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Töchter E-Book

Lucy Fricke

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Beschreibung

Der Spiegel-Bestseller: Verfilmt mit Birgit Minichmayr, Alexandra Maria Lara und Josef Bierbichler. Zwei Frauen brechen auf zu einer Reise in die Schweiz, mit einem todkranken Vater auf der Rückbank. Eine letzte, finale Fahrt soll es werden, doch nichts endet, wie man es sich vorgestellt hat, schon gar nicht das Leben. Martha und Betty kennen sich seit zwanzig Jahren, und sie entscheiden sich fürs Durchbrettern. Vor sich haben sie das Ziel, von hinten drängt das nahende Unglück. «Es gab niemanden, mit dem ich so lauthals über das Unglück lachen konnte wie mit Martha. Die wenigsten Frauen lachten über das Unglück, schon gar nicht über ihr eigenes. Frauen redeten darüber, bis sie weinten und nichts mehr zu retten war. Was das Leiden betraf, verstanden Frauen keinen Spaß.» Mit einem Humor aus Notwehr und einer Wahrhaftigkeit, die wehtut, erzählt Lucy Fricke von Frauen in der Mitte ihres Lebens, von Abschieden, die niemandem erspart bleiben und von Vätern, die zu früh verschwinden. Eine groteske Reise Richtung Süden, durch die Schweiz, Italien, bis nach Griechenland, immer tiefer hinein in die Abgründe der eigenen Geschichte. Und die Frage ist nicht, woher wir kommen, sondern: Wie finden wir da wieder raus?

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Lucy Fricke

Töchter

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Zwei Frauen brechen auf zu einer Reise in die Schweiz, mit einem todkranken Vater auf der Rückbank. Eine letzte, finale Fahrt soll es werden, doch nichts endet, wie man es sich vorgestellt hat, schon gar nicht das Leben.

Martha und Betty kennen sich seit zwanzig Jahren, und sie entscheiden sich fürs Durchbrettern. Vor sich haben sie das Ziel, von hinten drängt das nahende Unglück. «Es gab niemanden, mit dem ich so lauthals über das Unglück lachen konnte wie mit Martha. Die wenigsten Frauen lachten über das Unglück, schon gar nicht über ihr eigenes. Frauen redeten darüber, bis sie weinten und nichts mehr zu retten war. Was das Leiden betraf, verstanden Frauen keinen Spaß.»

Mit einem Humor aus Notwehr und einer Wahrhaftigkeit, die wehtut, erzählt Lucy Fricke von Frauen in der Mitte ihres Lebens, von Abschieden, die niemandem erspart bleiben und von Vätern, die zu früh verschwinden. Eine groteske Reise Richtung Süden, durch die Schweiz, Italien, bis nach Griechenland, immer tiefer hinein in die Abgründe der eigenen Geschichte. Und die Frage ist nicht, woher wir kommen, sondern: Wie finden wir da wieder raus?

Vita

Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet; zuletzt war sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom und im Ledig House, New York. Nach «Durst ist schlimmer als Heimweh», «Ich habe Freunde mitgebracht» und «Takeshis Haut» ist dies ihr vierter Roman. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.

Das Auge Gottes

Seit drei Tagen saß ich hier schon fest. Nachts fegten die Ratten durch die Gassen, tags stapelten sich die Touristen am Trevi-Brunnen. Vor den Museen die Wachen mit Maschinenpistolen, im Untergrund Bahnhöfe, in deren Finsternis ich den Dreck nur riechen konnte, und für den Vatikan sollte ich mich online anmelden.

Übernachtet hatte ich im Babylon, einem Hotel der untersten Kategorie, in dem ausschließlich Koreaner schufteten. Vielleicht lag es daran, dass ich nie nach Rom gewollt hatte, aber ich verliebte mich sofort. Schon immer hatte ich eine leise Verehrung für Orte und Menschen empfunden, die stolz vor sich hingammelten, die so sehr um ihre Schönheit wussten, dass die Welt ihnen den Buckel runterrutschen konnte. Eine desolate Diva war die Stadt, vollkommen versifft, nur ihre Kirchen hielt sie sauber, während draußen die Tauben jedes Weltkulturerbe zukackten.

Ich hatte hier nur umsteigen wollen. Vom Flughafen bis ans Ende des U-Bahn-Netzes, nach Anagnina, und von dort mit dem Bus weiter in dieses Städtchen in den Bergen, wo es jemanden gab, den ich seit zehn Jahren besuchen wollte. Er wusste davon nichts, es wäre ihm egal gewesen, er war längst tot. Auch von Toten musste man sich allerdings verabschieden, besonders von den Toten, und leider war es so, dass ich an diesem Mann auf ungute Weise hing, ihn nahezu vergötterte. So etwas konnte irgendwann zu einem Problem werden, wie eigentlich alles irgendwann zu einem Problem werden konnte, besonders die Liebe, besonders die Männer.

