Durst ist schlimmer als Heimweh - Lucy Fricke - E-Book

Durst ist schlimmer als Heimweh E-Book

Lucy Fricke

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Beschreibung

«Ihre Jugend war hier zu Ende, und Judith wäre jetzt gerne allein gewesen. Denn schon das Wort ‹Gruppenabend› hatte Panik in ihr ausgelöst. Judith verabscheute Gruppen, Gruppenspiele, Gruppensport, das klang für sie nach dem Befund einer tödlichen Krankheit: Es tut mir leid, aber Sie haben Gruppe. Wie konnte ausgerechnet sie in einer betreuten Wohngemeinschaft landen? Ohne Drogen, ohne Waffen, dafür an jeder Ecke etwas, das sie Hilfe nannten.» Als Hoffnungslose unter Hoffnungslosen taumelt Judith durch Therapien, Aushilfsjobs und durch die erste Verliebtheit. Sensibel, drastisch und mit lakonischem Witz erzählt Lucy Fricke von Verlustschmerz und Aufruhr beim Abschied von einer desaströsen Jugend. «Realisten wie Clemens Meyer und Lucy Fricke reißen mit dem Schaufelbagger tiefe Löcher in den Stadtasphalt und sind einfach nur begeisterungswürdig. Große Literatur zum Anschnallen.» (WDR) «Lucy Fricke hat aus den denkbar schlechtesten Voraussetzungen für ein amüsantes Buch etwas seltsam Wohltuendes gemacht: ein düsteres Panorama der Hoffnung wider Wissen.» (Welt) «Mit ihrem grandiosen Debütroman befreit Lucy Fricke dringliche Themen aus der Pathosfalle. Ein sensibles und respektvolles Psychogramm, das mit harter und präziser Sprache das Nötige sagt und in der Auslassung das Unaussprechliche fühlbar macht.» (Kulturnews)

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Seitenzahl: 187

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Lucy Fricke

Durst ist schlimmer als Heimweh

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Ihre Jugend war hier zu Ende, und Judith wäre jetzt gerne allein gewesen. Denn schon das Wort ‹Gruppenabend› hatte Panik in ihr ausgelöst. Judith verabscheute Gruppen, Gruppenspiele, Gruppensport, das klang für sie nach dem Befund einer tödlichen Krankheit: Es tut mir leid, aber Sie haben Gruppe. Wie konnte ausgerechnet sie in einer betreuten Wohngemeinschaft landen? Ohne Drogen, ohne Waffen, dafür an jeder Ecke etwas, das sie Hilfe nannten.»

 

Als Hoffnungslose unter Hoffnungslosen taumelt Judith durch Therapien, Aushilfsjobs und durch die erste Verliebtheit. Sensibel, drastisch und mit lakonischem Witz erzählt Lucy Fricke von Verlustschmerz und Aufruhr beim Abschied von einer desaströsen Jugend.

 

«Realisten wie Clemens Meyer und Lucy Fricke reißen mit dem Schaufelbagger tiefe Löcher in den Stadtasphalt und sind einfach nur begeisterungswürdig. Große Literatur zum Anschnallen.» (WDR)

 

«Lucy Fricke hat aus den denkbar schlechtesten Voraussetzungen für ein amüsantes Buch etwas seltsam Wohltuendes gemacht: ein düsteres Panorama der Hoffnung wider Wissen.» (Welt)

 

Über Lucy Fricke

Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, gewann 2005 den Berliner «Open Mike». 2007 erschien ihr Debüt «Durst ist schlimmer als Heimweh», drei Jahre später der Roman «Ich habe Freunde mitgebracht». Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Stipendiatin an der Universität Iowa/USA und in der Villa Kamogawa/Kyoto des Goethe-Instituts Japan.

2014 erschien bei Rowohlt ihr neuer Roman «Takeshis Haut». Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.

 

Inhaltsübersicht

Wir sind von ...Erster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelZweiter Teil14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. KapitelDritter Teil40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel

Wir sind von vornherein verdächtig,

nicht ganz bei Trost zu sein.

