Dunkles Eis - Greig Beck - E-Book
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Dunkles Eis E-Book

Greig Beck

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Beschreibung

Es lebt. Es jagt. Es tötet. Ein Flugzeugabsturz in der Antarktis reißt ein riesiges Loch ins Eis. Darunter kommt ein unerforschtes Höhlensystem zum Vorschein. Von der Besatzung des verunglückten Flugzeugs fehlt dagegen jede Spur. Captain Alex Hunter und eine Gruppe von Wissenschaftlern werden in die Tiefe geschickt, um die Vermissten zu bergen. Doch statt der Crew finden sie nur archaische Höhlenmalereien, die vor einem unbekannten Schrecken aus der Urzeit warnen. Und plötzlich müssen Hunter und sein Team feststellen: Tief unter dem Eis ist etwas erwacht …

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Greig Beck

Dunkles Eis

Thriller

Deutsch von Norbert Stöbe

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Für Barbara, mit ...Im Jahr 1996 ...PrologeinszweidreivierfünfsechssiebenachtneunzehnelfzwölfdreizehnvierzehnfünfzehnsechzehnsiebzehnachtzehnneunzehnzwanzigeinundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzigvierundzwanzigfünfundzwanzigsechsundzwanzigsiebenundzwanzigachtundzwanzigneunundzwanzigdreißigeinunddreißigzweiunddreißigEpilogDank
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Für Barbara, mit der das Leben immer noch großartig ist

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Im Jahr 1996 entdeckten russische und britische Wissenschaftler vier Kilometer unter dem antarktischen Eis einen warmen Süßwassersee. Der Wostoksee ist so groß wie der Ontariosee. Biologen vermuten, dass darin Lebensformen vorkommen, die seit Millionen Jahren nicht mehr das Tageslicht erblickt haben.

 

Schätzungen zufolge gibt es auf der ganzen Welt Hunderte solcher verborgener Gewässer.

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Prolog

Die Kolonie Roanoke Island, 1587

Eleanor wiegte die kleine Virginia in den Armen und betrachtete lächelnd das rosige Gesicht des schlafenden Säuglings. Virginia war das erste Neugeborene der Insel. Die Kolonisten freuten sich über den Zuwachs für diesen neuen Vorposten der Zivilisation, ein günstiges Vorzeichen, dachten sie.

Das helle Sonnenlicht des fast schon sommerlichen Tages auf der Insel Roanoke ließ die junge Mutter und ihr Kind in warmem, tröstendem Licht erscheinen, während Eleanor leise ein Schlaflied für den schniefenden Säugling sang.

 

John White, Eleanors Vater und Gouverneur der Insel, war stolz auf das Erreichte. Dies war Englands goldenes Zeitalter der Kolonisation, und sein Heimatland würde seine weltweite Vorherrschaft weiter festigen, davon war Gouverneur White überzeugt. Zu Beginn der Dekade, im Jahr 1583, hatte Sir Humphrey Gilbert Anspruch auf Neufundland erhoben und das Gebiet zu Englands erster Überseekolonie gemacht, und nun war Roanoke die erste Kolonie in der Neuen Welt.

Bevor er widerwillig nach England zurückkehrte, um weitere Vorräte zu holen, vergewisserte sich Gouverneur White, dass alles in Ordnung war.

Roanoke Island war ein schmaler Landstrich, dicht vor der Küste, zwischen dem Festland und den tückischen Outer Banks des Atlantiks. Die umliegenden Gewässer waren kalt und hatten eine wenig einladende graugrüne Farbe, da die eiskalten Strömungen des Atlantiks die zwölf Kilometer lange Insel umschlossen. Die Insel selbst aber war gottlob eine wahre Oase festen Marschlands, es gab Wiesen mit niedrigem Gras und Eichenwälder, in denen es von Wild nur so wimmelte.

Die eingeborenen Indianer waren im Großen und Ganzen ein freundliches Völkchen mit allerdings fremdartigen Gebräuchen; bisweilen wahrten sie furchtsame Zurückhaltung, dann wieder schrien sie aggressiv auf die Kolonisten ein, um sie von bestimmten Waldgegenden fernzuhalten. White fand heraus, dass sie keinen Ärger bekamen, solange sie gewisse Orte auf der Insel mieden. Es entwickelte sich ein sporadischer, etwas nervöser Handelsaustausch, und White war es zufrieden, dass die eingeborene Bevölkerung keine Bedrohung für die Kolonisten darstellte.

Seine Hauptsorge galt dem Umstand, dass die Siedlung nicht ausreichend vor den heftigen Meeresstürmen des Atlantiks geschützt war. Sie lag zu nahe am Strand, und jetzt, da Kinder geboren wurden, war er entschlossen, die neugegründete Kolonie während seiner monatelangen Abwesenheit vor unvorhergesehenen Gefahren zu schützen.

White hatte eine kleine Gruppe von Männern beauftragt, das umliegende Gebiet nach geschützten Orten abzusuchen, wo man im Falle schlechten Wetters Zuflucht suchen könnte. Binnen Wochenfrist berichteten die Männer, sie hätten eine große Höhle entdeckt. Der Tiefe entströme zwar ein seltsamer Geruch, aber sie sei trocken und biete Platz für alle hundert Kolonisten. White befahl, Wasserfässer in der Höhle zu deponieren. Er hoffte, alles Nötige getan zu haben, um das Überleben der Kolonie zu sichern, als er an Bord des Schiffes ging, das ihn nach England zurückbringen sollte.

 

Nicht weit von der Siedlung entfernt schritt Eleanor durchs weiche Gras am Ufer des klaren Baches. Sie kam hierher, um Virginias Kleidchen zu waschen und sie auf den flachen Ufersteinen zu trocknen. Als sie dem jungen Indianermädchen begegnete, hielt sie es für ausgemacht, dass sie Freundinnen werden würden.

Incara – so hieß das Mädchen – kam immer etwa zur gleichen Zeit wie sie zum Bach, um ihre Wäsche zu waschen, und zuerst winkten und lächelten sie einander zu, dann ließen sie sich am Ufer nieder und zeigten einander ihre Säuglinge. Obwohl sie sich mit Worten nicht verständigen konnten, verstanden sie sich trotzdem, denn sie waren beide junge Mütter.

Eleanor raffte das Schultertuch und blickte besorgt zum Himmel auf; dunkle Wolken näherten sich von Westen, und es würde bald regnen. Sie richtete sich auf, nahm Virginia auf die Arme und verabschiedete sich von Incara, die zu ihr hochlächelte und sich bemühte, die Meereswogen mit pantomimischen Gesten darzustellen. Eleanor kicherte; vielleicht würde sie demnächst ein Kleid für Incara schneidern, falls ihr Vater genug Stoff mitbrächte.

Der Wind frischte immer mehr auf, sodass Eleanor sich beeilte, zur Kolonie zurückzugelangen. Am Horizont dräuten jetzt mächtige purpurfarbene Wolken, die wie Eiterbeulen über der Insel aufzuplatzen drohten. Als sie die Lichtung am Rande der Kolonie erreichte, kam Eleanor ihr Mann Ananias entgegen. Flüchtig umarmte er sie. Er war außer Atem, und mit den ersten schweren Regentropfen klebte ihm das blonde Haar bereits am Schädel. Er musste schreien, um das Heulen des Sturms zu übertönen, und forderte sie auf, so viel Nahrung und Kleidung zu holen, wie sie tragen könne, denn die ganze Kolonie wolle in den Höhlen im Süden der Insel Zuflucht suchen.

