ZUM MITTELPUNKT DER ERDE - Greig Beck - E-Book

ZUM MITTELPUNKT DER ERDE E-Book

Greig Beck

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Beschreibung

Tief unter der Erde, jenseits der tiefsten bekannten Höhlen, liegt eine verborgene Welt. Eine alte Frau in einem russischen Gefängnis hütet dieses Geheimnis … festgehalten in einem über fünfhundert Jahre alten Manuskript, welches den Weg zum sagenumwobenen Mittelpunkt der Erde weist. Sie weiß, dass diese Welt real ist. Denn vor fünfzig Jahren war sie selbst mit einem Team dorthin aufgebrochen – und kehrte als Einzige zurück. Nun führt der Höhlenforscher Mike Monroe ein Team in die tiefste bekannte Höhle der ehemaligen Sowjetunion. Er folgt den Hinweisen einer verrückten alten Frau und den Worten einer mysteriösen Aufzeichnung, welche die Basis für Jules Vernes weltberühmte Abenteuergeschichte bildeten. Doch die grauenhaften Dinge, die dort unten auf ihn warten, drohen nicht nur seinen Verstand zu kosten, sondern auch sein Verständnis der Evolution und der gesamten Welt auf den Kopf zu stellen … Bestseller-Autor Greig Beck, der mit seiner "Primordia"-Trilogie bereits Arthur Conan Doyles "Vergessene Welt" in unsere Zeit transportierte, entführt den Leser nun in die mystische unterirdische Welt eines Jules Verne – voller Wunder, Gefahren und atemloser Abenteuer.

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Zum Mittelpunkt der Erde

Greig Beck

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: TO THE CENTER OF THE EARTH. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2020. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

»Die Wirklichkeit beschert uns Tatsachen, die so romantisch sind, dass unsere Vorstellungskraft diesen nicht das Geringste hinzuzufügen vermag.«

Jules Verne

»Hiermit verkünde ich: Die Erde ist hohl. Sie ist tief in ihrem Inneren bewohnt und es ist möglich, diese Region über ein Höhlensystem zu erreichen, welches der Welt bis dato unbekannt ist. Erfüllt von der Überzeugung, meine Theorie beweisen zu können, weihe ich mit dem heutigen Tage mein Leben dieser Wahrheit.«

Impressum

überarbeitete Ausgabe

Originaltitel: TO THE CENTER OF THE EARTH

Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Markus Müller

Lektorat: Manfred Enderle

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-581-1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Zum Mittelpunkt der Erde
Impressum
Episode 01
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Episode 02
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Episode 03
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Episode 04
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Episode 05
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Über den Autor

Episode 01

»Nur im Schmerz liegt der Schlüssel zu echter Erkenntnis.«

Prolog

Woronja-Höhle, West-Kaukasus, ehemalige Sowjetunion. 1973.

Tief unten im Höhlenlabyrinth, Kilometer unter der Oberfläche, gelangte Lana zu einer Gabelung. Beide Wege konnten nach oben abzweigen. Vielleicht führte auch nur einer davon in die Freiheit … oder keiner.

»Bitte helft mir«, wimmerte sie.

Sie waren hinter ihr her, daran bestand kein Zweifel. Als sie von Katja getrennt worden war, hatte sie einen kurzen Moment gehofft, die Verfolger sollten sich, wenn möglich, an die Fersen ihrer Schwester heften und nicht an ihre eigenen. Nun erkannte Lana, dass dieser schlimme Gedanke unweigerlich wie ein schlechtes Karma auf sie zurückfallen würde.

Lana wählte den linken Gang und rannte los. Ihr Leuchtstein spendete schwaches Licht. In der Eile hatte sie keinen besseren auflesen können. Schon jetzt schimmerte er in einem trüben Blau und in einigen Stunden würde seine Lumineszenz vollständig erloschen sein.

Was dann?

Die junge Frau verlangsamte den Schritt, da der Stollen sowohl in der Höhe als auch in der Breite enger wurde. Lana beschlich das Gefühl, sie stecke in einem riesigen Schlund, der sie jeden Moment in einem Bissen verschlingen konnte. Sie schluchzte und drang weiter vor. Bald hing die Decke so weit herab, dass sie auf Händen und Knien kriechen musste. Als sie ihr Schienbein an einer scharfen Kante aufschürfte, merkte sie es nicht einmal und krabbelte einfach weiter. Der Leuchtstein erhellte einen Radius von wenigen Schritten.

Einige Minuten später geschah genau das, worum sie gebetet hatte, es möge ihr erspart bleiben. Die Höhle endete in einer Sackgasse, in der die Decke – vielleicht schon vor Jahrtausenden – eingesackt war. Lana presste die Hände gegen die Steinwand und tastete sie vergeblich nach einer Lücke oder lockerem Geröll ab. Dann drehte sie sich um und setzte sich, den Rücken an den kalten Fels gelehnt, hin.

Finde ich den Weg zurück? Vielleicht. Schaffe ich das auch im Dunkeln, wenn der Leuchtstein den Geist aufgegeben hat?

Wahrscheinlich nicht – so viel war ihr klar. Vor allem, da die Wesen auf ihrer Fährte, im Gegensatz zu ihr in dieser schrecklichen Schwärze sehen konnten.

Lanas Augen brannten und ihr Herz hämmerte. Ihre Erschöpfung erzeugte Benommenheit. Sie kämpfte sich einige Meter den Weg zurück und schichtete loses Geröll zu einer improvisierten Mauer im Zugang der Sackgasse auf. Nach zehn Minuten deponierte sie den letzten Stein auf der Krone des Schutzwalls. Nun kauerte sie sich im Zwielicht auf den Boden, stopfte den Leuchtstein in ihre Tasche, um dessen Schein zu dämmen, und schloss die Augen. Bitte, lieber Gott, gib mir ein kleines Weilchen zur Erholung, damit ich wieder vernünftig denken kann. Ihr Atem und ihr Herzrhythmus verflachten, während ihr Bewusstsein in die Vergangenheit driftete.

Das Vorhandensein einer geheimen Passage zum Mittelpunkt der Erde galt im Allgemeinen als Legende. Und so hatte keiner ihrer Freunde Georgi Glauben geschenkt, als er eines Tages davon fabulierte, diese gefunden zu haben; und von einem Land der Wunder an deren Ende berichtete. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass es sich bei diesem Mythos um die reine Wahrheit handelte. Die Wesen, denen sie dort begegneten, waren furchtbarer als alles, was sie und ihre Freunde für denkbar gehalten hatten.

Das Geräusch eines Steins, der aus der behelfsmäßigen Mauer purzelte, versetzte Lana blitzartig in volle Alarmbereitschaft. Sie kramte den Leuchtstein aus der Tasche und hielt ihn hoch.

Hinter der frisch entstandenen Lücke in der Absperrung regte sich etwas. Die junge Frau konnte es riechen, bevor sie es sah. Der stechende Gestank glich einer Mischung aus altem Schweiß, Fäkalien und verdorbenem Fleisch.

Von drüben erklangen Schnüffellaute und leises Grunzen. Dann erschien auf der anderen Seite des Lochs ein Auge … ein reinweißes Auge, ohne Iris und Pupille. Sie hatten die junge Frau gefunden.