Also hatte ich mich auf den Weg gemacht, nach zehn Jahren konnte man sich so langsam auf den Weg machen, hatte ich gedacht, und jetzt saß ich hier fest. Ich hatte am Tag meiner Ankunft am Busbahnhof gestanden, hatte Menschen einsteigen sehen in dieses Gefährt, das sie Pullman nannten, das immer zu spät zu kommen schien, seit Jahrzehnten auf den Straßen unterwegs war, ein Gefährt, in dem die hintersten Sitzreihen fehlten und die Scheibenwischer auch. Doch war ich schon auf der Ladefläche eines Pick-ups tagelang durch einen Dschungel gekarrt worden, hatte im wahrsten Sinne windige Propellermaschinen bestiegen und auf dem Sozius eines Motorrads gesessen, dessen Fahrer gerade den geilsten LSD-Trip seines Lebens hatte, wie er mir während der Fahrt, mit einem langen Blick in meine Augen, versicherte. Angst gehörte nicht zu meinen hervorstechendsten Eigenschaften. Warum gelang es mir dann nicht, die Stadt zu verlassen? War ich träge, stoisch oder einfach nur feige, wenn es darum ging, Realitäten zu akzeptieren, Wahrheiten, die mir ganz und gar nicht passten? Den Tod dieses Mannes?

Das fragte ich mich, als ich jetzt in die Kuppel des Pantheons starrte, mitten hinein in das Loch, in den grauen Himmel über Rom, in das Auge Gottes. Ein paar Meter weiter hatte sich ein pinkfarbener Luftballon verfangen, einer von denen, die in diesen Tagen stadtweit vor jeder Filiale von Victoria’s Secret verteilt wurden. Da hing also eine verdammte Dessous-Werbung in der Kuppel vom Pantheon und tanzte bei jedem Luftzug ein wenig näher Richtung Ausstieg, Richtung Freiheit. Hunderte von Degenerierten taten nichts anderes, als dieses Schauspiel zu betrachten, alle Augen auf den pinkfarbenen Ballon, auf ihren Telefonen aktivierten sie die Videofunktion, und als er endlich hinausschwebte in den römischen Himmel, begann das Volk zu klatschten und zu jubeln, als wäre der Messias erschienen.

Während es in meiner Tasche vibrierte, erklang über die Lautsprecher ein strenges Ruhe bitte in vier Sprachen. Ich ging trotzdem ran, und am anderen Ende meldete sich Martha.

«Wo bist du?», fragte sie.

Ich blickte zur Kuppel hinauf, als müsste ich mich selbst noch einmal überzeugen, bevor ich sagte: «Im Pantheon bin ich.»

«Du telefonierst in einer Kirche?»

«Das ist keine Kirche, das ist die gewaltigste Touristenhölle auf Erden. Hier kannst du keinen Schritt gehen, ich komme hier sowieso nicht raus.»

«Versuche es bitte», hörte ich Martha leise sagen. «Ich wäre gern kurz mit dir allein, irgendwo in Ruhe.»

«Ich bin in Rom, hier gibt es kein allein», sagte ich, während ich versuchte, einen Weg durch die Massen zu finden.

«Was machst du denn in Rom?»

«Nichts, ich dachte bloß, das muss man auch mal gesehen haben.»

«Du wirst immer sonderbarer.»

«Zumindest werden mit dem Alter meine Krisen kultivierter», antwortete ich. «Eigentlich haben wir inzwischen eine richtig gute Zeit zusammen, meine Krise und ich.»

Ich ging vorbei an der größten Tür, die ich in meinem gesamten Leben gesehen hatte. Eine Höhe von sechs Metern hatte sie mindestens, dazu war sie aus Bronze. Wenn der Himmel solche Türen hatte, käme ich da nie rein.

«Bist du noch dran, Martha?»

Was folgte, war ein Ja, so gefährlich dünn, wie ich es nicht kannte von ihr, in diesem Ja steckte etwas so Unheilvolles, dass ich nicht für eine Sekunde zögerte. Ich stellte keine Fragen, wir kannten uns lang genug, um zu wissen, wann die andere kurz vorm Zusammenbrechen stand. Martha würde am Telefon anfangen zu weinen, und an Telefonen zu weinen, das war noch schlimmer, als allein auf den Rückbänken von Taxis zu weinen. Am Telefon kannst du niemanden festhalten, eine Stimme ist kaum mehr als ein kleiner Finger. Ich würde zurückfahren, sofort.

Als ich auflegte, schiss mir eine Taube auf den Kopf. Dass das kein Glück versprach, wusste ich inzwischen.

Alles geregelt

Ich hatte den allerersten Flug genommen, die Nacht war so kurz gewesen, dass es sie im Grunde gar nicht gegeben hatte, und nun zog ich an einem Montagmorgen gegen halb zehn meinen Koffer über die Warschauer Brücke, wo die Party gerade vorbei war. Die Gäste lagen jetzt im Bett, im Erbrochenen oder tanzten noch in irgendeinem Club. Ich zog vorbei an geleerten Sektflaschen, zerschlagenen Bieren und einem vergessenen Verstärker. Scherben knackten unter den Rollen meines Koffers. Hinter der nächsten Ecke, direkt neben der Großbaustelle, lag meine Wohnung. Das Treppenhaus roch wie ein ausgelaufener Getränkekeller, die Stille, die hier herrschte, war Taubheit. Das Haus hatte sich seiner feierwütigen Umgebung angepasst. Wenn man in diesem Lärm überleben wollte, brauchte man ein Haus in der Provinz oder einen Job im Ausland. Wollte man die Miete noch bezahlen, empfahl es sich, bei jeder Gelegenheit die Räume unterzuvermieten, an Menschen aus trüberen Ländern, die sich dann benahmen, wie sie es zu Hause niemals gewagt hätten. Wir wohnten durcheinander, wohnten unten und oben bei den Nachbarn, schliefen auf den Sofas, während in unserer eigenen Wohnung die Partytouristen aufs Parkett pinkelten.