Kante

Erster Teil

1

Das nächste Mal könnte sie «Ulysses» lesen, zumindest mal damit anfangen. Oder ein Kartenspiel mitbringen; Skat, Doppelkopf, Black Jack. Und die anderen dazu einladen, oder besser noch Quartett, das konnte jeder. Sie würde eine Thermoskanne mit Espresso mitbringen und belegte Brote für alle und eine Zeitung, von der sie dann den Sportteil verleihen würde, sie könnte Stricken lernen oder Kalender für Weihnachten basteln, sie könnte Socken stopfen oder sich die Fingernägel lackieren, wenn sie das denn täte, vielleicht könnte sie anderen Frauen die Fingernägel lackieren und bunte Bildchen draufkleben, sie könnte Postkarten mit ihrer neuen Adresse beschreiben, sie könnte Kreuzworträtsel lösen und einen Picknickkorb gewinnen.

Drei Stunden hatte sie gewartet, trotz Termin, trotz gezogener Nummer und vollständiger Unterlagen. Sie hatte sich vier Becher Kaffee aus dem Automaten geholt, und dennoch war es nicht leicht gewesen, wach zu bleiben. Sie saß auf dem Gang, starrte auf den Fußboden, Linoleum, grau meliert, mit braunen Scheuerleisten versehen, und der Mann ihr gegenüber sagte: «Drei Stunden sind noch gar nichts, junges Fräulein.» Dann brüllte jemand ihren Namen über den Flur, und Judith erhob sich, mit dem Ordner unterm Arm.

Er sagte nicht «Guten Tag» oder eine andere mögliche Höflichkeit, er sagte: «Nummer?!» Sie guckte bloß und antworte: «143», doch das reichte nicht, er wollte sie sehen, die 143. Judith hatte allerdings die erste halbe Stunde damit verbracht, ihre Wartenummer in ungefähr fünfzig kleinste Teile zu zerreißen, die sie so lange in der feuchten Hand gehalten hatte, bis sie sich zu einer winzigen Kugel formen ließen. Sie hatte sich die Nummer gemerkt, Zeit war schließlich genug gewesen.

Es gab Vorhaltungen, Anweisungen, Ermahnungen, und Judith hatte in ihrem Leben gelernt, wann es das Klügste war, unaufhörlich mit dem Kopf zu nicken und sich zu entschuldigen, als hätte sie beim heimlichen Rauchen aus Versehen das ganze Haus niedergebrannt. Als sie fast schon weinte, zumindest hatte er das denken sollen, ließ er sie endlich eintreten und bot ihr den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch an, auf den sie sich setzte, die Beine anzog und im Schoß die Hände faltete. Er schloss die Tür, ließ sich mühsam auf seinem Platz nieder und klappte einen Hefter auf, in dem sich ein einzelnes Blatt befand: Stammdaten. Nachdem er mehr als drei Minuten auf die sechs ausgefüllten Felder (Name, Geschlecht, Adresse, Geburtsdatum, Schulbildung, Kontoverbindung) gestarrt hatte, begann er Fragen zu stellen: in welche Richtung sie gehen wolle (sozial, was mit Menschen), was sie für Hobbys habe (Sport, lesen, Freunde treffen, zwei Drittel davon gelogen), was ihr Lieblingsfach gewesen sei (Religion), ihre besonderen Fähigkeiten (Einfühlungsvermögen), welche Fremdsprachen sie spreche (Englisch und Latein, davon Latein fließend), ob sie gerne mit Menschen zusammen sei (klar), handwerklich geschickt (und wie) und gut im Umgang mit Zahlen (kommt noch). Er blätterte in den Unterlagen, die Judith mitgebracht hatte, beugte sich über seinen Fragebogen, übertrug Nummern, machte Kreuze, zog Linien. Aufgedunsen, dünne Haut, letzte fettige Haare zum Seitenscheitel gekämmt, die Augen verschwanden fast in seinem Gesicht, und am Handgelenk ein Gliederarmband aus Silber, das in einer Speckfalte klemmte; er hatte die Physiognomie eines gekränkten Triebtäters, aber das musste ja nichts heißen.