Lana schrie, als die lockere Steinwand auf sie einstürzte.

Kapitel 1

Woronja-Höhle, West-Kaukasus, ehemalige Sowjetunion. 1972.

Die fünf Höhlenforscher schlürften Kaffee, den sie auf einem kleinen tragbaren Kerosin-Ofen gekocht hatten. Mehr als einhundert Stunden, knapp vier Tage also, hatte es gedauert, bis sie diesen Ort, der 1905 Meter unter der Erdoberfläche lag, erreicht hatten. Noch heute würden sie bis auf 2197 Meter vorstoßen, bis zum tiefsten Punkt der weltweit tiefsten Höhle.

»Allmählich wird es wärmer«, meinte Dimitri Burkin und starrte in die Finsternis.

Katja Bebikow nickte. Ihr fiel auf, wie getrieben Dimitri und alle anderen wirkten. Der Aufenthalt in einer Umgebung ewiger Nacht hatte ihren Schlaf massiv gestört. Und die knapp bemessenen Ruhezeiten, die ihnen vergönnt waren, waren nicht besonders regenerativ. Durchschnittlich achtzehn Stunden pro Tag hatten sie damit zugebracht, nach unten zu klettern, zu rutschten oder sich abzuseilen. Gefühlt waren sie mindestens seit vier Monaten in dieser Höhle.

»Zum Glück sind wir nicht unter der Sahara oder über einem Geothermalgebiet«, sagte Katja. »In manchen Höhlen steigt die Temperatur alle dreißig Meter um ein Grad. Inzwischen wäre es auf diesem Tiefenniveau dort heiß genug, um uns bei lebendigem Leib gar zu kochen.«

»Aber warum nimmt hier die Temperatur zu?«, fragte Alexi Domnin, das jüngste Mitglied der Gruppe. Im normalen Leben arbeitete er als Mathematiker. »Vielleicht doch wegen geothermaler Aktivität?«

»Dieses Höhlensystem ist alt, sehr alt sogar. Es existiert seit Milliarden von Jahren. Geothermik als Ursache ist also vernachlässigbar.«

Georgi Azarov grinste. »Vielleicht sind wir knapp oberhalb der Hölle.«

Katjas Schwester, Lana, seufzte. »Irgendwie ist das Nachdenken über die Hölle hier unten wesentlich grusliger als daheim.« Sie hob das Kinn. »Ihr wisst schon, dass die Woronja-Höhle auch als Teufelshöhle bezeichnet wird?«

»Ja, klar. Außerdem gibt es Teufelsberge und alle möglichen anderen Plätze, an denen angeblich eine Pforte zur Hölle verborgen ist. Weltweit müssen es Tausende sein. Der Teufel ist von dem ganzen Verkehr vermutlich ziemlich genervt, den die Leute verursachen, die ständig raus- und reinrennen.« Georgi schlürfte einen Schluck Kaffee. »Heute kommen wir jedoch in den Himmel. Dort wird es so wundervoll sein, wie die antiken Maya prophezeit haben.«

»Oder wir stoßen auf ein gut ausgebautes Kellergewölbe«, scherzte Katja, wischte ihren Becher aus und verstaute diesen zusammen mit dem Kerosinofen in ihrem Gepäck. Dann zog sie ihr Notizbuch heraus und fertigte einen Eintrag an.

»Bis jetzt haben sich die Aufzeichnungen von Arkadi Saknussoff als verlässlich erwiesen«, schärfte Georgi den anderen ein. »Und deshalb werden wir auch den Durchgang entdecken, den er beschrieben hat.«

Katja liebte die Art und Weise, wie Georgis Augen fasziniert strahlten, sobald er von jenem Forscher, Gelehrten und Alchimisten des fünfzehnten Jahrhunderts sprach. Ihr Freund hatte sich etwas vom Enthusiasmus eines Kinds bewahrt und in solchen Momenten brannte dieser wie ein Feuer in ihm. Ohne Resultat hatte er über einen Zeitraum von mehreren Jahren versucht, Saknussoffs schriftlichen Nachlass zu ergattern. Dabei hatte er die Hälfte seines Vermögens ausgegeben; und unter Garantie würde er morgen wieder das Gleiche tun.

Vor einigen Monaten lachte ihm endlich das Glück. Auf einer Auktion in Moskau kam ein einzigartiges Saknussoff-Manuskript unter den Hammer. Der Anbieter dachte, es handele sich dabei um einen Roman. Georgi dagegen hatte bei der Durchsicht des Versteigerungsobjekts sofort erfasst, dass er die akribische Beschreibung einer Route zum Inneren der Erde vor sich hatte. Letztendlich blätterte er zu dessen Kauf eine Summe auf den Tisch, für die er ein kleines Königreich hätte erwerben können. Anfänglich schüttelten alle die Köpfe, als Georgi behauptete, in dem Buch stünde die Wahrheit. Doch nun hatte sie ihre Expedition eines Besseren belehrt.

»Saknussoff schrieb, dass der Zutritt unter einem See liegt.« Georgi erhob sich. »Wir bekommen es also vermutlich mit einer Art Einlaufschacht zu tun.«

Katja nickte. Ein Einlaufschacht bedeutet im Zusammenhang mit einem Höhlensystem einen gefluteten Stollen. Meistens entstanden diese unterhalb statischer Senken, in denen sich im Laufe der Jahre Wasser gesammelt hatte, das nach unten durchsickerte. Manche davon waren Verbindungen zu unterirdischen Flüssen oder Seen. Und in seltenen Fällen wurden sie unregelmäßig von Wasser durchspült, weshalb sie außerhalb dieser Periode trockenen Fußes passierbar waren. Die genaue Ursache dieses Phänomens konnte bis heute niemand erklären.

»Also sollten wir uns auf einen Tauchgang vorbereiten«, fuhr Georgi fort. »Wir werden die Ersten sein, die dieses Wagnis eingehen.«

Katja schüttelte den Kopf. »Die Zweiten, um genau zu sein.«

Georgi runzelte die Stirn. »Saknussoff ist hier unten nie getaucht. Vor fünfhundert Jahren gab es keine Ausrüstung dafür. Hm?«

Sie kicherte. »Du hast recht. Wir werden bestimmt etwas ganz Besonderes finden.«

Georgi klopfte den Staub von seiner Kleidung. »Okay, Kinder der ewigen Nacht. Weiter geht’s.«

Beim Aufstehen stöhnte Katja. Obwohl sie eine geübte Höhlenkletterin war, fehlte ihr nach so langer Zeit in vollständiger Schwärze das Sonnenlicht. Ihnen blühten mindestens zwanzig Stunden Schufterei, in denen sie sich durch Gänge und Tunnel kämpfen mussten, die immer undurchdringlicher wurden, bevor sie nach einem Nadelöhr in eine Felskammer vom Format einer Kathedrale mündeten. Nachlässigkeit konnten sie sich zu keiner Sekunde leisten, egal wie erschöpft sie sein mochten. Manche der Klippen hier unten fielen über hundert Meter senkrecht ab. Und selbst ein gebrochenes Bein bedeutete so fern von der Erdoberfläche möglicherweise ein Todesurteil, zumindest falls man sich eine Infektion einfing. Es würde ein zähes, qualvolles Sterben sein.