Ich finanzierte mich, indem ich aus der Stadt verschwand. Brauchte ich Geld, fuhr ich weg, in Gegenden, die billiger waren als diese, und davon gab es jede Menge. Töte den Investor in dir, hatte ich neulich auf einer Kreuzberger Hauswand gelesen und darauf laut und deutlich gepfiffen. Ich lebte schon so lang in diesem Viertel, ich hatte das Gefühl, dass mir ein Stück vom Kuchen zustand, dass ich im Grunde selbst der Kuchen war. Ich verkaufte meine Heimat für 80 Euro die Nacht, die meisten taten das.

Und an den Donnerstagen standen wir mit unserem Coffee to go auf der Demo, um den Gemüseladen vor der Verdrängung zu retten, wenn nicht gleich den gesamten Kiez, zusammen mit Zugereisten, die sich Leinenbeutel umhängten, auf die einer mit Siebdruck Protestslogans gepresst hatte, und dann kamen noch Künstler aus Charlottenburg und Prenzlauer Berg, um Solidarität zu zeigen, ein paar Texte, ein paar Songs gegen die steigenden Mieten und den Ausverkauf, und wieder stieg die Nachfrage auf Airbnb um zwanzig Prozent. Die Touristen kauften die Taschen und trugen sie später durch New York, Barcelona oder Niederbayern. Gemüse kaufte niemand.

 

Das Gesicht in meinem Spiegel sah genauso alt aus, wie es war, knapp über vierzig. Inzwischen blieben in der Sonne die Falten weiß. Als hätte ich mir das Gesicht von innen zertrümmert. Schön war ich immer nur in der Vergangenheit. Das Alter kam über Nacht, und es kam immer wieder. Früher war ich gewachsen im Traum, und bald würde ich schrumpfen im Schlaf. Es würde der Tag kommen, an dem ich kleiner erwachte. Bis ich verschwand. Manchmal fragte ich mich, wie ich die Zeit bis dahin überstehen sollte. Und jeden Tag mehr Haare im Gesicht.

Der Junge aus Spanien hatte neben meine Kloschüssel gebrochen, die Lautstärke der Stereoanlage war auf Maximum gestellt, im Kühlschrank ein Glas Erdnussbutter, ein Stück Emmentaler und eine Flasche Bier, auf den Holzdielen drei ausgetretene Kippen. José, 24, Wohnort Madrid. Im Schlafzimmer hing das Bild jetzt kopfüber, José war vermutlich ein Witzbold. Ich war froh, ihm nie begegnet zu sein.

 

Zwei Stunden brauchte ich, um die Wohnung zu reinigen, sie zu befreien, die spanische Jugend aus den Ritzen zu kratzen. Danach öffnete ich Josés Bier, setzte mich ans Fenster und sah hinaus auf die Spree. Es war Mitte April, der Fluss noch ein Fluss und keine Partystrecke. Spätestens in sechs Wochen würden die Techno-Dampfer hier entlangfahren, mit ihren Lasern über die Wand meines Arbeitszimmers tasten. Auf hysterische Junggesellenabschiede würde ich blicken, auf halbnackte Männer und noch nacktere Frauen, die dies für die beste Zeit ihres Lebens hielten und damit wahrscheinlich recht hatten. Eine Tatsache, für die ich zunehmend Mitleid empfand.

 

Als ich in die Bar kam, war Martha noch nicht da. Überhaupt niemand war da, bis auf einen Barmann, der die Gläser polierte und den ich nie zuvor gesehen hatte. Martha hatte den Ort, ihre ehemalige Stammkneipe, vorgeschlagen, ob aus Hilflosigkeit oder Sentimentalität, wusste ich nicht. Es schien mir ein Leben her zu sein, dass wir hier unsere Nächte verbracht hatten, gemeinsam mit Henning, den sie regelmäßig hatte verlassen wollen, um ihn schließlich, im letzten Jahr, zu heiraten. Gemeinsam auch mit Jon, Hennings ältestem Freund, den wir nicht hatten retten können, der sich diesen Tresen zum besten und letzten Kumpel erkoren hatte und dort sein Geld und seinen Willen ließ, bis alles aufgebraucht war. Ich dachte nicht mehr oft an Jon, wir sprachen kaum noch über ihn, wir waren überhaupt alle drei stiller geworden nach seinem Tod. Ob das Schweigen am Alter lag oder am Schmerz, ob es da überhaupt einen Unterschied gab, vermochte ich nicht zu sagen. Wir machten einfach weiter, und das Weitermachen war weniger schwer als gedacht.

Ich blickte zur Tür, durch die Martha wie ein Schatten hereinkam. Kraftlos streichelte sie über meine Schulter, bevor sie sich mit einem Stöhnen setzte. Mich hatte sie kaum angesehen, nur die Flaschen an der Wand.

