Angels Flight - Michael Connelly - E-Book

Angels Flight E-Book

Michael Connelly

0,0

Beschreibung

Mitten in der Nacht an den Schauplatz eines Verbrechens gerufen zu werden, das ist Harry Bosch gewohnt. Doch als der Detective erfährt, wer das Opfer ist, weiß er: Das hier ist kein Routineeinsatz. Howard Elias liegt erschossen in der berühmten Standseilbahn von L. A.: Angels Flight. Der schwarze Staranwalt und Bürgerrechtler führte seit Jahren einen Kreuzzug gegen das LAPD, überhäufte Beamte mit Klagen wegen Amtsmissbrauchs, Polizeigewalt und Rassismus. Harry Bosch ahnt, dass er den Mörder in den eigenen Reihen suchen muss. Die Führung des LAPD würde die ganze Sache am liebsten unter den Teppich kehren, aber der Druck der schwarzen Community von L. A. wird immer größer, die Presse wittert einen Skandal. Harry Bosch, der bei seinen Ermittlungen unter ständiger Beobachtung steht, muss schnell sein – vor allem aber darf er keinen Fehler machen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 598

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Connelly

Angels Flight

Der sechste Fall für Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für

McCaleb Jane Connelly

1

Das Wort klang fremd in seinem Mund, wie von jemand anders gesprochen. Seine Stimme hatte eine Dringlichkeit, die Bosch sonst nicht kannte. Das schlichte Hallo, das er in den Hörer geflüstert hatte, war voller Hoffnung, fast Verzweiflung. Doch die Stimme, die daraus zurückkam, war nicht die, die er gern gehört hätte.

»Detective Bosch?«

Einen Augenblick kam sich Bosch wie ein Idiot vor. Er fragte sich, ob der Anrufer das Stocken seiner Stimme bemerkt hatte.

»Hier Lieutenant Michael Tulin. Ist da Bosch?«

Der Name sagte Bosch nichts, und seine momentane Besorgnis darüber, wie er sich anhörte, wurde weggefegt, als ihm ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf schoss.

»Ja, hier Bosch. Was ist? Was ist los?«

»Einen Moment bitte. Deputy Chief Irving möchte Sie sprechen.«

»Was ist …«

Der Anrufer legte das Gespräch auf eine andere Leitung, und es wurde still. Jetzt fiel Bosch wieder ein, wer Tulin war – Irvings Adjutant. Bosch stand da und wartete. Er blickte sich in der Küche um; nur die schwache Herdbeleuchtung war an. Mit einer Hand drückte er das Telefon an sein Ohr, mit der anderen fasste er sich automatisch an den Bauch, wo sich Furcht und Schrecken ineinander verschlangen. Er sah auf die Leuchtziffern der Herduhr. Es war fast zwei. Seit er das letzte Mal einen Blick darauf geworfen hatte, waren fünf Minuten vergangen. Das kann nicht sein, dachte er, während er wartete. Sie machen das nicht am Telefon. Sie schicken jemanden. Sie sagen es einem persönlich.

Endlich nahm Irving am anderen Ende der Leitung ab.

»Detective Bosch?«

»Wo ist sie? Was ist passiert?«

Bosch wartete, und es verstrich ein weiterer Moment quälenden Schweigens. Inzwischen hatte er die Augen geschlossen.

»Wie bitte?«

»Sagen Sie mir einfach, was mit ihr ist. Ich meine … ist sie noch am Leben?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Detective. Ich rufe an, weil ich so schnell wie möglich Ihr Team brauche. Ich brauche Sie für einen Sondereinsatz.«

Bosch öffnete die Augen. Er sah aus dem Küchenfenster in den dunklen Canyon unter seinem Haus hinab. Sein Blick folgte dem Abhang zum Freeway hinunter und dann wieder nach oben zu dem schmalen Streifen von Hollywoodlichtern, die er durch den Einschnitt des Cahuenga Pass sehen konnte. Er fragte sich, ob jedes Licht bedeutete, dass dort jemand wach war und auf jemanden wartete, der nicht kommen würde. Bosch sah sein Spiegelbild im Fenster. Er wirkte müde. Sogar in der dunklen Glasscheibe konnte er die tiefen Ringe unter seinen Augen sehen.

»Ich habe einen Auftrag für Sie, Detective«, wiederholte Irving ungeduldig. »Können Sie ihn übernehmen, oder sind Sie …«

»Ich kann ihn übernehmen. Ich war nur kurz ein wenig durcheinander.«

»Also, es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe. Aber daran müssten Sie eigentlich gewöhnt sein.«

»Ja. Kein Problem.«

Bosch sagte ihm nicht, dass er durch den Anruf nicht geweckt worden war. Dass er durch das dunkle Haus gestreift war und gewartet hatte.

»Dann mal los, Detective! Kaffee kriegen Sie hier unten am Tatort.«

»Was ist passiert?«

»Darüber sprechen wir, wenn Sie hier sind. Ich möchte nicht noch mehr Zeit verlieren. Verständigen Sie Ihr Team. Lassen Sie es in die Grand Street kommen, zwischen Third und Fourth. Zur Bergstation der Angels Flight. Wissen Sie, was ich meine?«

»Bunker Hill? Ich …«

»Alles Weitere erfahren Sie, wenn Sie hier sind. Fragen Sie nach mir, wenn Sie da sind. Wenn ich unten bin, kommen Sie zu mir runter, bevor Sie mit irgendjemand anders sprechen.«

»Was ist mit Lieutenant Billets? Sie sollte …«

»Sie wird über alles informiert. Wir vergeuden bloß Zeit. Das ist keine Bitte. Es ist ein Befehl. Trommeln Sie Ihre Leute zusammen und kommen Sie hier runter. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?«

»Absolut.«

»Dann sehen wir uns also gleich.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, hängte Irving auf. Bosch stand noch ein paar Augenblicke mit dem Hörer am Ohr da und überlegte, was das Ganze sollte. Angels Flight war die kurze Standseilbahn in Downtown, die zur Personenbeförderung auf den Bunker Hill diente – weit außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Morddezernats der Hollywood Division. Wenn Irving da unten eine Leiche hatte, war das Sache der Central Division. Wenn die Central-Detectives einen Fall wegen Überlastung oder Personalproblemen nicht übernehmen konnten oder wenn man die Angelegenheit als zu wichtig oder medienpolitisch als zu heikel ansah, mussten die »Bullen« ran, die Robbery-Homicide Division. Der Umstand, dass sich ein Deputy Chief of Police an einem Samstag vor Tagesanbruch der Sache annahm, deutete auf Letzteres hin. Blieb nur noch die Frage, warum Irving dann Bosch und sein Team holte und nicht die RHD-Bullen. Egal, was nun an der Angels Flight genau los war – Bosch konnte sich keinen rechten Reim darauf machen.

Er blickte noch einmal in den dunklen Canyon hinab, nahm das Telefon von seinem Ohr und schaltete es aus. Er hätte gern eine Zigarette gehabt, aber er hatte es schon die ganze Nacht ohne geschafft. Also würde er auch jetzt nicht schwach werden.

Er drehte sich um und lehnte sich an die Arbeitsplatte. Dann blickte er auf das Telefon in seiner Hand, machte es wieder an und drückte auf die Kurzwahltaste, die ihn mit Kizmin Riders Wohnung verbinden würde. Sobald er mit ihr gesprochen hatte, würde er Jerry Edgar anrufen. Bosch gestand sich die Erleichterung, die sich seiner zu bemächtigen begann, nur widerstrebend ein. Auch wenn er noch nicht wusste, was ihn in Angels Flight erwartete, würde es ihn wenigstens von Eleanor Wish ablenken.

Kizmin Riders alarmierte Stimme meldete sich nach dem zweiten Läuten.

»Kiz, hier Harry«, sagte er. »Es gibt Arbeit.«

2

Bosch verabredete sich mit seinen zwei Partnern in der Hollywood Division, um sich dort Autos zu holen, mit denen sie zur Angels Flight fahren würden. Auf der Fahrt zu der Polizeistation hatte er im Radio seines Jeeps auf KFWB eine Meldung über einen Mordfall in der historischen Standseilbahn gehört. Der Reporter vor Ort berichtete, in einem der Waggons seien zwei Leichen gefunden worden und es seien bereits mehrere Detectives der Robbery-Homicide Division am Tatort eingetroffen. Das war allerdings alles, was der Reporter zu berichten hatte, da er darauf hinwies, dass die Polizei den Tatort ungewöhnlich weiträumig mit gelbem Plastikband abgesperrt hatte, weshalb er nicht mehr vom Geschehen mitbekam. Diese spärlichen Informationen gab Bosch an Edgar und Rider weiter, als sie sich aus dem Wagenpark der Polizeistation drei Slickbacks ausliehen.

»Sieht ganz so aus, als dürften wir für die RHD die Laufburschen spielen«, schloss Edgar daraus. Er machte keinen Hehl aus seinem Ärger, aus dem Bett geholt worden zu sein, und das vermutlich nur, um den RHD-Bullen das ganze Wochenende Handlangerdienste leisten zu dürfen. »Wir reißen uns den Arsch auf, und die ernten die Lorbeeren. Dabei haben wir dieses Wochenende nicht mal Bereitschaftsdienst. Warum hat Irving nicht Rice und seine Leute geholt, wenn er schon unbedingt eine Hollywood-Truppe haben will?«

Damit hatte Edgar nicht ganz unrecht. Team One – Bosch, Edgar und Rider – hatte dieses Wochenende keinen Bereitschaftsdienst. Hätte sich Irving an den Dienstplan gehalten, hätte er Terry Rice verständigen müssen, dessen Team Three an der Reihe war. Aber nachdem Irving ganz direkt, ohne vorherige Rücksprache mit seiner Vorgesetzten Lieutenant Grace Billets, an ihn herangetreten war, stand für Bosch längst fest, dass der Deputy Chief diesmal nicht den Dienstweg beschritt.

