E-Book 51-60 - Patricia Vandenberg - E-Book
SONDERANGEBOT

E-Book 51-60 E-Book

Patricia Vandenberg

0,0
25,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. E-Book 51: Dich trifft keine Schuld, Andreas E-Book 52: Wer steckt hinter den Intrigen? E-Book 53: Nun wird alles anders E-Book 54: Es begann in einer dunklen Nacht E-Book 55: Das Glück kam nicht von selbst E-Book 56: Es gibt noch Liebe, Nathalie E-Book 57: Es begann mit einem Anruf E-Book 58: Es ist noch nicht zu spät E-Book 59: Das Leben hat mir nichts geschenkt E-Book 60: Ich kann jenen Tag nicht vergessen E-Book 1: Dich trifft keine Schuld, Andreas E-Book 2: Dich trifft keine Schuld, Andreas E-Book 3: Wer steckt hinter den Intrigen? E-Book 4: Wer steckt hinter den Intrigen? E-Book 5: Nun wird alles anders E-Book 6: Nun wird alles anders E-Book 7: Es begann in einer dunklen Nacht E-Book 8: Es begann in einer dunklen Nacht E-Book 9: Das Glück kam nicht von selbst E-Book 10: Das Glück kam nicht von selbst E-Book 11: Es gibt noch Liebe, Nathalie E-Book 12: Es gibt noch Liebe, Nathalie E-Book 13: Es begann mit einem Anruf E-Book 14: Es begann mit einem Anruf E-Book 15: Es ist noch nicht zu spät E-Book 16: Es ist noch nicht zu spät E-Book 17: Das Leben hat mir nichts geschenkt Wird Marisa jemals E-Book 18: Das Leben hat mir nichts geschenkt Wird Marisa jemals E-Book 19: Ich kann jenen Tag nicht vergessen E-Book 20: Ich kann jenen Tag nicht vergessen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1505

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Dich trifft keine Schuld, Andreas

Wer steckt hinter den Intrigen?

Nun wird alles anders

Es begann in einer dunklen Nacht

Das Glück kam nicht von selbst

Es gibt noch Liebe, Nathalie

Es begann mit einem Anruf

Es ist noch nicht zu spät

Das Leben hat mir nichts geschenkt Wird Marisa jemals

Ich kann jenen Tag nicht vergessen

Dr. Norden Bestseller – Staffel 6 –

E-Book 51-60

Patricia Vandenberg

Dich trifft keine Schuld, Andreas

Wird er seine erste große Liebe verlieren?

Roman von Patricia Vandenberg

Es kam nicht oft vor, dass Dr. Norden zur Familie Reichert gerufen wurde, und wenn es der Fall war, wusste er, dass es dringend war. Wenn einem Familienmitglied sonst etwas fehlte, wurde er in der Praxis aufgesucht.

Es war eine Familie ganz nach seinem Geschmack. Der Oberingenieur Jochen Reichert war ein tüchtiger Mann und ein vorbildlicher Vater, seine Frau Nanette eine jugendliche, hübsche und fröhliche Mutter, und beide zusammen waren auch nach gut zwanzig Ehejahren noch immer ein glückliches Paar. Auch mit ihren beiden Kindern gab es keine Sorgen. Andreas, der vor ein paar Monaten achtzehn geworden war und auf das Abitur zusteuerte, gehörte zu den Besten seiner Klasse, und Sabine, die Siebzehnjährige, war ein bildhübsches Mädchen, dem jetzt schon die Männer nachschauten. Doch sie machte sich nichts daraus. Ihre Liebe gehörte den Pferden und Hunden, und wenn auch Jochen Reichert nicht so betucht war, dass er seiner Tochter ein Pferd kaufen konnte, so hatte er ihr doch gestattet, Reitstunden zu nehmen. Aber einen Hund hatte Sabine vor zwei Jahren ins Haus gebracht. Da hatte es schon Dispute gegeben, denn gerade waren neue Teppichböden gelegt worden, und obgleich Frau Reichert nicht pingelig war, auf Sauberkeit legte sie doch großen Wert.

Doch der Poppel hatte sich eingeschmeichelt. Niemand konnte seinen treuen, feuchten Hundeaugen widerstehen, die so lieb betteln konnten. Hatten die Eltern zuerst auch gesagt, dass Sabine allein für Poppel verantwortlich wäre, so hatte sich das sehr schnell geändert. Jetzt folgte er in erster Linie dem Herrn des Hauses, und es konnte schon passieren, dass er weinte wie ein Baby, wenn das Herrchen mal nicht pünktlich nach Hause kam, was aber immer nur beruflich bedingt war.

Dr. Daniel Norden wurde von Poppel jedenfalls auch voll akzeptiert, und auch an diesem Tag begrüßte der besonders hübsche Mischling, dessen Abstammung niemand genau definieren konnte, den Arzt schon an der Gartentür.

Ein hübsches Haus bewohnten die Reicherts. Sie hatten es vor fünfzehn Jahren gebaut, als es ihnen finanziell noch nicht so gut ging, aber inzwischen war es schuldenfrei, und da es auf einem großen Grundstück stand, planten sie nun auch einen Anbau. Dr. Norden wusste es, weil den Reicherts deshalb von einem Nachbarn Schwierigkeiten gemacht wurden, und dieser Nachbar hatte anscheinend seine Lebensaufgabe darin gefunden, allen Menschen das Leben schwer zu machen.

Auch diesen Herrn Dobler kannte Dr. Norden.

Aber nun musste er sich um seinen Patienten kümmern. Es war Andreas, dem es hundeelend war.

»Er war mit ein paar Freunden in solchem Schnellrestaurant, und da haben sie Fisch und Kartoffelsalat gegessen«, berichtete die sonst so ruhige Nanette Reichert aufgeregt. »Und nun muss er sich dauernd übergeben.«

»Wann hat er gegessen, und wann ist er heimgekommen?«, fragte Dr. Norden rasch.

»Er ist mit dem Taxi heimgekommen. Zum Glück ist ihm das eingefallen, denn ihm wurde gleich nach dem Essen schlecht«, erwiderte Frau Reichert.

»Sofort in die Klinik«, sagte Dr. Norden. Und schon hatte er das Telefon in der Hand. Erst, nachdem er den Krankenwagen bestellt hatte, kümmerte er sich um Andreas, und ihm wurde bestätigt, dass er richtig geschaltet hatte, dass er gleich an die Klinikeinweisung dachte. Andreas war nicht ansprechbar.

»Regen Sie sich nicht auf, Frau Reichert. Es war gut, dass Sie mich gleich geholt haben. Wir kriegen Ihren Jungen schon wieder in Ordnung.«

Ja, es war manchmal doch gut, wenn eine Mutter überbesorgt war. In solchem Fall konnte Warten tödliche Folgen haben. Zehn Minuten später war Andreas schon in der Behnisch-Klinik, die nur einen Katzensprung entfernt lag, und gleich wurde ihm der Magen ausgepumpt.

Doch in diesem Fall galt es auch die anderen zu warnen, die das Gleiche gegessen hatten, und vor allem musste Dr. Norden diesen Vorfall auch dem Gesundheitsamt melden, damit nicht noch mehr Menschen zu Schaden kamen. Das war zwar eine unangenehme Aufgabe, aber sie war unerlässlich.

Frau Reichert konnte nur vermuten, dass auch die Freundin von Andreas, Miriam Kunert, mit von der Partie gewesen war, denn Andreas hatte gar nichts mehr sagen können, als er heimkam, und als sie das Dr. Norden sagte, wunderte er sich doch.

Auch die Kunerts waren ihm bekannt. Miriam ging mit Andreas in eine Klasse. Sie war ein attraktives Mädchen, aber das wusste sie auch. Und ihre Mutter gehörte zu den Patientinnen, die Dr. Norden lieber lange Zeit nicht sah.

Doch in diesem Fall zählte die Verantwortung. Er hielt vor dem feudalen Bungalow. Ein Hausmädchen öffnete. Die Herrschaften wären beim Essen, erklärte sie.

Ob Miriam da sei, fragte Dr. Norden. Es sei dringend. Andreas Reichert hätte eine Lebensmittelvergiftung.

Miriam kam dann auch, sehr schlank, mit den langen Beinen und dem rotblonden Haar bot sie einen wirklich hübschen Anblick. Sie war um ihren Freund Andreas wirklich besorgt.

»Ich habe gleich gesagt, dass sie keinen Fisch essen sollen, aber die Jungen müssen ja mit ihrem Taschengeld auskommen«, sagte sie. »Wir wollten eigentlich noch ins Kino gehen. Ich habe nichts gegessen. Ich bin in die Eisdiele gleich nebenan gegangen mit Tanja.«

»Aber wer war noch dabei, bei den Jungen?«, fragte Dr. Norden. »Wie viel waren es?« Er wollte nicht plaudern. Er brauchte die Adressen. Die gab ihm Miriam dann auch.

Dann kam ihre Mutter. »Oh, Herr Dr. Norden, warum kommen Sie nicht herein? Das Mädchen ist doch wirklich ein Tölpel.« Damit meinte sie natürlich nicht ihre Tochter, sondern das Hausmädchen.

»Ich habe es eilig, gnädige Frau«, sagte Dr. Norden. »Miriam wird Ihnen sagen warum.«

Und schon entschwand er. Es galt festzustellen, wer von den übrigen vier Jungen noch Fisch und Kartoffelsalat gegessen hatte. Und es war gut, dass er von sich aus die Initiative ergriff, denn diese vier hatten nicht so besorgte Mütter, wie Frau Reichert eine war.

Vier Tage musste Andreas in der Klinik bleiben. Es lag eine Salmonellenvergiftung vor. Bei den anderen Jungen dauerte es länger, denn in solchen Fällen konnten wirklich Stunden entscheidend sein.

