E-Book 301-350 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 301-350 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Der verhängnisvolle Brief E-Book 2: Veronikas Tochter E-Book 3: Niemand kannte seinen Traum E-Book 4: Zwei Madeln und ein Störenfried E-Book 5: Wem gehört der Gundlach-Hof? E-Book 6: Frisch verliebt in ihren Kavalier E-Book 7: Anna, die Bauernkomtess E-Book 8: Urlaub, Liebe und doch kein Glück? E-Book 9: Evis Geheimnis E-Book 10: Ein alter Freund kehrt heim E-Book 11: Es ist dein Recht zu lieben, Lisa E-Book 12: Neues Glück für Hanna E-Book 13: Radtour ins Glück? E-Book 14: Vronis Sehnsucht nach der Heimat E-Book 15: Kann das Glück so einfach sein? E-Book 16: Wo die Liebe hinfällt … E-Book 17: Für wen schlägt dein Herz, Leonie? E-Book 18: Wenn die Vergangenheit nach dir greift … E-Book 19: Alter schützt vor Liebe nicht E-Book 20: Aus Liebe zu dir … E-Book 21: Alinas Flucht in ein neues Leben E-Book 22: Liebe lasst sich nicht erzwingen E-Book 23: Es ist dein Recht zu lieben, Lisa E-Book 24: Mein Herz gehört Nathalie E-Book 25: Die Liebe macht dich stark … E-Book 26: Philipps dunkles Geheimnis E-Book 27: Ich kämpfe um unser Glück! E-Book 28: Irrwege des Schicksals E-Book 29: Gefährlicher Ehrgeiz E-Book 30: Mit dem Erbe kam die Liebe E-Book 31: Glück - im zweiten Anlauf E-Book 32: Am See begegnete er der Liebe... E-Book 33: Plötzlich war es Liebe E-Book 34: Hat diese Liebe eine Chance? E-Book 35: Folge der Stimme des Herzens E-Book 36: Sturm der Gefühle E-Book 37: Willi Bruckners Heimkehr E-Book 38: Das Spiel mit dem Feuer E-Book 39: Jasmins Schrei nach Liebe E-Book 40: Marion flieht vor ihrer Vergangenheit E-Book 41: Eine überraschende Erbschaft E-Book 42: Zwischen Liebe und Leid E-Book 43: Julias Weg ins Glück? E-Book 44: Glück im zweiten Anlauf? E-Book 45: Blind vor Liebe E-Book 46: Wer zu spät kommt E-Book 47: Aufregung um Angelika E-Book 48: Ihr Bild in seinem Herzen E-Book 49: Verlorenes Glück - gefundenes Glück E-Book 50: Anna – wo bist du?

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Seitenzahl: 6061

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Inhalt

Der verhängnisvolle Brief

Veronikas Tochter

Niemand kannte seinen Traum

Zwei Madeln und ein Störenfried

Wem gehört der Gundlach-Hof?

Frisch verliebt in ihren Kavalier

Anna, die Bauernkomtess

Urlaub, Liebe und doch kein Glück?

Evis Geheimnis

Ein alter Freund kehrt heim

Es ist dein Recht zu lieben, Lisa

Neues Glück für Hanna

Radtour ins Glück?

Vronis Sehnsucht nach der Heimat

Kann das Glück so einfach sein?

Wo die Liebe hinfällt …

Für wen schlägt dein Herz, Leonie?

Wenn die Vergangenheit nach dir greift …

Alter schützt vor Liebe nicht

Aus Liebe zu dir …

Alinas Flucht in ein neues Leben

Liebe lasst sich nicht erzwingen

Es ist dein Recht zu lieben, Lisa

Mein Herz gehört Nathalie

Die Liebe macht dich stark …

Philipps dunkles Geheimnis

Ich kämpfe um unser Glück!

Irrwege des Schicksals

Gefährlicher Ehrgeiz

Mit dem Erbe kam die Liebe

Glück - im zweiten Anlauf

Am See begegnete er der Liebe...

Plötzlich war es Liebe

Hat diese Liebe eine Chance?

Folge der Stimme des Herzens

Sturm der Gefühle

Willi Bruckners Heimkehr

Das Spiel mit dem Feuer

Jasmins Schrei nach Liebe

Marion flieht vor ihrer Vergangenheit

Eine überraschende Erbschaft

Zwischen Liebe und Leid

Julias Weg ins Glück?

Glück im zweiten Anlauf?

Blind vor Liebe

Wer zu spät kommt

Aufregung um Angelika

Ihr Bild in seinem Herzen

Verlorenes Glück - gefundenes Glück

Anna – wo bist du?

Der Bergpfarrer – Paket 7 –

E-Book 301-350

Toni Waidacher

Der verhängnisvolle Brief

Claudia Trenker sorgt sich um ihren Max

Roman von Waidacher, Toni

»Max? Wo steckst denn?«

Claudia Trenker schaute suchend aus dem Fenster in den kleinen Garten, hinter dem Haus, in dem das Polizeirevier von St. Johann untergebracht war. Zur Dienststelle gehörte eine Wohnung, in der der Bruder des Bergpfarrers mit seiner Familie lebte, solange er den Posten des Revierleiters innehatte.

»Was gibt’s denn?«, hörte sie endlich seine Stimme. »Ich bin hier mit Sebastian an der Schaukel.«

»Komm mal rasch! Telefon!«

Unten im Garten zuckte Max Trenker zusammen.

»Heut?«, fragte er ungläubig, während er seinen Sohn von der Schaukel nahm und zum Haus eilte.

»Wer ist’s denn?«

Claudia war schon mit dem schnurlosen Telefon nach unten gekommen. »Den Namen hab ich net recht verstanden«, antwortete sie und reichte ihm den Apparat. »Eine Frau …«

Der junge Polizeibeamte zuckte wieder zusammen, hatte sich aber schnell wieder in der Gewalt.

Nicht, dass Claudia noch etwas bemerkte!

»Trenker«, meldete er sich, mit trockenem Hals.

»Hier Holtmann«, vernahm er eine Stimme, die zu einer älteren Frau gehörte. »Sie sind doch der Polizist, der für uns zuständig ist, net wahr?«

»Tja, da müssten S’ mir erst mal sagen, von wo aus Sie anrufen, Frau Holtmann«, erklärte der Beamte.

Mit dem Anruf konnte er nichts anfangen. An den Wochenenden war das Diensttelefon so geschaltet, dass die eingehenden Anrufe direkt an das nächste Revier weitergeleitet wurden. Und heute war Samstag!

»Ich rufe aus Klingenthal an«, sagte Frau Holtmann. »Sie müssen unbedingt herkommen, die Cindy ist verschwunden!«

»Wer bitte schön ist denn die Cindy? Ihre Tochter?«

»Was?« Die Anruferin war irritiert. »Nein! Wie kommen S’ denn darauf? Cindy ist meine kleine Maus. Ein Zwergpudelmadl, drei Jahre alt. So lang hab ich sie schon, und das Pupperl ist noch nie fortgelaufen. O Gott, hoffentlich ist sie net überfahren worden. Sie kennt sich doch gar net aus, so allein im Straßenverkehr. Oder man hat sie entführt! Ja, das wird’s sein, meine Kleine ist entführt worden!«

Max unterdrückte einen Stoßseufzer.

»Frau Holtmann, bitte beruhigen S’ sich«, sagte er. »Wir wollen doch net gleich das Schlimmste annehmen. Und eigentlich sind S’ bei mir auch ganz falsch. Für Klingenthal sind die Kollegen aus Garmisch zuständig.«

»Ach. Tatsächlich? Was mach ich denn jetzt?« Die Stimme klang wirklich verzweifelt.

»Erst einmal regen S’ sich net auf«, meinte der Bruder des Bergpfarrers. »Und dann geben S’ mir Ihre genaue Adresse, ich ruf dann die Kollegen an und schick sie zu Ihnen.«

»Ja? Würden S’ das wirklich tun?«

»Aber freilich.«

»Ach, das ist aber nett von Ihnen, Herr Wachtmeister. Vielen Dank auch.«

Max hatte den Eindruck, als wollte die alte Dame einfach auflegen.

»Halt!«, rief er hastig. »Erst Ihre Adresse.«

Er schrieb Name und Anschrift der Frau auf einen Zettel und versprach, alles in die Wege zu leiten. Nachdem er die Kollegen in Garmisch Partenkirchen verständigt hatte, ging der Polizist wieder in den Garten hinaus, wo Claudia inzwischen mit ihrem gemeinsamen Sohn, der nach seinem Onkel benannt worden war, auf der Schaukel saß.

»Was war denn?«, erkundigte sich die Journalistin. »Klang ja richtig aufgeregt, die Frau Holtmann.«

Max lächelte und erzählte, was die Anruferin gewollt hatte. Dann reckte er die Arme und stieß einen Seufzer aus.

»Sag mal, Spatzl, willst heut wirklich auf den Tanzabend im ›Löwen‹ geh’n?«, fragte er.

Claudia sah ihn forschend an.

»Hast gar keine Lust?«, wollte sie wissen. »Bist doch wohl net krank?«

Ihr Mann fasste sich an die Stirn.

»Na ja, Fieber hab ich net …«

Ihr Blick wurde kritischer. Seit ein paar Tagen schien irgendwas nicht zu stimmen. So hatte sie Max noch nie erlebt. Er war fahrig, fast schreckhaft, dann saß er manchmal nur stumm und in sich gekehrt da, war mit seinen Gedanken ganz woanders.