»Tja, Jerry«, sagte Bosch, der das Gejammer seines Partners zur Genüge kannte, »das kannst du gleich den Deputy Chief persönlich fragen.«

»Aber klar doch, mache ich ganz bestimmt – damit ich die nächsten zehn Jahre in der Harbor Division versauern kann. Schön blöd müsste ich sein.«

»Was hast du eigentlich gegen die Harbor Division?«, zog Rider ihren Kollegen auf. Sie wusste, Edgar wohnte im Valley, und eine Versetzung zur Harbor Division hätte einen neunzigminütigen Arbeitsweg – eine Strecke! – für ihn bedeutet: die Freeway-Therapie in Reinkultur, die wirksamste Methode der Polizeiobersten, unzufriedene und aufmüpfige Polizisten inoffiziell zu bestrafen. »Da unten haben sie höchsten sechs, sieben Mordfälle im Jahr.«

»Ist ja prima, aber darauf kann ich gern verzichten.«

»Okay, okay«, ging Bosch dazwischen. »Sehen wir lieber zu, dass wir hier loskommen. Über alles Weitere können wir uns dann später Gedanken machen. Verfahrt euch nicht!«

Bosch nahm den Hollywood Boulevard zum Freeway 101 und rauschte auf der Stadtautobahn bei minimalem Verkehr in Richtung Downtown. Auf halbem Weg warf er einen Blick in den Rückspiegel. Trotz der Dunkelheit und der anderen Autos konnte er seine Partner mühelos ausmachen. Er fand die neuen Wagen für die Detectives unmöglich. Sie waren schwarz-weiß lackiert und sahen wie Streifenwagen aus, außer dass sie auf dem Dach kein Rotlicht hatten. Es war die Idee des letzten Polizeichefs gewesen, die neutralen Einsatzwagen der Detectives durch die sogenannten Slickbacks zu ersetzen. Das Ganze war ein fauler Trick gewesen, um sein Versprechen von mehr Polizeipräsenz auf den Straßen wahr zu machen. Indem er die nicht gekennzeichneten Wagen durch deutlich als Polizeifahrzeuge erkennbare ersetzte, erweckte er in der Öffentlichkeit den falschen Eindruck, auf den Straßen seien mehr Polizisten unterwegs. Wenn er vor Bürgervereinigungen sprach und stolz vermeldete, er habe die Zahl der Cops auf den Straßen um Hunderte erhöht, zählte er auch die Detectives mit, die Slickbacks fuhren.

Das hieß, Detectives im Einsatz fuhren inzwischen wie Zielscheiben durch die Gegend. Schon mehr als einmal hatten Bosch und seine Leute, wenn sie zur Vollstreckung eines Haftbefehls oder zu Ermittlungen unauffällig irgendwo aufkreuzen wollten, ihr Erscheinen durch ihre Autos schon von Weitem selbst angekündigt. Es war idiotisch und gefährlich, aber es war eine Anordnung des Polizeichefs, der in allen Polizeistationen des LAPD Folge geleistet werden musste, auch wenn der Chief nicht mehr für eine zweite fünfjährige Amtszeit berufen worden war. Wie viele andere Detectives hoffte auch Bosch, der neue Polizeichef würde wieder die alten Einsatzwagen einführen. Bis dahin fuhr er mit dem ihm zugeteilten Wagen nicht mehr vom Dienst nach Hause. Es war eine angenehme Vergünstigung eines Detective Supervisor gewesen, seinen Dienstwagen mit nach Hause nehmen zu dürfen, aber er wollte kein als Polizeiauto erkennbares Fahrzeug vor seinem Haus stehen haben. Nicht in L.A. Man konnte nie wissen, was für Ärger man sich damit einhandelte.

 

Sie trafen um zwei Uhr fünfundvierzig in der Grand Street ein. Auf der California Plaza stand eine ungewöhnlich große Anzahl von Polizeifahrzeugen am Straßenrand. Bosch sah die Autos der Spurensicherung und des Coroners, mehrere Streifenwagen und ein paar zivile Einsatzfahrzeuge – keine Slickbacks, sondern die neutralen Limousinen, die die RHD-Bullen noch fuhren. Während er wartete, dass Rider und Edgar hinter ihm hielten, öffnete er seinen Aktenkoffer, nahm sein Handy heraus und rief zu Hause an. Nach dem fünften Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein und forderte ihn mit seiner eigenen Stimme auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Er wollte schon die Verbindung unterbrechen, beschloss dann aber, etwas auf Band zu sprechen.

»Eleanor, ich bin’s. Ich wurde zu einem Einsatz gerufen … pieps mich aber trotzdem an oder ruf mich auf dem Handy an, wenn du nach Hause kommst, damit ich weiß, es ist alles okay … Ah, okay, das war’s. Bye – ach, es ist gerade zwei Uhr fünfundvierzig. Samstagmorgen. Bye.«

Edgar und Rider waren an seinem Wagen aufgetaucht. Er steckte das Handy weg und stieg mit seinem Aktenkoffer aus. Edgar, der Größte der drei, hob das gelbe Absperrband hoch. Sie duckten sich darunter hindurch, nannten einem uniformierten Polizisten mit der Tatortzulassungsliste ihre Namen und Dienstnummern und überquerten die California Plaza.

Die Plaza war der Mittelpunkt von Bunker Hill: ein gepflasterter Platz, der von zwei miteinander verbundenen marmornen Bürotürmen, einem Wohnhochhaus und dem Museum of Modern Art eingefasst war. In seiner Mitte befand sich ein Wasserbecken mit einer hohen Fontäne. Allerdings waren um diese Uhrzeit Pumpen und Lichter ausgeschaltet, sodass das Wasser still und schwarz dalag.

Hinter der Fontäne war die im neoklassizistischen Stil gehaltene Bergstation von Angels Flight. Vor diesem kleinen Gebäude trieben sich die meisten Ermittlungsbeamten und Streifenpolizisten herum, als warteten sie auf etwas. Bosch hielt nach dem glänzenden glatt rasierten Schädel von Deputy Chief Irvin Irving Ausschau, entdeckte ihn aber nirgendwo. Als er mit seinen Partnern in die Menge eintauchte und sich einen Weg zu dem Wagen am Ende der Gleise bahnte, entdeckte er zahlreiche bekannte Gesichter, hauptsächlich Detectives der Robbery-Homicide Division. Lauter Männer, mit denen er zusammengearbeitet hatte, als er noch dieser Eliteeinheit angehörte. Ein paar von ihnen nickten ihm zu oder grüßten ihn namentlich. Bosch sah seinen früheren Partner Francis Sheehan etwas abseits stehen und eine Zigarette rauchen. Er entfernte sich von seinen Partnern und ging auf ihn zu.

»Frankie, was ist hier eigentlich los?«

»Harry, was machst du denn hier?«

»Irving wollte uns hier haben. Alle drei.«

»Scheiße. Tut mir leid, Partner, das würde ich nicht mal meinem schlimmsten Feind wünschen.«

»Wieso, was ist …«

»Sprich lieber erst mit dem Boss. Er hält den großen Deckel auf die ganze Sache.«

Bosch zögerte. Sheehan wirkte ziemlich angeschlagen, aber Bosch hatte ihn schon Monate nicht mehr gesehen. Er hatte keine Ahnung, woher die dunklen Ringe unter seinen Spürhundaugen kamen und wann sie sich in sein Gesicht gegraben hatten. Einen Moment musste Bosch an sein eigenes Gesicht denken, das er vor Kurzem im Fenster gespiegelt gesehen hatte.

»Und wie geht’s dir sonst, Francis?«

»Könnte gar nicht besser sein.«

»Okay, wir unterhalten uns später.«

Bosch kehrte wieder zu Edgar und Rider zurück, die neben dem Wagen stehen geblieben waren. Edgar deutete mit dem Kopf auf eine Stelle links von Bosch.

»Hast du schon gesehen, Harry?«, fragte er leise. »Da drüben sind Sustain Chastain und seine Truppe. Was machen diese Wichser hier?«

Bosch drehte sich um und sah die Männer von der Internal Affairs Division, der Dienstaufsicht.

»Keine Ahnung.«

Chastain und Bosch sahen sich kurz an, aber Bosch wandte den Blick rasch wieder ab. Es wäre pure Energieverschwendung gewesen, sich über den IAD-Mann aufzuregen. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. Er hatte alle Antennen ausgefahren. Die vielen RHD-Bullen, die Typen von der Dienstaufsicht, ein Deputy Chief am Tatort – er musste herausfinden, was hier los war.

Mit Edgar und Rider im Schlepptau arbeitete sich Bosch zu dem Seilbahnwagen durch. In seinem Innern waren mehrere Scheinwerfer aufgestellt, und er war beleuchtet wie ein Wohnzimmer. Außerdem machten sich zwei Männer von der Spurensicherung darin zu schaffen. Daraus schloss Bosch, dass er ziemlich spät am Tatort eintraf. Die Spurensicherung kam immer erst dran, wenn die Gerichtsmediziner fertig waren – wenn die Opfer für tot erklärt und die Leichen fotografiert und nach Wunden, Waffen und Papieren abgesucht waren.