Während der Trupp durch einen niedrigen Stollen robbte, schob jeder Einzelne von ihnen seine Sauerstoffflasche vor sich her. Die Rucksäcke hatten sie mit einem Seil an der Taille befestigt und zogen sie nach.

Als es wieder genug Bewegungsfreiheit gab, rappelte Georgi sich auf und lief ohne seine Ausrüstung zu einem Tümpel, der rund fünfzehn Meter durchmaß. Das Wasser war so still, dass es wie eine Glasscheibe anmutete. »Seit Jahrhunderten ist kein Mensch hier gewesen.« Er ging in die Hocke und fischte ein Thermometer aus seiner Hüfttasche. Nun tauchte er es in die glasklare Flüssigkeit. Einige Sekunden später verkündete er: »Siebenundzwanzig Grad. Hat jemand Lust auf ein warmes Bad?«

»Die Wanne ist recht mickrig. Passen wir da überhaupt alle rein?«, fragte Lana und stemmte die Hände in die Hüften.

Georgi grinste. »Scheint so. Ich wette, unter der Wasseroberfläche gibt es Felsenriffe, die größere Hohlräume verdecken. Die Riffe dürften etwa in zwei Metern Tiefe anfangen. Wenn wir die Schmutzpartikel auf ihrer Oberseite nicht aufwirbeln, müsste das Wasser sauber bleiben.«

Katja öffnete ihren Rucksack. »Wir sollten trotzdem die Taucheranzüge verwenden. Für den Fall, dass es hier Thermokline mit scharfen Übergängen von warmen zu eiskalten Temperaturen gibt. Wenn du in einen davon reinschwimmst, kriegst du einen Schock und deine Muskeln verkrampfen. Also streift euch die Anzüge über, Leute.«

Es dauerte zehn Minuten, bis alle die Schwimmanzüge trugen und die Atemgeräte überprüft hatten. Sie hatten keine Schwimmflossen dabei, da sie nicht damit rechneten, längere Strecken schwimmen zu müssen. Also hatten sie darauf verzichtet, um ihr Gepäck so leicht und kompakt wie möglich zu halten.

Katja stellte ihren Rucksack – wie alle anderen auch – an eine der Höhlenwände. Bevor sie sich auszog und ihre Kleidung darauf ablegte, holte sie eine Handlampe aus dem Gepäck, mit deren Hilfe sie ihre Tauchmaske und den Schnorchel inspizierte. Als sie umgezogen war, vergewisserte sie sich, dass die wasserdichten Verschlüsse ihres Rucksacks ordnungsgemäß saßen.

Während sie sich in Geduld übte, bis die anderen dieselbe Tätigkeit abschlossen, fror sie an den Füßen und ihre Waden prickelten. Sie zitterte und es schien ihr, als würde die Luft um sie herum neblig. Spielte ihr die Wahrnehmung aufgrund ihrer Erschöpfung einen Streich oder geschah dies tatsächlich? Oder …

Scheiße.

»Erdbeben!«, schrie sie.

Dieses eine Wort auf einer Höhlenexpedition ausgerufen, stellte das Äquivalent zu »Hai!« beim Meerestauchen dar.

Alle starrten sie entgeistert an, in Erwartung dessen, was als Nächstes geschehen würde.

Von der Decke rieselte Staub. Die Vibration des Untergrunds löste ein kitzliges Gefühl in ihren Beinen aus. Es gab nichts, das sie hätten tun können. Keinen Ort, an den sie flüchten konnten. Also beteten sie, während sie froren.

Der erste ernstzunehmende Stoß dröhnte wie anrollender Donner, als er durch die Höhle hallte. Dann ertönte ein weiteres Geräusch von unten her. Ein Geräusch wie das Splittern von Eis. Zunächst war es aus der Tiefe zu hören, dann überall um sie herum.

Die Felsschichten in diesem Gebiet hatten ein phänomenales Alter und sollten deshalb stabil sein. Aber das hieß nicht, dass hier keine Erdbeben auftraten. Oberirdisch mochten solche Stöße kaum mehr Wirkung, als ein laues Lüftchen hervorrufen. Hier unten, in fast zweitausend Metern Tiefe, konnten sie eine Katastrophe auslösen.

Abrupt fiel Stille auf die Höhle und die Bewegung des Gesteins stoppte.

»War’s das?«, fragte Dimitri flüsternd und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die Decke wandern.

Alexi schnaubte. »Vielleicht haben die Militärs einen unterirdischen Atombombentest durchgeführt.«

»Was für ein grässlicher Gedanke«, flüsterte Lana. »Sollten wir uns nicht besser auf den Heimweg machen?«

»Selbst, falls wir uns sofort auf die Socken machen«, antwortete Georgi, »müssten wir mindestens eine Woche abstrampeln, um nach draußen zu kommen. Da wir nun schon hier sind, sollten wir die Gelegenheit beim Schopf packen.«

Links von der Gruppe trat erneut eine heftige Eruption auf, gefolgt von einer zweiten – diesmal von rechts, die genug Wucht aufwies, um alle von den Beinen zu fegen. Staub und Schutt regneten herab. Dann barsten größere Felsbrocken aus dem Höhlendach und knallten an verschiedenen Stellen auf den Boden. Das Tosen klang, als rieben riesiger Mühlsteine aneinander.

»Höhleneinbruch!«, rief Katja inmitten des Infernos. Sie kauerte sich zusammen und hielt die Hände schützend über den Kopf. Es gab keine Deckung vor den niederprasselnden Steinen und sollte die gesamte Decke herunterfallen, wären sie endgültig geliefert. In diesem Fall würden sie zerquetscht werden, wie Insekten unter einer Schuhsohle. Vielleicht hätten sie dann eine Zukunft als Studienobjekte von Paläontologen künftiger Jahrhunderte, die sie irgendwann ausgruben.

Nach einem dritten Stoß kehrte wieder Ruhe ein. Keiner stand auf, einige pressten die Augenlider fest zusammen. Katja neigte den Kopf in den Nacken. Die Luft lag unter einem dichten, finsteren Staubschleier. Gelegentlich stürzten weiterhin einzelne Geröllbrocken nach unten. Sie spuckte den Staub in ihrem Mund aus und leuchtete mit ihrer Lampe nach oben, um einen Blick auf die Decke zu erhaschen. »Alle okay?« Kriechend begab sie sich auf die Suche nach ihrer Schwester.

»Ich bin in Ordnung?«, meldete Dimitri.

»Ich habe gerade Lana gefunden. Uns geht es gut«, sagte Katja.

»Alexi?«, rief Georgi.

Einige Meter weit weg hustete und stöhnte jemand. »Ich bin leicht ramponiert. Als Erstes muss ich den ganzen Schutt, der auf mir liegt, wegräumen.«

»Ich helfe dir«, verkündete Katja und krabbelte zu ihm. Dort stemmte sie das Gestein von seinen Beinen.

Alexi richtete den Rücken gerade auf und tastete die von der Verschüttung betroffenen Gliedmaßen mit zusammengebissenen Zähnen gründlich ab. »Es tut weh, aber eine Fraktur blieb mir wohl erspart. Einen Hochsprungwettbewerb muss ich mir trotzdem für ein Weilchen verkneifen.«

»Ihm geht’s gut«, bestätigte Katja.