»Vielleicht sollte ich mal den Toni anrufen«, bemerkte die Journalistin. »Net, dass du da was ausbrütest.«

Toni Wiesinger war nicht nur der Arzt in St. Johann, er und seine Frau, Elena, waren auch die besten Freunde von Claudia und Max. Zusammen hatten die beiden Frauen ein junges Madel engagiert, das auf die beiden Kinder, den kleinen Sebastian und die knapp ein Jahr ältere Antonia Wiesinger aufpasste, damit die Mütter wieder ihren Berufen nachgehen konnten. Und in der Regel passte Andrea auch an den Samstagabenden auf, wenn die beiden Paare etwas gemeinsam unternehmen wollten.

Doch anscheinend war das heute – zumindest für die jungen Trenkers – nicht notwendig.

*

»Ich weiß wirklich net, was mit ihm los ist.«

Claudia blickte ihren Schwager fast verzweifelt an.

»Er sagt, er hat nix. Aber das glaub ich net, so still wie der Max manchmal dasitzt, so kenn ich ihn gar net.«

Sebastian Trenker strich sich nachdenklich über das Kinn. Der Bergpfarrer und seine Schwägerin standen auf der Terrasse des Pfarrhauses. Zuvor hatte die ganze Familie zusammen zu Abend gegessen, jetzt wollte man eigentlich zum Hotel hinüber, wo der allwöchentliche Tanzabend stattfand. Doch eben hatte der Geistliche erfahren, dass sein Bruder keine Lust auf diese Gaudi hatte.

»Es ist mir auch schon aufgefallen, dass da was net stimmt«, meinte er. » Max war nie so schweigsam, wie in den letzten Tagen. Hast denn wirklich keine Erklärung dafür?«

Die Journalistin schüttelte den Kopf.

»Ich kann’s mir überhaupt net erklären«, antwortete die attraktive junge Frau.

»Wann genau hast denn diese Veränderung beim Max festgestellt?«

Claudia wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

»Wenn ich’s genau überleg, dann hat’s wohl in der letzten Woche angefangen«, sagte sie. »Als der Artikel in der Zeitung stand …«

Sebastian nickte verstehend. Seine Schwägerin meinte einen Zeitungsartikel, der über Max in einem großen Münchner Blatt erschienen war, nachdem sein Bruder einen Buben vor dem Ertrinken im Achsteinsee gerettet hatte. Diese Heldentat war in mehreren Zeitungen gewürdigt worden.

Doch was hatte das mit Max’ merkwürdigem Verhalten zu tun?

Freilich, der Bruder mochte es nicht, so im Rampenlicht zu stehen. Andererseits war er als Polizeibeamter eine öffentliche Person. Auch wenn Max also wenig Wert auf den Rummel legte, der um ihn getrieben wurde, so war das noch keine Erklärung dafür, dass er sich so einigelte.

Der gute Hirte von St. Johann musste plötzlich schmunzeln.

»Was ist?«

Claudia sah ihren Schwager irritiert an, doch der winkte ab.

»Ich hab nur grad daran denken müssen, dass der Max ja bald Geburtstag hat«, sagte Sebastian. »Sechsunddreißig wird er. Vielleicht macht ihm das zu schaffen.«

Die junge Frau schmunzelte ebenfalls.

»Da könntest freilich recht haben«, stimmte sie zu. »Der arme Kerl verkraftet es sicher net, dass er immer älter wird.«

Der Geistliche legte seinen Arm um ihre Schultern.

»Siehst, Claudia«, meinte er, »es gibt für alles eine Erklärung. Und jetzt lass ihm seinen Willen. Macht euch einen schönen Abend daheim, und morgen schaut die Welt schon wieder anders aus.«

Claudia nickte.

»Danke, Sebastian. Ich war wirklich schon ganz verzweifelt. Aber jetzt, wo ich weiß, was den Max plagt, kann ich besser damit umgehen. Wir werden’s uns daheim gemütlich machen, und ich frag mal vorsichtig an, wie Max sich seine Geburtstagsfeier eigentlich vorstellt.«

»Ja, tu das. Und bei Gelegenheit müssen wir zwei uns zusammensetzen und überlegen, wie wir ihm eine Freude machen können.«

»Am besten zusammen mit Elena und Toni.«

»Und vielleicht holen wir sogar noch den Thomas und den Florian dazu«, schlug Sebastian vor. »Seine alten Schulkameraden werden sich bestimmt daran beteiligen wollen.«

»Eine prima Idee«, lächelte seine Schwägerin und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Das wird für den Max eine Riesenüberraschung!«

Sie gingen wieder ins Haus. Sophie Tappert hatte schon den Abwasch erledigt und spielte mit dem kleinen Sebastian.

»Von mir aus kann er gern hierbleiben«, sagte die Haushälterin.

Wenn Andrea Klein einmal ausfiel, hatte sie es schon oft und gerne übernommen, den Buben und die kleine Antonia zu hüten.

»Das ist wirklich lieb«, erwiderte Claudia, »aber wir haben beschlossen, heut mal den Tanzabend ohne uns stattfinden zu lassen.«

Sie sah ihren Mann an.

»Net wahr, Schatzl?«

Max blickte überrascht von der Zeitung auf, in der er geblättert hatte.

»Ja, gern«, antwortete er. »Wenn’s dir nix ausmacht …?«

Die Journalistin schüttelte den Kopf.

»Nein, nein. Ich hab grad zum Sebastian gesagt, dass wir es uns daheim gemütlich machen wollen.«

Sie zwinkerte ihrem Mann zu.

»Du weißt schon, worüber wir neulich gesprochen haben …«

Der Bruder des Bergpfarrers verstand sofort und lächelte sie liebevoll an.

»Freilich weiß ich, was du meinst«, nickte er und blinzelte ihr ebenfalls zu.

*

»Grüß Gott«, lächelte Ria Stubler den jungen Burschen freundlich an. »Sie sind der Herr Berghofer, net wahr?«

»Richtig«, gab er lächelnd zurück. »Thomas Berghofer, aus München.«

»Und Sie haben für zwei Wochen gebucht. Hatten S’ denn eine gute Anfahrt?«

»Aber ja. Auf der Autobahn war net viel los, und nachher, auf der Landstraße, da konnt ich richtig gemütlich fahren und mir Zeit lassen.«

Die Wirtin hatte den Zimmerschlüssel vom Brett genommen und ging voran, die Stiege hinauf. Thomas Berghofer folgte ihr, einen Koffer in der rechten Hand.

Er war Ende zwanzig, eins achtzig groß und hatte eine sportliche Figur. Das markante Gesicht wurde von zwei dunklen Augen dominiert, die schnell recht direkt oder ernst blicken konnten.

Jetzt hatte Thomas allerdings allen Grund zur Freude. Das letzte Staatsexamen war geschafft, und der junge Arzt wollte erst einmal ausspannen und Urlaub machen, bevor er eine neue Stelle in einem Münchner Krankenhaus antrat.

»So, da sind wir schon«, sagte Ria und ließ den Gast eintreten. »Ich hoff, es gefällt Ihnen.«

Thomas sah sich um und nickte beifällig. Das Zimmer war modern eingerichtet, ohne den landestypischen Stil zu verleugnen. Die Möbel waren mit Bauernmalereien verziert, an den Wänden hingen Bilder, die Motive aus dem Leben der Bergbauern zeigten, vor den Fenstern wehten bunte Vorhänge. Es gab Fernsehen, Telefon und sogar Internetanschluss. Ein kleines, aber ausreichendes Bad gehörte zum Komfort.

»Doch«, antwortete der Arzt, »Es gefällt mir sogar sehr gut. Man sieht ja auf den ersten Blick, wie viel Liebe in der Gestaltung des Zimmers steckt. Hier werde ich mich bestimmt die nächsten Tage sehr wohlfühlen.«

Die Wirtin bedankte sich für das Kompliment und erklärte, zu welchen Zeiten die Gäste frühstücken konnten, und dass der Zimmerschlüssel auch für die Haustür passe, wenn es abends mal spät werden sollte.

»Und falls Sie mal eine Bergtour unternehmen wollen, dann sagen S’ mir am Abend vorher Bescheid. Ich richt Ihnen dann was zum Frühstück her, damit S’ net mit leerem Magen losgeh’n müssen.«

Thomas bedankte sich. Nachdem Ria Stubler wieder nach unten gegangen war, machte er sich daran, seinen Koffer auszupacken. Dabei dachte er flüchtig daran, dass dieser Urlaub eigentlich ganz anders geplant gewesen war. Doch ehe alles wieder hochkommen konnte, schüttelte er den Gedanken an Iris ganz rasch wieder ab und trat stattdessen hinaus, auf den umlaufenden Balkon.

Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Berge, die zum Greifen nahe schienen. Himmelsspitz und Wintermaid hießen die Zwillingsgipfel. Die schneebedeckten Gipfel schienen den blauen Himmel zu berühren. Ein leichter Wind trug den Duft von frisch gemähtem Heu und würzigen Blumen und Kräutern mit sich.

Thomas atmete tief durch.

Nein, die Vergangenheit sollte ruhen. Er wollte sich erholen und dann mit frischem Elan an die neue Aufgabe gehen.

Er ging wieder hinein, sah kurz die Prospekte durch, die auf dem Tischchen am Fenster lagen und zeigten, welche Aktivitäten man in St. Johann und Umgebung unternehmen konnte, dann steckte er seine Geldbörse ein, ließ nach kurzem Überlegen das Handy ausgeschaltet auf dem Tisch liegen und verließ das Zimmer.

Langsam spazierte er durch die Straßen, die von Urlaubern und Tagesgästen nur so wimmelte. Offenbar war St. Johann ein beliebtes Reiseziel. Thomas betrachtete die herrlichen Lüftlmalereien an den Häusern, die gepflegten Gärten und den sauberen Platz um das Rathaus, an dem am morgigen Dienstag der wöchentliche Markt stattfand, wie ein Hinweisschild verkündete, damit Autofahrer rechtzeitig ihre Wagen entfernten.