2

Man hatte sie vorgeladen, vor über drei Monaten. Ein Gespräch unter vier Augen hatte man mit ihr führen wollen, der Brief war per Einschreiben gekommen, sie hatte ihn abgefangen, vor der Mutter versteckt, und war hingegangen, hatte den Raum des Direktors betreten, und alle hatten dagesessen, zu Boden geschaut, und ganz still war es plötzlich gewesen. Sie hatte freundlich genickt, die Sekretärin hatte ihr den Stuhl am Tischende zugewiesen, der Direktor ihr gegenüber, dazwischen zehn Köpfe, einen hatte sie nicht einmal gekannt, muss wohl der Sportlehrer sein, hatte sie gedacht. Alle hatten Kaffee getrunken und niemand ihr einen angeboten, das Rascheln von Papieren, Klicken von Kugelschreibern, die herausgedrückten Minen wie anderswo gezückte Messer, Räuspern hier und da und schließlich der Direktor höchstpersönlich. Sie hatte sich nicht erinnern können, ihn jemals außerhalb der Aula reden gehört zu haben, hatte sich gewundert über seine leise Stimme, die von Konsequenzen gesprochen hatte, von Zukunft beziehungsweise keiner Zukunft und ob es ihr denn klar sei, dass sie mit diesen Noten niemals versetzt werden könne. Die Disziplin sei das Problem, darauf hatte er Wert gelegt, «Ihre Disziplinlosigkeit ist beispiellos, Fräulein Sita», hatte er gesagt und von Anwesenheitspflicht gesprochen und schließlich leise, beinah tonlos, wie ein letztes Ausatmen: «179 Stunden, Fräulein Sita, 179 Stunden in vier Monaten.» Ein fast respektvolles Schweigen hatte sich in dem Raum ausgebreitet, und er hatte nachgesetzt: «Ab sofort müssen wir für jede versäumte Stunde und für jede Verspätung ein ärztliches Attest verlangen. Sollten Sie dieser Auflage nicht nachkommen, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als Sie der Schule zu verweisen. Was das bedeutet, muss ich Ihnen nicht erklären.» Judith hatte bloß genickt. «Na dann», hatte er gesagt, war aufgestanden, und die Sekretärin hatte sie mit einem Ausdruck der Genugtuung zur Tür gebracht.

Danach hatte Judith jede Stunde besucht, mit Stift, Block und Büchern in der Tasche, sogar den Sportlehrer hatte sie kennengelernt, hatte sich bei ihm vorgestellt und war sogleich am Reck hängen geblieben, Aufschwung war noch nie ihre Stärke gewesen, er hatte nichts gesagt, bloß Notizen gemacht. Pech gehabt, hatte sie gedacht, sie konnte vieles, weit werfen, schnell laufen, vom Springen gar nicht zu reden, ihre Mutter bewahrte die Ehrenurkunden der Bundesjugendspiele in einem speziellen Ordner auf, und für den zweiten Platz im Crosslaufen hatte sie sogar mal ein Fahrrad bekommen, das war acht Jahre her, aber egal, laufen konnte sie.

3

«Werden Sie Fußpflegerin, Fräulein Sita.» Er grinste und erzählte von Ausbildung, Einsatzmöglichkeiten und Einstiegsgehalt. «Fußpflegerin ist ein guter Beruf», und Judith überlegte, welchen Teil seines Körpers sie zuerst mit Säure übergießen und wie lange er die Schmerzen aushalten könnte, bevor er bewusstlos würde. Was ist mit den Junkies, Obdachlosen, misshandelten Kindern, vergewaltigten Frauen, politisch Verfolgten, Behinderten, Folteropfern, Wahnsinnigen, Depressiven, dachte sie, denen sind doch die Füße egal. Sie stand wortlos auf, griff ihren Ordner, er gab ihr die feuchte, weiche Hand, und ohne ein Lächeln sagte er: «Aber wenn ich ehrlich bin, Fräulein Sita, Sie taugen für gar keinen Beruf.»