*

»Eigentlich verstehe ich so was nicht«, sagte Fee Norden zu ihrem Mann, als sie über diesen Fall sprachen. »Schmeckt man denn da gar nichts?«

»Ich habe es noch nicht probiert, mein Schatz«, erwiderte Daniel. »Aber diese Buben kommen aus der Schule und haben Hunger. Sie wollen noch ins Kino gehen, und in der Eisdiele warten ihre Freundinnen. Da schlingen sie das Essen hinunter und denken nichts dabei. Aber nun geht es allen wieder gut. Was mich nachdenklich stimmt, ist, wie ein so netter Junge wie Andreas mit einem so arroganten Mädchen wie Miriam befreundet sein kann.«

Fee blinzelte ihm zu. »Ich habe mich das bei deinen früheren Freundinnen auch manchmal gefragt«, sagte sie anzüglich. »Der Blick nimmt mehr wahr als der Verstand. Wenn Miriam das Abitur schafft, wird es mit der Freundschaft auch zu Ende sein.«

»Warum?«, fragte Daniel.

»Weil er ein kluger Junge ist und mit ihr paukt. Sie ist mehr als ein Jahr älter und wiederholt die Klasse. Und immerhin ist er der bestaussehendste Junge unter den Gescheiten.«

»Woher nimmst du diese Kenntnisse, Fee?«, fragte Daniel konsterniert.

»Von Frau Dr. Manziger, der Klassenlehrerin. Ich treffe sie doch öfter im Altenheim. Sie ist eine phantastische Frau, eine Lehrerin, wie ich sie mir gewünscht hätte, und wie ich sie unseren Kindern wünsche. Sie ist ja auch ganz narrisch mit Danny und Felix.«

»Und nicht verheiratet«, sagte Daniel.

»Nicht verheiratet«, sagte Fee. »Und das ist ein Jammer. Aber sie hat ein Herz für ihre Schüler, und ich glaube auch, dass sie ganz glücklich ist in ihrem Beruf. Ich habe sie neulich mal beim Spaziergang getroffen, und da kamen Andreas und Miriam vom Tennisplatz. Da haben wir halt auch mal ein bisschen geratscht. Sie meint allerdings, dass Miriam trotz dieser intensiven Nachhilfe das Abi nicht schafft.«

»Vielleicht liegt die Nachhilfe auf einem anderen Gebiet«, sagte Daniel hintergründig.

»Dann geht es aber von Miriam aus«, meinte Fee. »Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Wie ihre Mutter!«

»Du brauchst mich gar nicht so anzusehen«, sagte Daniel lachend. »An mir prallen ihre Flirtversuche ab.«

»Wenn ich das nicht wüsste, bräuchtest du dich bei mir gar nicht mehr blicken zu lassen«, sagte Fee. »Aber das ist kein Klatsch, Daniel. Frau Manziger ist echt besorgt um Andreas. Sie möchte ja, dass er den Numerus Clausus erreicht, damit er gleich einen Studienplatz bekommt. Er will doch Arzt werden, und solche Ärzte sollten wir uns für die Zukunft erhoffen.«

»Warum bist du so sicher, dass er ein guter Arzt werden würde, Fee?«

»Weil in dieser Familie alles stimmt. Sie sind so menschlich, so hilfsbereit, so solide, das möchte ich auch nicht vergessen. Bei ihm ist es nicht Prestigefrage, sondern der Wunsch und Wille. Sprich doch mal mit ihm, Daniel. Du kannst das doch. Du kannst junge Menschen für unseren Beruf begeistern. Er soll doch nicht an einer Puppe scheitern.«

»Das war hart, Fee«, sagte Daniel.

»Aber ich widerrufe es nicht«, sagte sie ruhig.

*

Andreas Reichert war daheim, aber er musste noch betreut werden. Und nach dem Gespräch mit Fee war das Daniel Norden nur recht.

Nanette schaute wieder heiter in die Welt, wenn Dr. Norden nun ins Haus kam. Ihre schönen Augen leuchteten.

»Andy will morgen unbedingt wieder in die Schule gehen, Herr Doktor«, sagte sie. »Ist das nicht zu früh?«

»Schauen wir mal, ob es zu verantworten ist.«

»Es ist ja Pech, dass so was passieren musste und noch dazu so kurz vor dem Abi, aber er kennt ja seinen Stoff und kann auch zu Hause lernen.«

»Er braucht einen guten Notendurchschnitt, und das weiß er«, sagte Dr. Norden. »Ich habe ja auch was gegen dieses Punktesystem, aber was können wir dagegen unternehmen?«

»Ihm geht es ja auch darum, dass Miriam besteht«, sagte Frau Reichert leise.

»Ist das schon eine so feste Freundschaft?«, fragte Dr. Norden.

Sie zuckte die Schultern. »Wir nehmen es nicht so ernst. Sie sind ja beide noch so jung.«

»Hat sie Andreas besucht?«

»Ja, mit ein paar Klassenkameraden war sie in der Klinik. Hierher kommt sie nicht. Mit Sabine kommt sie nicht aus. Nun ja, wir wollen auch nicht den Eindruck erwecken, dass wir diese Freundschaft forcieren. Kunerts haben mit ihrer einzigen Tochter sicher schon ihre Pläne«, fügte sie mit leisem Spott hinzu.

Sie tauschten einen Blick, der sehr verständnisinnig war. Dann ging Dr. Norden zu Andreas.

Er saß am Schreibtisch seines sehr wohnlich eingerichteten Zimmers, das auch verriet, dass er Geschmack hatte und sehr ordentlich war.

»Guten Tag, Herr Doktor«, sagte Andreas höflich. »Mir geht es schon wieder gut.«

Er war groß und schlank, noch schlaksig und sehr jungenhaft, aber schon jetzt gab es Anzeichen, dass er einmal ein sehr attraktiver Mann werden würde. Es war verständlich, dass auch eine Miriam Kunert Gefallen an ihm fand, mochte dabei auch Berechnung im Spiel sein. Dr. Norden wollte darüber kein Urteil fällen.

»Ich will nicht zu lange fehlen«, sagte Andreas. »Sie wissen doch auch, was für mich von einem sehr guten Abschneiden abhängt. Nur die Besten haben eine Chance, Medizin studieren zu dürfen. Auf die Eignung kommt es dabei weniger an.«

»Ja, leider, aber du bist sehr geeignet, Andreas.« Er konnte noch immer Du zu ihm sagen. Es wäre den Reichert-Kindern sogar nicht recht gewesen, wenn er es nicht tun würde.

»Ja, ich will Arzt werden«, sagte Andreas. »Großpapa setzt seine Hoffnung doch auch auf mich.«

Der Großpapa war Frau Reicherts Vater, Dr. Pohl, ein Landarzt.

»Du willst seine Praxis übernehmen?«, fragte Dr. Norden nun aber doch erstaunt.

»Freilich. Als Krankenhausarzt würde ich nicht taugen«, erwiderte Andreas. »Richtig helfen kann man doch nur, wenn man die Patienten kennt, so wie Sie auch. Und ich möchte schnell mit dem Studium fertig werden, damit Großpapa sich nicht mehr so abrackern muss.«

»Du hast dir schon ein Ziel gesetzt, Andreas, und du wirst bestimmt sehr gut abschneiden«, sagte Dr. Norden.

Dem Jungen stieg das Blut in die Wangen. »Danke, Herr Doktor. Danke auch, dass Sie mir so schnell geholfen haben. Die andern krebsen noch herum.«

»Da wurde der Doktor auch nicht so schnell geholt. Ihr habt schon eine liebe Mutter, Andreas.«

Andreas nickte. »Unsere Eltern sind große Klasse. Das wissen wir. Aber wir müssen doch auch sagen, dass Sie sich großartig benommen haben. Trotz Ihrer vielen Arbeit sind Sie herumgefahren. Das wird Ihnen keiner vergessen.«

»Es war selbstverständlich, Andreas. Also, dann geht es morgen wieder in die Schule. Ich hoffe, dass ich das Ergebnis der Prüfungen auch recht bald erfahre.«

»Na, zwei Monate müssen wir noch schwitzen«, seufzte Andreas. »Ich bin nur froh, dass bei uns zu Hause nicht solche Hektik herrscht wie bei den meisten anderen. Es geht doch auf die Nerven, wenn einem immer wieder gesagt wird: Du musst es schaffen. Darum drehen ja so viele durch.«

»Ist das bei Miriam Kunert auch so, wenn ich fragen darf?«

»Na ja, ihre Eltern sind halt so schrecklich ehrgeizig, aber ich meine, sie könnten froh sein, wenn sie es überhaupt schafft. Aber Sie kennen Kunerts ja auch.«

Er war unbefangen und offen wie immer. Und er war ein Junge, den man gernhaben musste.

»Ich drücke dir die Daumen«, sagte Dr. Norden.

*

Vor der Tür traf er mit Sabine zusammen, die sich mit einem anderen Mädchen unterhielt.

»Andy geht es doch hoffentlich wieder ganz gut«, sagte sie.

»Ich bin zufrieden, Sabine«, erwiderte Dr. Norden. Ein reizendes Mädchen war sie, ganz natürlich, und der Schelm blitzte ihr aus den Augen.

»Das ist meine Freundin Jennifer Stones«, stellte sie vor. »Seit vier Monaten unsere Nachbarn.«

Jennifer war ein unscheinbares Mädchen und voller Hemmungen, wie der Menschenkenner Dr. Norden gleich erkannte. Sie war kleiner als Sabine, dünn und blass. Übergroß schienen ihre dunklen Augen, und durch das kurze Haar wirkte sie wie ein Junge. Nun verabschiedete sie sich schnell und lief zu dem Nachbarhaus.