Bosch trat auf das hintere Ende des Wagens zu und sah durch die offene Tür. Die Männer von der Spurensicherung machten sich in der Umgebung der zwei Leichen zu schaffen. Auf einem der Sitze etwa in der Mitte des stufenförmig abfallenden Wagens lag eine Frau. Sie trug graue Leggins und ein langes weißes T-Shirt. Mitten auf ihrer Brust, wo sie von einer einzigen Kugel getroffen worden war, war eine große Blume aus Blut erblüht. Ihr Kopf war auf das Fensterbrett hinter ihrem Sitz zurückgesunken. Sie hatte schwarzes Haar und ein dunkelhäutiges Gesicht, das eindeutig auf eine Herkunft irgendwo südlich der Grenze hindeutete. Auf dem Platz neben ihr lag eine Plastiktüte, in der sich außer einer zusammengefalteten Zeitung, die ein Stück daraus hervorstand, noch alle möglichen anderen Dinge befanden, die Bosch nicht erkennen konnte.

Auf den Stufen an der hinteren Tür des Wagens lag mit dem Gesicht nach unten ein Schwarzer in einem dunkelgrauen Anzug. Von da, wo er stand, konnte Bosch das Gesicht des Mannes nicht erkennen, und es war nur eine Wunde zu sehen – ein glatter Durchschuss in der rechten Hand des Toten. Bosch wusste, er würde später im Obduktionsbefund als Abwehrverletzung bezeichnet werden. Der Mann hatte in dem vergeblichen Versuch, die Kugel abzuwehren, die Hand hochgehalten. So etwas hatte Bosch im Lauf der Jahre immer wieder gesehen, und es ließ ihn jedes Mal an die verzweifelten Handlungen denken, zu denen Menschen am Ende Zuflucht nahmen. Eine Hand hochzuhalten, um eine Kugel abzuwehren, war eine der verzweifeltsten.

Obwohl die Männer von der Spurensicherung ständig durch sein Blickfeld gingen, konnte Bosch durch den am Hang stehenden Wagen das Gleis entlang bis zur etwa hundert Meter tiefer liegenden Hill Street hinabsehen, wo ein zweiter Seilbahnwagen stand. An der Sperre der Talstation und vor den geschlossenen Eingangstoren des Grand Central Market auf der anderen Straßenseite waren weitere Detectives zugange.

Bosch war als Junge mit der Seilbahn gefahren und wusste deshalb, wie sie funktionierte. Er konnte sich noch gut daran erinnern. Der jeweils obere Wagen zog, wenn er nach unten fuhr, den unteren Wagen mit seinem Gewicht nach oben. Dabei passierten sich die zwei Wagen genau auf der Mitte der Strecke. Als er als Kind mit Angels Flight gefahren war, war Bunker Hill noch nicht als das heutige Nobelviertel wiedererstanden, mit Wolkenkratzern aus Glas und Marmor, luxuriösen Wohnanlagen, Museen und Fontänen, die als Wassergärten bezeichnet wurden. Damals hatten heruntergekommene viktorianische Herrschaftshäuser sein Erscheinungsbild geprägt, von deren früherem Glanz nichts mehr zu spüren gewesen war. Harry und seine Mutter waren mit Angels Flight den Hügel hinaufgefahren, um nach einer Wohnung zu suchen.

»Endlich, Detective Bosch.«

Bosch drehte sich um. Deputy Chief Irving stand in der Tür des kleinen Stationsgebäudes.

»Sie alle«, fügte er hinzu und winkte Bosch mit seinem Team nach drinnen.

Sie betraten einen engen Raum, der von den mächtigen alten Schwungrädern beherrscht wurde, an denen die Wagen früher den Hügel hinauf- und hinabgezogen worden waren. Bosch erinnerte sich, gelesen zu haben, dass die Kabel und Räder durch eine computergesteuerte elektrische Anlage ersetzt worden waren, als Angels Flight vor einigen Jahren nach einem Vierteljahrhundert der Stilllegung wieder in Betrieb genommen worden war.

Auf einer Seite des mächtigen Rads war gerade genügend Platz für einen kleinen Esstisch mit zwei Klappstühlen. Auf der anderen Seite befand sich der Computer zur Steuerung der Wagen, ein Stuhl für den Mann, der sie bediente, und ein Stapel Schachteln, deren oberste offen war und Stöße von Broschüren über die Geschichte von Angels Flight enthielt.

An der hinteren Wand, im Dunkeln hinter den alten Eisenrädern, stand, die Arme verschränkt und das zerfurchte sonnengerötete Gesicht auf den Boden gerichtet, ein Mann, den Bosch kannte. Bosch hatte einmal für Captain John Garwood, den Leiter der Robbery-Homicide Division, gearbeitet. Aus dessen Gesichtsausdruck schloss er, dass er über irgendetwas sehr verärgert war. Garwood blickte nicht zu ihnen auf, und die drei Detectives sagten nichts.

Irving ging zum Telefon, das auf dem Esstisch stand, und nahm den auf dem Tisch liegenden Hörer. Als er zu sprechen begann, bedeutete er Bosch, die Tür zu schließen.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Irving in den Hörer. »Das Team aus Hollywood ist gerade eingetroffen. Sie sind jetzt alle hier, und wir können weitermachen.«

Er hörte kurz zu, sagte »Wiederhören« und legte auf. Der respektvolle Ton und die Anrede Sir verrieten Bosch, dass Irving mit dem Polizeipräsidenten gesprochen hatte. Das war eine weitere Besonderheit des Falls.

»Also dann.« Irving drehte sich zu den drei Detectives um. »Tut mir leid, dass ich Sie aus dem Bett geholt habe, und das, obwohl Sie nicht einmal Bereitschaftsdienst haben. Ich habe jedoch bereits mit Lieutenant Billets gesprochen, und Sie sind ab sofort von allen Ihren Verpflichtungen in Hollywood freigestellt, bis das hier geklärt ist.«

»Worum geht es hier eigentlich?«, fragte Bosch.

»Eine delikate Angelegenheit. Die Ermordung zweier Bürger.«

Bosch wünschte sich, Irving käme endlich zur Sache.

»Ich sehe hier so viele RHD-Leute, Chief, als ob der Mord an Bobby Kennedy noch mal aufgerollt würde«, sagte er mit einem Blick auf Garwood. »Ganz zu schweigen von den IAD-Typen, die sich im Hintergrund rumdrücken. Was genau geht hier vor? Was wollen Sie von uns?«

»Ganz einfach«, sagte Irving. »Ich übertrage Ihnen die Ermittlungen. Es ist jetzt Ihr Fall, Detective Bosch. Die Robbery-Homicide Detectives werden sich zurückziehen, sobald Sie über alles im Bilde sind. Wie Sie sehen, sind Sie etwas spät dran. Das ist bedauerlich, aber ich glaube, damit können Sie leben. Ich weiß, wozu Sie imstande sind.«

Bosch sah ihn lange ausdruckslos an, bevor er wieder zu Garwood hinüberblickte. Der Captain hatte sich nicht gerührt und starrte weiter auf den Boden. Bosch stellte die einzige Frage, die Licht in die seltsame Situation bringen konnte.

»Der Mann und die Frau in dem Waggon, wer sind sie?«

Irving nickte.

»Wer waren sie, trifft es wohl besser. Waren. Die Frau heißt Catalina Perez. Wer genau sie war und was sie in Angels Flight machte, wissen wir noch nicht. Wahrscheinlich tut es auch nichts zur Sache. Wie es scheint, war sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber das herauszufinden ist Ihre Aufgabe. Wie auch immer, mit dem Mann ist es eine andere Sache. Das war Howard Elias.«

»Der Anwalt?«

Irving nickte. Bosch hörte, wie Edgar Luft holte und sie anhielt.

»Und da sind Sie ganz sicher?«

»Leider ja.«

Bosch blickte an Irving vorbei aus dem Fenster des Fahrscheinschalters. Er konnte in den Wagen sehen. Die Techniker waren noch bei der Arbeit und standen kurz davor, die Lichter auszumachen, um das Innere des Wagens mit dem Laser nach Fingerabdrücken abzusuchen. Sein Blick fiel auf die Hand mit dem Durchschuss. Howard Elias. Bosch dachte an die vielen Verdächtigen, die dafür infrage kamen und von denen in diesem Moment viele da draußen herumstanden und zusahen.

»Scheiße«, sagte Edgar. »Da können wir wohl nicht dankend ablehnen, oder, Chief?«

»Achten Sie gefälligst etwas auf Ihre Wortwahl, Detective«, fuhr Irving ihn an. Seine Kiefermuskeln traten deutlich hervor. »Diesen Ton verbitte ich mir.«

»Was ich damit sagen will, Chief, ist doch nur, wenn Sie hier jemanden suchen, der Ihnen den Onkel Tom spielt, dann bitte ohne …«

»Damit hat das nichts zu tun«, fiel ihm Irving ins Wort. »Ob es Ihnen passt oder nicht, Sie haben diesen Fall zugeteilt bekommen. Ich erwarte von jedem von Ihnen, dass er mit aller gebotenen Gründlichkeit an die Sache herangeht. Aber vor allem erwarte ich – und der Polizeipräsident – Resultate. Alles andere zählt nicht. Absolut nichts.«

Nach einem Moment des Schweigens, in dem Irving von Edgar zu Rider und schließlich zu Bosch blickte, fuhr der Deputy Chief fort: »Bei der Polizei gibt es nur eine Rasse. Nicht Schwarz und nicht Weiß. Nur die blaue Rasse.«

3

Seine Berühmtheit als Bürgerrechtsanwalt hatte Howard Elias nicht den Mandanten zu verdanken, die er vertrat – sie ließen sich bestenfalls als Tunichtgute, wenn nicht sogar als regelrechte Verbrecher bezeichnen. Was Elias’ Gesicht und Namen in der breiten Öffentlichkeit von Los Angeles zu solcher Bekanntheit verholfen hatte, waren sein Gespür für den richtigen Umgang mit den Medien, sein Geschick, sich den schwelenden Rassismus der Stadt zunutze zu machen, und der Umstand, dass er sich als Anwalt darauf spezialisiert hatte, das Los Angeles Police Department zu verklagen.