Martha ging bloß noch aus, wenn es dringend nötig war, wobei diese Notwendigkeit stets von innen kam, nie von außen. Das Außen hatte sie längst nicht mehr nötig. Seit über einem Jahr war sie immer wieder schwanger, in der vierten Woche, in der sechsten, der achten, danach, nach den Abgängen, gingen wir trinken, bevor alles von vorn begann. Dass sie sich während dieser Hormontorturen kaum verändert hatte, machte sie mir fast unheimlich. Martha war das stärkste Pferd, das ich kannte. Gingen wir in den unbefruchteten Wochen etwas trinken, bestellte sie nur das Teuerste, meistens pur.

Wenn schon, denn schon, sagte sie, und war meistens nach drei Gläsern blau. Eine Veränderung, die mich immer noch verwirrte, zu Beginn hatte ich mich von Martha regelrecht verlassen gefühlt. In diesem Alter, in dieser Lebensphase, zu der ich keinen Zugang fand, gab es immer weniger Freunde, die aufrecht neben mir am Tresen sitzen bleiben konnten. Meine Nächte waren so lang wie anderer Leute Tage. Wir lebten asynchron, auf meiner Spur hörte ich kaum noch jemanden, und die wenigen, die ich traf, machten mir Angst. Es waren Verlorene, die sich an meiner Wade festbissen.

Martha hatte einen achtzehn Jahre alten doppelten Whisky bestellt und drehte sich erschöpft zu mir um. Wir hatten uns seit über einem Monat nicht gesehen, nicht miteinander gesprochen. Das war nicht ungewöhnlich, ich war ständig unterwegs, sie immer zu Hause, wir mussten uns längst nicht mehr versichern, dass wir aneinander dachten. Wir waren da und würden bleiben. Wie alte Männer in der Stammkneipe neben dem Werkstor saßen wir zusammen und schwiegen. Ich bestellte mir ein Bier, ein großes. Es versprach ein langer, ruhiger Abend zu werden.

«Was wolltest du in Rom?», fragte sie schließlich.

«Nur so», log ich. «Alle paar Jahre denke ich, es könnte helfen, religiös zu sein. Dann setze ich mich einen Tag lang in jede Kirche, die mir unterkommt, und stelle mir vor, wie viel besser es wäre, könnte ich an Gott glauben. Ich sitze da, um mich herum Stille, Dunkelheit, diese feuchte Kälte, an den Wänden die Kreuze und Fresken, dieses ergebene Leiden, als hätte doch alles einen Sinn. Ich bleibe sitzen, manchmal Stunden, weil ich weiß, sobald ich rausgehe, zerfällt mir wieder alles.»

«Du bist nach Rom gefahren, um dich in eine Kirche zu setzen?»

«Es gibt nirgends so viele Kirchen, eine besser als die andere, und in jeder Ecke hängt ein Caravaggio. Wenn du 1 Euro in den Automaten wirfst, geht das Licht an, und du kannst den Caravaggio sogar sehen. Außerdem habe ich jetzt erst die Nonnen verstanden. Bei den Italienern sieht Jesus völlig anders aus. Nicht der leidende, ausgemergelte Typ wie bei uns, nein, der hängt da muskelbepackt am Kreuz. Geradezu lasziv. Für so einen Mann geht jede ins Kloster.»

Ich redete vor mich hin, um ihr Zeit zu geben. Außerdem wollte ich über den wirklichen Grund meiner Reise nicht sprechen, etwas daran beschämte mich, zumal es nicht um mich gehen sollte, nicht heute Abend.

Sie bestellte einen weiteren Whisky und sagte immer noch nichts.

«Was ist los, Martha?»

«Erzähl mir erst, was du wirklich in Rom wolltest, außer Jesus anzuhimmeln.»

«Gar nichts wollte ich in Rom. Ich wollte», gab ich zu, «eigentlich nach Bellegra, eine Stunde weiter südlich.»

Fragend sah sie mich an.

«Ich wollte zum Grab meines Vaters.»

«Dein Vater ist tot?»

«Nicht der. Der andere.»

«Du hast so viele Väter, dass ich nie weiß, von welchem du sprichst.»

Martha übertrieb. Es gab im Wesentlichen nur drei. Den guten, auch genannt Der Posaunist, den bösen, auch genannt Das Schwein, und den leiblichen, genannt Der Jochen. Meine Mutter war so früh mit mir aus seinem Leben verschwunden, dass er zu einem netten Onkel verkommen war, dem gegenüber ich mich möglichst höflich verhielt. Hin und wieder traf ich ihn zum Essen. Etwas anderes als Mitleid hatte ich nie für ihn empfinden können. Nicht einmal, als meine Mutter das Schwein ehelichte, das in nur zwei Jahren eine derartige Verwüstung in meiner vorpubertären Seele anrichtete, dass ich mich für alle Zukunft mit allerlei psychischen und sexuellen Defekten durchs Leben schlug. Der einzige Lichtblick in diesem Jammertal der Männer, durch das meine Mutter mich gezerrt hatte, war der Posaunist gewesen. Ein spielsüchtiger Italiener, ein Macho von umwerfender Attraktivität, der mich auf seinen Schultern durch die gute Hälfte meiner Kindheit trug und den ich wie verrückt geliebt hatte.