Der Sturm hatte bereits Stroh und Holzschindeln von den Hütten losgerissen und schleuderte sie wie Messer durch die Luft. Als sie zur Mitte des Lagers stapften, wehten ihnen die Böen den Regen schmerzhaft ins Gesicht. Plötzlich machte Eleanor Incara am Waldrand aus. Sie winkte sie näher, Incara kam herbeigerannt und versuchte sie mit sich zu ziehen. Dabei schüttelte sie heftig den Kopf und zeigte wild gestikulierend Richtung Strand hinunter. In einem fort wiederholte sie mit flehentlich geweiteten Augen das gleiche Wort, das sich anhörte wie «Croatoan». Sie schwenkte die Arme und schlang sie um den eigenen Oberkörper. Aber die Geste sollte nicht bedeuten, dass man sich warm anziehen müsse. Incara versuchte Eleanor zu warnen: Sie solle aufpassen, dass sie nicht zwischen übermenschlichen Kräften zerquetscht würde.

Eleanors Vater hatte gemeint, die Eingeborenen glaubten, alles sei das Werk von guten und bösen Geistern – auch das Wetter. Eleanor umarmte Incara eilig und rannte mit den letzten Nachzüglern der Kolonie Richtung Höhle.

Incara hatte das Wort Croatoan so oft wiederholt, dass Eleanor dachte, so laute der Name der Höhle, zu der sie unterwegs waren, und für den Fall, dass sie bei der Rückkehr ihres Vaters noch dort sein sollten, ritzte sie das Wort in die Rinde eines großen Baums an Rande des Lagers ein, damit ihr Vater bei seiner Rückkehr die Indianer nur nach dem Weg zu fragen bräuchte.

 

Incara eilte zu ihrem Vater Manteo, dem Häuptling des Roanoke-Stamms. Er hatte mit den heiligen Männern um die Feuerstelle in der Mitte der Hütte Platz genommen und beratschlagte mit ihnen. Incara fiel vor ihm auf die Knie und berichtete atemlos, wohin die Kolonisten wollten. Die Roanoke scherten sich zwar kaum um die Siedler, doch sie kannten die Gefahren, welche die Höhlen bargen. Die Höhlen hatten sich vor langer Zeit dort aufgetan, als die Erde gebebt hatte. Incara kannte die Legenden, die sich um menschenverschlingende Höhlen rankten, und seit vielen Jahren hatte kein junger Jäger mehr die Torheit besessen, sich in eine dieser Höhlen hineinzubegeben. Wer es dennoch wagte, ward nie wieder gesehen.

Inzwischen stürmte es, und den Stammesangehörigen war es verboten, sich den Höhlen auch nur zu nähern. Manteo aber wusste um die Freundschaft, die zwischen Incara und der weißhäutigen «Eleanor» entstanden war, und erklärte zu Incaras großer Erleichterung, er wolle zusammen mit einigen seiner besten Krieger versuchen, die Kolonisten aufzuhalten. Entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch schloss Incara sich ihnen an.

Die kleine Indianergruppe erreichte die Höhle, als die letzten Kolonisten sich gerade hineinbegaben und sich sogleich daran machten, den Eingang zum Schutz vor den tobenden Elementen zu verschließen. Incara rief laut, bis Eleanor und Ananias kurz in der Höhlenmündung auftauchten. Der Anblick, der sich Incara und den Kriegern bot, sollten sie nie vergessen: Eleanor stand im Regen und hielt ihre Tochter in den Armen. Als sie Incara zum Abschied lächelnd zuwinkte, wandte Ananias auf einmal ruckartig den Kopf, als hätte ihn jemand gerufen, und rannte in die Höhle zurück. Eleanor blickte sich über die Schulter nach ihm um, als plötzlich aus der Tiefe der Höhle laute Rufe zu vernehmen waren. Sie drehte sich um, und dann verschwand auch sie in der Dunkelheit.

Es dauerte nicht lange, da ertönten Geschrei und lautes Wehklagen. Als sie die Rufe und Schreie der Angst und Verzweiflung hörte, sank Incara wimmernd auf die Knie. Sie raffte Laub und Erde zusammen und schmierte sich alles wie von Sinnen ins Haar und ins Gesicht. Selbst die tapferen Roanoke-Krieger wurden kreidebleich vor Angst, während die Schreie nach und nach verstummten. Manteo blickte lange zur Höhle hinüber, er dachte an die alten Legenden und stellte sich vor, wie sein Volk diese Katastrophe verkraften würde. Als er sich von der Höhle abwandte, war sein Entschluss gefasst: Sie würden die Insel unverzüglich verlassen.

 

John White hatte nicht damit gerechnet, der Insel so lange fernzubleiben, doch noch ehe er an Land ging, wusste er, dass ein Unglück geschehen war. Es waren keine Fischerboote auf dem Wasser, keine Rauchsäulen in der Luft. Das Lager wirkte verlassen – keine Menschen, nur die Überreste verfallener Hütten. Der Wald eroberte bereits die Lichtung zurück. Der einzige Hinweis auf den Verbleib seiner Gemeinde war ein in ungelenken Großbuchstaben in eine Baumrinde geritztes Wort: CROATOAN.

Nach wochenlanger Suche hatte er noch immer keine Spur von seiner geliebten Tochter, ihrem Kind und den anderen Kolonisten gefunden. Auch die Indianer waren verschwunden, und so wollte der verzweifelte Gouverneur glauben, dass Eleanor sich in ihrer Obhut befand.

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eins

Antarktis, Gegenwart

In den letzten Sekunden vor dem Aufprall ließ John «Buck» Banyon, der wohl reichste Hotelbesitzer Nordamerikas, den U-förmigen Steuerknüppel los. Er verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust, genau über dem goldfarbenen handgestickten Schriftzug auf seiner Bomberjacke, der schlicht und einfach «Buck» lautete. Als es ihm nicht gelungen war, das Triebwerk wieder in Gang zu bringen und die anderen Ersatzsysteme erst verrückt spielten und dann ganz ausfielen, hatte er gewusst, dass er sterben würde. Es blieb keine Zeit mehr für einen weiteren Zündungsversuch, und ein Absprung mit dem Fallschirm wäre bei diesem Wetter Wahnsinn gewesen. Schnaubend blickte er durchs Cockpit-Fenster ins einheitliche Weiß hinaus und fluchte, als der Höhenanzeiger vermeldete, der Boden befinde sich unmittelbar vor seiner Nase.

Banyon hatte seine leitenden Angestellten und deren Ehefrauen oder Partnerinnen zu einem Flug in seinem Privatjet, dem Perseus, eingeladen – ein Tagesflug von Südaustralien bis zur Antarktis und zurück. Er hatte den Flug schon mehrfach allein gemacht und wollte seinen Jungs beweisen, dass Buck Banyon sich nicht nur aufs Geldverdienen und achtzehnstündige Arbeitstage verstand. Dieser Gegend war eine seltene exotische Schönheit eigen; wilde Tiere konnte jeder halten, und Scheißpinguine konnte er sich auch im Zoo ansehen. Aber dort unten hatte er Dinge gesehen, die nur eine Handvoll Menschen auf Erden geschaut hatten: Sonnenuntergänge, bei denen die Sonne stundenlang über dem Horizont verharrte, während zwischen Eis und Himmel ein smaragdgrünes Band funkelte; Eisberge, die wegen der unbewegten Luft zu schweben schienen.

Er hätte es besser wissen müssen – wer sich einmal in die Antarktis verliebt, der entkommt ihr nicht mehr. Buck hatte vergessen, dass sie zwar wunderschön, aber auch unberechenbar war. Zwar hatte er vor dem Start gründlich den Wetterbericht studiert, dennoch überraschte ihn der Eiskontinent mit einem monströsen Tiefdruckgebiet. Es hatte sich hinter Bergen und tiefen Abgründen verborgen und fiel mit aller Gewalt über ihn her – kilometerhohe Schneewände und ein stürmischer Wind, der hinter einer Anhöhe über ihn hereinbrach.