Fast zwei Jahrzehnte lang hatte er ausgesprochen gut davon gelebt, im Auftrag von Bürgern, die auf die eine oder andere Art mit der Polizei in Konflikt geraten waren, Klagen vor dem Bundesgericht anzustrengen. Elias verklagte Streifenpolizisten, Detectives, den Polizeipräsidenten, die Polizei als Ganzes. Wenn er eine Klage einreichte, ging er nach dem Schrotflintenprinzip vor. Das heißt, er erklärte jeden zum Beklagten, der auch nur im Entferntesten mit dem strittigen Vorfall zu tun hatte. Nachdem ein des Einbruchs verdächtiger Mann auf der Flucht von einem Polizeihund angefallen worden war, hatte Elias im Auftrag des Mannes Klage erhoben und als Beklagte den Hund, seinen Führer und dessen sämtliche Vorgesetzte bis hinauf zum Polizeichef angegeben. Sicherheitshalber hatte er auch noch die Ausbilder des Hundeführers sowie den Hundezüchter verklagt.

In seinen spätabendlichen Fernseh-»Infomercials« und in den »improvisierten«, aber in Wirklichkeit geschickt inszenierten Pressekonferenzen auf den Stufen des U.S. District Courthouse stellte sich Elias immer als Kämpfer für Recht und Freiheit dar, als einsamen Rufer in der Wüste, der gegen den Rechtsmissbrauch einer faschistischen und rassistischen paramilitärischen Organisation protestierte, die sich LAPD nannte. In den Augen seiner Kritiker – sie reichten von den Mannschaftsgraden des LAPD bis in die Büros der Bezirksstaatsanwälte – war Elias selbst ein Rassist, ein Unruhestifter, der dazu beitrug, die Kluft zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen einer ohnehin schon gespaltenen Stadt noch mehr zu vertiefen. Nach Auffassung dieser Kritiker war er eine Schande für die ganze Rechtspflege, ein Taschenspieler, der vor Gericht, egal wie das Blatt gemischt war, immer die Rassenkarte zog.

Meistens waren Elias’ Mandanten schwarz oder braun. Mithilfe seines ausgeprägten rhetorischen Talents und einer sehr selektiven Auswahl der Fakten stilisierte er seine Mandanten oft zu lokalen Helden hoch, zu emblematischen Opfern einer außer Kontrolle geratenen Polizei. Im Süden der Stadt stand Elias bei vielen in dem Ruf, das LAPD ganz allein daran gehindert zu haben, wie eine Besatzungsarmee aufzutreten. Howard Elias war einer der wenigen Bewohner von Los Angeles, dem je nach Stadtteil erbitterter Hass oder glühende Verehrung entgegengebracht wurde.

Wenige von Elias’ Bewunderern waren sich darüber im Klaren, dass sich seine ganze Tätigkeit als Anwalt auf einen einzigen und sehr simplen Bereich der Rechtsprechung beschränkte. Er erhob seine Klagen nur an Bundesgerichten und unter Berufung auf die staatsbürgerlichen Rechte, weshalb er in jedem Verfahren, in dem er vor Gericht erfolgreich war, sein Honorar der Stadt Los Angeles in Rechnung stellen konnte.

Die Misshandlung Rodney Kings, der Bericht der Christopher Commission, der der Polizei in Anschluss an den King-Prozess und die daraus resultierenden Rassenunruhen eine schwere Rüge erteilte, und schließlich der die Kluft zwischen den Rassen weiter vertiefende O.-J.-Simpson-Fall hatten einen Schatten geworfen, der auf jede Klage fiel, die Elias einreichte. Und deshalb war es für den Anwalt nicht sonderlich schwierig, Prozesse gegen die Polizei zu gewinnen und die Geschworenen dazu zu bringen, den Klägern zumindest pro forma einen Schadenersatz zuzusprechen. Diese Geschworenen merkten nie, dass ihre Entscheidungen Elias freie Hand erteilten, von der Stadt und den Steuerzahlern, sie selbst eingeschlossen, Honorare in Höhe von mehreren Hunderttausend Dollar einzufordern.

Beim sogenannten Hundebissprozess, der Elias’ Markenzeichen werden sollte, befanden die Geschworenen, die Rechte des Klägers seien verletzt worden. Aber da der Kläger ein Einbrecher mit einem von Festnahmen und Verurteilungen strotzenden Vorstrafenregister war, sprachen ihm die Geschworenen lediglich einen symbolischen Schadenersatz von einem Dollar zu. Die dahinterstehende Absicht war klar. Es ging ihnen weniger darum, einen Kriminellen reich zu machen, als der Polizei einen Rüffel zu erteilen. Aber Elias interessierte das natürlich nicht. Ein Sieg war ein Sieg. In Einklang mit den bundesgerichtlichen Richtlinien stellte er der Stadt 340000 Dollar Anwaltskosten in Rechnung. Die Stadt legte Kostenbeschwerde ein, musste schließlich aber trotz erbitterten Widerstands noch über die Hälfte der Summe zahlen. Die Geschworenen – und viele vor und nach ihnen – glaubten also, das LAPD zur Räson zu rufen, aber zugleich zahlten sie auch für Elias’ halbstündige Infomercials auf Channel 9, für seinen Porsche, seine italienischen Anzüge und sein luxuriöses Haus oben in Baldwin Hills.

Natürlich war Elias nicht der Einzige. Es gab in Los Angeles Dutzende von Anwälten, die sich auf Polizei- und Bürgerrechtsfälle spezialisierten und sich dieselbe bundesrechtliche Bestimmung zunutze machten, dank derer sie Honorare einfordern konnten, die den ihren Mandanten zugesprochenen Schadenersatz um ein Vielfaches überstiegen. Nicht alle waren zynisch und verfolgten damit nur finanzielle Interessen. Einige der von Elias und anderen angestrengten Prozesse hatten bei der Polizei positive Veränderungen bewirkt. Das konnten ihnen nicht einmal ihre Feinde – die Cops – absprechen. Nachdem unverhältnismäßig viele Angehörige von Minderheiten zu Tode gekommen waren, wurde infolge solcher Bürgerrechtsprozesse die gängige Polizeipraxis abgeschafft, Verdächtige mit dem Würgegriff gefügig zu machen. Andere Prozesse hatten zu einer Verbesserung der Haftbedingungen und der Sicherheit in lokalen Gefängnissen geführt oder Bürgern den Weg eröffnet und erleichtert, gegen brutale Polizisten Klage zu erheben.

Dennoch nahm Elias eine Sonderrolle ein. Er war telegen und verfügte über die rhetorischen Fähigkeiten eines Schauspielers. Außerdem schien er, was die Wahl seiner Mandanten anging, keinerlei Skrupel zu kennen. Er vertrat Drogendealer, die behaupteten, beim Verhör misshandelt worden zu sein, Einbrecher, die die Armen bestahlen, sich aber bei ihrer Festnahme von der Polizei sofort zu hart angefasst wähnten, Räuber, die ihre Opfer erschossen, jedoch lauthals protestierten, wenn sie umgekehrt von der Polizei angeschossen wurden. Elias’ Lieblingssatz – der ihm bei seinen Werbesendungen in eigener Sache und immer dann, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet war, als Motto diente – lautete: Machtmissbrauch bleibt Machtmissbrauch, ganz unabhängig davon, ob das Opfer ein Krimineller ist. Er war immer schnell dabei, in die Kamera zu blicken und zu erklären, wenn solcher Machtmissbrauch geduldet werde, wenn er sich gegen Schuldige richte, werde es nicht lange dauern, bis ihm auch Unschuldige zum Opfer fielen.

Elias praktizierte allein. In den letzten zehn Jahren hatte er die Polizei mehr als hundertmal verklagt und in mehr als der Hälfte der Fälle von den Geschworenen einen Schuldspruch erhalten. Es gab keinen Cop, dem nicht schon bei der bloßen Erwähnung seines Namens mulmig geworden wäre. Bei der Polizei wusste jeder, wenn man von Elias aufs Korn genommen wurde, war das keine Bagatelle, die sich schnell unter den Teppich kehren ließ. Elias ließ sich nie auf einen außergerichtlichen Vergleich ein – in den Bürgerrechtsgesetzen bot nichts einen Anreiz, sich auf einen Vergleich zu einigen. Nein, wenn Elias einen Prozess gegen jemanden anstrengte, wurde daraus für den Betroffenen ein öffentlicher Spießrutenlauf. Es gab Presseerklärungen, Pressekonferenzen, Schlagzeilen, Fernsehberichte. Man konnte von Glück reden, wenn man das Ganze mit heiler Haut überstand und noch dazu seine Dienstmarke behielt.