Judith rannte hinaus auf die Straße, rempelte jeden an, der ihr zu nahe kam, und reagierte nicht darauf, dass die Leute in ihrem Rücken fluchten und ihr hinterherbrüllten, weil sie jeden Mülleimer auf ihrem Weg mit aller Kraft aus der Halterung trat. Sie rannte den ganzen Weg nach Hause, stürzte in ihr Zimmer und warf die Tür dreimal hintereinander zu. Ihren Kopf rammte sie so oft gegen die Wand, bis sie Blut an der Tapete sah und der Schwindel einsetzte, sie brüllte ins Kopfkissen und schlug mit der Faust auf die Matratze ein, bis sie die Kraft verlor, und als sie die Schmerzen in ihrem Kopf nicht mehr aushielt, klaute sie aus Hartmuts Zimmer nebenan drei Schlaftabletten.

4

Vor ein paar Wochen noch hatte Judith im Freien nicht schlafen können. Sie hatte es versucht, drei Nächte lang, die Temperaturen waren erträglich gewesen, sogar an den Regen und den klammen Schlafsack hatte sie sich gewöhnt, nur nicht an die Angst. Wach lag sie da, immer bereit, sofort wegzulaufen oder abzudrücken. Die Gaspistole hatte sie aus dem Kleiderschrank der Mutter geklaut, Mütter brauchen keine Gaspistolen, nur Mädchen und alte Frauen brauchen eine, hatte sie gedacht, und außerdem sei das doch ein schönes Geschenk, ein Geschenk fürs Leben, ihre Aussteuer gewissermaßen. Judith hatte immer eine Hand in der Jackentasche und den Finger am Abzug, nur beruhigt hatte sie das nicht. Sie rief Bekannte an, und «Nur eine Nacht», sagte sie, und länger war es meistens auch nicht, man reichte sie durch, von einem zum anderen, manchmal gab es etwas zu essen, manchmal nicht, sie sprach immer weniger, und bald fragte auch niemand mehr.

 

Einmal nur ging sie nach Hause, weil die Tage kälter und ihre Füße in den Turnschuhen steif geworden waren. Zur Sicherheit rief sie vorher an und schlich dann durch das Treppenhaus, lauschte an der Tür, hörte nur Stille und schloss leise auf. Fast fiel sie über die leeren Bierkästen im Flur, und vom Gestank der Selbstgedrehten wurde ihr übel. Zögernd drückte sie die Klinke ihrer Zimmertür hinunter und warf einen vorsichtigen Blick hinein. Der Raum war vollgestellt mit ihr unbekannten Koffern, dazwischen Plastiktüten von Aldi und in der Luft der Geruch von Mechanikerschweiß. Sie öffnete die Tür so weit, bis sie das Bett sehen konnte und darin zwei rotgesichtige Männer in Unterhemden und mit Angst in den Augen. Sie starrte sie an, die Klinke noch immer in der Hand: «Was machen Sie denn hier?» «Wir wohnen hier», antwortete einer der beiden, als sei es nie anders gewesen. Judith sagte: «Ich such bloß meine Stiefel», ging dann zum Schrank und fand dort ihre Kleider in blauen Plastiksäcken, aber keine Stiefel, sah die Männer fragend an, doch die hatten von gar nichts eine Ahnung. Sie riss sich zusammen, lächelte eine Entschuldigung und knallte beim Verlassen der Wohnung die Tür so heftig ins Schloss, dass nebenan eine aufging und ein altes Weib heftig den Kopf schüttelte.

5

Sie erwachte vierundzwanzig Stunden später. Ella saß auf ihrer Bettkante, kaute an einem Schokoriegel und hielt ihr eine Tasse Kaffee hin: «Scheint ja verdammt gutes Zeug zu sein, was Hartmut da hat.»