Während der Himmel eben noch völlig klar gewesen war und man Hunderte Kilometer weit in die Ferne blicken konnte, wurde die Sicht auf einmal von wirbelndem Schnee und Eis verdeckt. Himmel und Erde verschmolzen zu einem einheitlichen Weiß, der Horizont war nicht mehr zu erkennen. In Sekundenschnelle sank die Temperatur um fünfzig Grad, während der Wind entsprechend zunahm. Für das Verhalten in einem solchen Schneesturm gab es keine Regeln; entweder man wich ihm aus – oder das Flugzeug war verloren.

Bucks zehn Passagiere waren nicht so ruhig wie er. Das Geschrei in der Kabine hätte aus Dantes Schilderung des Hölleninfernos stammen können. Martinis und Cocktails ergossen sich auf die feudalen Plüschsitze, während die Passagiere von der Abwärtsbeschleunigung in die Polster gedrückt wurden.

Der zweiundzwanzig Meter lange weiße Pfeil stürzte auf selbstmörderischem Kurs mit etwa neunhundertzwanzig Stundenkilometern dem antarktischen Eis entgegen. Die kleinen, aber leistungsfähigen Turbofan-Triebwerke hatten in der eiskalten Luft über der grellen Landschaft den Dienst eingestellt. Während das Flugzeug der Eiswüste entgegenraste, war kein Laut zu hören bis auf ein hochfrequentes Pfeifen, das man auch für den Ruf eines Sturmvogels hätte halten können. Doch auch dieses Pfeifen wurde schließlich vom Wüten des Sturms übertönt, der auf den schlanken Metallvogel eintrommelte.

Der Aufprall hörte sich eher an, als fiele ein großes Kissen auf ein ungemachtes Bett, nicht wie der explosive Lärm von fünfzehn Tonnen Metall, die gegen eine harte Oberfläche krachten. Eine trichterförmige Wolke aus Schnee und Eis stieg dreißig Meter hoch empor, gefolgt von Gesteinstrümmern. Ein hohles Dröhnen war zu hören, als der einstmals so wendige Challenger-Jet schließlich auf den massiven Fels traf. Das Flugzeug durchbohrte die Eisoberfläche wie eine Gewehrkugel eine Glasscheibe und riss ein schartiges schwarzes Loch in die Decke einer dreißig Meter tiefer befindlichen Höhle. Das Echo des Aufpralls hallte kilometerweit durch die Gänge und wurde von Wänden und Decken zurückgeworfen, als das stumme Gestein die grässlichen Geräusche des Aufpralls aufnahm und weiterleitete.

Dann kehrte in der unterirdischen Welt wieder Ruhe ein – wenn auch nur kurz.

 

Das Wesen erhob sich aus dem Wasser und nahm Witterung auf. Als es sich verwirrt aus seinem Bau hervorhangelte, weckten die Vibrationen aus den höher gelegenen Höhlen bei ihm Erinnerungen, die lange Zeit geschlummert hatten. In seiner dunklen Welt hatte es gelernt, sich still zu verhalten, doch die Geräusche und Schwingungen aus den oberen Höhlen hatten das Wesen erregt, und nun eilte es mit dem Getöse eines brodelnden Schlammflusses nach oben.

Es würde Stunden dauern, bis es den Unfallort erreichte, doch es nahm bereits den schwachen Geruch von geschmolzenen Metalllegierungen, Treibstoff und noch etwas anderem wahr – einen Geruch, den es und seine Artgenossen seit tausend Jahren nicht mehr wahrgenommen hatten. Vom Hunger getrieben, bewegte es seinen gewaltigen schleimigen Körper durch die Dunkelheit.

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zwei

Stamford, Connecticut

Ein schmaler Streifen wärmenden Sonnenscheins fiel auf Aimee, als sie einen Schluck Mineralwasser nahm, von ihren neuesten Projektergebnissen hochschaute und ihren Mitarbeiter in den Blick nahm. Mit ihrem pechschwarzen Haar und ihren sanften blauen Augen machte Aimee ihrer schottischen Abstammung alle Ehre. Sie war die Erste in einer Familie von Ladenbesitzern und Bootsbauern, die Wissenschaftlerin geworden war, und ihre brillanten Leistungen auf dem Gebiet der Entstehung fossiler Energieträger hatten zur Folge, dass ressourcenhungrige Firmen in der ganzen Welt sie gerne als Mitarbeiterin gewonnen hätten. Sie war eine hochgewachsene Frau von neunundzwanzig Jahren und verstand es, auf eine bestimmte Art und Weise die Lippen aufeinanderzudrücken und ihren Blick von sanft auf durchdringend umzuschalten, was ihre Freunde als ihren «Lasermodus» bezeichneten. Sie war imstande, selbst die furchteinflößendsten Fachkollegen oder Sitzungsteilnehmer niederzustarren, und wenn es hart auf hart ging, setzte sie zumeist ihren Willen durch. Sie trank das Mineralwasser aus und richtete ihren Laserblick auf Tom.

«Es wird dir nichts nützen, Aimee; ich werd dich nicht mal angucken. Schließlich möchte ich zu dieser frühen Stunde nicht geblendet werden.» Tom lachte leise in sich hinein und schenkte sich Kaffee ein. Offenbar war er sich bewusst, dass sie ihn ansah, und gab sich gelassen – in der Hoffnung, sie werde erst ein bisschen Dampf ablassen, um ihm dann ihren Segen für die Feldforschung zu geben. Tom rührte geräuschvoll seinen Kaffee um und fuhr fort: «Außerdem hast du Höhenangst, und wir müssen uns in eine gefrorene Höhle abwinschen, oder vielleicht sollte ich besser sagen, ins antarktische Eis.»

«Abwinschen, ha! Das heißt ‹abseilen›, Angeber. Abwinschen ist etwas ganz anderes. Und das mit der Höhenangst ist schon lange her. Ich habe keine Höhenangst, Tom.»

Tom trank mit übertriebenen Schlürfgeräuschen. Na schön, sagte Aimee lautlos zu seinem Rücken. Sie riss einen Papierfetzen von einem Computerausdruck ab, formte daraus einen Ball, steckte ihn sich in den Mund und bearbeitete ihn mit der Zunge. Dann zog sie den Strohhalm aus der Mineralwasserflasche, steckte ihn sich in den Mund und feuerte das nasse Projektil auf Toms Hinterkopf. Zu ihrer Genugtuung blieb es daran haften.

«Bäh. Ich kann das nicht ausstehn.» Tom wischte sich über den Hals und wandte sich ab. Aimee hatte die linke Augenbraue hochgezogen und lächelte, der Strohhalm hing ihr von der Unterlippe.

Sie kannte Tom jetzt seit zehn Jahren, seit er im Auftrag seiner Firma an einer Informationsveranstaltung der Universität teilgenommen hatte. Schon als schlaksige, oder wie ihr Vater es ausdrückte, «fohlenhafte» Neunzehnjährige hatte sie sich aufgrund ihrer Abschlüsse und ihrer naturwissenschaftlichen Begabung in Biologie von den anderen Mitbewerbern abgehoben. Zahlreiche Firmen warben um sie, sie waren auf den wertvollsten Aktivposten aus: Intelligenz. Tom aber hatte sie zum Lachen gebracht, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen, und bei ihm fühlte sie sich wohler als bei all den trockenen Professoren. Er war für sie wie ein älterer Bruder und konnte sie heute noch immer genauso zum Lachen bringen wie vor zehn Jahren. In der Zwischenzeit hatte er ein wachsames Auge auf sie gehabt und ihre Karriere sorgsam gelenkt. Jetzt war sie eine der angesehensten Petrobiologen der Welt.

Tom Hendsen war einer der führenden Wissenschaftler der GBR, einer kleinen Firma, die sich auf die geologische und biologische Erforschung fossiler Brennstoffe spezialisiert hatte, auf die Exploration, Verwendung, Synthese und den möglichen Ersatz irgendwann in der Zukunft. Er war vierzig Jahre alt, schlank und groß gewachsen und stets zu einem Scherz aufgelegt. Zwar herrschte bei GBR ein lockerer Umgangston, doch seine menschliche Reife und seine enzyklopädischen Kenntnisse auf dem Gebiet der Tiefen-Petrobiologie machten ihn zur geborenen Führungspersönlichkeit.