»Sie müsste auch mal gründlich untersucht werden, Herr Dr. Norden«, sagte Sabine. »Sie wird immer so schnell müde, und Appetit hat sie auch nie.«

»Ich kann sie aber nicht zur Untersuchung zwingen, Bine«, erwiderte er.

»Vielleicht kann ich sie überreden. Auf mich hört sie. Es müsste sich halt jemand richtig um sie kümmern.«

Diese Bemerkung stimmte ihn sehr nachdenklich, und einige Wochen später sollte er sich wieder daran erinnern.

Nun musste er sich beeilen, denn seine Frau Fee wartete bestimmt schon mit dem Essen, und am Nachmittag musste er noch Krankenbesuche machen und seine Sprechstunde abhalten.

Fee wartete nicht nur mit dem Essen, sondern sie tischte ihm auch eine Überraschung auf.

»Ich war mit Danny und Felix im Wald«, sagte sie, »und wen, meinst du, habe ich da gesehen?«

»Den Osterhasen?«, fragte er humorvoll.

»Miriam mit Studienrat Frahm.«

»Soso«, sagte Daniel, »sie hat also mehrere Eisen im Feuer.«

»Das kann aber sehr unangenehm werden, Daniel, für sie und noch mehr für ihn.«

»Damit haben wir nichts zu tun. Vielleicht gibt er ihr auch Nachhilfestunden.«

»Im Wald, Arm in Arm?«

»Er ist doch nicht verheiratet, soviel ich weiß«, sagte Daniel. »Mein Feelein regt sich über so was auf?«

»Wegen Andreas, sonst wäre es mir egal«, sagte Fee. »Stell dir doch mal vor, was der Junge für einen Schock bekommen könnte, und das so kurz vor dem Abitur.«

»Aber da können wir gar nichts tun, mein Liebes. Nur auf sein heiles Zuhause vertrauen und auf seine Zielstrebigkeit. Der Junge hat einen starken Charakter.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Fee.

*

Andreas rief Miriam an. Sie war sofort bereit, sich mit ihm zu treffen. »Bei uns zu Hause geht es heute nicht«, sagte sie. »Frahm macht meinen Eltern einen Besuch.«

»Frahm?«, fragte Andreas verwundert.

»Sie haben sich mal kennen gelernt. Du weißt doch, wie sie sind. Sie möchten am liebsten jetzt schon wissen, was ich für Noten bekomme. Also, dann ­treffen wir uns um drei Uhr im Café Mack.«

Lange telefonierten sie nie, aber diesmal machte Miriam doch ziemlich abrupt Schluss. Nun, vielleicht wollte ihre Mutter telefonieren. Andreas zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber.

Er war pünktlich am Treffpunkt, doch er musste auf Miriam zehn Minuten warten. Das war er gewohnt und auch weit davon entfernt, beleidigt zu sein.

Sie kam auf ihrem Mofa, bekleidet mit einem sportlichen Hosenrock und passender Jacke. Sie war immer schick angezogen.

»Siehst ja schon wieder ganz proper aus«, sagte sie leichthin.

»Morgen komme ich wieder in die Schule«, erwiderte er. »Was habt ihr heute in Physik durchgenommen?«

Sie zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Ich bin nach der dritten Stunde gegangen. Hatte irre Kopfschmerzen.«

»Und gerade Physik solltest du nicht versäumen«, sagte Andreas.

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Ist das nicht meine Sache? Wenn ich solche Kopfschmerzen habe, kann ich nicht denken. Setzen wir uns doch hinein.«

Geturtelt wurde zwischen ihnen gewiss nicht, und ihr Umgangston war recht lässig. Aber Andreas war nicht der Typ, der herumschmuste. Den Kopf hatte ihm auch die hübsche Miriam nicht verdrehen können.

»Natürlich hat mir dein Beistand während dieser Tage gefehlt«, sagte Miriam. »Französisch habe ich mal wieder verhauen. Aber Mama redet mit Frahm. Vielleicht gibt der mir Nachhilfestunden. Er wird ja ungefähr wissen, was beim Abi drankommt.«

Andreas sah sie nachdenklich und vorwurfsvoll an.

»Er weiß auch nichts, Miriam. Verlass dich nicht zu sehr darauf. Das könnte Ärger geben.«

»Wieso? Er unterrichtet nicht in unserer Klasse. Und er hat ziemlich viel für mich übrig«, fügte sie anzüglich hinzu.

»Wenn es so ist«, sagte Andreas ruhig, »bitte schön.«

Das hatte sie wohl nicht erwartet. »Du wirst doch einen Spaß verstehen«, sagte sie schnell.

»Ja, ich verstehe Spaß. Unsere Familie hat Humor. Aber wir haben auch Grundsätze.«

»Eure Familie«, spottete sie. »Die heile Welt! Meine Güte, dein Ehrgeiz reicht doch nur bis zum Landarzt.«

»Und deiner?«, fragte er.

»Ich gehe sowieso zum Film«, erwiderte Miriam. »Jetzt bin ich mündig. Ich tue meinen Eltern den Gefallen und mache das Abitur. Voriges Jahr konnte ich mich ja noch nicht selbstständig machen. Aber jetzt muss Papa sogar meinen Unterhalt bezahlen. Ich habe neulich so ein Gerichtsurteil gelesen, dass Eltern nach ihrem Einkommen verpflichtet sind, für ihre Kinder zu sorgen. Aber wenn ich das Abi bestehe, bekomme ich von Papa einen Sportwagen. Den will ich mir nicht entgehen lassen.«

Andreas blickte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Ich wusste nicht, dass du so materiell eingestellt bist«, sagte er leise.

»Du bist ein Träumer, Andreas. So, wie du aussiehst, hättest du doch auch Chancen beim Film. Wir zusammen würden das Traumpaar.«

Er stand auf. »Du spinnst ganz schön, Miriam«, sagte er ruhig. »Für mich steht fest, was ich werde. Ich bleibe mit den Füßen auf dem Boden. Also, dann nimm Nachhilfestunden bei Frahm. Ich hoffe, dass du es schaffst.«

»Meine Herren, bist du gleich eingeschnappt«, sagte Miriam schnippisch.

»Ich habe allerhand nachzuholen. Ich verlasse mich lieber auf mich selbst«, sagte Andreas.

»Lass uns jetzt doch vernünftig reden, Andy«, sagte Miriam bittend.

»Kann man das mit dir?«

»Spiel nicht die beleidigte Leberwurst.«

»Ich sehe das ganz nüchtern.«

»Du bist eben zu nüchtern. Und außerdem bist du ein richtiges Muttersöhnchen. Wehe, wenn dir mal was fehlt. Da wird sogar Dr. Norden durch den ganzen Ort gehetzt.«

»Wäre es dir lieber gewesen, wenn wir draufgegangen wären? Es ging ja nicht nur um mich.« So langsam wurde er wütend. Aber er war nicht streitsüchtig. Er war immer lieber gegangen, wenn es irgendwo Auseinandersetzungen gab. Und er ging auch jetzt, obgleich er innerlich kochte.

Und Miriam lief ihm nach. Sie sah nur noch rot, weil sie noch niemals solche Abfuhr bekommen hatte. Aber sie dachte gleichzeitig auch daran, dass Andreas nichts für die Nachhilfestunden verlangt hatte, und sie dafür ein recht ansehnliches Budget von ihrem Vater bekommen hatte.

»Andy, lauf doch nicht weg«, sagte sie, und sie übersah dabei Jennifer, die auf ihrem Mofa daherkam, und gerade noch bremsen konnte.

»Blöde Ziege«, stieß Miriam hervor, »siehst wohl wieder mal nur Andy.«

Jennifer brachte kein Wort über die Lippen. Der Schrecken saß ihr noch in den Gliedern.

»Jenny hatte doch keine Schuld«, sagte Andreas, aber das hörte Jennifer schon nicht mehr. Sie ratterte davon.

Miriam sah ihn mit flammenden Augen an. »Nimm sie nur noch in Schutz«, zischte sie. »Sie ist hinter dir her, wenn dir das noch nicht aufgefallen ist, oder warum, meinst du, hat sie sich an Sabine gehängt? Dieses Nichts, dieses Mauerblümchen, aber deinen spießigen Eltern wäre es natürlich lieber, wenn du mit ihr befreundet wärest.«

»Jetzt ist es aber genug«, sagte Andreas zornig. »Meine Eltern lässt du aus dem Spiel. Ich ziehe auch nicht über deine Eltern her.«

»Wie könntest du auch«, höhnte Miriam. »Wer seid ihr denn schon?«

Und da ging Andreas im Eilschritt davon, schnurstracks nach Hause und gleich in die Küche. Immer wenn er eine Wut hatte, musste er essen. Nanette Reichert freute sich natürlich über seinen Appetit, aber dann merkte sie doch, wie er alles in sich hineinschlang, was ihm unter die Finger kam.

»Langsam, Junge«, sagte sie besorgt. »So bekommt es dir doch nicht.«

Er hielt inne und blickte sie an. »Wenn Miriam anruft, bin ich nicht daheim, Mami«, sagte er.

»Ach, so ist das«, meinte sie. »Ihr habt euch gestritten.«

»Ich streite nicht. Wenn es Zeit ist, gehe ich.«

Sie strich ihm durch das wirre Haar, weich, mütterlich und stolz. Ihr war nicht bange um ihren Jungen.

»Ist ja gut, Andy«, sagte sie.

*

Jennifer war zum Sportplatz gefahren. Dort trainierte Sabine für das Schulsportfest. Sie war die große Hoffnung im Hundertmeterlauf und Weitsprung.

Jennifer hatte den Schrecken noch nicht überwunden. Andy hatte sie allerdings nur schattenhaft bemerkt. Hinter ihm her war sie nicht, wie Miriam gesagt hatte, aber sie hatte ihn gern, wahnsinnig gern, ohne sich Hoffnung zu machen.