Judith versuchte zu Bewusstsein zu kommen, setzte sich auf, streckte ihre Arme in die Höhe und atmete ein paar Mal tief ein, während Ella immer weiter redete: von Hartmut, der ausgeflippt war wegen der Tabletten, von der verhauenen Mathearbeit, von der miesen Party letzte Nacht, von der verfärbten Wäsche, dem leeren Kühlschrank, der Milchallergie, der Weihnachtsserie, den neuesten Erkenntnissen über Alkoholismus, vom ersten Schnee draußen und vom Vollmond. Judith bettelte um Ruhe. Ella holte einen weiteren Schokoriegel aus ihrer Hosentasche und biss die Hälfte ab. Sie saß am Rand des Hochbettes, ließ die Beine baumeln und schluckte den Bissen im Ganzen herunter. Dann stopfte sie sich die andere Hälfte in den Mund. Judith zog sich die Decke über den Kopf und verlangte nach mehr Tabletten, nach was zu trinken, was zu rauchen, sie wollte noch Tage und Wochen schlafen, irgendwann wach werden und feststellen dürfen, dass die Jugend vorbei war. Ella meinte, sie habe keine Chance, in spätestens einer Stunde seien sie wieder da, und es wäre von Vorteil, wenn Judith dann geduscht und angezogen in der Küche säße. Sie werde jetzt ein paar Nudeln kochen, und in der Zwischenzeit könne Judith doch mal probieren, wach zu werden. Sie kletterte die Leiter hinab, summte dabei ein Lied von Curtis Mayfield und tänzelte barfuß aus dem Zimmer. Judith kniff die Augen zusammen, stürzte den lauwarmen Kaffee hinunter und versuchte das Bett zu verlassen. Seit zehn Tagen schlief sie nun in diesem Hochbett, und jedes Ein- und Aussteigen kam einer Beleidigung gleich. Nie wieder würde sie in ein Zimmer mit Hochbett ziehen, da schlief sie besser gleich im Stehen. Im Seemannsgang schleppte sie sich durch den Flur, eine Hand immer an der Wand. Im Bad angekommen, musste sie sich auf den Klodeckel setzen, um sich auszuziehen. Sie hielt ihre Handgelenke unter eiskaltes Wasser, näherte sich langsam der Dusche, kniete sich davor auf den Boden und ließ das Wasser laufen. Erst als es heiß war, nahezu kochte, stand sie auf und hielt ihren Kopf darunter, das Gesicht nach oben gewandt. Das Wasser, das ihr in den Mund lief, hatte den Geschmack von Pfefferminztee, und das reichte, damit sie sich ein bisschen glücklicher fühlte.

 

Ein ganzes Pfund Nudeln hatte Ella gekocht, sie aß aus dem Topf und schüttete immer mehr Curryketchup dazu, sie stopfte und schluckte, ohne Judith zu bemerken, die im Türrahmen lehnte und ihren Blick nicht abwenden konnte. Ella aß, als hätte man sie wochenlang in einer Zelle bei trocken Brot gehalten. Auf Zehenspitzen schlich Judith in ihr Zimmer, setzte sich auf ihren Klappstuhl, schlug die Beine übereinander, rauchte und wartete. Sie hörte, wie Ella den Topf spülte, eine Platte auflegte, die Lautstärke hochdrehte und die Tür des Badezimmers hinter sich abschloss. Judith ging in die Küche zurück, hörte das Rauschen der Klospülung mehrmals hintereinander und wie Ella sich die Zähne putzte. Schließlich kam sie mit blassem Gesicht heraus, sah zu Judith hinüber, sagte nur: «Bad ist frei», und verschwand in ihr Zimmer. Es war sinnlos, jetzt hinterherzugehen. Sie hatte es immer wieder probiert in den letzten Tagen, und immer hatte Ella sie hinausgeworfen, hatte zusammengerollt auf ihrem Bett gelegen und je nach Tagesform gejammert oder geflucht, und Judith war jedes Mal wieder erstaunt gewesen, wie viele Schimpfwörter Ella in solchen Momenten kannte und wie altmodisch diese waren: Arschnase, Kackspecht, Affentitte, Flitzpupe. Judith hatte es genossen, all das wieder zu hören, auch wenn sie ansonsten wenig heitere Erinnerungen an ihre Kindheit hatte.