Nach einem Gang durch die Passage des kleinen Einkaufszentrums, kehrte der Arzt zum Hotel zurück, an dem er auf seinem Spaziergang schon vorübergekommen war.

Der Biergarten war geöffnet, und über den Zaun, der zusätzlich noch eine immergrüne Hecke hatte, konnte Thomas sehen, dass er gut besucht war. Dennoch trat er ein und schaute sich um. Auf der Seite, an der die langen Tischgarnituren, standen, herrschte am meisten Betrieb. Rechts standen kleine runde Tische, mit jeweils vier bequem aussehenden Korbsesseln herum. Dort waren noch mehrere Plätze frei. Thomas ging hinüber und setzte sich unter einen hohen Baum, der reichlich Schatten spendete. Es war immer noch warm, obgleich sich der Sommer langsam dem Ende neigte.

Am Vormittag hatte er München verlassen, die Fahrt nach St. Johann hatte kaum mehr als zwei Stunden gedauert. Jetzt war es früher Nachmittag und eigentlich die richtige Zeit für eine kleine Mahlzeit.

Der junge Arzt nahm dankbar nickend die Speisekarte entgegen, die eine Haustochter ihm reichte, und bestellte bei ihr ein Radler. Das Tagesangebot klang vielversprechend; hausgemachtes Wildragout mit Nussspätzle und Preiselbeeren. Thomas hielt sich an diese Empfehlung und wurde nicht enttäuscht.

Während er es sich schmecken ließ, überlegte er, wie er die nächsten vierzehn Tage gestalten wollte. Wandern gehörte zu seinen Leidenschaften, wie überhaupt jegliche sportliche Betätigung. Allerdings kam eine Bergtour wohl eher nicht in Betracht, dazu hätte er sich längst vor Urlaubsantritt anmelden müssen. Indes war es ja ganz anders geplant gewesen …

Er ärgerte sich, dass er plötzlich doch wieder an Iris dachte, und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, was ihm allerdings nur halbherzig gelang. Zu präsent war sie immer noch, zuviel hatte sich zwischen ihnen ereignet, als dass er es so einfach fortwischen konnte.

Reiten, überlegte er, wäre vielleicht eine gute Alternative. In einem der Prospekte war ein Hotel beschrieben, das zu einem Reiterhof gehörte. Es hieß sogar Ferienhotel »Reiterhof«, und er beschloss, es gleich am nächsten Tag aufzusuchen.

Und auf jeden Fall wollte er schwimmen. Ein See ganz in der Nähe versprach ungetrübte Badefreuden, und bestimmt gab es noch andere Möglichkeiten, die Gegend auf Schusters Rappen zu erkunden.

Ja, es sollte ein Urlaub werden, an den er noch lange denken konnte und der ihn von dieser seelischen Last befreite!

*

Max Trenker schloss seufzend die Tür hinter sich und setzte sich an den Schreibtisch. Der Bruder des Bergpfarrers hatte einen arbeitsreichen Vormittag hinter sich. Schon am frühen Morgen musste er nach Waldeck fahren, wo ein verwirrt wirkender alter Mann, der im »Waldecker Hof« abgestiegen war, seine Rechnung nicht bezahlen konnte. Wie sich herausstellte, war der Senior aus einer Einrichtung für Demenzkranke fortgelaufen. Die Polizei in Garmisch war schon in helle Aufregung versetzt und hatte fieberhaft nach dem Vermissten gesucht. Wie der Mann nach Waldeck gekommen war, hatte man bisher noch nicht klären können.

Nachdem Max den alten Herrn glücklich bei den Kollegen in Garmisch abgegeben hatte, wurde er zu einem Unfall auf der Landesstraße gerufen. Ein Traktor war mit einem LKW zusammengestoßen, und beide Fahrer behaupteten, im Recht zu sein. Der junge Polizist nahm den Unfall auf und riet den Gegnern, sich lieber außergerichtlich zu einigen, was am Ende billiger kommen würde.

Anschließend hastete Max zum Mittagessen ins Pfarrhaus, aber auch dort war ihm keine ruhige Minute vergönnt. Sein Handy, auf das die Anrufe im Revier umgeleitet wurden, klingelte fast ununterbrochen, sodass der Bruder des Bergpfarrers rasch das Essen hinunterschlang und wieder loseilte.

Nun, am Nachmittag, kam er endlich dazu, sich der Arbeit im Revier zu widmen, die am Morgen liegen geblieben war. Dazu gehörte auch das Sichten der eingegangenen Post.

Max’ Herz schlug schneller, als er aus dem Stapel einen Brief herausfischte, der unverkennbar dieselbe Handschrift trug, wie der Brief, den er vor kurzer Zeit erhalten hatte. Diesmal stand sogar der Absender darauf.

Maria Wendler und eine Straße in einem Münchner Vorort …

Seine Finger zitterten, als er den Umschlag aufriss und das Blatt Papier herausnahm.

Hallo Max, stand dort, ich find’s sehr schad, dass Du auf meinen ersten Brief net reagiert hast. Ich dachte, es müsste Dir doch ein Bedürfnis sein, mich nach all den Jahren wiederzusehen. Zumal unsre damalige Bekanntschaft ja net ohne Folgen geblieben ist. Das Foto, das ich Dir beileg, zeigt ›Maxi‹. Sie ist sieben Jahre alt und nach ihrem Vater benannt. Ich hoff sehr, dass Du doch noch einsichtig wirst, wenn Du das Foto anschaust und dich auf deine Pflichten besinnst. Ich hab mir ein paar Tage Urlaub genommen und werd mit Maxi nach St. Johann kommen. Ich meld mich dann bei Dir, sodass wir uns treffen können. Auf bald, Maria.

Max spürte, wie es ihm abwechselnd heiß und kalt wurde, dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und das Herz raste.

Maria wollte hierherkommen! Nach St. Johann, und das Kind gleich mit!

Der Polizist rang keuchend nach Luft. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was das bedeutete, welche Konsequenzen das alles nach sich ziehen würde.

Er war erledigt! Sein ganzes Leben mit einem Mal auf den Kopf gestellt! Seine Ehe mit Claudia war in Gefahr!

Sieben Jahre war das Madel jetzt?

Dann musste es vor ungefähr acht Jahren geschehen sein. Kurz bevor er Claudia kennengelernt und geheiratet hatte.

Aber, war denn da tatsächlich was gewesen?

Max lehnte sich zurück und atmete tief durch. Er versuchte, sich zu erinnern. Vor acht Jahren …

Doch, da war er in München. Mehrere Wochen sogar, zu einem Lehrgang. Gewohnt hatten er und andere Kollegen in der Polizeischule und am Abend waren sie immer gemeinsam losgezogen, einen draufmachen. Dabei hatten sie gar nicht mal weit gehen müssen. Ganz in der Nähe gab es ein Wirtshaus, das »Stadlbräu« in dem nicht nur ein süffiges Bier ausgeschenkt wurde, vor allem die junge Bedienung war eine Augenweide gewesen.

Maria Wendler, ein fesches Madel, das ungeniert mit den Polizeischülern flirtete. Max war damals kein Kostverächter gewesen, wie er sich oft von seinem Bruder hatte vorhalten lassen müssen. Die Zahl der gebrochenen Herzen, die er im Wachnertal hinterlassen hatte, war Legion, und offenbar war sein Münchner Abenteuer nicht ohne Folgen geblieben.

Genau das hatte Maria ihm ja schon in ihrem ersten Brief geschrieben. Indes hatte er ihn ignoriert und irgendwo in seinem Schreibtisch, unter einem Berg alter Akten, versteckt.

Und dorthin würde der zweite Brief auch kommen.

Max grübelte vor sich hin.

Was sollte er tun? Musste er die Ankündigung, Maria würde nach St. Johann kommen, ernst nehmen, oder war es nur eine leere Drohung? Und was, wenn sie tatsächlich herkam? Konnte er es einfach abstreiten, der Vater dieses Kindes zu sein? Wieso eigentlich nicht?

So rasch, wie Maria sich damals mit ihm eingelassen hatte, war schließlich nicht auszuschließen, dass nur er der Einzige war, dem sie ihre Gunst geschenkt hatte.

Warum hatte sie sich denn nicht schon früher gemeldet, wenn Maria so sicher war, dass nur er als Vater infrage kam?

Max hieb ärgerlich mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.

Schuld war nur dieser vermaledeite Zeitungsartikel!

Maria hatte ja geschrieben, dass sie erst dadurch seine Adresse erfahren hatte.

Doch warum hatte sie die ganzen sieben Jahre gewartet? Wieso meldete Maria Wendler sich jetzt erst? Warum hatte sie es nicht gleich, nach der Geburt des Kindes, getan?

Wenn sie gewollt hätte, dann hätte es Mittel und Wege gegeben, seinen Wohnort herauszufinden, zumal er fast sicher war, ihr damals erzählt zu haben, woher er stammte.

Was wollte sie also jetzt von ihm? Geld? Oder etwa …, dass er sie heiratete?

Egal, es war wohl müßig, weiter darüber nachzudenken. Der junge Polizist wurde das Gefühl nicht los, dass sich da etwas ganz Schlimmes über seinem Kopf zusammenbraute, etwas, das sein ganzes bisheriges Leben veränderte.

Max nahm den Umschlag zur Hand und schaute hinein. Drinnen steckte eine kleine Fotografie, die ein Madel zeigte, das stolz mit seiner Schultüte in die Kamera lächelte. ›Mein erster Schultag‹, stand auf einer Tafel, die der Fotograf neben das Kind gestellt hatte. Maximiliane Wendler, hatte jemand hinten auf das Foto geschrieben. Er vermutete, dass es Maria gewesen war. Der Polizist betrachtete das Madel genau, suchte nach irgendeiner Ähnlichkeit, die ihm bestätigte, dass dies seine Tochter war. Er fand nichts, oder lag das am Bild, auf dem das Gesicht nicht wirklich gut zu erkennen war?