Sabine war zum letzten Lauf gestartet, als Jennifer ankam. Sie hängte alle anderen ab. Wie eine Gazelle lief sie, schlank, drahtig, noch knabenhaft, aber nicht so dünn wie Jennifer.

Am Ziel stand der Studienreferendar Frieder Dellbrügg, der erst seit kurzer Zeit Sportlehrer am Gymnasium war.

»Fein gemacht, Sabine«, sagte er. »13,1 ist eine Bombenzeit, und wenn du regelmäßig trainierst, könntest du bei der nächsten Olympiade antreten.«

»Das fehlte mir nach. Solchen Ehrgeiz habe ich nicht. Und sagen Sie offiziell wenigstens Sie, Herr Dellbrügg, sonst kriegen Sie vom Direx eins auf den Deckel.«

»Entschuldigung!«, stieß er schnell hervor.

»Ich lege ja keinen Wert darauf«, sagte sie leise, »und die andern auch nicht. Sie sind dufte. Aber was die Olympiade anbetrifft, so möchte ich Sie, Herr Sportlehrer, doch darauf hinweisen, dass ich dann schon zwanzig bin und sozusagen zum alten Eisen gehören würde.« Und dabei lachten ihre Augen schelmisch. Aber dann sah sie Jennifer und winkte ihr zu. »Ich habe dich schon vermisst, Jenni«, rief sie.

Sabine war bei allen beliebt. Niemand fand etwas dabei, dass Frieder Dellbrügg sich mehr um sie kümmerte. Sie war im Sport der Star der Klasse, in den anderen Fächern nur mittelmäßig. Aber wenn einer Sorgen hatte, konnte er zu Sabine gehen. Es gab niemanden, der sie nicht mochte, und dass sie auch bei allen Lehrern beliebt war, obgleich sie Klassensprecherin war, nahm ihr auch niemand übel, denn sie trat für jeden ein.

Frieder Dellbrügg war noch jung, und wer hätte es ihm verdenken sollen, dass sein Herz schneller schlug beim Anblick dieses reizenden Mädchens. Aber er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, Arm in Arm mit ihr durch den Wald zu gehen, wie es sein Kollege Frahm mit Miriam getan hatte. Und hätte er Sabine um ein Rendezvous gebeten, hätte er eine gewaltige Abfuhr bekommen.

Sabines Welt war intakt, die Jennifers nicht. Miriams wohl auch nicht, wenn es nach draußen hin auch so scheinen mochte.

»Gehn wir in die Eisdiele«, sagte Sabine zu Jennifer, nachdem sie geduscht und sich umgekleidet hatte. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«

»Bei uns hat es wieder Ärger gegeben«, sagte Jennifer leise. »Dad wird versetzt.«

»Ihr seid doch gerade erst hergezogen«, sagte Sabine verwundert.

»Er wird dauernd versetzt«, sagte Jennifer. »Ich komme überhaupt nicht mehr mit, wenn ich dauernd die Schule wechseln muss, Bine.«

»So geht es doch auch nicht. Denkt dein Vater nicht auch daran?«, fragte Sabine.

»Ich möchte hierbleiben, Bine«, flüsterte Jennifer. »Endlich habe ich mal eine Freundin gefunden, mit der ich reden kann.«

»Reg dich nicht auf. Wir fahren zu uns, Jenni«, sagte Sabine. »Da haben wir mehr Ruhe, als in der Eisdiele. Außerdem hat Mami Apfelkuchen gebacken. Der ist bekömmlicher.«

»Ich kann nicht immer zu euch kommen«, sagte Jennifer leise. »Ich kann dich doch nicht einladen.«

»Ist doch Quatsch. Deine Eltern sind dauernd unterwegs. Unsere Mami ist immer zu Hause. Und ihr ist es lieber, wenn wir unsere Freunde mitbringen als irgendwo herumzuhocken.«

»Kommt Miriam eigentlich auch zu euch?«, fragte Jennifer.

»Nö, bei uns ist es ihr nicht fein genug.«

Jennifer blickte zu Boden. »Sie ist mir vorhin fast ins Mofa gelaufen und hat blöde Ziege zu mir gesagt.«

»Selbst blöde Ziege«, sagte Sabine. »Ich kann sie nicht riechen.«

»Aber sie ist Andys Freundin.«

»Und wenn schon. Ihm werden die Augen auch noch aufgehen. Los, ich habe Hunger.«

Frieder Dellbrügg blickte ihnen nach, als sie davonfuhren. Er machte sich auch Gedanken über diese ungleichen Freundinnen. Die Hübscheste und die Unscheinbarste der Klasse. Aber gerade deshalb mochte er Sabine noch mehr. Ihr bedeuteten Äußerlichkeiten gar nichts. Mit sich selbst war er ganz ehrlich. Sie war sein Traummädchen. Und wieder einmal war er heilfroh, dass sie sportlich den anderen so weit überlegen war, dass man ihm nicht nachsagen konnte, er bevorzuge sie.

*

Bei Dr. Norden in der Sprechstunde war Frau Dr. Manziger. Sie litt an einer starken Erkältung, die sie buchstäblich angeflogen hatte. »Ich kann es mir jetzt nicht leisten, krank zu sein«, sagte sie. »In diesem Stadium vor dem Abitur ist ein Lehrerwechsel nicht gut für die Schüler. Ich muss mich übers Wochenende auskurieren.«

Sie war wirklich eine sympathische Frau. Daniel Norden kannte sie bisher nur aus Fees Erzählungen. Sie war mittelgroß, ein bisschen mollig, aber gerade so, dass es noch gut aussah, und überhaupt war sie attraktiv mit ihren flachsblonden Haaren, dem frischen Gesicht und den gütigen grauen Augen.

»Morgen ist Freitag«, sagte er. »Da müssen Sie auf jeden Fall zu Hause bleiben.«

»Das geht noch. Samstag ist schulfrei, und drei Tage werden ja ausreichen. Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen, Herr Dr. Norden.«

»Wunder kann ich nicht vollbringen«, sagte er lächelnd.

»Ich helfe schon mit«, sagte sie. »Ich weiß, wie den Kindern zumute ist, wenn der große Tag, oder sagen wir besser die schweren Tage immer näherrücken. Ich habe es auch mal mitgemacht und nicht vergessen. Jetzt sind es schon mündige Kinder und sitzen doch noch auf der Schulbank. Mein Gott, ich habe mehr Angst als diese Bürscherl. Bei den Mädchen ist es mir nicht so bange. Sie werden doch mal heiraten, wenigstens die meisten.« Sie machte eine kleine Pause. »Aber das habe ich damals auch gedacht, als die Prüfungen begannen. Na, und dann bin ich halt Lehrerin geworden, weil es mit dem Heiraten nicht klappte.«

»Das hat bestimmt nicht an Ihnen gelegen«, sagte Daniel.

Sie sah ihn lange an. »Ich kenne Ihre Frau, und ich habe sie sehr gern«, sagte sie leise. »Sie haben recht, Herr Dr. Norden, es lag nicht an mir. Das Schicksal wollte es so. Ich habe den Mann verloren, mit dem ich mein Leben teilen wollte, den ich mir als Vater meiner Kinder wünschte. Er musste jung sterben an einer unheilbaren Krankheit. Aber ich wollte Kinder um mich haben. Und ich zittere mit denen, die mir anvertraut sind. Ich zittere, weil die wenigsten Verständnis in ihrem Elternhaus finden. Das ist meine eigentliche Krankheit.«

»Examensangst bei einer Lehrerin ist mir noch nicht begegnet«, sagte Daniel.

»Ach, viele sind nur verbiestert oder auch missgünstig. Sie sind nicht mehr jung und noch nicht alt und weise genug, um persönliche Gefühle auszuschalten.«

»Als Beispiel Miriam Kunert«, sagte er beiläufig.

Inge Manziger blickte an ihm vorbei. »Zum Beispiel«, sagte sie leise. »Wenn sie das Abitur besteht, besteht auch die Hoffnung, dass sie einen vernünftigen Weg geht. Ihre Frau hat mit Ihnen über Miriam gesprochen?«

»Empfinden Sie es als einen Vertrauensbruch?«, fragte er.

»Nein. Ich bin sicher, dass es unter uns bleibt. Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann, wie es mir ums Herz ist, außer mit Ihrer Frau.«

»Und mit mir«, sagte Daniel. »Sie denken aber noch mehr an Andreas Reichert. Um den Jungen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Frau Dr. Manziger. Der weiß genau, was er will.«

»Wenn uns der Direktor hören würde, würde ich suspendiert werden«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln.

»Er hört es nicht und wird es nie erfahren«, erwiderte Daniel. »Sie sind meine Patientin, und ich unterliege der Schweigepflicht.«

»Ich habe mir schreckliche Sorgen um den Buben gemacht«, sagte sie. »Es sind die Besten in der Klasse. Miriam kann möglicherweise noch so durchrutschen. Von den Mädchen schneidet sie nicht einmal am schlechtesten ab. Aber es wird prekär, weil ihre Eltern es mit Bestechung versuchen. Das schadet ihr doch nur.«

»Bei Ihnen haben sie es also auch versucht«, sagte Dr: Norden.