Es war ungewohnt still in der Wohnung, aus Ellas Zimmer hörte sie nichts, die beiden Jungs waren nicht da, und draußen legte der Schnee einen Filter über die Stadt. Vor ihren Augen löste sich die Küche in ein unscharfes, grau-weißes Muster auf, nur noch Flecken, die sich gegeneinander verschoben und immer schneller die Richtung wechselten. Sie wäre gerne bewusstlos geworden, sie probierte es seit Jahren, doch es war ihr noch nie gelungen. Sie hielt die Luft an und kreuzte ihre Blicke, hoffte, dass es genau jetzt zwölf Uhr schlagen würde und ihre Augen dann, wie ihre Mutter stets gedroht hatte, auf ewig in diesem Schielen hängen blieben. Statt des erlösenden Glockenschlags gab es ein Klingeln an der Tür, und es war Tina, die die Treppen hochgeflitzt kam, immer zwei Stufen auf einmal. Ihre Hosenbeine waren hochgekrempelt, über die blonden Locken hatte sie eine rote Wollmütze gezogen, und alles an ihr schien wetterfest. Sie war mit dem Rad gekommen, Tina kam immer mit dem Rad zum Dienst, warf ihren Rucksack in den Flur, stöhnte befriedigt und rief ein begeistertes «Herrlich!» in den Raum. Jedes Mal. An besonders schlimmen Tagen setzte sie sich danach an den Küchentisch und biss mit aufdringlicher Herzhaftigkeit in einen der Äpfel, die sie am Wochenende im Alten Land selbst gepflückt hatte. Tina war eine Zumutung für jeden halbwegs unglücklichen Menschen, und Judith weigerte sich standhaft, mit ihr ein Gespräch zu führen.

6

Die Regeln hatte es bei Judiths Einzug schriftlich gegeben: keine Drogen, keine Waffen, Teilnahme an den wöchentlichen Gruppensitzungen, Küchendienst, Bad- und Flurdienst, zweimal in der Woche verbindliches, mindestens einstündiges Gespräch mit einem/r Betreuer/in, eine regelmäßige Beschäftigung, keine gesetzwidrigen Aktivitäten, Abwesenheit länger als eine Nacht nur nach Anmeldung und Genehmigung durch eine/n Betreuer/in. Bei Verstoß beziehungsweise Nichteinhaltung einer der genannten Punkte erfolgt eine Verwarnung, bei Wiederholung Kündigung, Unterschrift Bewohner: unten links.

Judith hatte auf dem Klappstuhl gesessen, auf das Papier gestarrt und gesagt: «Ich wäre jetzt gerne alleine.»

«Aber gerne», antwortete Bernd, dem sie das alles zu verdanken hatte. «In zwei Stunden gibt’s Essen, da lernst du dann die anderen kennen.»

Sie schloss die Tür ihres neuen Zimmers und sackte dahinter zusammen, fragte sich, ob das hier Anfang oder Ende der Geschichte war. In beiden Fällen war es misslungen: als Anfang eine nicht wiedergutzumachende Peinlichkeit, sie hatte einen Schritt vor die Tür gesetzt und war im Dreck gelandet, mit dem Gesicht zuerst. Als Ende erbärmlich, lieber wäre sie in einem geklauten Benz mit 200 km/h gegen die Wand gerast oder hätte sich selbst angezündet oder mit einer 9 mm von unten in den Kopf geschossen oder wäre seelenruhig und vollgestopft mit Wodka und Schlaftabletten im Comer See ertrunken oder aus Versehen bei einem Bankraub erschossen oder im kolumbianischen Dschungel verschleppt worden. All das hätte ein Ende mit Stil sein können.