Ich sagte also: «Der Posaunist.»

«Und der ist in Bellegra begraben?»

«Dort kam er her.»

«Wart ihr mal da?»

«Nein, er wollte nie dorthin zurück.»

«Das tut mir leid», sagte sie.

«Ja, mir auch.»

«Nein, ich meine, dass ich dich jetzt davon abgehalten habe.»

«Ich habe mich selbst zehn Jahre lang davon abgehalten und in Rom noch mal drei Tage. Das ist das Gute an einem Grab: Es wartet.»

«Ja», sagte Martha und sah in ihr Glas. «Ja. Deswegen habe ich dich angerufen. Also ungefähr deswegen. Mein Vater», sie nahm einen tiefen Schluck, «ist ein verdammtes Arschloch.»

«Ich weiß», sagte ich, «das hast du schon mal erwähnt.»

Marthas Vater hatte sich die ersten dreißig Jahre ihres Lebens dadurch ausgezeichnet, dass er nie dagewesen war, auch nicht, wenn sie ihn brauchte. Erst recht nicht, wenn sie ihn brauchte. Sie hatte mir Geschichten aus ihrer Jugend erzählt, die grausam waren. Dieser Vater war ein Schlag ins Gesicht. Die Mutter hatte ihn früh verlassen, woraufhin er sich ein paar Jahre lang betrank, bevor er ein zweites Mal heiratete und Martha im Zuge dieser Ehe fast vollständig vergaß. In diesem Punkt glichen sich unsere Kindheitsgeschichten, auch wenn wir grundverschieden damit umgingen. Martha wollte, nach zahlreichen gescheiterten Fluchtversuchen, nun um jeden Preis eine Familie gründen, um alles besser zu machen, um es überhaupt zu machen, glücklich werden, es durchziehen. Mir hatte die Kindheit und mehr noch die Jugend jede Sehnsucht nach Familie so gründlich aus den Knochen getrieben, dass schon die Aussicht darauf Beklemmung in mir auslöste.

In den letzten Jahren, seitdem ihr Vater alt und Witwer geworden war, hatte er Martha einmal in der Woche angerufen. Seit seiner Krebsdiagnose zweimal in der Woche. Sie habe inzwischen wahrscheinlich tausend Stunden mit ihm telefoniert, und fünf davon seien es sogar wert gewesen. Es hatte Aussprachen gegeben, Wahrheiten und Entschuldigungen, sogar Liebesbeteuerungen. Seinerseits, versteht sich.

Eigentlich sei er doch kein so schlechter Kerl, hatte Martha einmal zu mir gesagt. Er habe es eben auch nicht leicht gehabt. Wenn man erst einmal wusste, woher jemand kam, welche Kämpfe er gewonnen und mehr noch, welche er verloren hatte, dann war der Kanal offen, und die Liebe rauschte hindurch.

Das Problem blieb bloß: Was fing man nun miteinander an? Nachdem man sich alles gesagt hatte? Am Ende saß man in aufgeräumten Verhältnissen, trank gemeinsam Bier und faselte über die politische Lage. Mit ein bisschen Glück genoss man das gemeinsame Schweigen.

«Bis zu seinem letzten Tag denkt er nur an sich», sagte Martha. «Das Dumme ist, dass er meine Hilfe dazu braucht. Gestern Morgen ruft er an und erzählt irgendetwas von alles geregelt und so. Ich habe jetzt alles eingetütet, sagt er, ich habe grünes Licht. Er kommt mir mit Püppi und: Eine letzte Bitte. Und: Das kannst du doch deinem kranken Vater nicht abschlagen. Ich meine, klar, wer kann schon eine letzte Bitte abschlagen. Danach ist wenigstens Schluss.»

Ich verstand nicht, was sie mir zu erzählen versuchte.

«Er will sterben, Betty. Und ich soll ihn fahren.»

«Wie fahren?»

«In die Schweiz. Nächste Woche ist der Termin.»

«Wieso denn Termin? So plötzlich?»

«Es ist nicht plötzlich. Er hat wohl schon vor Monaten seine Unterlagen hingeschickt, MRT-Bilder, Diagnosen, alles. Ist in diesen Verein eingetreten und hat einen Haufen Geld gezahlt. Deswegen pumpt er mich auch immer an. Ich frage mich die ganze Zeit, wieso er mit dem Geld nicht mehr auskommt. Dachte, er säuft einfach zu viel, stattdessen hat er mit meinem Geld seinen Abgang finanziert. Wenn das nicht pervers ist. Erst lässt er seine Tochter für seinen Tod bezahlen, und dann soll sie ihn auch noch hinfahren.»

Während fast alle aus dem Freundeskreis langsam in den Genuss kamen, Häuser zu erben, wenn auch nur halbe, während man sich also bei den Abendessen über Testamente und Erbschaftssteuern echauffierte, saß Martha, die ihrem Vater seit Jahren aus irgendwelchen Engpässen half, wie er es nannte, da und lächelte milde. Der Armut der Eltern konnte niemand entkommen, der Geruch blieb haften. Sogar der Gang verriet alles, so aufrecht, steif und stolz, gegen jede Unterdrückung, ohne jede Lässigkeit.