»Ja, und es bedrückt mich. Ich möchte doch, dass sie durchkommt, aber ich habe keinerlei Einfluss auf die Aufgabenstellung. Das wissen Sie doch. Manchmal fühle ich mich dem Geschehen einfach nicht gewachsen.«

»Sie nehmen alles zu ernst, zu persönlich«, sagte Daniel. »Jedermann weiß, dass die Prüfungsaufgaben vom Kultusministerium gestellt werden.«

»Nicht solche Eltern wie die Kunerts. Sie sind schnell zu Geld gekommen. Sie meinen, dass jeder käuflich ist. Es ist eine fatale Situation. Verzeihen Sie, dass ich Sie mit meinen persönlichen Problemen belaste.«

»Das ist wichtig für mich. Auch eine Erkältung kann sich verschlimmern, wenn man sich nicht freimachen kann von solchen Problemen. Aber Sie wollen doch fit sein, Frau Dr. Manziger. Ich finde es wundervoll, wenn Schüler eine Lehrerin haben, die sich so einsetzt.«

»Man kann nicht so einfach nach einer Tagesform urteilen«, sagte sie. »Wenn ich heute zu einem Examen antreten müsste, würde ich völlig versagen. So betrachte ich alles. Mein Gott, wenn an den Tagen nur kein Föhn ist.«

Hoffentlich wissen ihre Schüler zu schätzen, was sie an dieser Lehrerin haben, dachte Daniel Norden.

»Nächsten Mittwoch ist unser Sportfest«, sagte sie dann noch. »Es wäre so schön, wenn Sie Zeit hätten zum Zuschauen, Herr Dr. Norden. Und vielleicht würden wir sogar Ihre Hilfe brauchen. Man weiß ja nie, was passiert. Die Kinder sind ehrgeizig und überschätzen manchmal einfach ihre Kräfte. Ich bin ein bisschen überängstlich.«

Aber eine prächtige Mutter wäre sie geworden, dachte Daniel Norden noch, als sie längst wieder gegangen war. Er hatte ihr aber versprochen, zum Sportfest zu kommen, wenn es irgendmöglich sein würde.

*

Fee war gleich begeistert. Da konnte sie auch Danny und Felix mitnehmen. Aber mit einem Seufzer meinte sie doch, dass bestimmt wieder etwas dazwischenkäme.

»Auf jeden Fall kannst du dort sein, Feelein«, sagte Daniel. »Du kannst Lenni mitnehmen, und wenn es jemanden zu verarzten gibt, bist du dazu auch in der Lage. Immerhin sind bis dahin noch sechs Tage.«

»Du magst Frau Dr. Manziger auch«, sagte Fee.

»Wer sollte sie nicht mögen?«

»Ich fürchte schon, dass sie oft verkannt wird, weil sie immer gerecht sein will. Sie kann doch keinem eine Vier geben mit dreißig Fehlern, wenn das Limit sechzehn Fehler sind.«

»Du liebe Güte«, sagte Daniel, »sechzehn Fehler habe nicht mal ich zustande gebracht.«

»Du warst ja auch immer ein gescheiter Junge«, sagte Fee nachsichtig.

»So gute Zeugnisse wie du hatte ich aber nie.«

»Du warst auch durch die Mädchen zu sehr abgelenkt«, neckte sie ihn.

»Dann muss ich aber verdammt froh sein, dass ich schon mit sechsundzwanzig Jahren meinen Doktor hatte«, brummte er.

»Darüber kann ich auch nur staunen«, scherzte Fee. »Manchmal bist du ein richtiges kleines Biest«, sagte Daniel. »Aber ein liebes«, fügte er rasch hinzu, als sie ihn küsste.

»Mami ist kein Biest«, sagte Danny. »Sag so was nicht, Papi.«

»Nun hab ich es mal wieder gesagt bekommen«, brummte Daniel. »Ich vergesse doch immer wieder, dass wir Zuhörer haben.« Er nahm Danny in den Arm. »Das war nur Spaß, mein Sohn.«

»So was sagt man nicht im Spaß«, sagte Danny. »Mami ist immer lieb.«

»Ganz deiner Meinung, Danny!«, lachte Daniel. »Wie wäre es denn, wenn wir ins Bettchen gehen würden? Felix schläft schon.«

»Er ist klein, und ich bin schon groß. Geht ihr auch ins Bettchen?«

Daniel blinzelte zu Fee hinüber. »Dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden.«

»Wenn ihr geht, gehe ich auch«, sagte Danny.

»Also dann, Herzallerliebste. Befehl vom Sohn«, lachte Daniel.

»Es ist noch nicht mal acht Uhr«, sagte Fee.

»Und wenn schon.«

»Und in fünf Minuten läutet das Telefon und du wirst anderweitig gewünscht.«

Es dauerte nicht mal fünf Minuten. Daniel stöhnte. »Zu Kunerts«, sagte er.

»Dann viel Vergnügen«, meinte Fee.

»Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen«, rief Daniel ihr zu.

Frau Kunert lag stöhnend und entsagungsvoll in ihrem Bett. Doch Dr. Norden hatte sie im Verdacht, dass sie mal wieder ein Gläschen zu viel getrunken hatte.

»Der Föhn«, hauchte sie. »Ich spüre den Föhn.«

»Keine Spur von Föhn«, erklärte Dr. Norden rigoros.

»Dann kommt er. Ich kann mich nicht rühren und nicht mehr denken. Und heute Abend wollten wir doch in die Oper gehen. Jetzt liege ich hier und mache mir auch noch Gedanken, ob ich recht daran getan habe, Miriam die Karten zu überlassen.«

Das hätte sie sich früher überlegen sollen, dachte Daniel. Aber sie schien tatsächlich nicht gut beieinander zu sein. Er war sogar erschrocken, als er ihren Puls gefühlt und ihren Blutdruck gemessen hatte.

»Wir werden mal ein Blutbild machen müssen, Frau Kunert«, sagte er nachdenklich.

Sie heulte gleich los. »Ich habe es ja immer gesagt, dass ich mich nicht wohlfühle, aber niemand glaubt mir. Was fehlt mir, Dr. Norden?«

»Das kann ich nicht aus dem Stegreif sagen.«

»Diese Aufregungen wachsen mir über den Kopf«, ächzte sie, »ich kann schon gar nicht mehr denken.«

Sie wiederholte sich, aber Dr. Norden schämte sich jetzt des Verdachtes, dass sie zu viel getrunken haben könnte.

»Was haben Sie denn für Aufregungen?«, fragte er.

»Zuerst wegen Miriam. Wegen der Schule, diesem blöden Abitur. Mein Mann ist da so kaltblütig, so unnachsichtig. Er hat gesagt, dass sie in eine Lehre gehen müsse, wenn sie es nicht schafft. Geschäftlich hat er nämlich auch Sorgen. Es ist zu viel für mich. Miriam ist doch unser einziges Kind. Er würde schimpfen, weil ich ihr die Opernkarten gegeben habe, aber das gehört doch auch zur Bildung.«

»Ihr Mann ist nicht da?«, fragte Dr. Norden.

»Nein, er musste nach Italien. Wir liefern doch dahin, und die Brüder zahlen nicht. Ich kann das nicht mehr lange mitmachen, Herr Doktor, ich bin am Ende. Meine Nerven machen nicht mehr mit.«

Und diesmal übertrieb sie nicht. »Miriam will doch zum Film«, flüsterte sie. »Da braucht sie das Abitur doch gar nicht. Und sie könnte Geld verdienen, viel Geld, so, wie sie aussieht. Sie ist doch eine Schönheit. Ja, sie ist eine Schönheit. Immer wieder sage ich das meinem Mann, aber er hört nicht auf mich. Er hat für uns sowieso keine Zeit mehr.«

Ihre Stimme wurde immer schwächer. »Miriam muss es schaffen, sie muss es schaffen«, murmelte sie. »Es gibt eine Katastrophe, wenn sie es nicht schafft. Sie kennen doch die Reicherts. Andreas muss ihr wieder helfen. Bitte, sprechen Sie mit ihm.«

Du liebe Güte, das auch noch, dachte Daniel Norden. Aber Frau Kunert war wirklich mit ihren Nerven am Ende. Er wusste im Augenblick gar nicht, was er tun sollte. Mit einem Beruhigungsmittel war es da doch nicht abgetan. Das Hausmädchen hatte schon an der Tür so ein mürrisches Gesicht gemacht.

»Ich möchte schlafen, nur schlafen«, stöhnte Isolde Kunert, »und erst aufwachen, wenn Miriam das Abitur bestanden hat.«

»Jetzt werden Sie schlafen«, sagte er. »Wann kommt Ihr Mann zurück?«

»Übermorgen«, hauchte sie.

»Sie sollten vielleicht einmal richtig ausspannen, Frau Kunert«, sagte Dr. Norden leise.

»Ich kann jetzt doch nicht weg. Ich kann Miriam nicht im Stich lassen. Sie ist doch mein einziges Kind. Ich habe sie verwöhnt, das gebe ich ja zu, und mein Mann hat sie auch verwöhnt. Aber er hat so viel in sie hineingeheimnist. Er hat jetzt seine Sorgen, aber das Kind ist doch wichtiger.«

»Ja, das meine ich auch«, sagte Dr. Norden. »Und nun schlafen Sie. Morgen sieht alles anders aus.«

Aus welchen Motiven auch immer, Isolde Kunert hatte echte Sorgen, das wurde Dr. Norden bewusst. Mit wem mochte Miriam wohl in die Oper gegangen sein? Etwa mit diesem Studienrat Frahm? Aber wenn schon, man brauchte da auch nicht gleich Hintergedanken zu hegen. Allerdings kamen die bei einem Mädchen wie Miriam wohl von selbst.

Die Freundschaft zu Andreas schien jedenfalls einen Knacks bekommen zu haben, und für wen sich das negativ auswirken würde, musste sich noch herausstellen. Jedenfalls war auch hinter diesen pompösen Hausfassaden wahrhaftig nicht alles in Ordnung, selbst finanziell nicht.

Da war Dr. Norden das schlichte Haus der Reicherts mit seinen fröhlichen Bewohnern bedeutend lieber. Er fuhr daran vorbei und sah Licht hinter allen Fenstern. Und er sah dann Sabine mit ihrer Freundin kommen. Sie hatten Poppel wohl noch Gassi geführt.