Aimee liebte Tom wie einen Bruder, und wie bei Geschwistern kam es auch zwischen ihnen hin und wieder zu Reibereien, so wie jetzt. Tom war von der Regierung gebeten worden, eine Rettungsaktion in die Antarktis zu begleiten. Ein Privatjet war auf das Eis gestürzt, oder vielmehr in das Eis eingebrochen. Eine große Höhle hatte sich geöffnet, und die ersten Daten deuteten auf ein Flüssigkeitsvorkommen hin, bei dem es sich um Oberflächenerdöl und Gas handeln konnte. Wahrscheinlich waren die Daten fehlerhaft, oder aber es handelte sich um eine illegale Müllhalde eines der zahlreichen Länder, welche in der Antarktis forschten oder dort nach Bodenschätzen suchten – Länder, die in der Antarktis den letzten unerforschten oder vielmehr noch nicht geplünderten Kontinent auf Erden sahen. Allerdings könnte es sich auch um eine bedeutsame Entdeckung handeln. Die Antarktis war nicht immer mit Schnee und Eis bedeckt gewesen und hatte sich erst vor etwa einhundertfünfzig Millionen Jahren, als der Kontinent Gondwana auseinanderbrach, langsam Richtung Südpol geschoben. Man wusste, dass dort einst zahlreiche Dinosaurierarten gelebt hatten, während die Vegetation von farnartigen Sumpfpflanzen geprägt gewesen war. Im Laufe der Zeit war aus den Ablagerungen der Sümpfe das Kohlevorkommen des Transarktischen Gebirges geworden, und es war durchaus denkbar, dass sich in der Tiefe Ölvorkommen gebildet hatten.

«Aber du kannst Kälte nicht ausstehen und magst die Feldforschung nicht. Ich bin hervorragend qualifiziert, dir dort unten wenigstens zu assistieren.» Aimee war der Jammerton, der sich in ihren Tonfall eingeschlichen hatte, zuwider. Sie wusste, dass Tom die besten Voraussetzungen für die Teilnahme an der Expedition mitbrachte, doch sie hatte Lust auf eine interessante Abwechslung – da kam ihr diese Gelegenheit gerade recht.

«Aimee, irgendjemand muss am Mittwoch an der Sitzung teilnehmen und die Ergebnisse unserer Machbarkeitsstudie hinsichtlich der synthetischen Treibstoffproduktion vorstellen, sonst ist die Anschlussfinanzierung gefährdet», erwiderte Tom geduldig. «Du weißt genau, dass du die Leute viel besser um den Finger wickeln kannst als ich.» Aimee merkte, dass Tom ihr schmeicheln wollte. Schon gut, vielen Dank, besagte ihr Lächeln.

«In einer Woche bin ich wieder da und hab vermutlich nichts mehr vorzuweisen als eine Erkältung», sagte er, ohne von seinen Packvorbereitungen aufzusehen. «Ich werde ein paar elektromagnetische Messungen vornehmen und die oberflächennahe Kohlenwasserstoffmigration dokumentieren, dann machen wir für unsere Freunde von der Bewilligungskommission ein paar hübsche 3-D-Modelle draus.»

«Pass nur auf, dass du viel Farbe einsetzt und griffige Beschreibungen formulierst. Wenn du deinen Fachjargon nicht etwas herunterschraubst, könntest du den Sitzungsteilnehmern auch gleich ein Strickmuster deiner Tante zeigen», entgegnete Aimee halb im Scherz, denn sie wusste genau, dass Tom es hervorragend verstand, komplizierte Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen und sie selbst dem dümmsten Bürokraten schmackhaft zu machen. «Und bring mir etwas Schnee mit.»

«Ich bring dir einen Pinguin mit, oder besser gleich zwei, dann kannst du dir Hausschuhe draus machen», sagte er, worauf beide über die Blödelei lachen mussten.

Aimees Augen zeigten wieder die gewohnte sanfte blaue Farbe. Wie gewöhnlich hatte er es geschafft, sie mit seinem Humor zu überzeugen, der eher der eines Schuljungen als der eines Wissenschaftlers war. Wie sie Tom kannte, würde er sich die ganze Zeit im Zelt über seinen Laptop beugen und sich schon am Ende des ersten Tages langweilen.

Beim nächsten Mal wäre sie an der Reihe, das stand fest.

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drei

Australische Ostküste

Alex Hunter kam nach dem morgendlichen Schwimmen im warmen Meer aus dem Wasser. Der frühe Morgen, wenn die schreienden Seemöwen über ihm kreisten und die Wellen an den goldfarbenen Strand brandeten, war seine liebste Tageszeit. Als er mit seinen graugrünen Augen den Horizont betrachtete, wehte ihm Gischt ins Gesicht. Er schloss einen Moment die Augen und atmete tief den Duft seiner Welt ein.

Nachdem er eine Stunde gekrault war, war er nicht mal außer Atem. Er war sechsunddreißig Jahre alt und über eins achtzig groß, und die Muskeln an Brust und Armen deuteten darauf hin, dass er häufig und ausdauernd trainierte. Mehrere Narben ließen allerdings erkennen, dass er seine Figur nicht dem Fitnesscenter verdankte – sondern dem Kampf. Alex schüttelte mit ruckartigen Kopfbewegungen die Wassertropfen ab und fuhr sich mit den Fingern durchs kurzgeschnittene schwarze Haar. Weil er ein kantiges Kinn und hohe Wangenknochen hatte, musste er nicht über mangelnde weibliche Zuwendung klagen, doch sein komplizierter und gefährlicher Lebensstil machten eine dauerhafte Beziehung unmöglich. Alex war dazu ausgebildet, auch unter widrigen Bedingungen bis zum Sieg zu kämpfen – doch es gab auch ein paar Dinge, mit denen selbst er nicht klarkam. Er konnte nicht sesshaft werden, durfte mit niemandem über seine Arbeit reden und konnte Erfolge und Misserfolge nur mit seinen Militärkollegen besprechen. Und nach seiner Verwundung im Einsatz war er noch einsamer als zuvor.

Reglos wie eine Bronzestatue stand Alex am Strand, in den Händen ein ausgebleichtes Handtuch. Seine Augen wurden so leblos wie Glasscherben, als er an das Leben zurückdachte, das seins gewesen war und doch jemand anders gelebt zu haben schien. Angie war verschwunden. Sie hatte ihn schon vor seinem letzten Auftrag verlassen wollen, ihm aber versprochen, seine Rückkehr abzuwarten und dann mit ihm zu reden, doch dazu war es nicht mehr gekommen. Er glaubte nicht, dass sie aufgehört hatte, ihn zu lieben – wahrscheinlich hatte sie es einfach nicht mehr ertragen, sich ständig Sorgen um ihn zu machen. Als sie noch zusammen waren, hatten sie miteinander getobt und gelacht wie Teenager, und selbst jetzt waren ihm noch Erinnerungen an sie geblieben: ihr dichtes braunes Haar, das immer nach frischen grünen Äpfeln duftete, die winzigen Schweißtropfen, die ihr auf der Oberlippe standen, wenn sie miteinander geschlafen hatten, ihre großen braunen Augen. Sie hatte gemeint, allein seine Art mit ihr zu sprechen, lasse sie erröten. Sie hatten heiraten wollen, und jetzt konnte Alex sie nicht einmal mehr anrufen, denn er hatte aufgehört zu existieren. Er hatte erfahren, sie treffe sich jetzt mit einem Büromenschen aus Boston; sie würde zurechtkommen.