Für die einen war er ein Engel, für die anderen ein Teufel. Jedenfalls war Howard Elias jetzt tot, erschossen in einem Wagen von Angels Flight. Als Bosch durch das Fenster des kleinen Raums blickte und dem orangefarbenen Schein des Laserstrahls folgte, der sich durch den dunklen Wagen bewegte, war ihm klar, dass das die Ruhe vor dem Sturm war. In zwei Tagen hätte der Prozess beginnen sollen, der vielleicht Elias’ größter Fall geworden wäre. Für Montagmorgen war im U.S. District Court der Prozess gegen das LAPD angesetzt, der in den Medien inzwischen nur noch als der »Black Warrior«-Fall bezeichnet wurde. Das zufällige Zusammentreffen – beziehungsweise das, wie weite Teile der Bevölkerung es zweifellos sehen würden, ganz und gar nicht zufällige Zusammentreffen – von Elias’ Ermordung und dem Prozessbeginn würde die Ermittlungen in dem Mordfall mindestens auf Stufe sieben der Richterskala für Medienbeben ansiedeln. Minderheitengruppierungen würden ihre Wut und ihren berechtigten Argwohn laut hinausschreien. Die Weißen in der West Side würden leise von ihren Ängsten vor erneuten Unruhen tuscheln. Und wieder einmal wären die Augen der ganzen Nation auf Los Angeles und seine Polizei gerichtet. Im Moment war Bosch einer Meinung mit Edgar, allerdings aus anderen Gründen als sein schwarzer Partner. Er wünschte sich, sie könnten den Fall abgeben.

»Chief.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Irving zu. »Wenn herauskommt, wer … Ich meine, wenn die Medien herausbekommen, es war Elias, werden wir …«

»Das braucht Sie nicht zu kümmern«, sagte Irving. »Sie kümmern sich nur um die Ermittlungen. Um die Medien kümmern sich der Polizeichef und ich. Von den Ermittlern kommt kein Wort. Kein einziges.«

»Wer redet denn von den Medien«, meldete sich Rider zu Wort. »Was ist mit South Central? Die Leute werden …«

»Darum kümmern wir uns«, unterbrach Irving sie. »Beginnend mit der nächsten Schicht wird die Polizeiführung den Unruhen-Bereitschaftsplan in Kraft setzen. Bis wir sehen, wie die Bevölkerung reagiert, fahren wir die Schichten ab sofort von zwölf bis zwölf. Niemand, der 1992 erlebt hat, will so etwas noch einmal erleben. Aber auch das braucht Sie nicht zu kümmern. Sie kümmern sich nur um diese Sache hier.«

»Sie haben mich nicht ausreden lassen«, sagte Rider. »Ich wollte nicht sagen, dass es zu Unruhen kommt. Was das angeht, habe ich eigentlich Vertrauen in die Menschen in South Central. Ich glaube nicht, dass es Ärger geben wird. Was ich sagen wollte, war nur, dass sie deswegen wütend und argwöhnisch sein werden. Wenn Sie meinen, Sie können das einfach ignorieren oder es in den Griff bekommen, indem Sie mehr Polizisten auf die …«

»Detective Rider«, unterbrach Irving sie wieder. »Das braucht Sie nicht zu kümmern. Kümmern Sie sich um die Ermittlungen.«

Bosch bemerkte Kizmin Riders Ärger über Irvings Unterbrechungen und die Selbstverständlichkeit, mit der er ihr als Schwarzer zu verstehen gab, sie solle sich nicht um ihre Leute kümmern. Er war ihr ins Gesicht geschrieben, und Bosch kannte diesen Blick. Deshalb beschloss er, das Wort zu ergreifen, bevor sie ausfallend wurde.

»Wir benötigen mehr Leute. Nur zu dritt brauchen wir allein für die Überprüfung der Alibis Wochen, wenn nicht sogar einen ganzen Monat. In einem Fall wie diesem müssen wir rasch vorankommen, nicht nur wegen des Falls, sondern auch wegen der Öffentlichkeit. Wir werden mehr Leute brauchen als nur uns drei.«

»Auch dafür wurde bereits Sorge getragen«, erwiderte Irving. »Sie erhalten alle Hilfe, die Sie benötigen. Aber nicht von Robbery-Homicide. Wegen der Michael-Harris-Geschichte hat es da ein Interessenkonflikt gegeben.«

Bosch entging nicht, dass Irving nicht vom Black-Warrior-Fall sprach, sondern stattdessen den Namen des Klägers benutzte.

»Warum wir?«

»Wie meinen Sie das?«

»Mir ist klar, warum die RHD nicht infrage kommt. Aber was ist mit den Detectives der Central Division? Das ist nicht unser Revier, und wir haben auch nicht Bereitschaftsdienst. Warum ausgerechnet wir?«

Irving atmete hörbar aus.

»Das gesamte Morddezernat der Central Division ist diese und nächste Woche in der Polizeiakademie auf Fortbildung. Sensibilitätstraining und dann der FBI-Lehrgang über neue Spurensicherungsmethoden. Bisher hat Robbery-Homicide ihre Fälle übernommen. So war das ursprünglich auch in diesem Fall. Aber sobald sich herausstellte, wer der Kerl mit den Kugeln im Kopf ist, wurde ich informiert, und in den darauffolgenden Gesprächen mit dem Polizeipräsidenten wurde beschlossen, Sie hinzuziehen. Sie sind ein gutes Team. Eins unserer besten. Sie haben Ihre letzten vier Fälle gelöst, einschließlich dieser Hart-gekochte-Eier-Geschichte – ja, darüber wurde ich in Kenntnis gesetzt. Und, was das Wichtigste ist: Keiner von Ihnen wurde schon mal von Elias verklagt.«

Mit dem Daumen deutete er über seine Schulter auf die Toten in der Kabelbahn. Er sah dabei Garwood an, aber der Captain starrte immer noch auf den Boden.

»Kein Interessenkonflikt«, sagte Irving. »Richtig?«

Die drei Detectives nickten. Bosch war zwar in den fünfundzwanzig Jahren, die er inzwischen bei der Polizei war, schon oft genug verklagt worden, aber Elias war er irgendwie nie ins Gehege gekommen. Trotzdem glaubte er nicht, dass Irving alle Gründe genannt hatte, warum die Wahl auf sie gefallen war. Auf einen davon hatte Edgar kurz zuvor angespielt, und wahrscheinlich war dieser Grund wichtiger als der Umstand, dass noch keiner von ihnen von Elias verklagt worden war. Boschs Partner waren schwarz. Irgendwann würde sich das für Irving vielleicht als vorteilhaft erweisen. Bosch wusste, Irvings frommer Wunsch, die Polizei möge nur ein Gesicht und eine Rasse haben – blau –, wäre rasch vergessen, sobald er für die Kameras ein schwarzes Gesicht brauchte.

»Ich möchte nicht, dass meine Leute für die Medien den Affen spielen müssen, Chief«, sagte Bosch. »Wenn wir den Fall übernehmen, tun wir das, um ihn zu lösen, nicht, um eine Schau abzuziehen.«

Irving starrte ihn wütend an.

»Wie haben Sie mich eben genannt?«

Bosch stutzte.

»Chief habe ich Sie genannt.«

»Aha, gut. Weil ich mich nämlich schon gefragt habe, ob hier vielleicht Unklarheit herrscht, wer wem Befehle erteilt. Ist das so, Detective?«

Bosch sah weg und wieder aus dem Fenster. Er spürte, wie er rot wurde, und es ärgerte ihn, dass er sich verraten hatte.

»Nein«, sagte er.

»Gut«, sagte Irving ohne die leiseste Spur von Anspannung. »Dann kann jetzt Captain Garwood übernehmen. Er wird Sie über alles in Kenntnis setzen, was bisher geschehen ist. Wenn er fertig ist, werden wir uns darüber unterhalten, wie wir die Sache anpacken.«

Er wandte sich zum Gehen, aber Bosch hielt ihn zurück.

»Noch eins, Chief.«

Irving drehte sich zu ihm um.

Bosch hatte sich wieder im Griff. Er sah den Deputy Chief ruhig an.

»Sie wissen, wir werden wegen dieser Geschichte einige Cops ziemlich genau unter die Lupe nehmen müssen. Nicht nur einige, eine ganze Menge. Wir werden uns alle Fälle des Anwalts vornehmen müssen, nicht nur die Black-Warrior-Sache. Deshalb möchte ich – wir alle – schon vorher wissen, ob Sie und der Polizeichef möchten, dass die Späne fallen, wo sie fallen, oder …«

Er sprach nicht weiter, und Irving sagte nichts.

»Ich möchte meine Leute schützen«, sagte Bosch. »Bei so einem Fall … da muss so etwas vorher abgeklärt werden.«

Bosch setzte einiges aufs Spiel, als er das in Anwesenheit Garwoods und der anderen sagte. Wahrscheinlich würde es Irving wieder ärgern. Aber Bosch ließ es darauf ankommen, weil er wollte, dass Irving ihm im Beisein Garwoods antwortete. Der Captain hatte einigen Einfluss bei der Polizei. Bosch wollte, dass ihm klar wäre, dass sein Team auf Befehl von höchster Stelle handelte, nur für den Fall, dass es einigen von Garwoods Leuten an den Kragen gehen würde.

Irving sah ihn lange an, bevor er endlich sagte: »Ihre Impertinenz ist zur Kenntnis genommen worden, Detective Bosch.«

»Ja, Sir. Aber wie lautet die Antwort?«

»Lassen Sie sie fallen, Detective. Es sind zwei Menschen tot, die nicht tot sein sollten. Es tut nichts zur Sache, wer sie waren. Sie sollten nicht tot sein. Tun Sie Ihr Bestes. Machen Sie von Ihren Fähigkeiten Gebrauch. Und lassen Sie die Späne fallen.«

Bosch nickte einmal. Irving drehte sich um und sah kurz Garwood an, bevor er den Raum verließ.