*

»Komm noch mit zu uns, Jenni«, sagte Sabine. »Du brauchst nicht den ganzen Abend allein herumzuhocken.«

»Aber das geht doch nicht. Deine Eltern wollen doch auch mal ihre Ruhe haben.«

»Sie haben immer ihre Ruhe«, sagte Sabine heiter.

»Wir können ja bei mir noch Platten hören.«

Sabine verstand es nicht, dass Jennifer dauernd allein war: Sie hatte auch schon bemerkt, dass Jennifers Eltern nicht gemeinsam weggingen.

Warum sie dieses große Haus gemietet hatten, war manchem ein Rätsel, aber an Geld schien es ihnen nicht zu mangeln.

Jennifers Vater war Manager eines amerikanischen Konzerns, ihre Mutter eine extravagante Frau, die bis mittags schlief und gerade Kaffee kochen konnte, wie Jennifer selbst einmal spöttisch festgestellt hatte.

Zuerst war Jennifer sehr verschwiegen gewesen, aber so nach und nach hatte Sabine doch so manches erfahren, was sie in tiefste Bestürzung versetzte. Das Essen musste sich Jennifer allein zubereiten, oder ihr Vater drückte ihr Geld in die Hand, damit sie sich etwas besorgen konnte, was sie aber niemals tat.

Auch an diesem Tage hatte sie nur ein paar Sandwiches gegessen. Es war kein Wunder, dass sie so dünn war.

Bei den Reicherts hatte es Bohneneintopf gegeben, und davon war noch eine Portion übrig geblieben.

Sabine ging schnell in die Küche, wo ihre Mutter beim Aufräumen war.

»Ich habe Jenny noch mitgebracht, Mami«, sagte sie leise. »Kann ich ihr noch die Bohnen geben? Sie hat wieder mal nichts Warmes gegessen.«

»Mach sie nur warm«, erwiderte Nanette Reichert. »Da drüben herrschen schon komische Zustände. Bring sie öfter mit, Bine. Jenni tut mir leid.«

»Mir auch, Mami. Wie gut haben wir es doch.« Und dann bekam Nanette auch noch einen Kuss.

Als Sabine die dampfende Suppenschüssel in ihr Zimmer brachte, stieg Jennifer das Blut in die blassen Wangen.

»Ich möchte das nicht, Bine«, sagte sie verlegen. »Was sollen deine Eltern denken?«

»Nichts denken sie. Die Suppe ist ja noch da. Jetzt iss mal schön brav. Nachher gibt es noch einen Pudding. Mami macht ihn gleich.«

»Doch nicht meinetwegen«, sagte Jennifer scheu.

»I wo, wir sind alle Süßschnäbel. Außerdem kannst du ruhig öfter mit zu uns kommen. Das macht Mami wirklich nichts aus.«

Sabine sah, wie sich Jennifer Augen mit Tränen füllten. Sie sah so entsetzlich traurig aus, dass heißes Mitgefühl in Sabine emporstieg.

Jennifer blickte jedoch nicht mehr auf, sondern aß nun die Suppe.

»Schmeckt die gut«, sagte sie leise. »So was habe ich noch nie gegessen.«

»Das kannst du öfter haben. Bei uns geht es ziemlich bescheiden zu, aber was Mami kocht, schmeckt immer.«

»Ihr habt es sehr gut«, sagte Jennifer leise. »Ihr werdet von vielen beneidet. Wenn ich auch wieder von hier weg muss …«, sie geriet ins Stocken. »Eher bringe ich mich um«, sagte sie dann tonlos.

»Aber, Jenni, so etwas darfst du nicht mal denken«, rief Sabine erschrocken aus.

»Warum nicht? Ich bin ihnen doch nur im Weg. Das hässliche Entlein, mit dem man keinen Staat machen kann. Sie streiten doch jetzt schon, bei wem ich bleiben soll, wenn sie sich trennen. Haben will mich keiner.«

Sabine war zu Tode erschrocken. Dass es solche schwerwiegenden Probleme in Jennifers Leben gab, hatte sie doch nicht geahnt. Dazu war sie auch zu jung und unbekümmert und niemals mit ähnlichen Konflikten konfrontiert worden.

»Deine Eltern wollen sich trennen?«, fragte sie leise.

»Eine Ehe ist das doch schon lange nicht mehr. Dad hat seine Jane, und Mom weiß noch nicht, ob sie sich für Jack oder für Barry entscheiden soll. Wahrscheinlich wird sie sich für Jack entscheiden, weil er mehr Geld hat, wenn nicht einer kommt, der noch mehr hat. Zu Hause waren wir nirgendwo. Dad reist durch die ganze Welt. Ein Jahr hier, ein paar Monate dort. Ihm gefällt das. Und die Lösung sieht er jetzt darin, dass jeder seine eigenen Wege geht und ich in einem Internat am besten aufgehoben bin. Aber ich werde ihnen einen Strich durch die Rechnung machen.«

Das sagte sie so hart, dass Sabine wieder erschrak.

»Du siehst vielleicht alles zu schwarz, Jenni«, sagte sie tröstend. »Manchmal geraten Ehen in eine Krise, aber das kann sich wieder einrenken.«

»Du hast ja keine Ahnung«, sagte Jenni leise. »Entschuldige, dass ich das so gesagt habe.«

»Du kannst dir deinen Kummer ruhig vom Herzen reden. Mami sagt immer, dass das viel besser ist, als wenn man alles in sich hineinfrisst. Wir reden über alles, und dann ist es nur halb so schlimm.«

»Ihr könnt das«, sagte Jenni tonlos. »Nun habe ich dir doch den Abend verdorben.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich habe dich gern, Jenni.

Und Miriam werde ich gehörig die Meinung sagen, wenn sie dich noch mal dumm anredet. Mit Andy hat sie es auch schon verdorben. Endlich hat er sie durchschaut.«

»Ist das wahr?«, fragte Jennifer leise.

»Er hat sich nie den Kopf verdrehen lassen, Jenni. Er hat ein Ziel.«

»Er ist auch nicht deprimiert?«

»Aber nein.«

»Dann bin ich froh. Ich habe Miriam schon öfter mit Frahm gesehen.«

»Liebe Güte, hast du dich nicht getäuscht?«, fragte Sabine.

»Nein. Weißt du, ich bin abends oft allein herumgelaufen und auch bei den Kunerts vorbeigekommen. Miriam hat mit Frahm ein, wie sagt man doch hier, ein Techtelmechtel. Ist das richtig?«

»Das kann er doch nicht machen«, sagte Sabine bestürzt. »Er kann seine Stellung verlieren.«

»Meinst du, dass Miriam das interessiert? Sie sieht nur ihre Vorteile. Aber ich bin froh, wenn es Andreas nicht nahegeht.«

Sabine sah die Freundin nachdenklich an. Sie hat viel für Andy übrig, dachte sie. Zu viel! Es war ihr nicht wohl bei diesem Gedanken, denn sie kannte ihren Bruder.

Was dann am nächsten Tage Jennifers Gemüt belasten sollte, mochte mit ausschlaggebend sein, für das Schreckliche, was dann passierte.

Doch an diesem Abend verabschiedete sich Jennifer mit einem Lächeln, das ihr kleines trauriges Gesicht erhellte, als Sabine sagte: »Wenn morgen schönes Wetter ist, machen wir einen Ausflug.«

»Fein, ich freue mich«, erwiderte Jennifer.

*

Es war herrliches Wetter. Andreas verließ schon ganz früh das Haus. Er wollte mit seinen Freunden zum Segeln gehen. Nanette war nicht ganz einverstanden, aber Andreas meinte, dass er wieder völlig fit sei, und es würde nur gut sein, sich frischen Wind um die Nase wehen zu lassen.

Sabine begleitete ihn zur Tür. »Ich will mit Jenni auch einen Ausflug machen. Könnten wir uns nicht treffen, Andy?«, fragte sie. »Sie muss seelisch aufgemöbelt werden. Du könntest doch auch mal ein bisschen netter zu ihr sein.«

»Ich bin doch immer nett zu ihr«, erwiderte er erstaunt. »Man kann ja nicht mit ihr reden. Sie ist stumm wie ein Fisch.«

»Sie ist kein Fisch. Sie hat nur ihr Päckchen zu tragen.«

»Na, meinetwegen könnt ihr rauskommen. Wir machen dann ein Picknick.«

»Okay, ich bringe was mit«, sagte Sabine. »Und pass auf dich auf, dass du dich nicht erkältest.«

Einen Korb mit belegten Broten, Äpfeln und Bananen stellte Sabine auf ihr Mofa, als Jennifer herüberkam. Sie hatte verweinte Augen, aber Sabine fand es besser, keine Fragen zu stellen. Sie traute sich schon zu, Jennifer auf andere Gedanken zu bringen.

»Passt bloß auf«, sagte Nanette besorgt. »Heute wird viel Verkehr sein.«

»Wir passen schon auf, Mami«, erwiderte Sabine. »Mach dir nicht immer Sorgen. Mach dir einen schönen Tag mit Papi.«

Jochen Reichert schlief noch. Er hatte eine anstrengende Woche hinter sich.

Die beiden Mädchen fuhren los. Auf der schmalen Landstraße, die noch durch die Vororte führte, mussten sie höllisch aufpassen. Das schöne Wetter lockte viele Ausflügler heraus.

Dann konnten sie ein Stück nebeneinander fahren. »Andy ist mit seinen Freunden beim Segeln. Wir treffen uns mit ihnen«, sagte Sabine. »Das wird lustig.«

Aber es wurde nicht lustig. Als sie dort ankamen, war das Erste, was sie sahen, dass Miriam und Andreas dicht beieinanderstanden. Eben noch hatten sie ziemlich erregt miteinander gesprochen, wie Sabine aus den Gesten entnahm. Nun drehte sich Miriam um und musste sie wohl auch gleich gesehen haben. Sie legte ihre Arme um Andys Hals und schmiegte sich an ihn.