»Hey, ich bin verwundet. Zwar nur leicht, trotzdem …«

»Stell dich nicht wie ein Kleinkind an«, konterte Katja, stand auf, reichte ihm die Hand und zog ihn hoch.

Alexi hüpfte zuerst auf einem Bein, dann belastete er behutsam das zweite. »Geht schon.«

»Wo ist eigentlich der Tümpel hin verschwunden?«, wollte Georgi wissen.

Die anderen gesellten sich zu ihm an den Fleck, an dem vorher das Ufer gewesen war. Von dem Wasser war nichts mehr zu sehen.

»Heilige Scheiße. Er ist komplett versickert«, diagnostizierte Dimitri.

Georgi stakste behutsam, seine Handlampe hin und her schwenkend, in das leere Bassin.

Vom Tümpelrand aus leuchtete Katja ihn an. »Wir sollten losgehen. Wir hatten Glück. Bei einem weiteren Erdstoß werden wir vielleicht hier drin gefangen.«

»Das sind wir vielleicht längst«, antwortete Georgi. »Über uns liegen zwei Kilometer Höhlensystem und wer weiß, wie viel davon eingesackt ist. Da wir eh hier sind, sollten wir das Beste aus der Situation machen.«

Dimitri stapfte ebenfalls ins leere Becken. Vor einem Felssims hockend, rief er: »Hey, ich habe die Stelle gefunden, durch die das Wasser abgelaufen ist.« Vorgebeugt fuhr er fort: »Dort unten ist eine neue Höhle.«

Der ganze Trupp versammelte sich rings um ihn. Der steinige Überhang bot genug Raum für alle.

Georgi leuchtete in das dunkle Loch zu ihren Füßen und streckte einen Arm mit flacher Hand darüber. »Man kann es spüren. Die Wärme steigt von unten hoch.«

Auch Lana lenkte einen Lichtstrahl in die gähnende Öffnung. »Schaut mal. Sind das dort unten Buchstaben?«

Alle richteten ihre Lampen auf denselben Punkt wie die junge Frau.

»Glaube ich nicht«, widersprach Georgi. »Wer sollte sie auch dorthin gekritzelt haben?« An Alexi gewandt, forderte er: »Mach einen Klatschtest.«

An die Kante des Lochs gekauert, legte der Angesprochene demonstrativ einen Finger auf die Lippen. Als alle schwiegen, klatschte er einmal laut und wartete ab. Die Geschwindigkeit von Schallwellen beträgt 343,2 Meter pro Sekunde. Zusätzlich muss man den Rückweg des Tons mit einberechnen. Nachdem das Echo erscholl, sagte Alexi: »Sechs Sekunden. Das sind rund 900 Meter bis zu dem jungfräulichen Land unter uns.« Er grinste.

»Großartig!«, jubilierte Georgi. »Wir kommen also richtig weit runter. Meine Damen und Herren, das heißt, wir werden einen neuen Tiefenweltrekord aufstellen.«

»Wir werden berühmt«, jubelte Alexi.

»Wartet, wollt ihr wirklich da rein?«, fragte Katja. »Direkt nach einem Erdbeben?«

»Ja, verdammt. Schließlich sind wir deswegen hier. Wer begleitet mich?«

»Ich bin dabei.« Dimitri nickte.

Die Übrigen stimmten ebenfalls zu. So hatte Katja trotz ihrer Bedenken bezüglich der Stabilität der Felsenkathedrale keine andere Wahl, als sich ihnen anzuschließen, zumindest wenn sie sich bis zu ihrer Rückkehr nicht allein hier oben langweilen wollte. »Also gut, packen wir’s an.«

»Auf ins Vergnügen«, meinte Georgi, übernahm die Führung und betrat den abschüssigen Tunnel.

***

Lana und Katja rannten wie von Furien gehetzt in entgegengesetzte Richtungen auf und davon.

Katja stolperte und schlitterte bäuchlings zwei Meter über den Boden. Dabei riss die Haut von ihren nackten Knien. Der Hauptteil ihrer Kleidung hing längst in Fetzen. Sie beachtete die kleine Blessur gar nicht, denn sie war harmlos im Vergleich zu den Narben, die sie sich in den letzten Wochen zugezogen hatte. Oder steckte sie schon seit Monaten hier unten? Auf diese Frage wusste sie keine Antwort.

Sie raffte sich auf und sprintete panisch weiter. Tränen verschleierten ihr die Sicht.

Georgi war tot. Ebenso Dimitri und Alexi. Lana war irgendwo in der Dunkelheit verschollen.

Der phosphoreszierende Stein in ihrer Faust schimmerte bläulich und wies ihr den Weg durch die stygische Finsternis. Falls sie auf eine geräumigere Höhle stieß, wäre sie vielleicht in Sicherheit. Dort hinein würden sie ihr nicht nachpirschen. Hoffentlich.

Eine Stunde später stieß Katja auf die ersten Markierungen, die sie auf der Reise nach unten hinterlassen hatten. Als sie später den Durchgang zur Höhle mit dem versickerten Tümpel betrat, weinte sie vor Freude darüber, den Ausweg aus diesem Irrgarten gefunden zu haben.

Eine dicke Staubschicht bedeckte die Ausrüstung, die sie am Ufer des Tümpels aufgestapelt hatten. Gierig schraubte sie eine Wasserflasche auf und zerriss die Verpackungen von Nährstoffriegeln. Als von unten ein Geräusch zu ihr drang, erstarrte sie.

Vielleicht ist es Lana? Ihre Schwester war das einzige andere Mitglied der Expedition, das überlebt hatte. Was zur Hölle sind diese Kreaturen? Ihr Verstand wollte die Antwort herausschreien, doch etwas in Katja weigerte sich, die Realität zu akzeptieren.

Sie schluckte. Sollte sie hier auf ihre Schwester warten oder ihr mit frischen Vorräten ausgerüstet zu Hilfe eilen? Unschlüssigkeit und Frustration trieben ihr abermals Tränen in die Augen, sodass ihre Umgebung verschwamm. Mit dem Unterarm wischte sie die Tränen weg. Aus dem Loch am Grund der Mulde ertönte ein weiterer Laut – diesmal ein Grunzen. Danach ein leises Winseln.

Es tut mir so leid, Lana …

Katja seufzte und floh, so schnell die Beine sie trugen. Es würde Tage dauern, um ganz nach oben zu gelangen. Gleichgültig, wie müde sie sein mochte, an Schlaf durfte sie dabei keinen Gedanken verschwenden. Sie würde so lange jegliche Rast streichen, bis das Antlitz der Sonne wieder über ihr erstrahlte.

Kapitel 2

Huntsville Grand Ballroom, Alabama, USA. Heute.

Jane Baxter klatschte höflich und rutschte mit dem Hinterteil auf der Sitzfläche ihres Stuhls herum, als wolle sie sich aus dem geliehenen Kleid winden, das sie trug. Sie war dreißig Jahre alt, von schlanker Figur, und ihre durchtrainierte Muskulatur deutete auf regelmäßige Stippvisiten in einem Fitnessstudio hin. Ein schickes Kleid schien bei ihr fehl am Platz zu sein und sie fühlte sich ausgesprochen unwohl darin.