Seiner Mutter hatte man erzählt, er sei tot; er hatte keine Ahnung, wann man ihm gestatten würde, ihr die Wahrheit zu sagen. Als sein Vater vor zehn Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte sie ihre Stelle gekündigt und ihr Leben umgekrempelt; ihren Job in der Werbung hatte sie gegen Blumen, Gemüseanbau und Bridgeabende zweimal die Woche eingetauscht. Im Geiste sah er sie noch immer im Spätfrühling auf der Vorderveranda sitzen. Zu ihren Füßen schlief Jess, die schlechterzogene Schäferhündin, und zuckte mit den Pfoten, während ihr die hochmütigen, übergewichtigen Siamkatzen vor der Nase herumstolzierten. Solange er nicht gelernt hatte, seine neuen Fähigkeiten zu kontrollieren und zu verbergen, war es besser, wenn niemand wusste, dass er nicht gestorben war.

Das Leben hatte Alex seltsam mitgespielt, und er hatte dabei sowohl gewonnen als auch verloren. Das dicke Handtuch in seinen Händen riss entzwei; Alex hatte den inneren Druck gar nicht bemerkt, der sich während der letzten Minuten bei ihm aufgebaut hatte.

Seine Rehabilitation, wenn man es denn so nennen wollte, war abgeschlossen. Bei einer streng geheimen Rettungsaktion im Norden Tschetscheniens war Alex Hunter vor zwei Jahren in einen Hinterhalt geraten und am Kopf getroffen worden – das Gehirntrauma hätte er eigentlich nicht überleben dürfen. Stattdessen hatte er zwei Wochen lang im Koma gelegen, und als er einen Monat später das Krankenhaus verließ, war er ein anderer Mensch gewesen. Die Kugel steckte tief im Kleinhirn, an der Verbindungsstelle von Hypothalamus und Thalamus, und sie zu entfernen, wäre vorsätzlicher Körperverletzung gleichgekommen. Doch anstatt die erwarteten irreparablen Schäden in Alex’ Hirn anzurichten, hatte die Kugel eine Vielzahl physischer und geistiger Veränderungen zur Folge gehabt, welche die Ärzte in Erstaunen versetzten.

Alex erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihm die physiologischen Vorgänge und ihre Einschätzung des Sachverhalts zu erklären versuchten, als einige seiner neuen Fähigkeiten sich bereits zeigten. Doch selbst die in seinem Krankenzimmer versammelten Spezialisten waren sich nicht einig, was die Funktionsweise des menschlichen Mittelhirns anging. Einige meinten, Menschen nutzten weniger als die Hälfte ihrer Gehirnkapazität. Die ungenutzten Bereiche kämen erst nach einer späteren evolutionären Entwicklung zum Einsatz und würden dann aktiviert, wenn Umwelt- und Zeitfaktoren dies erforderten. Andere beharrten darauf, die ungenutzten Bereiche seien evolutionäre Überbleibsel und ebenso nutzlos wie der Blinddarm oder die Mandeln.

Die Kugel hatte einen bedeutenden Teil des Blutstroms im Mittelhirn in eine Region umgelenkt, in der Informationen erfasst und verarbeitet wurden. Man teilte Alex mit, dass in diesem Bereich des Weiteren endokrine Funktionen sitzen wie die Schmerzverarbeitung und die Produktion von Adrenalin und körpereigenen Steroiden. Was Alex am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass das menschliche Mittelhirn die größten Anteile mit Regionen unbekannter Funktion aufwies. Die gesteigerte Blutzufuhr löste starke elektrische Aktivität aus; die neue Schaltzentrale wurde hochgefahren und aktivierte neue oder seit jeher brachliegende menschliche Fähigkeiten.

Alex’ Beweglichkeit, seine Schnelligkeit, seine Körperkraft und Denkfähigkeit wurden erheblich gesteigert, und wenn er sich auf eine Sache konzentrierte, hatte er den Eindruck, die Welt ringsumher verlangsamte sich, während er ihr vorauseilte. Die behandelnden Ärzte staunten darüber, dass er die Beweglichkeitstests und Kraftübungen so rasend schnell bewältigte, dass man die Kameraaufzeichnungen nur in Zeitlupe analysieren konnte. Doch nicht alle Veränderungen waren positiv. Bisweilen hatte Alex Wutanfälle, die er kaum mehr kontrollieren konnte. Bei diesen Ausbrüchen steigerten sich seine Körperkraft und seine Schnelligkeit bis zum Maximum. Bislang war es ihm gelungen, seine Aggressionen beim Training auszuleben – sollte er jedoch in Gegenwart anderer Menschen die Beherrschung verlieren, dann gnade ihnen Gott.

Nach den ersten Wutanfällen, nachdem man erkannt hatte, dass sie zu seinem körperlichen Nachrüstpaket gehörten, war er froh gewesen, dass Angie nicht mehr bei ihm war. Wenn er sie verletzt hätte, und sei es durch eine unwillkürliche Bewegung im Schlaf, hätte sich die mörderische Wut gegen ihn selbst gewendet.

Alex’ Vorgesetzte hatten die Krankenhausuntersuchungen alsbald abgebrochen und ihm erlaubt, seine Genesung in einem Privathaus an der Nordostküste Australiens fortzusetzen, das sich im Besitz des US-Militärs befand. Die Verantwortlichen wollten sicherstellen, dass Alex’ psychische Wiederherstellung ebenso rasch abgeschlossen wurde wie seine körperliche Erholung. Beruhigungsmittel blieben bei Alex wirkungslos; sein Körper kompensierte die Wirkung der Chemikalien durch die Ausschüttung zusätzlicher Stimulantien. Und dies würde entweder zu Herzversagen oder einer starken Embolie im Mittelhirn führen. Die Militärpsychologen hatten ihm allerdings ein paar maßgeschneiderte sensorische Techniken vermittelt, die es ihm erlaubten, seine Wutanfälle in den Griff zu bekommen und auf Medikamente zu verzichten. Alex lächelte still in sich hinein. Eine dieser Techniken wendete er im Moment gerade an: in der salzigen Luft, den Duft des Meeres in der Nase, der Sand unter seinen nackten Füßen – hier war er entspannt. Er hatte den Ärzten gegenüber nur eine Andeutung zu machen brauchen, und schon war er hier gelandet – seine einzige Aufgabe bestand darin, Sinneseindrücke zu speichern, die eine beruhigende Wirkung auf ihn haben würden, wenn er sie wieder abriefe. Allerdings verfügte er zusätzlich noch über ein Geheimmittel, einen Geruch, einen Duft, mit dem er selbst seine mörderischsten Tobsuchtsanfälle in den Griff bekam; wenn es so weit kam, vergegenwärtigte er sich den Geruch frischer grüner Äpfel.

Er kam zurecht. Das Militär war durch Zufall zu seinem ersten Supersoldaten gekommen, und solange er für weitere Tests zur Verfügung stand, würde man ihm weiter seinen Sold zahlen. Doch Alex Hunter glich jetzt einem eingesperrten Löwen – obwohl er sechs Stunden täglich trainierte, wurde er nicht müde. Er wollte mehr als Training und Schulungen. Er hielt sich wieder für diensttauglich und wartete sehnsüchtig auf den angekündigten Anruf von Major Jack Hammerson, seinem Vorgesetzten und Mentor. Er atmete ein letztes Mal tief durch und lächelte. «Der Urlaub ist vorbei», murmelte er.