4

»Harry, haben Sie eine Zigarette für mich?«

»Leider nein, Cap, ich bin gerade dabei, es mir abzugewöhnen.«

»Ich auch. Aber wahrscheinlich heißt das nur, dass ich sie schnorre, statt sie zu kaufen.«

Garwood verließ seine Ecke und seufzte. Er schob mit dem Fuß einen Stapel Schachteln von der Wand weg und setzte sich darauf. Er kam Bosch alt und müde vor, aber andererseits hatte er auch schon vor zwölf Jahren so ausgesehen, als Bosch für ihn zu arbeiten angefangen hatte. Boschs Verhältnis zu Garwood war sehr neutral. Er war der distanzierte Typ Vorgesetzter gewesen. Mischte sich nach Dienstschluss nicht unter seine Männer, verbrachte nicht viel Zeit außerhalb seines Büros und im Bereitschaftsraum. Damals hatte Bosch das nicht für das Schlechteste gehalten. Es trug zwar nicht unbedingt dazu bei, die Loyalität seiner Leute zu stärken, aber es schürte auch keine Feindseligkeit. Vielleicht war das der Grund, warum Garwood sich so lange auf seinem Posten gehalten hatte.

»Also, wie es aussieht, haben wir uns diesmal gewaltig die Titten eingeklemmt«, sagte Garwood. Dann sah er Rider an und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie die Ausdrucksweise, Detective.«

In diesem Moment ertönte Boschs Pager. Er nahm ihn rasch vom Gürtel, schaltete den Signalton aus und sah auf die Nummer. Es war nicht, wie er gehofft hatte, seine eigene Nummer, sondern die Privatnummer von Lieutenant Grace Billets. Vermutlich wollte sie wissen, was los war. Wenn sich Irving bei ihr am Telefon genauso bedeckt gehalten hatte wie bei Bosch, wusste sie so gut wie nichts.

»Was Wichtiges?«, fragte Garwood.

»Das erledige ich später. Möchten Sie hier drinnen sprechen, oder sollen wir zum Waggon rausgehen?«

»Erst sage ich Ihnen, was wir alles haben. Dann können Sie entscheiden, was Sie damit anfangen.«

Garwood griff in seine Manteltasche, nahm ein Päckchen Marlboro heraus und begann es aufzumachen.

»Haben Sie mich nicht eben nach einer Zigarette gefragt?«, fragte Bosch.

»Habe ich. Das ist meine Notration. Eigentlich sollte ich sie nicht angreifen.«

Für Bosch ergab das keinen rechten Sinn. Er sah zu, wie sich Garwood eine Zigarette anzündete und dann ihm das Päckchen hinhielt. Bosch schüttelte den Kopf. Um sicherzugehen, dass er auch wirklich keine nahm, steckte er die Hände in die Hosentaschen.

»Stört es Sie?«, fragte Garwood und hielt die Zigarette mit einem herausfordernden Lächeln hoch.

»Mich nicht, Cap. Meine Lunge ist wahrscheinlich längst im Eimer. Aber die beiden da …«

Rider und Edgar winkten ab. Sie schienen genauso wenig wie Bosch erwarten zu können, dass der Captain zur Sache kam.

»Also dann«, begann Garwood endlich. »Wir wissen Folgendes. Letzte Fahrt des Tages. Mann namens Elwood … Elwood … Augenblick bitte.«

Er zog einen kleinen Block aus der Tasche, in die er das Päckchen Zigaretten zurückgesteckt hatte, und studierte die Eintragungen auf der obersten Seite.

»Eldridge, ach richtig. Eldridge. Eldridge Peete. Er schmeißt den ganzen Laden hier allein – es ist nur ein Mann dazu nötig – alles computergesteuert. Er wollte für die Nacht alles dichtmachen. Freitagabends ist die letzte Fahrt um elf. Es war elf. Bevor er den oberen Wagen das letzte Mal nach unten fahren lässt, geht er nach draußen, macht die Tür zu und schließt sie ab. Dann kommt er hierher zurück, gibt den Befehl in den Computer ein und lässt den Wagen runterfahren.«

Er zog wieder den Block zurate.

»Die Dinger haben Namen. Der Wagen, den er runtergeschickt hat, heißt Sinai, und der, den er hochgeholt hat, Olivet. Er sagt, sie sind nach Bergen in der Bibel benannt. Als Olivet nach oben kommt, deutet nichts darauf hin, dass in dem Wagen jemand ist. Er geht also raus, um ihn ebenfalls abzuschließen – weil er ihn nämlich ein letztes Mal runterschicken muss –, und dann lässt der Computer die zwei Wagen auf halber Strecke über Nacht anhalten. Damit ist er hier fertig und kann nach Hause gehen.«

Bosch sah Rider an und tat so, als schriebe er auf seine Handfläche. Sie nickte und nahm Block und Stift aus der dicken Tasche, die sie bei sich hatte. Sie begann sich Notizen zu machen.

»Nur als Elwood, Eldridge meine ich, rausgeht, um den Wagen abzuschließen, entdeckt er die zwei Leichen. Er rennt hierher zurück und ruft die Polizei an. Können Sie mir folgen?«

»So weit, ja. Und weiter?«

Bosch dachte bereits über die Fragen nach, die er Garwood und dann vermutlich auch Peete stellen musste.

»Wir vertreten ja zurzeit die Jungs von der Central Division, und irgendwann wird der Anruf zu mir durchgestellt. Ich schicke vier Leute los, und sie sehen sich am Tatort um.«

»Sie haben die Leichen nicht nach einem Ausweis durchsucht?«

»Nicht sofort. Außerdem hatte keiner der beiden Toten einen einstecken. Sie machen alles strikt nach Vorschrift. Sie sprechen mit diesem Eldridge Peete, und sie gehen die Treppe runter und suchen nach Hülsen und halten sich ansonsten erst mal zurück, bis die Gerichtsmediziner anrücken und ihre Nummer abziehen. Brieftasche und Uhr des Typen fehlen. Seine Aktentasche auch, falls er eine bei sich hatte. Aber sie können den Toten schließlich anhand eines Briefs identifizieren, den er einstecken hat. Adressiert an Howard Elias. Nachdem sie den Brief entdeckt hatten, sehen sich meine Leute den Toten genauer an und merken, es ist tatsächlich Elias. Darauf rufen sie natürlich mich an, und ich rufe Irving an, und der ruft den Chief an, und dann wird beschlossen, Sie zu holen.«

Das Letzte hatte er gesagt, als wäre er an diesem Entscheidungsprozess beteiligt gewesen. Bosch sah aus dem Fenster. Es trieben sich noch immer jede Menge Detectives herum.

»Die ersten Männer müssen doch mehr gemacht haben, als bloß Sie anzurufen, Captain«, sagte Bosch.

Garwood drehte sich um, um aus dem Fenster zu sehen, als wäre ihm die ganze Zeit noch nie der Gedanke gekommen, dass es ungewöhnlich war, insgesamt fünfzehn Detectives am Schauplatz eines Mords zu sehen.

»Schätze schon«, sagte er.

»Okay, was sonst noch?«, fragte Bosch. »Was haben sie sonst noch getan, bevor sie rausfanden, wer der Tote war und dass sie den Fall nicht lang behalten könnten?«

»Na ja, wie bereits gesagt, sie sprachen mit diesem Eldridge Peete, und sie suchten das Gelände um die Wagen ab. Oben und unten. Sie …«

»Haben sie eine von den Hülsen gefunden?«

»Nein. Der Schütze war sehr gründlich. Hat alle Hülsen eingesammelt. Allerdings wissen wir, dass er eine Neun-Millimeter benutzt hat.«

»Woher?«

»Das zweite Opfer, die Frau. Die Kugel ging voll durch sie durch. Schlug hinter ihr gegen eine stählerne Fensterstrebe, wurde platt gedrückt und fiel zu Boden. Für einen Vergleich ist sie zwar zu verdellt, aber man sieht trotzdem, es war eine Neun-Millimeter. Hoffman glaubt, es war eine Federal. Was die Ballistik angeht, müssen Sie drauf hoffen, dass bei der Obduktion bessere Kugeln auftauchen. Falls Sie so weit kommen.«

Na großartig, dachte Bosch. Neun-Millimeter war ein Polizistenkaliber. Und hinterher die Hülsen einzusammeln war ein raffinierter Zug. Das sah man nicht oft.

»Wie sie die Sache sehen«, fuhr Garwood fort, »hat es Elias gleich nach dem Einsteigen erwischt. Dieser Typ kommt auf ihn zu und schießt ihn zunächst mal in den Arsch.«

»In den Arsch?«, fragte Edgar.

»Ganz richtig. Den ersten Schuss kriegt er in den Arsch. Sehen Sie, Elias ist gerade dabei einzusteigen. Er befindet sich also ein paar Stufen über Bürgersteigniveau. Der Schütze kommt von hinten und streckt die Waffe aus – sie ist auf Arschhöhe. Er steckt ihm den Lauf rein und gibt den ersten Schuss ab.«

»Und weiter?«, fragte Bosch.

»Also, wir glauben, Elias fällt zu Boden und dreht sich herum, um zu sehen, wer es ist. Er hebt die Hände, aber der Schütze schießt noch einmal. Die Kugel durchschlägt eine seiner Hände und trifft ihn im Gesicht, genau zwischen die Augen. Das dürfte der Todesschuss gewesen sein. Elias fällt wieder zurück. Liegt jetzt mit dem Gesicht nach unten da. Der Schütze steigt in den Wagen und schießt ihm aus nächster Nähe in den Hinterkopf. Dann blickt er auf und sieht die Frau, vielleicht zum ersten Mal. Er verpasst ihr eine Kugel. Aus etwa vier Metern, mitten in die Brust, glatter Durchschuss, und weg ist sie. Keine Zeugen. Der Schütze nimmt Elias die Brieftasche und die Uhr ab, sammelt seine Hülsen ein und macht sich aus dem Staub. Ein paar Minuten später lässt Peete den Wagen nach oben fahren und findet die Leichen. Jetzt wissen Sie alles, was ich weiß.«

Bosch und seine Partner blieben lange still. Der Ablauf, wie Garwood ihn rekonstruiert hatte, überzeugte Bosch nicht hundertprozentig, aber er wusste nicht genug über die Umstände, um seine Einwände vorzubringen.