Dennoch sah sie heiß aus und zog die Bewunderung aller Männer wie ein Magnet an. Jane und ihre »Grotte« – so wurden kleinere Untergruppierungen der Nationalen Speläologischen Gesellschaft bezeichnet – saßen im Rahmen des jährlichen Winterballs rund um einen reservierten Tisch im weitläufigen Huntsville Ballroom in Alabama.

Jane schirmte ihr Glas mit der Hand ab, als Andy dazu ansetzte, ihr Champagner nachzuschenken. Dann lehnte sie sich zurück. Über ihrem Kopf reflektierte eine behäbig rotierende Diskokugel bunte Strahlen in den Saal, während der letzte Redner auf der Bühne seinen Vortrag ausklingen ließ und Vorbereitungen für eine besondere Ankündigung getroffen wurden.

Ihre Freunde und sie stammten aus Charlotte in North Carolina und sie alle teilten eine Passion für das Höhlenklettern, aufgrund derer sie eine Gemeinschaft bildeten und an der heutigen Veranstaltung teilnahmen. Von Montag bis Freitag gingen die meisten von ihnen zwischen acht und fünf Uhr normalen Jobs nach. Die Wochenenden und ihren Urlaub widmeten sie dagegen dem Abstieg in tiefstmögliche Höhlen.

Von Beruf war Jane High-School-Lehrerin. Links neben ihr saß Angela, die Inhaberin eines Sportartikelladens, deren Wangen vom vielen lauten Lachen und vom reichlichen Weingenuss bereits rosa glänzten. Etwas mit ihr zu unternehmen, versprach stets eine Menge Spaß und sie war für Jane etwas Ähnliches wie eine kleine Schwester.

Dann kam der athletisch gebaute Michael »Mike« Monroe, mit achtunddreißig Jahren der Älteste aus ihrer Riege. Die hohen Wangenknochen hatte er unumstritten von seiner russischen Mutter geerbt. Er leitete eine florierende Securityfirma. Einen seiner Mundwinkel verzog er häufig zu einem ironischen Lächeln. Mike war der ungewählte Dreh- und Angelpunkt ihrer Grotte. Allein wegen seiner starken Persönlichkeit, seinem Intellekt und seinem Sinn für Humor hörten die Leute auf das, was er sagte.

Den Sitz neben ihm füllte David Sholtzen aus, der heute seine Frau dabei hatte. Er war Arzt und sie Steuerberaterin. Nach Feierabend standen bei ihnen endlose Streitereien auf dem Programm. Oft wirkten sie dabei wie zwei Liebesvögel, von denen der eine danach strebte, den anderen mit seinem Gesang zu übertönen.

Ronald »Ronnie« Schwartz musterte gerade fasziniert das Display seines Mobiltelefons.

Andy, der heute von seiner neusten Flamme eskortiert wurde, vervollständigte das Team. Obwohl erst dreiundzwanzig Jahre alt, war er ein versierter Kletterer, der Erwerbsarbeit als eine Unterbrechung der wirklich wichtigen Angelegenheiten des Lebens betrachtete. In eine reiche Familie hineingeboren, musste er sich keine ernsten Gedanken um eine berufliche Karriere machen. Obwohl er betont hatte, seine Freundin sei einundzwanzig, erweckte sie den Anschein, deutlich jünger zu sein. Alles, was Andy tat oder sagte, begeisterte sie und seine bloße Präsenz entfachte Glücksgefühle in ihr.

Die aktuelle Veranstaltung fand Anklang bei gut vierhundert Besuchern, die zwischen den Reden eifrig über neue Höhlen und frische Kletterrekorde diskutierten. Als der Moderator die Vergabe des Förderpreises ankündigte, sprang Ronnie aufgeregt auf.

»Wir schaffen das«, feuerte Andy sich selbst und seine Mitstreiter an.

Mike hob eine Augenbraue.

Eines der am besten situierten Mitglieder der Gesellschaft hatte dieses Jahr eine Summe in Höhe von einer Million Dollar für den tiefsten Höhlenabstieg ausgelobt. Scherzhaft wurde der Wettstreit die Hollow Earth Challenge getauft, in Anspielung auf alte Mythen, denen zufolge das Zentrum der Erde einen riesigen, bewohnbaren Hohlraum beheimatete – oder alternativ die real existierende Hölle. Zu beiden sollte angeblich via weitreichender Höhlen ein Zugang bestehen.

Mike, der gewöhnlich gut informiert war, hatte den Plan zu dieser Ausschreibung lange vor der großen Mehrheit spitzbekommen und vorsorglich Informationen und Einreisegenehmigungen für die ganze Truppe zu seinem Wunschziel eingeholt. Nie zuvor hatte ihn eine Idee derart elektrisiert, denn er glaubte tatsächlich an die Hohlwelttheorie. Stundenlang konnte er über dieses Konzept philosophieren und darüber dozieren, was uns die seismischen Wellen, die den Planeten durchlaufen, darüber offenbaren.

Ursprünglich hatte Jane gedacht, dieser Spleen sei lediglich ein Ausdruck seiner Vorliebe für schrägen Humor. Da er unbeirrbar damit fortfuhr, jeden greifbaren Geologen mit seinen Theorien zu nerven, kapierte sie schließlich, dass er es ernst damit meinte und nicht nur seiner Fantasie freien Lauf ließ. Und er wollte ihre Wahrheit beweisen.

Mike hatte seine Hausaufgaben pflichtbewusst erledigt und den Standort, der weltweit tiefsten Höhle recherchiert. Es handelte sich dabei um die Woronja-Höhle in der ehemaligen Sowjetunion. Seit Jahren war niemand in ihre Nähe gelangt, da sie die zuständigen Behörden vor Jahren aus unbekannten Gründen für die Öffentlichkeit strikt gesperrt hatten.

Michael war überzeugt zu wissen, weshalb diese Verordnung verhängt worden war. Er hatte bereits Kontakte vor Ort etabliert und seine Fühler nach einem Führer ausgestreckt und er war bereit dazu, am Tag nach der öffentlichen Bekanntgabe der Ausschreibung unverzüglich durchzustarten. Seine Freunde lauschten gespannt wie Drahtfedern der Rede auf der Bühne. Andy hielt im Stehen beide Hände mit gekreuzten Fingern hoch. Seine Freundin kicherte und umschlang seinen Arm.

Der Preis allein war schwindelerregend attraktiv. Obwohl eventuell nebenbei Schürfrechte eingeheimst werden konnten, war er mehr als bloß die Kirsche auf der Torte. Also würden gewichtige Konkurrenten ebenfalls heiße Eisen im Feuer haben.

Der Moderator sprach es aus: »Eine Million Dollar!«

Das animierte sogar David dazu, das Gezänk mit seiner Gattin zwischenzeitlich zu pausieren. »Ja«, rief er, und sie küsste ihn auf die Wange, womit sie bewies, dass ihre Streiterei kaum mehr als ein Teil ihres üblichen Abendrituals war.

Ein Mann ging an ihren Tisch, beugte sich vor und legte Angela eine Hand auf die Schulter.