Judith packte ihre Sachen aus, ordnete sie auf dem Boden und schloss das Fenster. Auf dem Flur waren immer mehr Stimmen zu hören, Türen, die auf- und zugingen, das Geklapper von Geschirr aus der Küche, jemand duschte, ein anderer telefonierte, und sie wünschte nichts mehr, als dass sie hinter dieser Tür hocken bleiben könnte, bis es wieder still würde und die Nacht einbrach.

Schon das Wort Gruppenabend hatte Panik bei ihr ausgelöst. Judith verabscheute Gruppen, Gruppenspiele, Gruppensport, Gruppentänze, Gruppenarbeit. Das Wort Gruppe klang für sie nach dem Befund einer tödlichen Krankheit, es tut mir leid, Fräulein Sita, Sie haben Gruppe.

Es klopfte, und sie sprang auf, öffnete die Tür, und mit einem etwas zu breiten Lächeln sagte sie: «Bin schon da.» Bernd grinste sie an, sagte: «Bring deinen Stuhl mit», und dann schlich sie, den Klappstuhl unterm Arm, hinter Bernd in die Küche.

«Das ist Judith!», rief er schon beim Hineingehen, «sie schaut sich das alles mal an, und vielleicht, wenn wir Glück haben, bleibt sie eine Weile bei uns.» Es war Mirko, der ihr als Erster die Hand gab. Er trug einen weißen Jogginganzug, seine dunklen Haare waren zum Zopf gebunden, und er rührte Soßenpulver in überkochendes Wasser ein. Neben ihm stand Hartmut, der sich beide Hände an der Hose abwischte, seine Brille hochschob und den Scheitel mit der flachen Hand nachzog, bevor er sich vor Judith hinstellte und wie ein Zweitklässler sagte: «Hallo, ich bin Hartmut. Schön, dich kennenzulernen.» «Freut mich auch, Hartmut», antwortete sie und konnte hinter seinem Rücken Ella sehen, die sich offensichtlich ausgezeichnet amüsierte. Am Küchentisch saß Tina und strahlte sie beängstigend ambitioniert an, «Ich bin die Tina. Herzlich willkommen!»

Judith musste erfahren, dass sie es hier nur mit einem Drittel der gesamten Gruppe zu tun hatte, in anderen Stadtteilen gab es noch zwei Wohnungen wie diese, mit Betreuern wie diesen und Bewohnern wie diesen, und alle würden Weihnachten zusammen feiern, ein richtig schönes Gruppenweihnachten, mit Baum, Wichteln, Kerzen, Braten, Lametta und Marzipanbroten von Niederegger. Freiwillig natürlich. Wer wollte, konnte auch zu seiner Familie, sofern es eine gab und sofern man eingeladen war, oder sich in der nächstbesten Kneipe volllaufen lassen, wie Bernd meinte. Ob man sich beim Gruppenweihnachten auch volllaufen lassen könne, fragte Judith, und alle bejahten das, wobei Hartmut es mit einem sich überschlagenden Kichern tat.

Als alle Dienste für das Weihnachtsfest eingeteilt und Ella und Judith dazu verpflichtet worden waren, Strohsterne zu basteln, kamen sie zum allgemeinen Putzplan, den Tina gut sichtbar im Flur aufhängte und auf dem Judith bis auf weiteres Bewohner/in X genannt wurde.

7

Schon seit einer Stunde trippelte Ella zwischen Küche und Bad hin und her, sang immer wieder lauthals den einzigen Hit von Gloria Gaynor und entschied sich letztlich doch für den braunen Lidschatten. Judith trank den letzten Schluck Sekt und einen zweiten Schnaps, bevor sie so weit war. Sie trug einen schwarzen Anzug aus dem Secondhandladen, wo sie auch das weiße Frackhemd gekauft hatte, das ihr an den Armen zu lang war und am Busen spannte, aber Ella fand es toll, und nur deshalb trug Judith es jetzt. Ella hatte ihr schwarzes Lieblingskleid angezogen, ärmellos, knielang und aus fester Baumwolle. Sie hatte es von ihrer Oma geerbt und war der festen Überzeugung, dass dieses Kleid Glück brachte.