»Sieht es nach Raub aus?«, fragte Bosch schließlich.

»Für mich, ja. Ich weiß zwar, die Leute unten in South Central werden das nicht gern hören, aber so ist es nun mal.«

Rider und Edgar waren stumm wie Steine.

»Was ist mit der Frau?«, fragte Bosch. »Wurde sie beraubt?«

»Sieht nicht so aus. Ich glaube fast, der Schütze wollte nicht in den Wagen steigen. Außerdem, der Anwalt war derjenige, der einen Tausend-Dollar-Anzug anhatte. Nur logisch, dass er es auf ihn abgesehen hatte.«

»Was ist mit Peete? Hat er die Schüsse gehört? Einen Schrei, sonst irgendwas?«

»Er sagt, nein. Sagt, der Generator für den Elektroantrieb ist genau hier unter dem Boden. Klingt wie ein Lift, der den ganzen Tag läuft. Deshalb trägt er Ohrenstöpsel. Er hat nichts gehört.«

Bosch ging um die Triebräder herum und sah sich den Arbeitsplatz des Seilbahnführers an. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er zum ersten Mal, dass über der Registrierkasse ein kleiner Videomonitor mit viergeteiltem Bildschirm angebracht war, der vier Kameraeinstellungen von Angels Flight zeigte – von jeweils einer Kamera in den beiden Wagen und über den beiden Einstiegsstellen. In einer Ecke des Bildschirms war das Innere von Olivet zu sehen, wo die Männer von der Spurensicherung immer noch mit den Leichen beschäftigt waren.

Garwood kam ebenfalls um das Triebrad herum.

»Da werden Sie kein Glück haben«, sagte er. »Die Kameras übertragen nur direkt, keine Videoaufnahmen. Sie ermöglichen es dem Führer, sich zu vergewissern, dass alle Fahrgäste eingestiegen sind und Platz genommen haben, bevor er den Wagen losfahren lässt.«

»Hat er …«

»Er hat nicht hingesehen«, sagte Garwood in Vorwegnahme von Boschs Frage. »Er sah nur durchs Fenster, dachte, der Wagen wäre leer, und ließ ihn hochfahren, um ihn abschließen zu können.«

»Wo ist er?«

»Im Parker Center. In unseren Büros. Sie werden wohl hinfahren und selbst mit ihm sprechen müssen. Ich sorge dafür, dass sich jemand um ihn kümmert, bis Sie vorbeikommen können.«

»Irgendwelche anderen Zeugen?«

»Nicht ein einziger. Elf Uhr abends ist es hier wie ausgestorben. Der Grand Central Market schließt um sieben. Außer ein paar Bürogebäuden gibt es dort unten sonst nichts. Zwei von meinen Leuten wollten schon in die Wohnhäuser in der Nähe gehen und die Bewohner befragen. Aber als sich herausstellte, dass der Tote Elias war, ließen sie es lieber bleiben.«

Bosch ging in dem engen Raum auf und ab und dachte nach. Obwohl die Entdeckung der Morde schon vier Stunden zurücklag, war bisher sehr wenig geschehen. Das störte ihn, obwohl ihm der Grund dafür klar war.

»Warum ist Elias mit Angels Flight gefahren?«, fragte er Garwood. »Haben Ihre Leute das noch rauszufinden versucht, bevor sie die Finger von der Sache ließen?«

»Also, ich würde sagen, er wollte den Hügel rauffahren.«

»Jetzt machen Sie’s nicht so spannend, Captain. Wenn Sie es wissen, warum stehlen Sie uns dann die Zeit?«

»Wir wissen es nicht, Harry. Wir haben seine Privatadresse gecheckt. Er wohnt draußen in Baldwin Hills. Das ist ziemlich weit weg von Bunker Hill. Ich weiß nicht, warum er hier hochfahren wollte.«

»Und woher kam er?«

»Das ist etwas leichter zu beantworten. Elias’ Kanzlei ist gleich drüben in der Third. Im Bradbury Building. Wahrscheinlich kam er von dort. Aber wo er hinwollte …« Garwood hob die Schultern.

»Okay. Und die Frau?«

»Total unbeschriebenes Blatt. Mit ihr hatten meine Leute noch gar nicht angefangen, als sie zurückgepfiffen wurden.«

Garwood warf seine Zigarette auf den Boden und drückte sie mit dem Absatz aus. Das fasste Bosch als Zeichen auf, dass das Gespräch zu Ende war. Er beschloss herauszufinden, ob sich Garwood noch eine kleine Zugabe entlocken ließ.

»Sind Sie sauer, Captain?«

»Weswegen?«

»Dass Ihnen der Fall entzogen wurde. Dass Ihre Männer auf der Liste der Verdächtigen stehen.«

Um Garwoods schmale Lippen spielte ein verhaltenes Lächeln.

»Nein, ich bin nicht wütend. Ich kann den Standpunkt des Polizeichefs verstehen.«

»Werden Ihre Leute in dieser Sache mit uns kooperieren?«

Nach einigem Zögern nickte Garwood.

»Natürlich. Je schneller sie kooperieren, um so schneller sind sie außer Verdacht.«

»Und sagen Sie ihnen das auch?«

»Genau das ist es, was ich ihnen sagen werde.«

»Das wäre uns eine große Hilfe, Captain. Wer von Ihren Leuten, glauben Sie, könnte es gewesen sein?«

Jetzt verzogen sich die Lippen zu einem richtigen Lächeln. Bosch betrachtete Garwoods nikotingelbe Zähne und war einen Augenblick lang froh, dass er versuchte aufzuhören.

»Sie sind ein cleverer Bursche, Harry. Daran kann ich mich noch gut erinnern.«

Sonst sagte er nichts.

»Danke, Captain. Aber haben Sie eine Antwort auf die Frage?«

Garwood ging zur Tür und öffnete sie. Bevor er nach draußen trat, drehte er sich um und sah sie noch einmal an. Sein Blick wanderte von Edgar zu Rider zu Bosch.

»Es war keiner von meinen Leuten, Detectives. Das garantiere ich Ihnen. Versteifen Sie sich mal lieber nicht zu sehr auf diese Möglichkeit. Damit vergeuden Sie nur Ihre Zeit.«

»Danke für den Rat«, sagte Bosch.

Garwood trat nach draußen, schloss die Tür hinter sich.

»Mannomann«, brummte Rider. »War das eben Captain Boris Karloff oder was? Kommt der Typ nur nachts raus?«

Bosch lächelte und nickte.

»Ziemlich eigenartiger Vogel. Und? Was haltet ihr bisher von der Sache?«

»Ich glaube, wir stehen noch ganz am Anfang«, sagte Rider. »Diese Typen haben rein gar nichts getan, bevor sie von dem Fall abgezogen wurden.«

»Was willst du von Robbery-Homicide auch anderes erwarten?«, sagte Edgar. »Die waren bekanntlich noch nie die schnellsten. Halten es eher mit dem Igel als mit dem Hasen. Aber wenn ihr mich fragt, stecken wir voll in der Scheiße. Du und ich, Kiz, wir haben hier nichts zu gewinnen. Die blaue Rasse, meine Fresse.«

Bosch ging zur Tür.

»Sehen wir uns das Ganze mal an«, sagte er, um jede Diskussion über Edgars Bedenken im Keim zu ersticken. So berechtigt sie auch sein mochten, würden sie ihre Aufgabe im Moment nur noch komplizierter machen. »Vielleicht kommen uns ja ein paar Ideen, bevor Irving wieder quatschen will.«

5

Die Zahl der Detectives vor der Station nahm endlich ab. Bosch beobachtete, wie Garwood und eine Reihe seiner Männer über die Plaza auf ihre Autos zugingen. Irving sprach neben dem Standseilbahnwagen mit Chastain und drei Detectives. Bosch kannte die Männer zwar nicht, nahm aber an, dass sie von der IAD, der Dienstaufsicht, waren. Der Deputy Chief redete mit sichtlichem Nachdruck auf sie ein, allerdings so leise, dass Bosch nicht hörte, was er sagte. Bosch wusste zwar nicht, was die Anwesenheit der IAD-Leute zu bedeuten hatte, aber er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.

Er merkte, dass sich Frankie Sheehan hinter Garwood und seinen Leuten zurückfallen ließ. Er wollte wegfahren, schien aber zu zögern. Bosch nickte seinem alten Partner zu.

»Jetzt weiß ich, was du gemeint hast, Frankie.«

»Ja, Harry, es gibt Tage, da langst du voll in die Scheiße …«

»Das kannst du laut sagen. Fährst du schon?«

»Ja, der Cap sagt, wir sollen hier alle verschwinden.«

Bosch ging näher zu ihm hin und sprach leise.

»Irgendeine Idee, die ich mir von dir borgen könnte?«

Sheehan sah den Standseilbahnwagen an, als dächte er zum ersten Mal darüber nach, wer die beiden Menschen darin umgebracht haben könnte.

