fällt unter Quellenschutz. Du wirst dich bestens mit der Kripo arrangieren, niemand sonst wickelt die Pressesprecher so um den Finger wie du. Kannst ja einen Deal mit denen machen. Veröffentlichung erst, nachdem die Spurensicherung hier raus ist und sie die erste Meldung rausgeben. Während die anderen nur Außenaufnahmen vom Haus zeigen, bringst du die exklusiven Bilder vom Schlafzimmer und diesem abgefahrenen Museum hier. Auf den Spuren des Totenkopfmörders. Dir fällt sicher eine lustige Schlagzeile ein.

– Warum sollen wir über einen Mord in der österreichischen Provinz berichten? Ich denke, wir haben genug Leichen hier in Deutschland. Ich muss dir doch nicht unnötig Geld in den Rachen stopfen, um meine Zeitung zu füllen.

– Doch, musst du. Erstens höre ich es an deiner Stimme, dass du richtig heiß bist auf die Geschichte. Und zweitens haben wir hier einen herrlichen Deutschlandbezug. Um genau zu sein, gibt es eine direkte Verbindung nach Leipzig.

– Und welcher wäre das?

– Unser Opfer ist prominent. Ich habe einen Ausweis gefunden. Du wirst Deutschland zum Staunen bringen, wenn das hier an die Öffentlichkeit kommt.

– Jetzt mach endlich den Mund auf, Bronski.

– Fünfzehntausend.

– Zuerst will ich wissen, was du hast.

– Du erinnerst dich doch noch bestimmt an Zita Laufenberg.

– Nein.

– Die Milliardärin, die vor zwanzig Jahren verschwunden ist. Da warst du doch schon im Amt, oder? War eine große Geschichte damals, hat man sogar hier in der Provinz mitbekommen.

– Natürlich erinnere ich mich. Ich kann nur nicht glauben, was du mir jetzt hier auftischen willst.

– Die Frau auf den Fotos ist Zita Laufenberg. Nackt und ohne Kopf. Seit zwanzig Jahren verschollen hier in ihrem Liebesnest in Tirol.

– Wie kannst du dir so sicher sein, dass sie es ist?

– Ich sagte doch, dass ich ihren Ausweis hier vor mir liegen habe. Außerdem stehen ihre Initialen auf dem Türschild der Wohnung. Z L. Kann kein Zufall sein. Außerdem ist sie genau in diesem Winter verschwunden damals, eindeutiger geht es nicht.

– Du verschwindest jetzt sofort aus der Wohnung, Bronski. Du warst niemals dort, hast du das verstanden?

– Du gibst mir das Geld?

– Zehntausend.

– Zwölf.

– Von mir aus, aber jetzt hau bitte von dort ab. Miete dich irgendwo ein und halte die Augen offen. Ich möchte, dass du in der Nähe bleibst und keinen Unsinn machst, bis die Verstärkung bei dir auftaucht.

– Verstärkung?

– Svenja Spielmann.

– Das ist nicht dein Ernst, oder? Du schickst mir eine aus der Kulturredaktion?

– Ich habe gerade niemand anderen. Aber Svenja macht das schon.

– Sie auf diese Geschichte anzusetzen ist völliger Irrsinn.

– Das lass mal meine Sorge sein. Sie schreibt und du fotografierst. Du wirst meine Entscheidungen nicht in Frage stellen, Bronski.

– Sag später nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.

– Halt jetzt die Klappe und mach dich vom Acker. Wenn Svenja da ist, dann werdet ihr die Polizei anrufen und euch auf die Lauer legen. Ich will Bilder von außen, ich will sehen, wie sie die Leiche wegschaffen, ich will, dass ihr mit den Nachbarn redet, und dass ihr den Typen findet, für den sie sich damals ausgezogen hat. Ihr spult das volle Programm ab, verstanden?

– Wir sollen selbst bei der Polizei anrufen?

– Wer denn sonst, Bronski? Weiß ja keiner davon. Ich will die Fotos jetzt veröffentlichen und nicht noch weitere zwanzig Jahre darauf warten müssen. Ihr werdet einfach in eine Telefonzelle spazieren und einen Einbruch melden. Die Polizei wird kommen und die Leiche finden. So einfach ist das.

– Von mir aus.