Der Bruder des Bergpfarrers steckte Foto und Brief in den Umschlag zurück und legte ihn zu dem anderen, tief hinten in der untersten Schublade.

Schon beim Lesen des ersten Briefes hatte Max versucht, sich an Maria zu erinnern, sich vorzustellen, wie sie damals ausgesehen hatte. Es war ihm nur schwer gelungen. Immerhin fielen ihm die langen blonden Haare ein, die sie zum Arbeiten immer zu dicken Zöpfen gebunden hatte, und das hübsche Gesicht, mit den vollen roten Lippen, auf denen immer ein flotter Spruch lag. Kein Wunder also, dass er ihren Reizen erlegen war.

Hätte er allerdings die Folgen erahnen können, Max hätte sich gehütet, sich mit dieser Frau einzulassen!

Was sollte er jetzt tun? Abwarten und Tee trinken? Oder musste er die Initiative ergreifen?

Der junge Polizist überlegte. Nach München war es ein Katzensprung, wenn er es morgen einrichten konnte, eine Vertretung zu bekommen, dann war es rasch erledigt, Maria aufzusuchen und ein vernünftiges Wort mit ihr zu reden. Freilich würde er ihr anbieten müssen, für den Unterhalt des Kindes aufzukommen, aber sie musste auch einsehen, dass sie seine Ehe mit Claudia nicht gefährden durfte.

Und schon gar nicht durfte sie mit Maxi nach St. Johann kommen!

*

Sebastian Trenker verließ das Pfarrhaus und ging den Kiesweg hinunter. Noch drei Tage und Max hatte Geburtstag. Da musste man sich wirklich etwas einfallen lassen. Freilich würde es einen Festschmaus zu Ehren seines Bruders geben, Sophie Tappert war schon seit Tagen am Planen und überlegte, was sie an Leckereien auf den Tisch bringen könnte. Dazu musste sie allerdings die genaue Anzahl der zu erwartenden Geburtstagsgäste wissen. Und in dieser Angelegenheit war der Bergpfarrer nun unterwegs.

Allerdings machte sich der Geistlich auch so seine Gedanken über den Bruder. Die Veränderungen, die Max in den vergangenen Wochen gemacht hatte, waren durchaus beunruhigend, und Sebastian hatte Claudia gegenüber nur nicht seine Bedenken geäußert, um die Schwägerin nicht noch mehr zu beunruhigen.

Es war höchste Zeit, mit Max selbst einmal zu reden!

Zunächst besuchte Sebastian allerdings ein paar Freunde und Bekannte und holte deren Zusage ein. Am Ende hatte er mehr als achtzig Gäste auf seiner Liste. Ein deutlicher Beweis für die Beliebtheit, derer Max sich erfreute. Um all die Gäste unterzubringen, würde man wohl auf dem Platz zwischen Kirche und Pfarrhaus das große Zelt aufstellen müssen, in dem schon öfter gefeiert worden war.

Getränke wurden, ganz klar, von Sepp Reisinger geliefert, und ebenso klar war, dass der Hotelier und seine Frau ebenfalls mitfeiern würden. Das Essen jedoch stammte auf jeden Fall aus der Küche des Pfarrhauses.

Sebastian drückte die Tür zur Polizeiwache auf und trat ein. Der Geistliche stutzte einen Moment, als er, anstelle seines Bruders, einen anderen Beamten hinterm Schreibtisch antraf.

»Grüß dich, Bertram«, sagte er verdutzt. »Ist der Max net da?«

Bertram Velbert schüttelte den Kopf und stand auf.

»Grüß Gott, Hochwürden«, antwortete er und reichte Sebastian die Hand. »Nein, Ihr Bruder ist nach München gefahren. Deshalb bin ich ja hier.«

Der Bergpfarrer runzelte die Stirn.

»Nach München? Davon hat er gar nix erzählt«, meinte er verwundert und schüttelte den Kopf. »Weißt du vielleicht, was er da will?«

Der Polizist zuckte die Schultern.

»Darüber weiß ich leider gar nix«, erwiderte er. »Der Max hat mich gestern Abend angerufen und gefragt, ob ich ihn heut bis Mittag vertreten kann. Er hat Glück, dass heut mein freier Tag ist, sonst hätt er jemand anders suchen müssen. Sie wissen wohl, wie schwierig die Situation bei uns ist.«

Sebastian nickte. Freilich wusste er, wie dünn die Personaldecke bei der Polizei war. Immer mehr Stellen wurden abgebaut, immer weniger junge Leute drängten in diesen doch schweren und oft undankbaren Beruf.

»Tja, dann kann ich nur warten, bis der Max wieder zurück ist«, sagte er und verabschiedete sich.

Was wollte er bloß in München? Gesagt hatte er jedenfalls nichts. Ob es etwas mit seinem Geburtstag zu tun hatte?

Na ja, spätestens zum Mittagessen würde er ja wohl zurück sein. Schließlich gab es heute eines seiner Lieblingsgerichte: Königsberger Klopse in Kapernsauce, mit Roter Bete.

Das hatte Max sich noch nie entgehen lassen!

Sebastian kehrte zum Pfarrhaus zurück. In seinem Arbeitszimmer warteten noch eine Menge unerledigter Dinge auf ihn. Hinzu kamen einige Hausbesuche, die in seinem Terminkalender standen.

Der gute Hirte von St. Johann machte sich sogleich ans Werk, indes merkte er sehr schnell, dass er sich nicht richtig auf die Arbeit konzentrieren konnte.

Immer wieder schweiften die Gedanken zu seinem Bruder ab und zur Frage, was Max in München zu tun hatte? Und warum machte er so ein Geheimnis davon?

Sebastian griff zum Telefon. Er wollte Claudia anrufen und sie fragen, was sie darüber wisse. Doch dann ließ er die Hand wieder sinken.

Nicht, dass er da in ein Wespennest stieß, und seine Schwägerin vielleicht aus allen Wolken fiel, wenn sie erfuhr, dass Max nach München gefahren war, ohne vorher darüber ein Wort zu verlieren – falls er seine Frau auch nicht eingeweiht hatte.

Freilich hätte er sich nicht rechtfertigen müssen. Aber sonst hatte Max es immer erzählt, wenn er so etwas vorhatte. Und sein sonderbares Verhalten in der letzten Zeit gab durchaus Anlass zur Besorgnis. So ganz war Sebastian nämlich nicht überzeugt, dass das seltsame Gebaren seines Bruders tatsächlich mit dem Zeitungsartikel und dem damit verbundenen Rummel im Zusammenhang stand, oder mit Max’ Geburtstag, wie er zu Claudia gesagt hatte. Das war mehr geschehen, um die Schwägerin zu beruhigen.

Wenn er sie jetzt anrief, und sie tatsächlich nichts von Max’ Fahrt nach München wusste, würde sie sich nur noch mehr sorgen!

Der Geistliche zwang sich, zu arbeiten, dabei blickte er immer wieder auf die Uhr, die über der Tür hing. Die Stunden und Minuten zerrannen zäh. Mehr als einmal war Sebastian versucht, seinen Bruder auf dessen Handy anzurufen. Doch auch das unterließ er. Vielleicht gab es ja eine ganz harmlose Erklärung, und er machte nur unnötig die Pferde scheu.

Zur gewohnten Stunde verkündete die Haushälterin, dass das Essen fertig sei.

»Ist der Max schon da?«, fragte Sebastian.

Sophie Tappert schüttelte den Kopf.

»Hoffentlich ist er net wieder so in Hetze, wie gestern«, meinte sie.

Noch einmal blickte der Geistliche auf die Uhr.

»Warten wir noch ein paar Minuten«, schlug er vor.

Eine Stunde später, die Kartoffeln waren längst verkocht, die Sauce eingedickt und salzig geworden, die Klopse drohten zu zerfallen, fingen sie ohne Max zu essen an.

Er kam aber auch zwei Stunden später nicht, ebenso wenig erschien er zum Kaffeetrinken, und am Abend stürzte Claudia Trenker ins Pfarrhaus und fragte besorgt, ob man dort wisse, wo ihr Mann abgeblieben sei …

*

Thomas Berghofer saß im Garten der Pension und blätterte in einer Zeitschrift. Der erste Urlaubstag lud so richtig zum Faulenzen ein.

Obwohl, so richtig faul war er gar nicht gewesen!

Ganz im Gegenteil, Thomas hatte bereits einige Aktivitäten hinter sich. Und das Erste, was er getan hatte, war, ein riesiges Frühstück zu bewältigen …

Der junge Arzt war am Abend zuvor früh schlafen gegangen, das heißt, er hatte noch im Bett gelesen, bis er eingeschlafen war. Eine lieb gewordene Angewohnheit von ihm. Er las so lange, bis es ihm noch gelang, mit letzter Kraft das Licht zu löschen und das Buch aus der Hand zu legen. Seltsamerweise hatte ihm das Lesen während des Praktikums immer geholfen, die Nachtdienste zu überstehen, ohne einzuschlafen. Thomas hatte oft über dieses Phänomen nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass es wohl etwas mit seinem ausgeprägtem Verantwortungsgefühl zu tun haben müsse, dass er wach geblieben war, und weniger mit dem Lesen selbst. Am Morgen war er dann ausgeruht aufgestanden, hatte ausgiebig geduscht, sich etwas Bequemes angezogen und war dann zum Frühstück hinuntergegangen.