Angela lächelte gepresst. »Hallo Harry.«

Jane seufzte. Harry Wenton konnte mit Fug und Recht als ein Star unter den Kletterern der englischen Höhlenforschergemeinde bezeichnet werden. Er gehörte zu einer märchenhaft reichen Sippe aus Bristol. Obwohl er ein paar Meriten als Kletterer vorweisen konnte, galt seine hauptsächliche Motivation dem Flachlegen jeder alleinstehenden Frau – und manchmal auch nicht Alleinstehender – die in seine Reichweite geriet. Den damit verbundenen Ruf als notorischer Don Juan hatte er sich im Zuge dessen hart erarbeitet. Was fachliche Aspekte anging, genoss er unter seinen Kollegen bestenfalls ein durchwachsenes Ansehen; dank seines regen Gebrauchs von Sprengmitteln. Zwar hatte er zahlreiche neue Höhlen aufgestöbert, aber auch etliche davon mit seinen Holzhammermethoden zum Einsturz gebracht. Er wusste, wie man Dynamit verwendet, er war jedoch nicht besonders gut darin.

Angela und er hatten eine mehrwöchige Affäre miteinander gehabt, bevor er sie für das nächste junge Ding, das seine Aufmerksamkeit erregte, ohne viel Federlesens fallen ließ. Harry hatte sich in der Vergangenheit um ein Date mit Jane bemüht, aber sie zeigte ihm die kalte Schulter, die er verdiente. Der Abgewiesene hatte gleichmütig auf ihren Korb reagiert und sich unverdrossen einem anderen Objekt seiner Begierde zugewandt.

»Rechnet ihr euch Chancen aus, Michael?«, fragte Harry.

Mike zuckte mit den Achseln. »Eher nicht. Gerade ist die falsche Jahreszeit für eine Expedition in eine gute Höhlengegend. In den Appalachen schneit es aktuell.«

Grinsend sagte Harry: »Dem stimme ich zu.« Er nippte an seinem Champagner. »Zumindest was die USA anbelangt. Um eine Hoffnung auf den Sieg zu haben, muss man mindestens anderthalb Kilometer runter.« Er hüstelte. »Wohin würde ich dazu gehen? Hm, da wären das Reseau Jean Bernard System oder die Gouffre Mirolda Höhlen in Frankreich. Beide sind fast 1600 Meter tief.« Er überlegte kurz, ehe er fortfuhr. »Dann hätten wir außerdem den österreichischen Lamprechtsofen in den Leoganger Steinbergen mit 1631 Metern und die Illyuzia-Meshonnogo-Snezhnaya in Georgien mit 1752 Metern.«

Harry tat so, als wolle er den Tisch verlassen, doch plötzlich verharrte er. »Ach ja, Georgien. Dort soll es eine Höhle mit knapp 2200 Metern geben.« Er reckte das Kinn vor. »Ihr wisst nicht zufällig, wovon ich rede?«

Ohne sein Pokergesicht aufzugeben, schüttelte Mike bedächtig den Kopf.

»Was soll’s. Wie auch immer, meine Damen und Herren, möge das beste Team gewinnen.« Harry zwinkerte ihnen zu, drückte Angelas Schulter und schlenderte zum nächsten Tisch davon.

Angela streckte ihm die Zunge raus. »Was für ein Schleimer!«

»Glaubst du, er weiß über die Woronja-Höhle Bescheid?«, fragte David.

»Über ihre Existenz: ja. Über unseren Plan: wohl kaum«, antwortete Mike. »Aber selbst wenn, wen kümmert’s? Soll er ruhig bis dorthin kommen. Ich kenne jemanden, der einen Durchschlupf gefunden hat, der tiefer ins Innere der Erde führt.«

Andy furchte die Stirn. »Mehr als 2197 Meter? Das ist der absolut tiefste Punkt … oder etwa nicht?«

»Nur der bis heute erforschte.« Mike lächelte optimistisch.

»Es wäre fantastisch, falls das stimmt. Sollten wir Erfolg haben, wäre allein Wentons Gesichtsausdruck Gold wert. Wann machen wir uns auf den Weg?«, fragte Jane.

»Morgen treffen wir uns zwecks Projektplanung. Ich werde euch etwas Unglaubliches zeigen, das uns die eine Million Dollar mit Gewissheit ins Portemonnaie spült.«

»Ich freue mich schon darauf.« Andy rieb sich die Hände. Seine Freundin umarmte ihn überschwänglich und hing danach wie eine Klette an ihm.

Auch die anderen platzten fast vor lauter Vorfreude.

»Also pünktlich um 9:00 Uhr bei Danny’s zum Frühstück«, verlautbarte Jane zum Abschied die Devise für ihr weiteres Vorgehen.

***

Zum vereinbarten Termin in besagtem örtlichen Café trafen Jane, David und Ronnie fast gleichzeitig ein. An einem abgeschiedenen Ecktisch saßen bereits Mike und Andy. Der Jüngste unter den Höhlenforschern hatte einen Teller mit einer enormen Menge an Rührei und gebratenem Speck vor sich, den er zusammen mit dicken Toastbrotscheiben in seinen Mund schaufelte, als sei er gerade von einer einsamen Insel gerettet worden.

»Hast wohl letzte Nacht einiges an Kalorien verbrannt?«, scherzte Jane.

Er winkte ab. »Diesbezüglich konnte ich bisher nie klagen …«

Jane stupste ihn mit dem Ellbogen an. »Kein Wunder, bei deinem hübschen Gesicht.«

Während sie Kaffee bestellten, läutete die Türglocke und Angela betrat das Lokal. Sie rutschten ein Stück zusammen und schufen so Platz für sie.

»Einhundertsechsundsechzigtausendsechshundertsechsundsechzig Dollar und sechsundsechzig Cent«, nuschelte Andy mit vollen Backen. »So viel bleibt für jeden von uns, falls wir gewinnen.«

»Nett«, kommentierte David und orderte einen Donut zu seinem Kaffee. »Damit könnte ich die Renovierung von meinem Haus bezahlen.«

»Ich hätte gern ein neues Auto«, sagte Ronnie.

»Wow, ihr Jungs habt das Geld schon ausgegeben«, stichelte Jane. »Wobei … ein neues Auto, ein schicker Urlaub und schöne Klamotten wären echt toll.«

»Mike, was steht auf deiner Wunschliste?«, erkundigte sich Angela.

Er hob eine Augenbraue. »Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Das Geld ist für mich sekundär. Ein wirkliches Abenteuer hat im Vergleich dazu einen wesentlich gravierenderen Wert für mich.«

»Für mich auch«, pflichtete Angela bei.

»Das gilt auch für mich.« Andy kicherte.

»Um wen handelt es sich eigentlich bei dieser geheimnisvollen Person, die Kenntnis von einem unbekannten Bereich der Woronja-Höhle hat? Werden wir ihn oder sie bald treffen?« Jane stütze ihr Kinn auf dem Handballen ab.

»Klar. Dazu brauchen wir aber eine Zeitmaschine, die uns ins Jahr 1485 bringt.« Michael lächelte.

Andy senkte die Gabel. »Oje, dann ist wohl Essig mit der Million.« Er schnaubte und aß weiter.