Er war überrascht. Er hatte Sabine und Jennifer noch nicht gesehen. Aber nun küsste ihn Miriam auch noch, und da war er völlig sprachlos.

»Was soll das?«, fragte er barsch.

»Können die andern nicht wissen, dass wir verliebt ineinander sind?«, fragte sie laut.

»Hör mal, Miriam«, begann er, aber er kam nicht weiter, denn Sabine sagte: »Stören wollten wir nicht. Komm, Jenni, wir machen unser Picknick allein.«

Sie war wütend. Sie konnte Miriam wirklich nicht leiden, aber sie ahnte auch nicht, was in diesem Augenblick in Jennifer vor sich ging.

»Bine, bleibt doch da«, rief Andreas.

Aber Jennifer hatte schon die Flucht ergriffen, und Sabine folgte ihr.

»Da hast du es«, sagte er böse zu Miriam.

»Na und, diese blöde Ziege braucht nicht zu denken, dass Schluss ist zwischen uns«, erwiderte Miriam.

»Sie ist keine blöde Ziege, sie ist ein armes Hascherl«, sagte Andreas, »und ich war mit Bine verabredet. Was ist plötzlich wieder in dich gefahren, ­Miriam? Häng dich doch lieber an Frahm.«

»So was Blödes«, zischte sie, »bloß weil ich mit ihm in der Oper war? Wer hat denn da wieder geklatscht?«

»Niemand«, erwiderte Andreas, »das wusste ich gar nicht.«

»Und das hat auch meine Mutter gemanagt. Ich kann nichts dafür. Mama dreht durch. Sie weiß gar nicht mehr, was sie tut. Sie meint es ja gut, aber sie macht alles falsch.«

»Und du, machst du alles richtig?«, fragte er.

»Sei doch nicht so pedantisch. Ich habe mich neulich ungeschickt benommen, aber das kommt daher, weil Sabine mich nicht leiden kann. Sie legt es doch nur darauf an, uns auseinanderzubringen.«

»Sie legt es auf gar nichts an«, sagte er. »Bine ist meine Schwester und mischt sich in nichts ein. Du warst neulich sehr deutlich, und das habe ich nicht vergessen. Und eben war das doch nur Theater, um etwas zu demonstrieren, was gar nicht vorhanden ist. Ich mache das, was ich für richtig halte, aber einen Lehrer würde ich nicht in Kalamitäten bringen an deiner Stelle.«

»Du willst mich also im Stich lassen«, stieß sie zornig hervor.

»Wenn du mehr gelernt hättest, gäbe es nicht so viel Lücken, Miriam«, sagte er ruhig.

»Du hast Nerven«, sagte sie. »Wem habe ich denn meine Zeit geopfert? Doch dir!«

»Da muss ich ja lachen. Ich will nicht anzüglich werden, aber wer hat denn seine Zeit geopfert?«, fragte er. »Soll ich der Schuldige sein, wenn du das Abitur nicht bestehst? Ich will und werde es bestehen und so, dass ich meinen Studienplatz bekomme. Auch als Landarzt braucht man ein abgeschlossenes Studium. Uns trennen Welten, Miriam.«

»Und unsere Freundschaft bedeutet dir nichts?«

»War es denn Freundschaft? Du hast mich gebraucht. Du hättest auch jeden andern eingespannt, der dir gefallen hätte. Wenn Frahm nicht so spurt, wie du es dir vorgestellt hast, tut es mir leid für dich, aber für ihn ist es besser, wenn er seinen Verstand behält.«

»Und was sagst du, dass Dellbrügg Sabine nachsteigt?«, schleuderte sie ihm ins Gesicht.

»Du spinnst ja«, sagte er.

»Und ihr werdet mich kennen lernen«, stieß sie hervor. »Renn ihnen doch nach, diese doofe Jennifer wartet doch nur darauf.«

»He, Andy, habt ihr euch endlich ausgequatscht«, riefen Andys Freunde, »wir haben Hunger. Du hast doch gesagt, dass Bine kommt.«

»Miriam hat sie verscheucht«, erwiderte Andreas.

Miriam legte den Kopf in den Nacken. »Ich lade auch alle zum Essen ein«, erklärte sie großspurig. »Andreas wird es wohl vorziehen, sich an Sabines und Jennifers Spuren zu heften. Euch spendiere ich Wiener Schnitzel.«

»Na, dann auf«, sagte Andreas, »ihr wärt blöd, wenn ihr die Einladung nicht annehmen würdet.«

Er zog sich seinen Pullover über, schwang sich auf sein Mofa, und schon war er davon.

Aber er fand Sabine und Jennifer nicht.

*

»Dieses Biest, dieses verdammte Biest«, sagte Sabine, »du darfst dir das nicht zu Herzen nehmen, Jenni. Sie wollte uns provozieren, mich noch mehr als dich, weil sie genau weiß, dass ich sie nicht leiden kann. Wir machen es uns jetzt gemütlich. Mir können die Jungens gestohlen bleiben.«

»Es tut mir leid, Bine. Ich bin an allem schuld«, sagte Jennifer bebend. »Ihr wart immer eine Clique. Erst seit ich da bin, sonderst du dich meinetwegen ab, weil niemand mich mag.«

»Jetzt ist aber Schluss«, sagte Sabine. »Ich habe mich immer ferngehalten, wenn Miriam von der Partie war. Und ich weiß auch genau, wie peinlich Andy dieser Zwischenfall war. Er ist kein Schmuser. Nun iss doch endlich was. Wenn du dir doch bloß nicht alles so zu Herzen nehmen würdest! Ich hätte niemals gedacht, dass Miriam auch hier draußen sein würde, sonst wären wir doch woandershin gefahren.« Sie hielt inne und betrachtete Jennifer bestürzt. »Meine Güte, was hast du denn?«, fragte sie.

»Nasenbluten«, erwiderte Jennifer leise.

»Leg dich zurück«, kommandierte Sabine. »Ich laufe schnell runter zum See und mache ein paar Tücher feucht. Bleib ruhig liegen, hörst du?«

Und sie lief wie ein Wiesel. Jenni ist sowieso schon blutarm, dachte sie. Was mache ich nur, wenn sie ohnmächtig wird?

Schnell war sie zurück, drückte Jennifer ein feuchtes Tuch in den Nacken und eins aufs Gesicht. »Du wirst jetzt mal zu Dr. Norden gehen«, sagte sie dabei. »Du lässt dich untersuchen.«

»Ich habe das öfter, und es geht immer wieder vorbei«, flüsterte Jennifer. »Und mir ist sowieso alles egal.«

Das sagt sie nicht nur, dachte Sabine. Ihr ist wirklich alles egal. Da müsste man doch mal mit ihren Eltern reden. Jemand muss das tun.

Es dauerte lange, bis sich das Nasenbluten beruhigte, und Sabine war es bange, als sie dann heimwärts fuhren. Sie ließ Jennifer vorausfahren und behielt sie immer im Auge.

Heilfroh war sie, als sie daheim angekommen waren.

»Du bleibst jetzt bei uns«, sagte sie energisch.

»Nein, ich will nicht. Andreas denkt dann nur, dass ich mich aufdrängen will«, sagte Jennifer.

»Andreas kann denken, was er will. Du bist meine Freundin«, sagte Sabine. »Du legst dich jetzt erst mal hin und schläfst eine Runde.«

Ihre Eltern hielten auch einen ausgedehnten Mittagsschlaf, und Sabine brachte Jennifer tatsächlich dazu, sich auf die Couch in ihrem Zimmer zu legen. Sie schlief auch bald ein, und Sabine hegte den Verdacht, dass sie in der Nacht wenig geschlafen hatte.

Leise ging sie hinunter, und da war ihre Mutter schon in der Küche, um Kaffee zuzubereiten.

»Ihr seid schon zurück?«, fragte Nanette erstaunt.

»Es war ein Fiasko«, erklärte Sabine und erzählte, was sich zugetragen hatte.

»Das ist nicht Andys Art«, sagte Nanette bestürzt.

»Nein, aber Miriams. Ich könnte ihr die Augen auskratzen«, sagte Sabine. »Mami, dieses Biest könnte unser Untergang sein.«

»Nicht gleich übertreiben, Kindchen«, meinte Nanette. »Andy war fertig mit ihr.«

»Jenni ist auch fertig. Ich weiß ja, dass sie viel für Andy übrig hat, ich kann sie nicht im Stich lassen. Sie ist so allein, Mami, so schrecklich allein. Ich gehe jetzt mal rüber. Vielleicht ist ihre Mutter da.«

»Tu das nicht, Bine. Misch dich da nicht ein«, sagte Nanette warnend.

»Ich muss etwas tun, Mami, sonst platze ich«, sagte Sabine. »Pass ein bisschen auf Jenni auf.«

*

Jennifers Vater öffnete ihr die Tür. Er stand riesengroß vor Sabine, und das war einschüchternd. Aber sie nahm allen Mut zusammen.

»Mr Stones, könnte ich Sie ein paar Minuten sprechen?«, fragte sie.

»Weshalb?«, fragte er unhöflich.

»Es geht um Jennifer. Wir haben heute einen Ausflug gemacht.«

»Ja, das hat sie mir gesagt. Was ist denn los?«

»Sie bekam starkes Nasenbluten.«

»Na und? Das hat sie öfter. Wo ist sie denn?«

»Bei uns. Sie schläft jetzt.«

Sein Ton wurde freundlicher. »Das ist sehr nett, wenn Sie sich um sie kümmern, Sabine«, sagte er. »Ich fliege heute nach Japan. Meine Frau ist auch ein paar Tage verreist.«

»Und Jenni ist hier ganz allein?«, fragte Sabine.