»Keine außer der nächstliegenden, und die ist, glaube ich, reine Zeitverschwendung. Aber andererseits musst du ja deine Zeit verschwenden, oder nicht? Jeder Möglichkeit nachgehen.«

»Ja. Irgendjemand, bei dem ich deiner Meinung nach anfangen sollte?«

»Ja, bei mir.« Er grinste über beide Ohren. »Ich konnte diesen Sack auf den Tod nicht ausstehen. Weißt du, was ich tun werde? Als Erstes werde ich nach einem Getränkemarkt Ausschau halten, der die ganze Nacht aufhat, und mir eine Flasche vom besten irischen Whiskey kaufen, den sie haben. Und dann werde ich eine kleine Feier veranstalten, Hieronymus. Howard Elias war nämlich ein echter motherfucker.«

Bosch nickte. Cops verwendeten das Schimpfwort motherfucker nur selten. Sie bekamen es oft zu hören, verwendeten es aber nicht. Die meisten Cops sparten es sich als das Schlimmste auf, was sie über jemanden sagen konnten. Wenn es benutzt wurde, bedeutete es: Die betreffende Person hatte die Rechtschaffenen hintergangen, die betreffende Person hatte keinen Respekt vor den Hütern des Gesetzes und somit auch nicht vor den Regeln der Gesellschaft und ihren Grenzen. Polizistenmörder waren immer motherfucker, da gab es keine langen Diskussionen. Strafverteidiger wurden meistens auch so genannt. Und Howard Elias stand ebenfalls auf der motherfucker-Liste. Ganz oben.

Sheehan salutierte lässig und entfernte sich über die Plaza. Bosch streifte sich Gummihandschuhe über und wandte seine Aufmerksamkeit dem Inneren des Standseilbahnwagens zu. Die Lichter waren wieder an. Die Techniker von der Spurensicherung waren mit dem Lasern fertig. Einen von ihnen kannte Bosch. Hoffman. Er arbeitete mit einer Praktikantin, von der Bosch zwar schon gehört hatte, die er aber noch nicht kennengelernt hatte. Sie war eine attraktive Asiatin mit ziemlicher Oberweite. Er hatte mitbekommen, wie die anderen Detectives im Bereitschaftsraum über ihre Attribute gesprochen und ihre Echtheit infrage gestellt hatten.

»Okay, wenn ich reinkomme, Gary?«, fragte Bosch und steckte den Kopf durch die Tür.

Hoffman sah von dem Kasten auf, in dem er seine Instrumente aufbewahrte. Er war am Zusammenpacken und wollte ihn gerade zumachen.

»Klar. Sind gerade fertig geworden. Ist das deiner, Harry?«

»Inzwischen ja. Hast du irgendwas für mich? Irgendeine nette kleine Überraschung?«

Gefolgt von Edgar und Rider betrat Bosch den Wagen. Da der Wagen schräg stand, bestand sein Boden aus einer Reihe von Stufen, die zur hinteren Tür hinabführten. Die Sitze auf beiden Seiten des Mittelgangs befanden sich ebenfalls auf unterschiedlicher Höhe. Als Bosch die Lattenrostbänke betrachtete, erinnerte er sich plötzlich wieder, wie hart sie unter seinem knochigen Jungenhintern gewesen waren.

»Leider nicht«, sagte Hoffman. »Alles ziemlich clean.«

Bosch nickte und stieg die paar Stufen zu der ersten Leiche hinunter. Er betrachtete Catalina Perez in etwa so, wie sich ein Museumsbesucher eine Skulptur ansehen würde. Der Gegenstand seiner Betrachtung hatte für ihn keine menschlichen Züge. Er studierte Einzelheiten, verschaffte sich Eindrücke. Sein Blick fiel auf den Blutfleck und den kleinen Riss, den die Kugel im T-Shirt hinterlassen hatte. Die Kugel hatte die Frau voll erwischt. Bei diesem Gedanken stellte sich Bosch den Schützen vor, wie er vier Meter entfernt in der Tür des Wagens stand.

»Klasse Schuss, hm?«

Es war die Technikerin, die Bosch nicht kannte. Er sah sie an und nickte. Er hatte den gleichen Gedanken gehabt: Der Täter war jemand, der mit Schusswaffen umgehen konnte.

»Wir kennen uns, glaube ich, noch nicht. Ich bin Sally Tam.«

Sie reichte ihm die Hand, und Bosch schüttelte sie. Es fühlte sich komisch an. Sie trugen beide Gummihandschuhe. Er sagte ihr seinen Namen.

»Oh«, sagte sie. »Gerade hat jemand von Ihnen gesprochen. Über den Hart-gekochte-Eier-Fall.«

»Das war reine Glückssache.«

Bosch wusste, er hatte für diesen Fall mehr Lorbeeren geerntet, als er verdient hatte, und das alles nur, weil ein Times-Reporter davon gehört und einen Bericht geschrieben hatte, der Boschs Fähigkeiten in einem Maß übertrieb, dass man ihn für einen entfernten Verwandten von Sherlock Holmes hätte halten können.

Bosch deutete hinter Tam und fragte, ob er an ihr vorbei könnte, sich die andere Leiche ansehen. Als sie darauf zur Seite trat und sich zurücklehnte, achtete er bewusst darauf, sie nicht zu streifen, als er sich an ihr vorbeizwängte. Er hörte, wie sie sich Rider und Edgar vorstellte. Er ging in die Hocke, um sich die Leiche von Howard Elias anzusehen.

»Ist das noch seine ursprüngliche Lage?«, fragte er Hoffman, der neben den Füßen des Toten vor seinem Kasten kauerte.

»So ziemlich. Wir haben ihn zwar umgedreht, um an seine Taschen ranzukommen, haben ihn aber dann wieder zurückgelegt. Wenn du es genau wissen willst – auf dem Sitz hinter dir sind ein paar Polaroids. Die haben die Jungs von der Gerichtsmedizin gemacht, bevor ihn jemand angefasst hat.«

Bosch drehte sich um und sah die Fotos. Hoffman hatte recht. Die Leiche lag genau so da, wie sie gefunden worden war.

Er wandte sich wieder der Leiche zu und drehte ihren Kopf mit beiden Händen so, dass er die Wunden untersuchen konnte. Garwoods Einschätzung war richtig gewesen, fand Bosch. Der Einschuss am Hinterkopf war eine Kontaktwunde. Obwohl sie zum Teil durch blutverklebtes Haar verdeckt war, war zu erkennen, dass sie von Pulverspuren umgeben war. Der Einschuss im Gesicht dagegen war sauber. Das bezog sich nicht auf das Blut – davon gab es mehr als genug. Aber die Haut wies keine Pulververbrennungen auf. Der Schuss ins Gesicht war aus einiger Entfernung abgefeuert worden.

Bosch hob den Arm und drehte die Hand, um die Einschusswunde in der Handfläche zu untersuchen. Der Arm ließ sich leicht bewegen. Die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt – die kühle Nachtluft verlangsamte den Prozess. Auch auf der Handfläche befanden sich keine Pulverspuren. Bosch stellte ein paar Berechnungen an. Keine Verbrennungen auf der Handfläche bedeuteten, dass die Schusswaffe mindestens einen Meter von der Hand entfernt gewesen war, als der Schuss abgefeuert wurde. Wenn Elias den Arm mit erhobener Handfläche ausgestreckt hatte, bedeutete es einen zusätzlichen Meter.

Inzwischen waren auch Edgar und Rider bis zur zweiten Leiche vorgedrungen. Bosch spürte, dass sie hinter ihm standen.

»Etwa eineinhalb Meter Entfernung«, sagte er, »durch die Hand und trotzdem genau zwischen die Augen. Der Kerl kann schießen. Denkt daran, wenn wir ihn fassen.«

Keiner von beiden antwortete. Bosch hoffte, sie hörten aus seiner letzten Bemerkung nicht nur die Warnung heraus, sondern auch die Zuversicht. Er wollte die Hand des Toten gerade auf den Boden zurücklegen, als er den langen Kratzer am Handgelenk und an der Handkante bemerkte. Vermutlich war Elias die Verletzung beigebracht worden, als ihm die Uhr abgestreift worden war. Bosch untersuchte die Wunde sorgfältig. In der Furche war kein Blut. Es war ein sauberer weißer Riss in der Oberfläche der dunklen Haut, der jedoch so tief aussah, dass er geblutet haben musste.

Bosch dachte kurz nach. Alle Schüsse waren auf den Kopf abgegeben worden, keiner aufs Herz. Die Blutverteilung an den Wunden deutete darauf hin, dass das Herz mindestens noch ein paar Sekunden weitergeschlagen hatte, nachdem Elias zu Boden gefallen war. An sich müsste der Täter Elias die Uhr sehr kurz nach den tödlichen Schüssen vom Handgelenk gerissen haben – es dürfte kein Anlass für ihn bestanden haben, noch länger am Tatort zu bleiben. Doch der Kratzer am Handgelenk hatte nicht geblutet. Es sah so aus, als wäre er ihm erst beigebracht worden, als das Herz schon einige Zeit zu schlagen aufgehört hatte.

»Was hältst du von dem Bleiklistier?« Es war Hoffman, der Bosch aus seinen Gedanken riss.

Als Hoffman Platz machte, stand Bosch auf und ging vorsichtig um die Leiche herum, bis er unten bei den Füßen war. Er ging wieder in die Hocke und sah sich die dritte Schusswunde an. Der Hosenboden war mit Blut vollgesogen. Trotzdem konnte Bosch an der Stelle, wo die Kugel durch den Stoff in Howard Elias’ Anus gedrungen war, einen Riss und Verbrennungsspuren sehen. Die Waffe war tief in die Naht der Hose gedrückt und dann abgefeuert worden. Ein gemeiner Schuss, Ausdruck von Wut und Hass und keinesfalls ein Gnadenschuss. Er stand in krassem Gegensatz zur kühlen Routine der übrigen Schüsse. Außerdem verriet er Bosch, dass sich Garwood getäuscht hatte, was die Reihenfolge der Schüsse anging. Ob sich der Captain darüber im Klaren war, wusste er nicht.