Mike griff in seine Sakkotasche und fingerte einige zusammengefaltete Blätter heraus. Er breitete sie auf der Tischfläche aus. Es handelte sich um die Ausdrucke von Zeitungsartikeln, die er im Internet aufgelesen hatte. Sie waren zerknittert und abgegriffen, so als hätte er sie schon vor einer ganzen Weile angefertigt.

»Das ist Kyrillisch«, wusste David.

»Zum Glück hatte einer von uns eine russische Mutter, die ihn darin unterrichtet hat, wie man es liest und spricht.« Mike ergriff eine der Seiten. »Das hier ist ein Artikel aus dem Oktober 1973, der eine Frau porträtiert, die ganz unten war. Leider wird ihr Name nicht erwähnt. Sie gehörte zu einem Fünf-Mann-Team; und niemand außer ihr hat überlebt.«

»1973«, staunte David und pfiff. »Es heißt doch immer, dass die frühesten Expeditionen dort erst Mitte der Achtziger stattfanden. Bis heute gilt die Woronja-Höhle als eine der tückischsten Touren überhaupt. Die Klippen, Engpässe und Wasserläufe sind selbst mit modernster Ausrüstung ein harter Brocken. Was ist damals passiert? Ein Höhleneinbruch?«

»Die Expedition schlug eine Route ein, die ein russischer Alchimist namens Arkadi Saknussoff im Mittelalter entdeckt hat. Sie stiegen bis auf 2197 Meter ab. Die Frau in dem Artikel hat berichtet, sie hätten mithilfe von Saknussoffs Notizen eine geheime Pforte aufgespürt, über die sie weiter vorgedrungen seien als je ein Mensch zuvor …« Mike stockte kurz. »… bis hin zum Mittelpunkt der Erde.«

Über dem Tisch lastete mehrere Sekunden Stille, bis Ronnie laut loslachte. »Schönen ersten April euch allen.« Er hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Diese Frau erscheint mir wirklich seriös. Aber im Ernst, ich sollte nicht über sie lachen. Durch den Verlust ihrer Kollegen hat sie vermutlich eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten.«

»Da steckt mehr dahinter«, widersprach Mike mit regloser Miene. »Sie hat erzählt, dass es in der Welt dort unten Licht und seltsame Lebensformen gibt, sowie ein unterirdisches Meer.«

Jane lehnte sich zurück. »Du verarschst uns doch. Das soll deine zuverlässige Quelle sein?«

Mike nickte zögerlich und sah ihr unverblümt in die Augen.

»Wo treiben wir diese Dame auf?«, fragte Angela.

Er zuckte mit der Achsel. »Na ja, damit fangen unsere Probleme an. Sie ist, oder war zumindest, eine Zeit lang in einer Nervenheilanstalt. Ein kleines russisches Vögelchen hat mir jedoch gezwitschert, dass sie inzwischen in einer einsamen Gegend irgendwo im Süden des Landes lebt.«

»In einer Nervenheilanstalt«, wiederholte Jane. »Eines muss ich dir lassen, du hast wirklich ein Händchen für ungewöhnliche Kontaktpersonen, die man ohne viel Aufwand aufgabeln kann. Und in welcher Einrichtung genau ist sie einquartiert?«

Mike legte den Kopf schräg. »Das weiß ich leider bloß ungefähr. Sie hält sich irgendwo in Krasnodar auf. Möglicherweise. Das ist eine alte Stadt mit rund einer Million Einwohnern, die über einem Ballungsraum mit einer Fläche von fünfundvierzig Quadratkilometern verstreut leben.«

»Fünfundvierzig Quadratkilometer? Das ist ungefähr so groß wie San Francisco«, rechnete David vor. »Keine leichte Sache.« Er prostete Michael mit seiner Kaffeetasse zu.

»Dort unten, unter der Erdkruste und unter dem Erdmantel gibt es eine andere Welt. Davon bin ich überzeugt«, beschwor Mike seine Freunde. »Wir können sie finden.«

»Seit wann kaust du auf dieser Idee herum?«, fragte Jane.

»Seit drei Jahren. Sobald ihr dem Projekt zustimmt, muss ich noch die reservierten Flugtickets und Hotels bestätigen und alles ist paletti.« Mike grinste.

»Klingt nach einem verrückten Abenteuer. Ich bin dabei.« Andy schob den Teller, den er inzwischen geleert hatte, einige Zentimeter vor.

»Was haben wir schon zu verlieren?«, überlegte David.

»Nicht mehr als eine Million«, konstatierte Angela. »Ich bin auch an Bord.«

Als alle ihre Bereitschaft zur Beteiligung an der Expedition erklärt hatten, verschränkte Jane die Arme. »Und was nun?«

»Nun?«, echote Mike. »Nun begeben wir uns auf die Reise zu einer kleinen Vorstadt am Rand von Krasnodar und ziehen Erkundigungen nach einer alten Frau ein, die Gerüchten nach den Mittelpunkt der Erde besucht hat.« Er zwinkerte und beugte den Oberkörper vor. »Es heißt, der Anblick habe sie in den Wahnsinn getrieben.«

»Hört sich nach deiner Traumpartnerin an«, neckte ihn Jane.

Kapitel 3

Krasnodar, Georgien, einhundertfünfzig Kilometer nordöstlich des Schwarzen Meeres. Heute.

Die Anreise zu ihrem ersten Anlaufpunkt hatte vierzig Stunden verschlungen. Danach waren sie zwei Tage zwischen Behörden, Straßencafés und Marktplätzen hin und her gependelt. Mehr als ausdrucksloses Gaffen oder Kopfschütteln hatten sie bei den befragten Leuten nicht geerntet.

»Ich kann mich da an ein kleines Vögelchen erinnern, das uns etwas von einer alten Frau in Krasnodar gezwitschert hat.« Andy kicherte. »Es war wohl kein besonders begabter Sänger.«

»Sehr witzig«, meinte Mike pikiert. »Sie muss hier sein. Ich habe es im Gefühl. Wir werden sie aufspüren. Wir haben es bisher bloß an den falschen Orten probiert.«

Kurz bevor die Diskussion über den Sinn oder Unsinn ihres Unternehmens zu einem ernsthaften Streit eskalierte, begegneten sie in einer verrauchten Kneipe einem uralten Mann mit trüben Augen, der ihnen weiterhelfen konnte.

»Ein wirklich trauriger Fall«, erzählte dieser. »Ich kannte sie schon als kleines Mädchen. Sie war klug und stark.« Seine Mundwinkel sackten herab. »Als sie aus diesem Loch zurückkehrte, war es damit vorbei.« Er vollführte mit dem ausgestreckten rechten Zeigefinger eine Kreisbewegung seitlich an seiner Schläfe.

Jane warf Mike einen Ich-hab’s-dir-doch-gesagt-Blick zu, den er geflissentlich ignorierte.

»Lebt sie hier in der Gegend?«, fragte Mike.

»Sie hat ihr gesamtes Leben hier gewohnt. Niemand hat sie seit Langem mehr gesehen. Man hat sie in eine Irrenanstalt gesperrt.«

»In ein Sanatorium? Ist sie noch dort?«, hakte Mike nach.