 

Major Jack Hammerson standen die langen Dienstjahre ins Gesicht geschrieben. Tiefe Falten hatten sich in Stirn und Wangen gegraben, und wo nicht Wind und Wetter Spuren hinterlassen hatte, hatten Kampfnarben das ihre getan. Obwohl er bereits über fünfzig war, hielt er eisern am täglichen Training fest, das ihn gelehrt hatte, einen Gegner in weniger als sieben Sekunden auszuschalten, eine Fertigkeit, auf die er im Einsatz häufiger hatte zurückgreifen müssen. Hammerson war ein Kenner der altgriechischen Militärgeschichte und hatte auf Beförderungen verzichtet, um weiterhin eine aktive Rolle in seiner geliebten Spezialeinheit zu spielen und sicherzustellen, dass seine Burschen die beste Ausbildung erhielten und die gefährlichsten Soldaten auf Erden wurden. Er sorgte dafür, dass sie wie die Spartaner stets aus der Schlacht heimkehrten – entweder mit geschultertem Schild oder darauf liegend.

Hammerson hatte die Hand um die geballte Faust gelegt und sichtete die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Infos. SOCOM, das Oberkommando der Spezialeinsatzkräfte, hatte den Auftrag bekommen, einen verdeckten Rettungs- und Forschungseinsatz in der Antarktis zu leiten. Der Kontakt zu den Einsatzkräften war abgebrochen. Die Wissenschaftler und die sie begleitenden Green Berets waren einfach von der Bildfläche verschwunden. Kein Funkkontakt mehr, keine Satellitenbilder, keine verwertbaren Daten der mit Wärmesensoren ausgestatteten VELA-Satelliten – sie waren einfach verschwunden. Hammerson nahm eins der Fotos in die Hand, das vor dem Verschwinden übermittelt worden war. Er betrachtete es konzentriert. Er wusste, dass General Malcolm von SOCOM und die Leute, die er zur Einsatzsicherung abgestellt hatte, keine Anfänger waren. Sie waren zum Überleben in lebensfeindlicher Umgebung ausgebildet und mit wärmeisolierender Kleidung ausgerüstet gewesen, und selbst bei hohen Minusgraden würde es mehrere Stunden dauern, bis ihre Leichen ausgekühlt wären, sodass die VELA-Satelliten irgendetwas hätten finden müssen.

Jetzt war er an der Reihe. Aus politischen Gründen durfte das Oberkommando keine militärische Verstärkung entsenden, dennoch wollte es die Schlagkraft erhöhen. Ein drittes Einsatzteam würde es nicht geben, das stand fest. Gleichwohl mussten sie die Verteidigungs- und Angriffskapazitäten gleichermaßen stärken, und er wusste schon, wen er einsetzen würde.

Hammerson kannte Alex Hunter seit dessen Eintritt in die Truppe und hatte ihn zunächst für einen engagierten und begabten, alles in allem aber durchschnittlichen Soldaten gehalten – falls diese Einschätzung für einen Angehörigen der Spezialeinheit angemessen war. In den achtzehn Monaten seit Alex’ Unfall aber hatte er seine Meinung geändert. Bei den strategischen und taktischen Übungen konnte ihm niemand das Wasser reichen, und im Zweikampf hatte er einen Hundert-Kilo-Mann gestemmt und ihn drei Meter weit geschleudert wie eine Schaufensterpuppe. Alex’ Ärzte glaubten, dies sei ein positiver Nebeneffekt der Kugel, die in der Nähe seines endokrinen Maschinenraums steckte – Hammerson betrachtete Hunters Entwicklung als Himmelsgeschenk, das er durchaus zu schätzen wusste.

Hammerson nahm sich persönlich des Soldaten an und unterzog ihn einer Ausbildung, die ihn zur ersten Superwaffe der Spezialeinheit verwandeln sollte – Codename Arkadier. Wie Zeus, geboren in Arkadien und Vernichter der Titanen, war auch der neue Alex vom Krieg erschaffen worden – er würde schnell, energisch und mit höchster Effizienz vorgehen.

Alex war wieder bereit für schwierigste Einsätze, und die gegenwärtige Situation in der Antarktis verlangte nach einer ganz speziellen Lösung. Jack Hammerson griff zum Telefon. Es war an der Zeit, dass der Arkadier eingriff.

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vier

Am Mittwochmorgen ging Aimee ein letztes Mal ihre Präsentation durch und vergewisserte sich, dass sie die wichtigsten Informationen stichpunktartig zusammengefasst hatte und dass genug blauer Wölkchenhimmel auf den Bildern zu sehen war, um die hartgesottenen Ölinvestoren ein wenig zu bezirzen. Die Prospekte waren bereits ausgedruckt und professionell gebunden, und sie fand, dass sie richtig gut aussahen. Vor allem aber wollte sie den Sitzungsraum nach spätestens zwei Stunden wieder verlassen und Tom, wenn er am Wochenende zurückkam, gute Neuigkeiten verkünden.

Aimee hoffte, dass die bei dem Projekt erzielten Fortschritte die Kommission veranlassen würden, die Finanzierung fortzuführen. Sie atmete tief durch und strich glättend über ihr einziges blaues Powerfrauenkostüm. Dann klopfte sie an die Tür und trat ohne Aufforderung ein.

Von den sieben ihr bekannten Kommissionsmitgliedern war nur Alfred Beadman, der Firmenpräsident, erschienen. Er kam ihr entgegen und begrüßte sie freundlich. Am Tisch saßen vier Personen, denen sie noch nie begegnet war. Sie versuchte, sie einzuordnen – zwei waren noch recht jung, ein Mann und eine Frau, dann saß da noch einer, im mittleren Alter, der wohl ein Computermensch war, und einer sah aus wie vom Militär. Sie blickte wieder Alfred an, der für sie immer eine Art Vaterfigur gewesen war und dem sie fast bedingungslos vertraute. Er geleitete sie an ihren Platz, ohne ihre Hand loszulassen, und bat sie, sich zu setzen.

Kurz kam ihr der Gedanke, dass man ihr Projekt beenden werde und dass sie Tom bereits hängengelassen hatte, weil ihr Förderantrag gescheitert war und man sie bei GBR umgehend rausschmeißen würde. Aimee schloss die Augen und stellte sich vor, wie Tom nach dem Wochenende hereinspaziert käme und fröhlich verkünden würde: «Ich habe eine Überraschung für dich.» Hinter dem Rücken würde er ein kleines Mitbringsel verstecken, und sie selbst würde erwidern: «Ich habe auch eine Überraschung.»

Nach einer Weile sagte Alfred mit sanfter Stimme: «Aimee, der Kontakt zu Tom ist abgebrochen – der Kontakt zu allen Expeditionsteilnehmern.»

Es war, als sei mit einem Mal alle Luft aus dem Raum gewichen; niemand rührte sich oder sagte etwas, niemand atmete. Alle saßen nur da und starrten sie an.

«Was soll das heißen, der Kontakt ist abgebrochen?» Aimee war aufgestanden; sie wirkte verwirrt und fast wütend.

«Vielleicht ist es ja nichts Ernstes, aber es verhält sich so, wie ich sagte, Aimee. Ich glaube, wir sollten Sie jetzt mit den Fakten vertraut machen, dann können wir über die weitere Vorgehensweise beraten. Bitte setzen Sie sich, meine Liebe, dann können wir anfangen.» Da er wusste, wie unberechenbar Aimee manchmal sein konnte, schlug er einen besonders ruhigen und sanften Ton an. Er beobachtete, wie sie wieder Platz nahm, dann wandte er sich nach links und stellte den furchteinflößenden Mann vor, der wahrscheinlich auch dann ebenso martialisch gewirkt hätte, wenn seine Uniform aus der amerikanischen Flagge geschneidert gewesen wäre.

«Aimee, das ist Major Jack Hammerson. Major, würden Sie bitte, äh …»

Hammerson erwiderte ungerührt Aimees Laserblick und hielt ihm stand – diesmal schlug Aimee als Erste die Augen nieder. Der Major wartete einen Moment, dann ergriff er das Wort.