»Haben S’ gut geschlafen?«, hatte Ria Stubler ihn begrüßt.

»Wie in Abrahams Schoß«, antwortete er lächelnd.

»Das freut mich. Draußen auf der Terrasse ist für Sie gedeckt. Was möchten S’ trinken? Tee oder Kaffee? Und mögen S’ ein Spiegelei oder lieber gekocht?«

Thomas bat um Kaffee und wählte ein gekochtes Ei.

»Fünf Minuten.«

»Ist recht«, nickte die Wirtin. »Dann nehmen S’ schon mal Platz. Ich bring Ihnen gleich alles.«

Auf der Terrasse waren nicht alle Tische gedeckt. Entweder, weil die Gäste schon gegessen hatten, oder nicht alle Zimmer waren belegt. Letzteres konnte der Arzt allerdings kaum glauben, ihm selbst war es nur mit Mühe gelungen, das Zimmer hier in der Pension noch zu bekommen.

Tatsächlich hatten etliche der Gäste das Frühstück schon hinter sich. Eine Gruppe von sieben Leuten, die zusammengehörten und zu einer Wanderung durch den Ainringer Wald aufgebrochen war, wie die Wirtin erzählte.

Ria Stubler stellte ein Tablett ab, und Thomas bekam große Augen. Auf dem Tisch standen schon mehrere abgedeckte Schüsselchen mit Marmelade und Honig, Müsli und Frühstücksflocken. Jetzt kam ein großer Brotkorb mit frischen Semmeln und Hörnchen dazu. Weiter eine Kaffeekanne, sowie Milch und Butter und eine riesige Platte, auf der Wurst, Schinken und Käse hübsch angerichtet und garniert waren.

»Sagen S’, Frau Stubler, das ist doch wohl net etwa alles für mich, oder?«, fragte Thomas ungläubig.

Die Wirtin schmunzelte.

»Langen S’ nur tüchtig zu«, meinte sie. »Unsre gute Bergluft macht hungrig. Und dann können S’ sich gern was für eine spätere Brotzeit machen. Dann brauchen S’ net so oft zum Essen ins Wirtshaus geh’n und schonen die Reisekasse.«

Es war das beste Frühstück, das Thomas Berghofer jemals in einem Hotel oder einer Pension vorgesetzt bekommen hatte. Alles war frisch und schmeckte unglaublich lecker. Nichts war abgepackt oder kam aus der Tüte, selbst der Kaffee schmeckte besser, als alles, was der junge Arzt bisher in seinem Leben getrunken hatte, und selbstverständlich war das Ei auf den Punkt genau gekocht.

Nach dem ausgiebigen Frühstück musste Thomas sich erst einmal bewegen. Er kaufte eine Wanderkarte und machte sich auf den Weg. In dem Rucksack, den Ria Stubler ihm ausgeliehen hatte, steckten eine Brotzeit und eine Flasche Wasser. So ausgerüstet, wanderte der Arzt über zwei Stunden durch das Wachnertal, wobei er freilich entsprechende Pausen einlegte. Auf einem Berghang, den er erklommen hatte, saß Thomas später und schaute auf das Dorf hinunter.

Irgendwo hier in der Gegend musste auch die Klinik »Nonnenhöhe« liegen, überlegte er.

Dieses Krankenhaus genoss in Fachkreisen einen geradezu legendären Ruf, war sein Leiter doch kein geringerer, als der berühmte Professor Bernhard, der bereits Generationen von Ärzten ausgebildet hatte. Thomas hatte auch mehrere Semester bei diesem begnadeten Arzt studiert, sich dann aber der Kinderheilkunde zugewandt, während Professor Bernhard Internisten ausbildete. Indes konnte er seinen Aufenthalt hier vielleicht einmal dazu nutzen, die Klinik aufzusuchen und möglicherweise dem Professor sogar guten Tag sagen. Wie es dort aussah, würde ihn auf jeden Fall interessieren.

Wie Ria Stubler richtig vorausgesagt hatte, sparte sich der Arzt das Mittagessen und aß stattdessen die mit dem köstlichen Bergkäse belegten Semmeln.

»Der stammt von der Kanderer­alm«, hatte die Wirtin erzählt. »Der beste Bergkäse weit und breit.«

Da konnte Thomas ihr nur recht geben, als er heißhungrig in die zweite Käsesemmel biss.

Am Nachmittag war er wieder in der Pension Stubler angelangt und nahm erfreut die Einladung der Wirtin zu einer Tasse Kaffee an. Anschließend setzte er sich in den Garten und las in der Zeitschrift, die er mit nach draußen genommen hatte.

Thomas hatte gerade einen Artikel zu Ende gelesen, als eine Stimme ihn zur Tür schauen ließ. Dort stand ein kleines Madel, eine Puppe an sich gepresst, und schaute ihn neugierig an.

»Grüß dich«, lächelte der Arzt. »Bist ein neuer Gast?«

Ria Stubler hatte ihm erzählt, dass sie noch eine Anreise erwartete, eine junge Frau mit ihrem Kind.

Das Madel lächelte scheu zurück, nickte dann aber doch schnell und machte einen Schritt auf ihn zu.

»Maxi, lauf net fort!«

Die Stimme der Frau ließ das Kind in der Bewegung verharren. In der Terrassentür erschien eine Gestalt, ihre Blicke begegneten sich, und Thomas spürte so etwas wie einen Stich in der Brust.

Himmel, was für eine Erscheinung!

»Entschuldigen S’, wenn die Kleine Sie belästigt haben sollte«, sagte die junge Frau mit dem aparten Gesicht und den strohblonden schulterlangen Haaren.

»Überhaupt net«, beeilte er sich zu sagen und stand auf. »Gestatten, Thomas Berghofer.«

»Maria Wendler, angenehm«, antwortete sie und wandte sich wieder dem Kind zu. »Komm, wir müssen erst mal unser Zimmer beziehen.«

Fast bedauernd schaute er zu, wie die beiden ins Haus gingen. Am liebsten wäre Thomas ihnen nachgelaufen, um diesen Anblick nicht aus den Augen zu verlieren.

»Das ist mir ja noch nie passiert«, murmelte er verblüfft.

Es war eine schöne und erschreckende Erkenntnis zugleich, dass er sich auf den ersten Blick verliebt hatte!

*

Zur selben Stunde saß Max Trenker in München in dem Wirtshaus, in dem er seinerzeit die junge Frau kennengelernt hatte.

Leider war sein Besuch in der auf dem Brief angegebenen Straße vergeblich gewesen. Die Adresse stimmte zwar, aber auf sein mehrmaliges Klingeln hatte niemand geöffnet. Früher hatte Maria ganz woanders gewohnt, dieses Haus hier, die ganze Gegend, sah eher schäbiger aus. In der Hoffnung, Maria im »Stadlbräu« zu treffen, war Max dorthin gefahren. Aber vielleicht arbeitete sie schon gar nicht mehr dort, hatte er überlegt.

Als er eintrat, es war kurz vor Mittag, herrschte Hochbetrieb. Es duftete verführerisch nach geschmorten Haxen, Sauerkraut und gebratenen Würsteln. Max hatte dennoch keinen Hunger. Er setzte sich an den Tresen und bestellte eine Tasse Kaffee. Den Wirt, der am Zapfhahn stand, erkannte er sofort wieder. Der hatte damals oft eine Runde für die Lehrgangsteilnehmer geschmissen, die Polizeischule war ganz in der Nähe. Gespannt beobachtete er dessen Reaktion auf seine Frage.

»Die Maria?« Franz Gruber stellte einen zweiten Kaffee vor Max hin. »Ja, die arbeitet noch hier«, bestätigte er. »Aber die hat sich ein paar Tag frei genommen. Hat was Privates zu erledigen, hat sie gesagt.«

Max spürte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen.

Hatte sie ihre Ankündigung tatsächlich wahr gemacht und war nach St. Johann gefahren? War sie womöglich jetzt schon dort und suchte nach ihm, während er hier herumsaß und seine Zeit vertrödelte?

Der Gedanke, Maria Wendler könne bei ihm zu Hause klingeln und Claudia gegenüberstehen, schnürte dem Bruder des Bergpfarrers die Kehle zu. Wie durch einen Schleier sah er seine Frau und den kleinen Sohn, die für ihn alles bedeuteten.

Seine Familie, die kleine Welt, in der sie lebten, war auf einmal in Gefahr. Nichts würde mehr so sein, wie bisher.

Hastig trank er seinen Kaffee aus, legte das Geld auf den Tresen und ging hinaus.

Max setzte sich in sein Auto und atmete tief durch. Durch die Jacke fühlte er sein Handy, als er den Gurt anlegte. Er hatte es vorsichtshalber nicht eingeschaltet, für den Fall, dass jemand herausbekommen hatte, dass er nach München gefahren war. Dafür würde er sich dann ohnehin noch eine Erklärung einfallen lassen müssen. Aber jetzt wollte er das Mobiltelefon noch nicht einschalten; bloß keine unnötigen Diskussionen.

Jetzt galt es erst einmal, Gewissheit zu bekommen. Max fuhr noch einmal zum Haus, in dem Maria im dritten Stock wohnte. Er drückte auf das Namensschild neben ihrem und wartete gespannt ab. Der Türöffner summte, und der Polizist betrat einen dunklen, muffig riechenden Flur. Der Aufzug war defekt, wie ein Schild an der Tür verkündete, Max lief die Treppe hinauf.

Oben angekommen sah er eine Frau in der offenen Tür ihrer ­Wohnung stehen. Sie war um die fünfzig Jahre alt, trug einen Kittel und hatte strähniges, ungepflegtes Haar.