«Und er hat dir nichts davon gesagt? Was erzählt er dir denn die ganze Zeit?», fragte ich.

«Er wollte mich nicht belasten. Das sagt man dann so, nachdem man jemanden gerade mit einem Zentnerblock erschlagen hat. Püppi, ich wollte dich nicht belasten.»

Martha nahm sich eine Zigarette aus meiner Schachtel, was sie nur noch tat, wenn sie besoffen oder verzweifelt war, meistens beides zusammen, und rauchte. Auf ihre Art. Sie blickte ins Nichts, inhalierte tief, dachte nach. Martha setzte sich Deadlines, auch fürs Denken. Wenn sie diese Zigarette ausdrückte, hätte sie eine Entscheidung getroffen. Bei besonders schwierigen Entscheidungen kaufte sie sich eine Zigarre. Jetzt legte ich ihr meine Schachtel neben das Glas.

«Nein, danke», sagte sie. «Die hier sollte reichen.»

Zwischen ihren Augenbrauen zog sich die Stirn zusammen, ich ahnte, was das für mich bedeuten würde. In dieser Falte versteckte sich eine Bitte, etwas, das zu sagen ihr schwerfiel, von dem sie nicht wusste, wie sie es vorbringen sollte. Schließlich nahm ich ihr den angerauchten Filter aus der Hand.

«Ich kann das nicht», sagte sie. «Ich kann nicht mal mehr Auto fahren. Das packe ich nicht. Mit meinem Vater auf dem Beifahrersitz, mit so letzten gemeinsamen Stunden.»

Seit dem Unfall hatte sich Martha nie wieder ans Steuer gewagt. Dieser Unfall, den wir alle vier überlebt hatten, wie wir erst dachten, und der alles veränderte. Der Jon das Gesicht zerschnitten hatte und ihn am Ende doch das Leben kostete. Martha wollte sich die Schuld, die sie nicht daran trug, von niemandem ausreden lassen und hatte mich und Henning irgendwann darum gebeten, es nicht länger zu versuchen.

«Aber Henning kann doch fahren», sagte ich.

«Henning verachtet meinen Vater, das weißt du. Der würde sich mit den Zähnen im Lenkrad festbeißen müssen, damit er ihn nicht die ganze Zeit anschreit.»

«Verstehe», sagte ich.

«Außerdem kann ich das meinem Vater nicht zumuten.»

«Was zumuten?»

«Henning.»

«Ihr seid verheiratet, glücklich sogar. Ihr wollt ein Kind zusammen. Außerdem ist Henning der beste Mann überhaupt.»

Zumindest glaubte ich das inzwischen. Aus dem einfachsten Grund: Er liebte Martha. Er hatte sich auf eine Art für sie entschieden, die über jeden Zweifel erhaben war, und schließlich war Liebe nur das: eine Entscheidung.

«Mein Vater hält ihn für einen Versager.»

«Ich weiß nicht, Martha, das stimmt doch alles nicht. Vielleicht wäre es gut, wenn ihr das zu dritt macht.»

«Nein!» Martha war laut geworden. «Du musst das machen.»

Ich hatte Marthas Vater nur ein einziges Mal gesehen, das war über zehn Jahre her, und außer einem feuchten Händedruck war mir nichts in Erinnerung geblieben.

«Wir fahren ihn da hin, er leert den Becher, dann fahren wir wieder nach Hause.»

«Ohne ihn?»

«Die kümmern sich da um alles, hat er gesagt, die Rückführung und so.»

Selbst wenn es so war, wie Martha sagte, hatte ich keine Vorstellung davon, wie das gehen sollte. Wie fuhr man jemanden zum Sterben? Was sollte man unterwegs sprechen? Was essen? Konnte er überhaupt noch essen? Durften wir Musik hören? Eine schöne Landschaft schön finden? Was zum Teufel durfte man wollen in den letzten Tagen und Stunden?

Martha weinte. Nur mit dem linken Auge, das rechte blieb trocken. Sie konnte nur mit einem Auge weinen. Solang ich sie kannte, war sie eine Linksheulerin.

Als ich sie in den Arm nahm, spürte ich, wie verkrampft sie war, als hätte sie seit Stunden kaum geatmet, als hätte sie entschieden, die Luft anzuhalten, bis alles vorbei wäre.

«Er will verschwinden, bevor es zu sehr weh tut. Das würden wir wahrscheinlich genauso machen», sagte ich, die ich eine Meisterin im Verschwinden war und durch die halbe Welt fuhr, um jedwedem Schmerz zuvorzukommen, der in meinem Fall allerdings nie körperlich war. Der Körper war beneidenswert gesund.

«Er soll aber bleiben», sagte sie. «Mich jeden Tag anrufen, bis er umfällt. Er soll seinen Enkel kennenlernen, das kann ja nun wirklich nicht mehr lang dauern. Er muss doch sehen wollen, was aus uns allen wird. Kann doch nicht einfach sagen: Danke, reicht mir jetzt, ich habe genug gesehen.»

«Doch», sagte ich, «das kann er.»