«Ich komme gleich zur Sache. Am Dienstag, Punkt acht Uhr osteuropäischer Zeit, hatten wir zum letzten Mal Funkkontakt mit unserem Einsatzteam. Das Team Hendsen hatte Anweisung, sich wegen des potenziell gefährlichen Charakters des Einsatzes und der lebensfeindlichen Umgebung alle drei Stunden zu melden.» Hammerson wandte sich Alfred zu und nickte, worauf der Präsident einen Schalter drückte. An der gegenüberliegenden Wand wurde die Verkleidung angehoben. Während das Licht ausging, kam eine weiße Wand zum Vorschein. Im nächsten Moment leuchtete das erste Foto auf. Major Hammerson fuhr fort: «Von der Landung um zehn Uhr am Montag bis Dienstag acht Uhr haben wir alle drei Stunden ein Funkpaket mit verschlüsselten Fotos und Lageberichten bekommen. Einige dieser Fotos sehen Sie hier vor sich. Ich brauche wohl nicht ausdrücklich zu betonen, dass alles, was Sie hier sehen, strengster Geheimhaltung unterliegt. Da Ihre Geheimhaltungsstufe noch nicht angepasst wurde, werden Sie vor Verlassen des Raums eine Schweigeerklärung unterschreiben müssen.»

Aimee war wie benommen; das Druckgefühl im Magen wanderte in den Brustkasten hoch, und sie legte die Hand auf die Brust, um ihr heftiges Herzklopfen zu beruhigen. Tom wurde auf einem riesigen Kontinent am Ende der Welt vermisst, wo die Temperaturen unter minus siebzig Grad Celsius sinken konnten und die Rettungsmaßnahmen nach Tagen und nicht Stunden bemessen wurden. Und dieser General Patton hatte keine andere Sorge als ihre Geheimhaltungsstufe. Tom war kein Outdoor-Freak; ihm reichte es schon, wenn er den Firmenhof überqueren musste, um ein paar Donuts zu holen. Bei der Vorstellung, dass ihr Ersatzbruder in der Patsche saß – oder schlimmer noch, in einer Eiswüste –, wurde ihr übel. Dementsprechend fiel ihre Reaktion aus.

«Geheimhaltungsstufe? Hören Sie, Major, im Moment sind mir Formalien und Ihre ganze beschissene Armee ziemlich egal. Ich will wissen, was mit Tom ist und was Sie unternehmen, um ihn da rauszuholen.» Die Arme vor der Brust verschränkt, funkelte Aimee Major Hammerson an und hoffte, er würde das Zittern ihrer Hände nicht bemerken. Alfred rollte mit den Augen und ruderte beschwichtigend mit den Armen, was aussah, als dirigiere er ein Orchester.

Der Major musterte Aimee geschlagene zwanzig Sekunden lang, bevor er ihr antwortete. «Dr. Weir, ich arbeite für die Regierung, das ist kein Geheimnis. Ich arbeite außerdem für den Militärapparat der Vereinigten Staaten, das ist ebenfalls kein Geheimnis. Aber wir haben viel mehr gemeinsam, als Ihnen klar ist.» Hammerson fixierte Aimee unverwandt. «Sie müssen wissen, Dr. Weir, dass GBR uns gehört. Wir finanzieren Ihre Forschung. Wenn uns die Ergebnisse gefallen, stocken wir Ihre Mittel auf. Wir geben Ihnen, was Sie brauchen; sogar die Cookies in Ihrer kleinen blauen Keksdose sind von uns.»

Hammerson hob die Stimme. «GBR gehört uns, Sie gehören uns, und das gilt für fünfzig ähnliche Firmen im Land und ein paar Firmen in anderen Ländern. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Dr. Weir, Sie arbeiten ebenfalls für diese beschissene Armee. Und während Sie eine Person, nämlich Dr. Hendsen, schmerzlich vermissen, bin ich verantwortlich für die dreißig tüchtigen Männer und Frauen, die dort im Eis verschollen sind und von denen einige Familie haben, verflucht nochmal.»

Aimees Mund klappte auf und wieder zu; ihr Zorn wich der Angst und der Sorge. Sie wollte etwas erwidern, wusste aber nicht, was sie sagen sollte.

«Die weltweit bekannten Gas- und Ölreserven werden auf etwa einhundertzweiundvierzig Milliarden Tonnen geschätzt und reichen beim derzeitigen Verbrauch nur noch fünfzig Jahre. Da der Ölbedarf Chinas und Indiens jedoch exponenziell ansteigt, reichen die Reserven vermutlich nur noch fünfundzwanzig Jahre», fuhr Hammerson fort. «Fakt ist, dass Ihre Weiterfinanzierung eine ausgemachte Sache ist. Unser Land ist durstig, Dr. Weir, und selbst wenn Sie ein NASA-Spaceshuttle für die nächste Runde der elektromagnetischen Messungen angefordert hätten, würden wir die Mittel vermutlich bewilligen.»

Aimee spürte, dass der Major sie vom Haken ließ; sein durchdringender Blick wurde weicher, sein Tonfall verlor an Schärfe. «Wir brauchen Ihre Hilfe, Dr. Weir, um herauszufinden, was mit Dr. Hendsen, den anderen Wissenschaftlern und dem Ärzteteam passiert ist, die mit ihm zusammen von der Bildfläche verschwunden sind.»

Aimee ließ sich auf den Stuhl sinken. Da sie nicht wollte, dass die anderen mitbekamen, wie ihr die Stimme versagte, nickte sie einfach. Hammerson schob das Formular der Schweigeerklärung ihr über den Tisch zu und fuhr fort.

«Das erste Bild, das Sie sehen, zeigt den Unglücksort. Bei dem abgestürzten Flugzeug handelt es sich um einen zweiundzwanzig Meter langen Turbofan-Jet vom Typ Challenger. Aus den Wartungsprotokollen geht hervor, dass die Maschine erst vor wenigen Monaten in Betrieb genommen und korrekt gewartet wurde. Sie gehört Mr. John Banyon, der sie auch geflogen hat und auf dem Antarktisflug von mehreren Angestellten seines Konzerns zum Zwecke der Teambildung und der Erholung begleitet wurde. Aus unbekannten Gründen ist das Flugzeug abgestürzt und Samstag gegen neunzehn Uhr sieben osteuropäischer Zeit auf dem Boden aufgeprallt.» Man sah die Luftaufnahme eines großen Lochs in der weißen Eisfläche – keine Trümmer, kein Maschinenöl, nur ein schwarzes Loch inmitten der blendenden Weiße.

«Wie Sie sehen, gibt es keinen Aufprallkrater, was darauf hindeutet, dass das Flugzeug Eis und Bodenkruste durchbrochen und einen Zugang zu einer unterirdischen Höhle geöffnet hat. Bitte das nächste Bild.» Hammerson setzte seinen nüchtern vorgebrachten Bericht fort. «Diese Aufnahme zeigt das Eindringen der Hendsen-Gruppe und das Challenger-Wrack.» Man sah eine große Gruppe von Männern und Frauen in der Mündung eines Höhlensystems. Das Loch hatte gewaltige Ausmaße – bis zum Höhlendach waren es mindestens dreißig Meter. Mehrere Mitglieder des Rettungsteams standen inmitten der Trümmer eines vollständig zerstörten Flugzeugs und hielten Kleidungsfetzen in der Hand. Im Hintergrund machte Aimee Tom aus, der seinen geliebten orangefarbenen Thermoparka trug und, wie es seine Art war, gerade irgendetwas untersuchte. Tränen traten ihr in die Augen, und sie wurde zornig, auf Tom und auf sich selbst. Tom war sie böse, weil er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte – am liebsten hätte sie ihn beim Kragen seines dämlichen orangefarbenen Parkas gepackt und ihn wie einen Schuljungen, der vom Ballspiel nicht loskommen wollte, nach Hause gezerrt. Noch wütender aber war sie auf sich selbst, weil sie ihn allein hatte losfliegen lassen; sie hätte darauf bestehen sollen, ihn zu begleiten. Unter der Tischplatte ballte sie die Faust.