»Was wollen S’?«, fragte sie ungehalten. »Wenn S’ Gerichtsvollzieher sind, kommen S’ umsonst. Bei mir ist nix zu holen.« Sie schickte ihren Worten ein meckerndes Lachen hinterher.

Max schüttelte den Kopf. Als er vor ihr stand, nahm er den Geruch ihres alkoholgetränkten Atems wahr und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Ich bin kein Gerichtsvollzieher und ich will auch gar net zu Ihnen, Frau Obermaier«, sagte er. »Ich möcht Ihre Nachbarin sprechen, die Frau Wendler. Wissen S’ vielleicht, wann ich sie antreffen könnt? Sie scheint jetzt net daheim zu sein.«

Frau Obermaier schwankte bedenklich, als sie den Kopf schüttelte.

»Da haben S’ Pech, werter Herr«, sagte sie, erstaunlich flüssig. »Die ist nämlich verreist, die Maria.«

Max schluckte.

»Verreist …?«

Die Frau nickte. »Heut in der Früh ist sie los. Mitsamt dem Madel, und einen Koffer hatte sie auch dabei, die Maria.«

»Wissen S’ vielleicht, wohin sie wollte?«, fragte Max, in der Hoffnung, dass die Antwort anders ausfallen würde, als er befürchtete.

Das tat sie auch, war indes aber nicht befriedigend.

»Ich hab keine Ahnung, junger Mann«, erwiderte die Betrunkene. »Außerdem bin ich kein Auskunftsbüro. Also, gehaben S’ sich wohl.« Damit trat sie zurück und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Max Trenker blieb betroffen stehen und dachte angestrengt nach. Maria war verreist. Doch wohin? Nach St. Johann, wie sie ihm geschrieben hatte?

Und das Kind war auch dabei!

Was, wenn sie Claudia damit konfrontierte?

Für seine Frau musste eine Welt zusammenbrechen!

Max stieg langsam die Treppe wieder hinunter, und mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer. Dann setzte er sich in seinen Wagen und presste den Kopf gegen das Lenkrad. Sein Kopf schwirrte, und tausend Bilder tauchten vor ihm auf. Gegenwart und Vergangenheit vermischten sich, und so saß er immer noch, als längst die Dunkelheit hereingebrochen war.

*

Thomas saß ab und führte das Pferd, einen dreijährigen Wallach, vor den offenen Stall, wo er das Tier anband. Der Arzt ging in die Sattelkammer, dort im Regal fand er Putzzeug. Er nahm einen Kasten mit nach draußen und begann, das Pferd zu striegeln. Dabei wanderten seine Gedanken unablässig zu der jungen Frau und dem Kind.

Eine ganze Zeit lang hatte er noch im Garten der Pension gesessen, in der Hoffnung, die neu angekommenen Gäste noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Doch er wurde enttäuscht. Maria Wendler und ihre Tochter zeigten sich nicht. Schließlich war Thomas aufgestanden, um endlich das zu tun, was er sich schon am Tag zuvor vorgenommen hatte. Mit dem Auto fuhr er zum Ferienhotel ›Reiterhof‹.

Die Anlage machte einen sehr guten und gepflegten Eindruck. In der Koppel standen ein paar Pferde herum, und weitere grasten auf der Weide nebenan. Der Stall, in den man hineinschauen konnte, sah sehr sauber aus, und überall roch es nach frischem Stroh. Thomas war angenehm überrascht, er hatte da schon ganz andere Pferdehöfe gesehen …

»Grüß Gott«, sagte eine junge Frau, die aus dem Stall ins Freie kam. »Kann ich Ihnen helfen?«

Der Arzt nickte und stellte sich vor.

»Ich würd gern ein Pferd ausleihen, wenn das möglich ist.«

Sie schmunzelte.

»Freilich ist das möglich. Ich bin die Conny und arbeite hier als Pferdewirtin«, erklärte die junge Frau. »Darf ich fragen, ob Sie Reiterfahrung haben?«

Jetzt schmunzelte Thomas.

»Ich reite seit meinem siebten Geburtstag«, antwortete er. »Die letzten Jahre hab ich’s allerdings wegen des Studiums ein bissel vernachlässigen müssen. Aber ich bin sicher, dass ich net herunterfall.«

Conny Beerlach lachte.

»Dann kommen S’ mal«, sagte sie und deutete auf einen braunen Wallach, der in der Koppel stand. »Das ist der Mingo, er freut sich, wenn er ein bissel bewegt wird.«

Thomas nickte zufrieden. »Den Spaß kann er haben.«

Die Pferdewirtin zeigte ihm die Sattelkammer und das Regal, in dem Reiterhelme in allen Größen lagen. Daneben standen Stiefel, die ebenfalls ausgeliehen werden konnte. Indes hatte der Arzt feste Bergstiefel angezogen, die sich ebenso gut zum Reiten eigneten, die Jeans, die er trug, würde den Ausflug wohl unbeschadet überstehen. Thomas suchte einen passenden Helm aus, schnappte sich Sattel und Zaumzeug und machte den Wallach für den Ausritt fertig.

Mingo tänzelte vor Freude, als er über den Hof geführt wurde. Draußen saß Thomas auf und brachte das Pferd mit leichtem Schenkeldruck dazu, sich in Bewegung zu setzen. Erst ging es im Schritt voran, als sie dann freies Gelände erreichten, gab der Arzt die Zügel frei und ließ den Wallach ein ganzes Stück im Galopp laufen. Auf einer Bergwiese fiel Mingo dann zuerst in einen leichten Trab, dann in den gemütlichen Schritt. Thomas war begeistert von dem Pferd und ließ es geduldig an den Blumen und Kräutern knabbern, die auf der Wiese wuchsen.

Schließlich saß er ab und setzte sich unter einen Baum ins Gras. Die Zügel band er an einen tief herabhängenden Ast.

Schon während des Reitens hatte er unentwegt an Maria Wendler denken müssen. Jetzt, wo er noch mehr Muße hatte, schalt Thomas sich einen Narren.

Was wusste er denn über diese Frau?

Gar nichts. Nicht einmal, ob sie vielleicht verheiratet war. Und wenn auch sein Herz lichterloh in Flammen stand, so besagte das noch gar nichts. Schon gar nicht, dass seine Liebe erwidert würde.

Wenn sie ein Kind hatte, gab es auch einen Vater dazu. Und die Tatsache, dass die Mutter mit ihrer Tochter alleine in den Urlaub gefahren war, konnte viele Gründe haben. Der einfachste war vielleicht, dass ihr Mann, der Vater von Maxi, keinen Urlaub bekommen hatte.

Das Herz war ihm ungewohnt schwer, als Thomas wieder aufsaß und zum Reiterhof zurückkehrte. So hatte er sich auch gefühlt, als die Beziehung zu Iris zerbrochen war. Doch das war noch etwas anderes gewesen. Jetzt hatte er das Gefühl, irgendwo zwischen Himmel und Erde zu schweben. Solange er keinen eindeutigen Beweis dafür hatte, dass Maria Wendler verheiratet war, konnte er noch hoffen.

Thomas Berghofer brachte den Wallach auf die Koppel zurück und gab ihm einen Klaps.

»Mal schau’n, vielleicht komm ich bald wieder«, murmelte er.

Dann ging er in den Stall, suchte die Pferdewirtin in ihrem kleinen Büro auf, das neben der Sattelkammer lag und bezahlte den Preis für das Ausleihen.

»Hat’s Ihnen gefallen?«, erkundigte sich Conny Beerlach.

»Es war grandios«, antwortete der Arzt. »Und wenn ich wiederkomm, dann möcht ich gern wieder den Mingo reiten.«

»Kein Problem. Rufen S’ vorher an, und ich reservier ihn für Sie.«

Thomas verabschiedete sich und fuhr nach St. Johann zurück. In der Pension angekommen ging er zu seinem Zimmer hinauf. Hinter der Tür gegenüber hörte er Stimmen. Die von Mutter und Tochter. Die Pensionswirtin hatte ihm erzählt, dass sie die junge Frau in einem Einzelzimmer unterbringen müsse, weil die Doppelzimmer alle vergeben wären. Allerdings sei das kein Problem, da das Madel noch klein sei und in einem Zustellbett schlafen würde.

Thomas schloss auf und ging hinein. Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, stand er am Fenster und schaute hinaus. Dabei lauschte er auf die Geräusche, draußen auf dem Flur. Irgendwann klappte eine Tür, und er hörte Maxis Stimme. Der Arzt huschte zur Tür und zog sie ein Stück auf, die beiden hatten ihr Zimmer verlassen und gingen die Treppe hinunter.

Leise ging er ihnen hinterher.

*

»Ich versteh das einfach net!«

Claudia Trenker rang verzweifelt die Hände.

»Heut früh, als ich nach Garmisch gefahren bin, da hat der Max seine Uniform angehabt, und als ich jetzt heimkomm, hängt sie am Schrank, und er ist verschwunden! Dafür fragt mich der Bertram Velbert, wo Max eigentlich bleibt. Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich gehört hab, dass er sich vom Bertram hat vertreten lassen, um nach München zu fahren.«

Die Journalistin sah ihren Schwager fragend an.

»Sebastian, was ist denn los?«

Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf.

»Viel mehr, als du weißt, kann ich dir auch net sagen«, erwiderte er. »Ich war genauso überrascht, als ich den Max heut Morgen hab sprechen wollen und, statt seiner, den Bertram im Revier angetroffen hab. Ich hab keine Ahnung, was er in München will.«

Was er nicht verriet war, dass er, nachdem sie vergeblich mit dem Mittagessen gewartete hatten, Max auf dessen Handy angerufen hatte. Doch offenbar hatte der Bruder sein Mobiltelefon nicht eingeschaltet. Sebastian hinterließ mehrere Nachrichten auf der Mobilbox, in der Hoffnung, dass Max es abhören und sich melden möge. Indes hatte genau dies auch Claudia getan, seit sie nach Hause gekommen war.