Sie nickte.

«Manchmal wäre es mir lieber, er wäre einfach der elende Vater geblieben, der er die ersten fünfunddreißig Jahre war. Geh zum Teufel, würde ich sagen, wo du hingehörst, und dann würde ich einen Kranz zur Trauerfeier schicken. Kurz vorm Sterben noch nett werden, das ist doch eine Gemeinheit.»

«Hast du ihm das gesagt?»

«Natürlich nicht.»

«Ich meine, dass du möchtest, dass er bleibt.»

«Versuch nicht, mich davon abzuhalten, hat er gesagt, und dann habe ich es natürlich versucht. Ich habe geweint, er hat geweint, und dann hat er aufgelegt. Zehn Minuten später kam eine SMS mit dem Termin. Sonst nichts. Er kann ja nicht so gut tippen.» Martha sackte zusammen.

«Aber selbst wenn, wenn ich ihn davon abhalten könnte, dann wäre ich für alles, was noch kommt, verantwortlich. Und dass da jetzt nicht mehr viel Gutes kommt, weiß ich ja auch. Ich würde wahrscheinlich immer denken, dass ich die Schuld trage an seinen Schmerzen.»

Sie sah in ihr Glas.

«Wann ist der Termin?», fragte ich.

«Donnerstag», sagte sie, «um zwei. Wir müssten ihn in Hannover abholen und dann mit seinem Wagen runterfahren. Ein uralter Golf, aber er will unbedingt mit seinem eigenen Wagen fahren, also gefahren werden. Er selbst kann ja nicht mehr. Das Auto steht seit über einem Jahr in der Parallelstraße.»

«Können wir nicht euren Wagen nehmen?»

«Er will unbedingt mit seinem Golf hin. Du kennst das doch: Erinnerungen, sentimentale Gefühle, wo er mit dem Auto schon überall war, wer da schon alles dringesessen hat. Das Auto ist sein Kumpel. Er ist alle paar Wochen rübergegangen, hat sich reingesetzt und ein Bier mit ihm getrunken. Also, wenn wir schon fahren, dann mit seinem Auto.»

«Benziner oder Diesel?», fragte ich.

«Was spielt denn das jetzt für eine Rolle?» Martha sah mich zweifelnd an.

«Ich halte mich gern an praktischen Dingen fest.»

«Benziner. Glaube ich.»

«Viertürer?»

«Ja, verdammt, und einen Kofferraum hat er auch. Ein Golf eben.»

Der Gedanke, die finale Fahrt ausgerechnet in einem Golf zu unternehmen, machte mich traurig. Ich bestellte mir das zweite große Bier und einen Kräuterlikör dazu.

«Wo in der Schweiz ist das eigentlich?»

«In Chur», sagte Martha. «Von Hannover sind das ungefähr achthundert Kilometer. Ich glaube nicht, dass wir das an einem Tag schaffen. Er ist nicht mehr der Jüngste.»

Sie gab ein verzweifeltes Schnauben von sich, das linke Auge noch immer feucht.

«Dann übernachten wir irgendwo», sagte ich, und Martha fragte, wo denn bitte wir übernachten sollten, wir könnten ja unmöglich die Nacht an einer Autobahnraststätte verbringen oder in Nürnberg oder Würzburg. Sie habe sich die Strecke schon angesehen, und wenn man sich so eine Strecke ansah, mit der Frage, wo man seine letzte Nacht verbringen könnte, dann fiel einem auf, dass dieses ganze Land für letzte Nächte nicht taugte. Deutschland war zu trostlos für eine letzte Nacht.

Martha schlug mit der flachen Hand auf den Tresen, woraufhin der Barmann aufschaute und den Bodensee empfahl.

«Lindau», sagte er, da komme er nämlich her, und auf den Bodensee lasse er nichts kommen. «Fahrt nach Lindau.»

Wenn man selbst keine Ideen hat, kann es helfen, einfach das zu machen, was andere sagen. Manchmal sollte man sich besser treiben lassen.

«Gut», sagten wir, «Lindau.» Dann schauten wir in unsere Gläser und dachten nach über unsere eigenen letzten Nächte.

«Hauptsache im Bett sterben», meinte Martha. «Hauptsache nicht allein. Ein Ausblick wäre schön, also nicht gerade ein Hotelzimmer in New York mit Fenster zum Lüftungsschacht. Ein Bett mit Meerblick, an einem Ort, an den es keine Erinnerungen gibt. Ich möchte an keinem Ort sterben, an dem ich einmal jung gewesen bin. Keinen Kreis, der sich schließt. Als wäre man nur noch die Wiederholung seiner selbst. Vielleicht eine griechische Insel. Ja», schloss sie, «das könnte ich mir vorstellen.»

«Ich würde am liebsten von einer Küstenstraße abkommen», sagte ich, «meinetwegen auch auf einer griechischen Insel. Ich möchte bloß keine Zeit haben, um noch einmal über alles nachzudenken. Bloß nicht denken und sterben gleichzeitig.»

Dann wollen wir mal

Geschlossene Vorhänge, gespültes Geschirr, vier gepackte Kartons und eine leere Garderobe. Die Wohnung war zum Verlassen bereit. Kurt stand im Flur, hielt sich aufrecht in der Umarmung seiner Tochter.