»Vermutlich ja.« Er schwieg und starrte demonstrativ in eine andere Richtung.

Mike winkte die Bedienung herbei und bestellte dem Alten einen neuen Drink. Das Wechselgeld, fast einhundert Lari, schob er ihrem Informanten zu. »Wo kann ich sie auftreiben?«

Der Mann starrte das Geld kurz an, dann schob er es zurück. »Wenn Sie sie treffen, wird sie das Geld dringender brauchen als ich. Geben sie es ihr. Am besten schauen Sie im Archiv mit den Krankenhausakten nach.« Er gab ihnen die Adresse, prostete ihnen zu, kippte sich den Wodka auf Ex in die Kehle und verschwand im dichten Qualm der Kneipe irgendwohin.

***

Die Gruppe parkte den gemieteten Kleinbus vor dem Tor eines kalten, grauen Gebäudekomplexes in einem desolaten Zustand. Der Putz bröckelte von den Mauern; und die Hecken auf dem Gelände waren seit Monaten nicht mehr gestutzt worden. Der Boden des Areals bestand aus blankem, steif gefrorenem Erdreich. Einen Garten oder Wiesen gab es nicht. Die Kulisse mutete in ihrer Gesamtheit überaus deprimierend an. Das Hauptgebäude vor ihnen verlangte von oben bis unten nach Reparaturarbeiten – auf dem Dach fehlten Ziegel, die Läden vieler Fenster waren nicht mehr existent, ihre Scheiben teils gesprungen und mit Zeitungspapier zugeklebt, die Stufen zur Eingangstür waren abgewetzt.

»Für die geistige Gesundheit der Bevölkerung wird hierzulande verdammt viel investiert«, spottete David und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag zu.

»Werden wir erwartet?«, fragte Angela.

Mike grunzte. »Irgendwie schon. Ich habe uns als wissenschaftliche Reisegruppe aus dem Fachbereich Psychiatrie angekündigt, die über die Symptome von Traumata, die ihren Ursprung in Höhlen genommen haben, forscht. Sie haben unser Kommen freudig akzeptiert, sobald ich ihnen eine satte Spende versprochen hatte.«

»Gibt es in Georgien ein Gesetz gegen das falsche Führen von Amtstiteln?«, grübelte David.

»Du hast einen Doktor in Medizin. Also war meine Aussage zumindest teilweise wahr«, verteidigte sich Mike.

»Du hast gesagt, dass außer dieser Frau sämtliche Mitglieder der Expedition ihr Leben verloren. Richtig?«, vergewisserte sich Ronnie.

»Ja, genau. Und in dem Zeitungsartikel hieß es, sie seien einem Höhleneinbruch zum Opfer gefallen. Wenn dort nichts Außergewöhnliches passiert ist, wieso haben dann die Behörden keine Rettungsmission arrangiert und stattdessen das Betreten des Areals für Unbefugte verboten?«, gab Mike zu bedenken. »Außerdem zirkulierten Gerüchte, die Frau sei ein knappes Jahr unter der Erde gewesen.«

»Ja klar«, meinte Angela. »Weil man auch ohne Weiteres in einer zwei Kilometer tiefen Höhle so lange überlebt, in der es zum Futtern nichts außer blinde Spinnen und Teichschlamm gibt.«

»Das mit dem einen Jahr ist blanker Unfug«, pflichtete ihr Andy bei.

»Außer du erschließt dir andere Nahrungsquellen. Laut dieser Frau existieren diese rund um den Mittelpunkt der Erde«, widersprach ihm Mike.

»Wenn du mich fragst, hat man die Höhlen geschlossen, weil es einfach zu waghalsig ist, darin herumzuspazieren«, meinte Jane. »Normalerweise ist der Fels in dieser Region stabil. Falls trotzdem ein Risiko für Einbrüche vorliegt, sollten wir darüber vor dem Abstieg Bescheid wissen, Mike.«

»Dieses Risiko besteht in jeder Höhle. Das macht unsere Tätigkeit doch so spannend.« Michaels Augen funkelten.

»Ich würde darauf wetten, dass die Sowjets die Höhle als Endlager für radioaktive Abfälle verwendet haben«, spekulierte David. »Das wäre nicht ungewöhnlich. Höhlen werden oft dazu benutzt. So spart man die Kosten, extra einen Tiefbunker anzulegen.«

»Und wir brechen dann ungeniert in das Lager ein …« Jane schnaubte.

Michael legte ihr den Arm um die Schulter. »Unfug, um mit den Worten unseres jungen Freunds zu sprechen. Komm schon, Jane jetzt werden wir erst einmal einer alten Lady unsere Aufwartung machen, die uns etwas über ein finsteres Loch in der Erde verrät. Und eins dürfen wir dabei nie vergessen: Wir alle sind Ärzte.«

Über den mit Schlaglöchern gesprenkelten Zufahrtsweg marschierte Mike auf die Eingangstreppe zu. Bevor er die Stufen erklomm, verkündete er: »Ein Teil von uns bleibt draußen. Wir möchten die alte Dame nicht erschrecken. Sie muss inzwischen mehr als siebzig Jahre alt sein. Jane und David kommen mit mir.«

Nachdem Mike seinen Mantel geglättet und sich geräuspert hatte, ging er zur Tür und klopfte. Das Echo hallte im Inneren des Gebäudes wider und es folgte Stille. Gerade als er den Arm hob, um erneut zu klopfen, verharrte er und lauschte. Hinter der Tür regte sich etwas.

»Da kto tam?«, fragte eine weibliche Stimme in einem entschiedenen Tonfall.

»Ah, Zdravstvuyte, gospozha Babikova. Eto Frensis Doktir Monroe. My razgovarivali po telefonu«, entgegnete Mike.

»Ja, ja, ich erinnere mich. Sie sind die amerikanischen Psychiater«, sagte die Frau mit starkem Akzent. »Einen Moment, bitte.«

Die Tür schwang nach innen und ein intensiver Duft nach Kohl und Zwiebeln, gemischt mit Reinigungsmitteln, strömte heraus, bevor eine resolut wirkende Frau auf der Bildfläche erschien.

Mike deutete eine Verbeugung an. »Schwester Olga?«

Sie nickte und musterte Michael, Jane und David der Reihe nach.

»Ich bin Doktor Monroe vom Alabama Center of Health Excellence«, stellte sich Mike vor. Er deutete erst auf Jane, dann auf David. »Das hier sind Doktor Baxter und Doktor Sholtzen.« Dann griff er in die Manteltasche und zog einen Umschlag heraus. »Wir wissen ihre Unterstützung für unser Projekt sehr zu schätzen.«

Als er ihr den Umschlag ausgehändigt hatte, prüfte Olga den Inhalt kritisch, bevor sie ihn unter ihre Schwesterntracht stopfte. »Nur Sie drei. Die anderen bleiben hier. Unsere Patienten sind sehr anfällig für Stress.« Sie rückte zur Seite und winkte die Delegation herein.

Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, schnitt Jane eine Grimasse. In der Luft hing ein widerlicher Gestank. Dieses Krankenhaus erweckte eher den Eindruck einer Verwahranstalt als einer Einrichtung, in der das Personal Sorge um die Patienten trug.