Mutlos sah die Journalistin ihren Schwager an.

»Hat er denn wirklich nix gesagt?«, forschte der Bergpfarrer nach. »Überleg mal ganz genau. Jede Kleinigkeit kann uns vielleicht weiterhelfen.«

Claudia saß auf einem Stuhl in der Küche des Pfarrhauses. Ihr schönes Gesicht zeigte tiefe Sorgenfalten, während sie grübelte.

Nein, da war nichts. Max hatte sich am Morgen nicht anders gezeigt, als sonst auch. Sie hatten noch geplaudert und über seinen bevorstehenden Geburtstag gesprochen, ehe sie zur Arbeit nach Garmisch Partenkirchen gefahren war.

Und gestern?

Gut, Max hatte ein bissel abgespannt gewirkt. Er hatte ja auch einen anstrengenden Tag hinter sich, wie er erzählte. Aber nichts deutete darauf hin, dass er heute vorhatte, nach München zu fahren. Vor allem, was wollte er dort?

»Ob’s was Berufliches ist?«, mutmaßte der Geistliche.

Es wäre nicht das erste Mal, dass sein Bruder in seiner Eigenschaft als Polizeibeamter nach München gefahren wäre, um dort in einem Prozess auszusagen.

Seine Schwägerin schüttelte den Kopf. »Das hätt Max mir erzählt.«

Sebastian nickte. Das war freilich richtig, wegen einer Aussage vor Gericht hätte sein Bruder nicht so ein Geheimnis aus der Fahrt machen müssen. Dennoch beharrte Sebastian darauf, alles durchzugehen, was er und Claudia über Max und dessen diversen Ermittlungen wussten. Möglicherweise war ja doch die eine oder andere Angelegenheit der Grund für diese ungewöhnliche Geheimniskrämerei.

Doch so sehr sie auch nachdachten, es wollte ihnen nichts einfallen. Zwar gab es zahlreiche Täter, die der Polizist dingfest gemacht und vor Gericht gebracht hatte. Doch die meisten von ihnen saßen derzeit ihre Strafen ab, und aktuell gab es keinen Fall, der verhandelt wurde.

»Ob wir mal im Präsidium anrufen sollten?«

Der gute Hirte von St. Johann nickte.

»Daran hab ich auch schon gedacht«, erwiderte er. »Allerdings befürcht ich, dass wir da wenig erfahren werden. Max hat den Bertram privat angerufen, im Präsidium wissen die vielleicht gar net, dass die beiden getauscht haben …« Indes war es nicht der einzige Grund für sein Zögern gewesen.

Claudia biss sich auf die Lippe.

»Du denkst, Max könnt deswegen Ärger bekommen?«

Sebastian hob die Hände und ließ sie wieder fallen.

»Möglich wär’s …«

Seine Schwägerin holte tief Luft. »Egal«, bestimmte sie, »wir riskieren’s. Ich muss endlich wissen, was los ist.«

Sie gingen in das Arbeitszimmer des Bergpfarrers, und Claudia setzte sich an den Schreibtisch ihres Schwagers. Die Telefonnummer des Polizeipräsidiums in der Kreisstadt hatte sie in ihrem eigenen Mobiltelefon gespeichert. Sie wählte und ließ sich mit dem diensthabenden Leiter verbinden.

Während sie telefonierte, ging Sebastian hinaus und wählte mit seinem Handy noch einmal Max’ Nummer.

Zum wievielten Mal heute eigentlich?

»Max, ich bin’s«, sagte er eindringlich. »Warum meldest dich denn net? Claudia und ich, wir machen uns die größten Sorgen. Wenn du das abhörst, dann ruf endlich an!«

Besorgt legte er das Mobiltelefon auf den Tisch bei der Garderobe und kehrte ins Arbeitszimmer zurück.

Claudia saß auf seinem Stuhl und sah ihm mit blassem Gesicht entgegen.

»Und? Hast was in Erfahrung bringen können?«, fragte er.

Sie nagte wieder an ihrer Unterlippe.

»Max hat vor einer Stunde angerufen«, erzählte sie, was der Dienststellenleiter ihr berichtet hatte. »Er hat Sonderurlaub gefordert …«

Sebastian sah sie fassungslos an. »Sonderurlaub?«

Claudia nickte. »Mindestens für fünf Tage.«

Sie schluchzte plötzlich auf.

»Und er hat gesagt, er kündigt auf der Stelle, wenn ihm der Urlaub net gewährt wird«, stieß die Journalistin hervor.

Der Geistliche glaubte, nicht richtig zu hören.

»Ja, ist er denn jetzt ganz durchgedreht?«, rief er. »Was denkt er sich denn dabei? Er kann doch net so einen Alleingang unternehmen und uns nix sagen! Wofür braucht er Sonderurlaub?«

Claudia schluchzte, ihre Schultern bebten.

»Ich …, ich weiß es net«, weinte sie.

Sebastian trat zu ihr und strich ihr behutsam über das Haar. Er verstand die Welt nicht mehr. Sein Bruder verschwand sang- und klanglos von der Bildfläche und ließ Frau und Kind hier zurück.

»Was ist denn eigentlich mit Sebastian?«, fragte er seine Schwägerin. »Müsste der net längst abgeholt werden?«

Claudia fuhr erschrocken auf.

»Den hab ich doch ganz vergessen!«

»Lass mal«, winkte der Bergpfarrer ab, als sie zum Telefon greifen wollte, »ich ruf Elena an und frag, ob der Kleine über Nacht dort bleiben kann. Und du schläfst heut hier im Pfarrhaus. Dann haben wir noch genug Zeit, zu überlegen, was wir unternehmen können, um Max zu finden.«

*

Thomas Berghofer folgte Mutter und Tochter in einem gewissen Abstand. Es sollte freilich nicht so aussehen, als würde er ihnen nachschleichen. Viel mehr wollte er es so einrichten, dass er ihnen bei passender Gelegenheit ›zufällig‹ begegnete …

Als er sah, dass die beiden den Weg zum Hotel einschlugen, vermutete der Arzt, dass Maria Wendler mit ihrem Kind zum Abendessen ins Wirtshaus oder den Biergarten wollte. Wenig später sah er diese Vermutung bestätigt. Ein paar Minuten nach ihnen trat er durch den Eingang des Gartenlokals und schaute sich nach ihnen um.

Die langen Tische waren bis auf den letzten Platz besetzt, und auf der anderen Seite gab es nur noch einen freien Tisch, an den eine Angestellte gerade Mutter und Tochter führte.

Thomas frohlockte.

Wenn das keine Fügung des Schicksals war!

Er trat näher und schaute sich dabei wie suchend um, hatte aber immer den Tisch im Blick, an dem Maria Wendler saß. Schließlich blieb er mit dem Rücken zu ihnen stehen und drehte sich wie zufällig um.

»Ach, hallo zusammen«, lächelte der Arzt freundlich. »Wollen S’ auch zu Abend essen?«

Er zuckte bedauernd die Schultern.

»Tja, wie’s ausschaut, ist für mich kein Platz mehr frei«, meinte er resignierend. »Da muss ich wohl wieder geh’n.«

Maria Wendler deutete auf den Stuhl, der ihr gegenüber stand.

»Also, wenn S’ mögen, dann setzen S’ sich gern zu uns.«

Als langjährige Bedienung im »Stadlbräu« hatte sie oft genug wildfremde Menschen an einen Tisch gesetzt, wenn es nicht mehr genügend freie Plätze gab. Außerdem war dieser Thomas Berghofer ja eigentlich gar kein Fremder mehr. Immerhin wohnten sie in derselben Pension.

»Das ist sehr freundlich«, bedankte er sich und zog den Stuhl zurück. »Hallo, Maxi. Wie geht’s dir?«

Das Madel sah ihn mit großen Augen an. Es war genauso hübsch wie seine Mutter. Die Ähnlichkeit der beiden war wirklich frappierend.

»Gut. Und wie geht’s dir?«

»Maxi, man darf Erwachsene net einfach duzen!«, fuhr die Mutter dazwischen.

»Seien S’ net so streng«, bat Thomas lächelnd. »In dem Alter dürfen Kinder so etwas schon noch tun.«

Er wandte sich dem Madel zu.

»Gell, Maxi, sagst einfach Thomas zu mir.«

Maria sah ihn seltsam an. Sie hatte schon etliche Männer kennengelernt. In ihrem Beruf blieb das auch gar nicht aus. Aber nur wenige von ihnen legten so eine Höflichkeit an den Tag, wie Thomas Berghofer, und noch viel weniger konnten so mit Kindern umgehen, wie er es tat.

Einer war da noch gewesen …, aber der hatte sie wieder verlassen, wusste gar nichts von seinem Kind und von der Misere, in der er sie beide zurückgelassen hatte.

Das Leben hatte es nie besonders gut mit Maria Wendler gemeint. Ihre Mutter war verstorben, als Maria noch zur Schule ging, der Vater arbeitete bei der Bahn. Indes konnte er den Tod der geliebten Frau nicht verkraften und fing zu trinken an. Maria flüchtete sich in die Obhut einer Tante, der Schwester ihrer Mutter, die dafür sorgte, dass das Madel eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau machte. Als der Vater an den Folgen des Alkoholmissbrauchs starb, hatte Maria ihn schon jahrelang nicht mehr gesehen. Nur wenige Monate später verstarb auch Tante Henriette, und sie stand, neunzehnjährig, von heute auf morgen alleine da.