»Sie ist doch erwachsen«, sagte Mr Stones. »Ihr könnt doch gar nicht schnell genug erwachsen werden. Ich muss jetzt weg. Geben Sie ihr das Geld hier, Sabine. Meine Frau wird am Mittwoch zurück sein.«

Sabine blickte auf und sah in eiskalte Augen. Ihr verschlug es die Sprache. Arme Jenni, dachte sie, und nahm die zwei Hunderteuroscheine entgegen. Sie machen alles nur mit Geld.

»Jenni kann bei uns bleiben«, sagte sie leise. »Sie kann auch bei uns essen.«

»Das ist sehr nett. Selbstverständlich wollen wir nichts geschenkt haben. Und sie soll ab und zu nach der Heizung sehen. Abends ist es recht kühl. Sagen Sie ihr einen Gruß von mir. Ich habe es eilig.«

»Gute Reise, Mr Stones«, sagte Sabine tonlos.

»Ihr habt es gut«, murmelte er. »Ihr bleibt immer an einem Ort. Für Jennifer wird alles besser werden, wenn sie in einem Internat ist.«

»Sie will aber nicht«, stieß Sabine hervor.

Seine Augenbrauen schoben sich zusammen. »Sie wird wollen, weil es nicht anders geht«, erwiderte er.

Niedergeschlagen kehrte Sabine in ihr Elternhaus zurück. Die zwei Hunderteuroscheine hatte sie in der Hand zerknüllt.

»Ihm bedeutet Jenni gar nichts, Mami«, sagte sie leise. »Er ist eiskalt. Geld hat er mir gegeben, und einen Gruß an Jenni hat er bestellt. Ihre Mutter kommt auch erst Mittwoch zurück. Jenni soll nach der Heizung sehen, das war alles. Was ist das für eine Welt, Mami?«

»Eine Welt, die mit unserer Welt nichts zu schaffen hat, Bine«, erwiderte Nanette leise. »Wir werden Jenni ein paar schöne Tage machen.«

»Und wenn sie dann doch in ein Internat muss?«

»Was sollen wir dagegen, tun, mein Kleines?«

»Sie hat mal gesagt …«, aber da geriet Sabine ins Stocken.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Na­nette.

»Dass sie zum ersten Mal eine Freundin hat«, erwiderte Sabine ausweichend.

»Dann wirst du ihr jetzt beweisen, dass du ihr eine aufrichtige Freundin bist.«

»Kann ihr das helfen? Sie tut mir so leid, Mami.«

»Mitleid allein hilft ihr nicht, mein Kind.«

*

Jennifer nahm die Nachricht von ihrem Vater apathisch hin. Nanette brachte es mit ihrem liebenswürdigen Wesen dann aber doch fertig, dass sich Jennifers Hemmungen legten. Jochen Reichert kam mit einem heiteren Fragespiel daher, bei dem sich erwies, dass Jennifer auf allen Wissensgebieten recht gut Bescheid wusste.

Andreas kam gegen sechs Uhr, und seine Stimmung war nicht die beste. Nanette warf ihrem Sohn einen bittenden Blick zu, und gleich hellte sich seine Miene auf. Sabine enthielt sich jeder Bemerkung über den Zwischenfall, und so unterschied sich dann der Abend nicht von den anderen, die im Familienkreis verbracht wurden. Jennifers Anwesenheit schien ganz selbstverständlich zu sein.

In dem hübschen Gästezimmer wartete ein Bett auf sie. Als sie zu Bett ging, sagte sie: »Vielen Dank, dass ich hierbleiben darf.«

»Ist doch selbstverständlich«, erwiderte Nanette. »Schlaf gut, Jenni.«

Sabine setzte sich noch eine Weile zu ihr, und als sie dann in ihr Zimmer ging, wartete dort Andreas.

»Du hast ganz falsche Schlüsse gezogen, Bine«, begann er ohne Umschweife. »Ich war selbst schockiert, als Miriam diese Schau abriss.«

»Sie wollte Jenni treffen«, sagte Sabine. »Das hat sie ja auch erreicht.«

»Ich habe ihr meine Meinung gesagt. Ich bin doch nicht ihr Hanswurst.«

»Das will ich auch hoffen, Andy. Ich finde es ziemlich peinlich, wenn sich ein Mädchen in aller Öffentlichkeit so produziert. Aber genug davon. Ich wollte dir nur noch sagen, dass Jenni sich in einer sehr kritischen Phase befindet und Aufmunterung braucht.«

»Ich habe nichts gegen sie, aber du kannst nicht von mir verlangen, dass ich mit ihr anbandele.«

»Das verlange ich auch gar nicht. Sie hat mit ihren Eltern genug Sorgen und ist wahnsinnig deprimiert.«

»Das tut mir leid, aber ich habe mir schon so was gedacht. Da geht doch jeder seine eigenen Wege.«

»Und Jenni leidet darunter. Jetzt soll sie in ein Internat.«

»Was meiner Ansicht nach noch besser wäre, als dauernd hin und her geschubst zu werden.«

»Aber sie schließt sich so schwer an, und ihr bedeutet unsere Freundschaft so viel. Ihr Vater ist ein eiskalter Geschäftsmann. Ich habe vorhin mit ihm gesprochen. Es war ernüchternd. Wenn ich mir vorstelle, dass wir solchen Vater hätten …«

»Haben wir aber nicht«, fiel er ihr ins Wort. »Ich weiß, dass wir sehr dankbar sein können. Aber auch Miriam ist ein Produkt ihrer Umgebung und Erziehung. Bei ihnen stimmt es auch hinten und vorn nicht. Ich habe ihr gehörig meine Meinung gesagt, und da hat sie auch manches von sich gegeben, was ich nicht geahnt habe. Ich kann sie jetzt nicht einfach ignorieren. Es dauert nicht mehr lange, dann gehen wir sowieso getrennte Wege. Es kann durchaus sein, dass auch für sie schwere Zeiten kommen. Die Geschäfte gehen nicht mehr so wie früher. Der goldene Käfig steht auf einem tönernen Fundament.«

»Je höher man steigt, desto tiefer kann man fallen«, sagte Sabine gleichmütig. »Nimm es mir nicht übel, wenn ich sage, dass ich es sehr bedauern würde, wenn du dich um gute Punkte bei den Prüfungen bringen würdest, weil du zu viel Zeit an sie verschwendest. Hast du morgen übrigens was vor?«

»Nein.«

»Papi hat den Vorschlag gemacht, dass wir Großpapa mal besuchen könnten.«

»Fein, aber was ist mit Jenni?«

»Die nehmen wir natürlich mit.«

*

Dr. Pohl kam mit strahlender Miene aus dem Haus, als der Wagen vor dem Gartentor hielt.

»Oh, Kinder, ist das eine schöne Überraschung«, sagte er freudig bewegt mit seiner Bassstimme. Er umarmte seine Lieben, und Jenni wurde auch herzlich willkommen geheißen.

Mariechen, Mädchen für alles im Doktorhaus, geriet jedoch gleich in Aufregung, weil sie mit dem Essen für alle Personen nicht vorbereitet war.

»Was soll’s denn«, sagte Dr. Pohl beschwichtigend. »Wir gehen zum ›Alten Wirt‹, da werden sie sich freuen, wenn die ganze Familie mal wieder angerollt kommt.«

Man sah ihm seine fünfundsechzig Jahre nicht an. Frisch und munter war er, wie Nanette zufrieden feststellte.

»Die paar Jährchen, bis Andy mal die Praxis übernimmt, schaffe ich schon noch«, erklärte er lachend. »Schön wär’s natürlich, wenn ich noch eine tüchtige Sprechstundenhilfe finden würde, aber die jungen Damen wollen ja nicht aufs Land.«

»Was muss man da können?«, fragte Jennifer zu aller Erstaunen.

»Lust und Liebe muss man mitbringen«, erwiderte Dr. Pohl. »Lernen kann man alles. Aber heute denken wir nicht an die Arbeit. Auf geht’s, Kinder.«

Auf dem Wege zum »Alten Wirt«, einem ganz romantisch gelegenen Gasthof, waren Sabine und Jennifer ein Stück zurückgeblieben.

»Schön ist es hier«, sagte Jenni sinnend. »So friedlich, und euer Großpapa ist so lieb.«

Und alles das muss sie vermissen, dachte Sabine. Sie wusste längst, wie sehr sich Jennifer nach einer harmonischen Familie sehnte.

»Es war schon arg, als wir Großmama vor drei Jahren verloren haben«, sagte sie. »Es ist schlimm, wenn ein Arzt der eigenen Frau nicht helfen kann. Großpapa hat sich dann aber aufgerappelt, als Andy erklärte, dass er gern mal die Praxis übernehmen würde.«

»Aus Überzeugung?«, fragte Jennifer leise.

»Ja. Aber er wird sich gewaltig anstrengen müssen. Großpapa ist wahnsinnig beliebt.«

Das spürte man auch beim »Alten Wirt«. Da wurde gleich ein Nebenzimmer schnellstens hergerichtet, damit die Familie unter sich sein konnte, und ein Essen wurde aufgetischt, das eines großen Festes würdig gewesen wäre.

Dr. Lorenz Pohl, den der Wirt »Lenzi« nannte, erwies sich auch als humorvoller Gastgeber. Irgendwann kam das Gespräch dann auch auf das Sportfest.

»Ja, das möchte ich mir eigentlich nicht entgehen lassen«, sagte Dr. Pohl. »Ich werde meinen Patienten befehlen, am Mittwoch nicht mit bösen Überraschungen aufzuwarten.«

»Du willst kommen, Großpapa?«, fragte Sabine.

»Da muss ich dabei sein«, erwiderte er, Poppel bellte leise unter dem Tisch. »Komm aber nicht auf den Gedanken, vorher Fisch und Kartoffelsalat zu essen, Binchen.«