Major Hammerson setzte seinen Bericht fort. «Die Trümmer waren auf engem Raum verteilt, und das leicht elliptische, nach Osten ausgerichtete Verteilungsmuster lässt darauf schließen, dass die Maschine im Winkel von fünfundachtzig Grad mit über neunhundert Stundenkilometern aufgeprallt ist. Dies ist der Grund für die starke Fragmentierung. Mit Überlebenden hat man nicht gerechnet, allerdings mit Leichen, Körperteilen oder zumindest signifikanten Blutspuren.»

Das nächste Foto wurde angezeigt; man sah, wie das Rettungsteam in die dunkle Höhle vordrang. «Außer einigen merkwürdigen Flüssigkeitsrückständen hat man jedoch nichts gefunden. Und da kommen Sie und Dr. Silex ins Spiel, Dr. Weir.»

Die Nennung ihres Namens riss Aimee aus ihren Gedanken.

«Verzeihung, wer ist Dr. Silex?», fragte sie.

Alfred ergriff mit seiner warmen, respekteinflößenden Stimme das Wort. «Bitte entschuldigen Sie, Aimee, dass wir in unserem Bestreben, Sie möglichst schnell ins Bild zu setzen, versäumt haben, Ihnen die übrigen Anwesenden vorzustellen. Nun, zu meiner Linken also sitzt Major Jack Hammerson, der für den Transport, die Sicherheit, das Medizinerteam und die Logistik verantwortlich sein wird.» Alfred wandte sich Jack Hammerson zu. «Major, ich habe Sie noch gar nicht gefragt, auf welchen Gebieten Sie Fachmann sind.»

Ohne den Präsidenten zu beachten, wandte Hammerson sich an Aimee. «Ich bin Fachmann dafür, Menschen am Leben zu erhalten und für ihre Sicherheit zu sorgen. Meine Freunde nennen mich Jack.» Hammerson streckte lächelnd die Hand über den Tisch. «Ich freue mich, Sie kennenzulernen, und hoffe, wir werden gut zusammenarbeiten.»

Eigentlich war Aimee entschlossen gewesen, ihn nicht zu mögen, doch seine energische und zugleich gelassene Art war irgendwie entwaffnend. Sie mochte ihn, so wie man einen großen Kampfhund mag, der sich stets von seiner freundlichen Seite zeigt, aber keinen Moment zögern würde, einem den Hals durchzubeißen, wenn ihm etwas nicht passte.

«Freut mich, Sie kennenzulernen, Jack, und nennen Sie mich bitte Aimee.» Aimee wandte sich dem nächsten Mann am Tisch zu und registrierte, dass er auf ihre Brüste starrte.

Dr. Adrian Silex leckte sich die bereits feuchten Lippen und schluckte. «Sehr angenehm. Ich bin Dr. Adrian Silex. Ich bin ein wenig enttäuscht, dass Sie noch nicht von mir gehört haben, Dr. Weir. Tom Hendsen und ich kennen uns von früher.»

Adrian Silex war ein hochgewachsener Mann um die vierzig. Sein hervorstechendes Merkmal war sein eiförmiger Schädel mit der kreisförmigen Glatze; feine Härchen rahmten seine Ohren ein. Es sah tatsächlich so aus, als wäre seine Glatze schneller gewachsen als das Haar. Sein Kopf ruckte auf befremdliche Weise ständig hin und her, weshalb er an einen großen Vogel erinnerte. Er sieht fast aus wie ein Geier, dachte Aimee.

Jetzt fiel es ihr wieder ein; Tom hatte mal einen Dr. «Sinex» erwähnt, in Anspielung auf ein Nasenspray, weil Tom die Nase über diesen Typen gerümpft hatte. Tom und «Sinex» hatten des Öfteren um Veröffentlichungen in geologischen oder petrobiologischen Fachzeitschriften gewetteifert. Was Tom an Silex störte, war der Umstand, dass er ein schlechter Verlierer war. Wenn Tom eine Veröffentlichung unterbrachte und er nicht, verlegte Silex sich darauf, Toms wissenschaftliche Arbeit zu diskreditieren. Er entdeckte zwar kaum jemals Schwachstellen in der Vorgehensweise oder Fehler in den Ergebnissen, brachte es aber dennoch fertig, die Akzeptanz der Veröffentlichung zu schmälern, und brachte Tom somit um den Lohn jahrelanger Arbeit.

«Ich stehe der PBRI vor, der Petrobiological Research Incorporated. Ich, das heißt, wir entwickeln gerade einen modernen elektromagnetischen Scanner für geologische Untersuchungen, AEM genannt, und das Militär zeigt großes Interesse daran. Ich freue mich schon darauf, mit Ihnen in dieser … äh, Angelegenheit zusammenzuarbeiten.»

Aimee senkte den Blick auf die vor ihr ausgebreiteten Notizen; sie atmete durch die zusammengepressten Lippen aus, und es schauderte sie ein wenig.

Alfred ergriff gewandt das Wort. «Das Projekt ist von allergrößter Wichtigkeit, Aimee. Wir brauchen Wissenschaftler, die sich sowohl mit Chemie als auch mit Geologie und Petrobiologie auskennen. Aufgrund Ihrer eigenen Forschungen auf dem Gebiet der organisch-petrochemischen Wechselwirkungen und Dr. Silex’ Erfahrung mit stratigraphischen bildgebenden Verfahren sind Sie beide bestens qualifiziert.»

Alfred schenkte Aimee einen mitfühlenden Blick und fuhr fort: «In der Antarktis treten in der Ionosphäre starke magnetische Störungen auf, deshalb ist nicht auszuschließen, dass der Funkverkehr derzeit gestört ist. Oder sie sind so weit in die Höhle vorgedrungen, dass das Signal abgeschirmt wird. Unser Ziel ist es natürlich, sie lebendig zurückzuholen, Aimee, aber solange wir nicht wissen, was genau passiert ist, bleibt es bei der wissenschaftlichen Zielsetzung der Expedition. Daher wird sie von Adrian geleitet werden, dem erfahrensten Wissenschaftler.»

«Mir ist mehr an Zusammenarbeit als an Befehlsausübung gelegen», sagte Silex. «Aber nun sollten sich vielleicht erst einmal die anderen vorstellen.»

Die junge Frau neben ihm lächelte breit. Sie hatte ein einnehmendes Gesicht, und Aimee fand sie auf Anhieb sympathisch. «Hi, Dr. Weir, ich bin Monica Jennings. Freut mich, Sie kennenzulernen.» Mit dem zurückgebundenen Haar und den kleinen Sommersprossen glich sie den anderen gesunden jungen Frauen, die Aimee auf irgendeinem Campus hatte Volleyball spielen oder über die Laufbahn sprinten sehen. Aimee erwiderte ihr Lächeln und bat sie, sie einfach beim Vornamen zu nennen. «Meine Aufgabe ist es», fuhr Monica fort, «Sie in die Höhle runterzubringen und den Höhlenstier bei den Hörnern zu packen. Ich bin Spezialistin auf zwei Gebieten; erstens habe ich jeden Berg bestiegen, den zu besteigen sich lohnt, und zweitens weiß ich so ziemlich alles über die Fortbewegung im Eis. Aber meine Liebe gilt den Höhlen – ich bin Höhlenforscherin.»

Der neben Monica sitzende Mann, der aussah wie ein Student, musterte sie bewundernd. «Cool», sagte er. Es war nicht zu übersehen, dass er der Bergsteigerin bereits verfallen war. Er räusperte sich nervös und stellte sich vor. «Ich bin Matt Kerns, Professor für Archäologie an der Harvard University. Mein Spezialgebiet sind alte Zivilisationen und die Altsprachenforschung, und, äh …» Matt blickte in die Runde. «Und wie ich bei der Bergung eines Flugzeuges in der Antarktis behilflich sein kann, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht.»