Glücklicherweise bekam sie die Stelle im »Stadlbräu«, wo sie schon bald eine unentbehrliche Kraft war. Indes konnte man durch diese Arbeit nicht reich werden. Maria sparte eisern jeden Cent, legte abends das Trinkgeld auf die hohe Kante und nahm sich vor, dass sie eines Tages ein anderes, ein besseres Leben führen würde.

Doch wie so oft kam es anders, als man es sich vorstellte. Maria lernte den Mann kennen, der der Vater ihres Kindes werden sollte, doch ehe der überhaupt davon erfuhr, hatte er Maria wieder verlassen, und das Leben wurde noch härter für die junge Frau.

Es war ein Segen, dass der Chef sie nach der Schwangerschaft überhaupt noch weiterbeschäftigte. Die Kleine kam in eine Krippe, später in den Kindergarten, und seit dem letzten Jahr ging sie in die Schule. Dennoch stellte es keine Erleichterung für Maria da, die Tochter versorgt zu wissen. Sie konnte nur noch halbtags arbeiten, und entsprechend gering war das Geld, das ihr zum Leben blieb. Und es fehlte freilich der Unterhalt für das Madel, dessen Vater ja nichts von seiner Existenz wusste.

Als Maria dann zufällig den Artikel über Max Trenker in der Zeitung las und sein Foto sah, da wusste sie plötzlich, wie sie ihr Leben ändern, ihm eine neue Richtung geben konnte. Noch am selben Abend setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an den jungen Polizisten in St. Johann.

»Haben S’ schon gewählt?«

Die Stimme der Bedienung riss Maria aus ihren Gedanken. Sie schaute ihre Tochter an. »Den Kinderteller?«

Die Kleine nickte.

»Einen Apfelsaft dazu. Und für mich das Schwammerlragout«, bestellte die junge Frau.

Gott sei Dank waren hier die Preise ganz moderat. Es war ihr schwer genug gefallen, das Geld für die Fahrt hierher und das Pensionszimmer zusammenzubringen. Da musste gespart werden, wo es nur ging. Schließlich konnte sie mit ihrer Tochter ja nicht auf der Straße schlafen.

»Das nehm ich auch«, sagte Thomas Berghofer und sah Maria fragend an. »Wie wär’s mit einem Glaserl Wein?«

Sie zögerte. Am liebsten hätte sie ein Wasser bestellt, der Saft für ihre Tochter war schon teuer genug.

»Also, ich möcht net aufdringlich sein«, bemerkte der Arzt. »Aber ich würd gern die Getränke übernehmen …«

Die junge Frau lächelte scheu.

»Ich weiß net, ob ich das annehmen kann«, entgegnete sie.

Oft hatte sie erlebt, dass die Männer, die sie zu einem Getränk einluden, gewisse Erwartungen an diese Einladung knüpften. Doch bei Thomas Berghofer musste sie diese Bedenken wohl nicht haben.

»Bitte«, sagte er lächelnd, »Sie würden mir eine große Freud machen, wenn ich Sie und Maxi dazu einladen dürfte.«

Maria gab sich geschlagen, und das nicht nur, weil sie an ihre schmale Reisekasse dachte. Der Mann ihr gegenüber machte einen so ganz anderen Eindruck, als mancher der Männer, die sie bisher kennengelernt hatte.

Sie nickte schließlich dankbar und fragte sich insgeheim, warum sie und Thomas Berghofer sich nicht früher begegnet waren …

*

Spät in der Nacht stand Thomas am Fenster seines Zimmers und ließ die letzten Stunden noch einmal Revue passieren. Alles in allem war es ein gelungener Abend gewesen. Das Essen hatte köstlich geschmeckt, der Wein lecker, und Maria hatte sich sogar zu einem zweiten Glas überreden lassen. Er hatte erfahren, dass sie unverheiratet war, doch näher war sie dann auf das Thema nicht eingegangen. Und dann gab es da noch etwas, das den Arzt gänzlich rätselhaft vorkam.

Es schien, als gäbe es ein Geheimnis um die Frau und der kleinen Maxi. Irgendwie war Thomas ganz durcheinandergeraten, als er einen Moment mit der Kleinen alleine am Tisch saß.

»Wie gefällt’s dir denn in der Schule?«, hatte sich der Arzt erkundigt.

Das Madel zuckte die Schultern.

»Eigentlich ganz gut«, antwortete Maxi. »Bloß manchmal ist die Frau Gerber sehr streng.«

»Ist das deine Lehrerin?«

Sie nickte.

»Was sagt sie denn so, wenn sie streng ist, die Frau Geber?«, wollte Thomas amüsiert wissen.

»Lass das, Kathi! Sitz still, Kathi! Kathi, schwatz net so viel!«

Er lachte. »Na, das muss ja auch eine ganz Schlimme sein«, meinte Thomas Berghofer. »Wer ist denn die Kathi? Deine Freundin?«

Die Antwort verblüffte ihn. Maxi sah ihn mit großen Augen an, dann prustete sie los.

»Aber, das bin doch ich!«, lachte sie. »Ich bin die Kathi!«

Er verstand nicht ganz. War das so etwas wie ein Spiel? Ein Rollentausch vielleicht?

»Wieso? Ich denk, du heißt Maxi?«, sagte er verunsichert.

Was das Kind daraufhin antwortete, machte ihn noch konfuser.

»Nein. Ich heiß doch net Maxi. Also net wirklich, bloß hier, solang wir in St. Johann sind.«

Was sollte das nun heißen?

Bevor Thomas weitere Fragen stellen konnte, kam Maria zurück an den Tisch.

»Na, habt ihr euch gut unterhalten?«, wandte sie sich an ihre Tochter.

Maxi …, oder Kathi …, nickte.

»Mami, können wir morgen zum Schwimmen fahren?«, fragte sie. »Bitte …!«

Die junge Frau überlegte. Eigentlich hatte sie gar nicht die Zeit eingeplant. Sie wollte nur rasch mit Max Trenker sprechen und die Angelegenheit mit ihm klären und dann nach München zurückkehren. Ihre Tochter hatte zwar Ferien, aber sie musste wieder zur Arbeit. Franz Gruber, der Chef vom »Stadlbräu«, hatte ihr nur zähneknirschend ein paar Tage freigegeben.

»Ich weiß net recht, ob wir überhaupt Zeit dazu haben«, sagte sie. »Morgen muss ich erst zu der Besprechung, von der ich dir erzählt hab, und dann müssen wir mal schau’n. Wir haben doch auch gar kein Auto, und ich weiß gar net, ob da ein Bus an den See fährt.«

Das Kind machte ein enttäuschtes Gesicht. Thomas überlegte nicht lange.

»Also, wenn’s recht ist, würd ich mich als Chauffeur anbieten«, sagte er. »Ich hatte ohnehin vor, morgen an den Achsteinsee zu fahren.«

Maria sah ihn dankbar an.

»Kann ich das morgen entscheiden, wenn ich von der Besprechung zurück bin?«

»Aber selbstverständlich«, nickte der Arzt. »Aber ich würd mich sehr freuen, wenn ich Sie und Ihre Tochter mitnehmen könnt.«

Bald darauf waren sie aufgebrochen. Es war schon spät geworden, und das Madel sollte schlafen. Maxi, oder Kathi – Thomas wusste im Moment gar nicht, wie er die Kleine eigentlich nennen sollte, hatte schon mehrmals am Tisch herzhaft gegähnt.

»Gute Nacht«, verabschiedete er sich vor der Zimmertür. »Wir seh’n uns morgen, beim Frühstück.«

Ganz im Gegensatz zu sonst, half ihm seine Lektüre heute nicht beim Einschlafen. Immer wieder wurde Thomas Berghofer abgelenkt, hob dann den Kopf, schaute zum Fenster, hinter dem der Mond am klaren Himmel schien, und dachte über die rätselhaften Worte des Kindes nach.

Warum musste sich die Kleine Maxi nennen, solange sie und ihre Mutter in St. Johann waren? Hatte es etwas mit der Besprechung zu tun, die Maria Wendler erwähnt hatte? Was war das Geheimnis der Maria Wendler? Oder war es das Geheimnis ihrer Tochter?

Thomas warf die Bettdecke beiseite und stand auf. Er ging zum Fenster, zog den Vorhang zurück und schaute in die Nacht. Es war ein wolkenloser Himmel, und der volle Mond tauchte die Landschaft in ein silbernes Licht.

Was war mit dieser Frau und ihrer Tochter los?

Der Arzt war unsicher geworden, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte. Da hatte er sich auf den ersten Blick verliebt und festgestellt, dass Maria genau dem entsprach, was er sich nach der Trennung von Iris vorgestellt hatte, wie die neue Frau an seiner Seite sein musste, wenn er sich noch einmal binden wollte.

Er hatte sie als unterhaltsam empfunden, fürsorglich ihrer Tochter gegenüber und warmherzig, aber auch bescheiden. Beinahe erschrocken hatte sie reagiert, als er erzählte, dass er Kinderarzt sei. Ganz so, als verbinde sie mit diesem Beruf etwas Besonderes, etwas, vor dem man Ehrfurcht haben müsse.

»Ich bin gelernte Restaurantfachfrau«, hatte sie schulterzuckend gelächelt. Ganz so, als schäme sie sich ihres Berufes.

»Da lernen S’ bestimmt jeden Tag viele neue Menschen kennen«, hatte Thomas bemerkt, um sein Interesse zu zeigen und ihr die Verlegenheit zu nehmen. »Aber sicher auch sehr anstrengend. Wenn S’ zehn, zwölf Stunden Schicht hinter sich haben, dann wissen S’, was sie an dem Tag gelaufen sind, was?«

Sie nickte überrascht aber auch erfreut, über sein Interesse.

»Ja, das weiß ich dann sehr wohl. Aber es macht auch viel Freud, besonders wenn’s nette Gäste sind.«