Zu der Zeit, als Martha geboren wurde, war es eine Neubauwohnung gewesen. Damals waren junge Familien hier eingezogen, heute starben in dem trüben Sozialbau die übriggebliebenen Eltern. Die meisten Kinder waren entkommen, manche vielleicht wie Martha mit Studium, Auslandsaufenthalten und Umzug in die Hauptstadt. Mir kam das alles bekannt vor, obwohl ich niemals hier gewesen war. Ich war selbst an einer Hamburger Hauptverkehrsstraße aufgewachsen, in einem Haus, das aussah wie dieses, in einer Wohnung, in der ich jeden Gegenstand hasste. Nie hatten wir darüber gesprochen, von unseren Kindheiten nur in Anekdoten erzählt, über die wir nicht lachen konnten. Als wären wir vom Himmel gefallen, hinabgestoßen eher. Martha und ich lernten uns im Alter von zwanzig Jahren kennen, schon damals hatten wir die Herkunft von uns abgetrennt, nicht sauber, aber konsequent, und dass es diese Vergangenheit war, die uns wortlos verband, verstand ich erst jetzt, in dieser Wohnung, in den drei engen Zimmern, in denen die Wände braun geraucht waren.

Kurts Gepäck bestand aus einem rosafarbenen Kinderkoffer, einer Lidl-Tüte und einer Alukrücke. Alles andere würde hierbleiben, Martha würde die Wohnung auflösen müssen, darum hatte er sie gebeten.

Das war das Letzte, was zu tun blieb. Den Haushalt auflösen, jedes Teil in die Hand nehmen, Erinnerungen sichern, in Kartons verpacken, über Fotos weinen, über Postkarten, die sie ihm selbst geschickt und von denen sie nicht geahnt hatte, wie wichtig sie ihm waren. Auflösen. Auslöschen.

Gesagt hatte er nie viel. Wir waren die Töchter von Vätern, die erst im Ruhestand die Zeit fanden, mit uns zu reden. Wir erklärten ihnen das Internet und sie uns das Wetter. Die Liebe kam so spät, dass wir kaum noch etwas anfangen konnten damit. Wir nahmen sie nur noch hin, in Dankbarkeit. Aber geben konnten wir wenig und zurückgeben schon gar nichts.

«Setzt euch doch», sagte Kurt und hatte sogar einen Kaffee gekocht, obwohl er den selbst nicht mehr vertrug. Er war so bitter, dass auch wir ihn nicht vertrugen, aber das sagten wir nicht.

Über der Anrichte aus Eiche gab es einen gelben, rechteckigen Fleck. Ein weiteres helles Quadrat fand sich rechts neben dem Fernseher. Die Bilder waren noch nicht lange weg, im Vergleich zum Rest der Wände waren diese Stellen geradezu weiß. Alles, was sich noch irgendwie zu Geld hatte machen lassen, war aus der Wohnung verschwunden. Der Grat zwischen Minimalismus und Armut war ein schmaler, allerdings offensichtlicher. Nichts hier drin hatte jemals Stil gehabt. In der Küche stand bloß noch das Altglas.

Wir saßen auf den durchgesessenen Polstern einer Couchgarnitur, die damals zu jeder amtlichen Ehe gehörte und deren Raten er wahrscheinlich noch hatte abzahlen müssen, als die Frau ihn längst verlassen hatte. Was am Ende einer Ehe blieb, war das Sofa, auf dem man sich besaufen oder erschießen konnte.

«Schön, dass Sie uns begleiten», sagte Kurt zu mir. «Von zwei so hübschen Frauen durch die Gegend gefahren zu werden, das ist nicht jedem vergönnt, was?»

Wir nickten alle drei, und ich hatte Angst, wir würden damit gar nicht mehr aufhören. Dieses Nicken gegen die Sprachlosigkeit. Was ich im Leben schon genickt hatte, wie die Wiedergeburt eines Wackeldackels. Ich gehörte zu jener Sorte Mensch, die nickend auf einem Küchenstuhl saß, wenn sie verlassen wurde. Und so würde ich die nächsten acht Stunden am Steuer sitzen. Ich würde auf die Fahrbahn starren, nicken und die Zähne zusammenbeißen. Meine Beißschiene hätte ich mitnehmen sollen.

Kurt blickte sich im Wohnzimmer um, streichelte dabei die Armlehne seines Sessels. Es gab hier keine Tiere und keine Pflanzen, und irgendwo musste die angestaute Zärtlichkeit schließlich raus.

«Ja», sagte Kurt. «Wollen wir dann mal?»

Als Erste sprang Martha auf, mit einer Ungeduld, die ich nicht kannte an ihr. Vielleicht hoffte sie, dass irgendetwas anders würde, wenn sie nur genug Druck machte auf diese letzten Stunden.

Ich trug seinen kleinen rosafarbenen Koffer die zwei Etagen hinunter und wartete draußen. Eine verkehrsberuhigte Straße, aus der die Kinder längst weggelaufen waren, gegenüber ein Spielplatz, mit einer Schaukel an rostigen Ketten. Wie verabschiedet man sich von einer Gegend, die schon vor einem gestorben war?