Echo des Lebens - Gabriele Popma - E-Book
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Echo des Lebens E-Book

Gabriele Popma

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Beschreibung

Marion hatte es im Leben nie leicht. Mit siebzehn wurde sie von ihrem despotischen Vater verstoßen, weil sie schwanger wurde. Zehn Jahre später schlägt das Schicksal erneut erbarmungslos zu und reißt ihre Familie auseinander. Sie muss wieder einen neuen Weg finden und weiß doch nicht, wie.

Da lernt sie zwei Männer kennen, beste Freunde, jedoch so unterschiedlich wie Feuer und Wasser. Der eine ist charmant und deutlich an ihr interessiert, der andere ein ungehobeltes Ekelpaket. Und ausgerechnet an ihn hat sie ihre Einliegerwohnung vermietet. Konflikte sind vorprogrammiert, doch dann stellt Marion fest, dass beide Männer selbst heftige Schicksalsschläge zu verarbeiten haben. Und etwas daran klingt für sie unangenehm bekannt …

Ein Liebes- und Schicksalsroman, der ans Herz und unter die Haut geht.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Epilog

Impressum tolino

Gabriele Popma

Echo des Lebens

Roman

1

Das aufdringliche Schrillen des Handys durchschnitt die Stille in dem kleinen Büroraum. Der Ton war durch die Tasche, in der es steckte, deutlich gedämpft, doch Marion zuckte heftig zusammen. Sie saß über einer komplizierten Abrechnung und wollte sich nicht ablenken lassen. Egal, wer es war, er würde sich gedulden müssen.

Ihre Kollegin Julia, die ihr gegenüber saß, lachte. »Du brauchst mal einen vernünftigen Klingelton. Nicht so eine Sirene. Gehst du nicht ran?«

Marion seufzte. Ihre Konzentration war beim Teufel, also konnte sie das Gespräch genausogut annehmen. Sie nestelte das Handy aus ihrer Handtasche, die unter dem Tisch stand, als es verstummte.

»Problem gelöst«, grinste Julia.

Marion sah auf die Nummer. Die Vorwahl stammte aus ihrem Heimatort, aber ansonsten war sie ihr unbekannt. Sie würde nach Arbeitsschluss am Mittag zurückrufen. Auch eine neue WhatsApp-Nachricht hatte sie erhalten. Sie lächelte, als sie die Zeilen ihres Mannes las. ›Meine Konferenz fällt aus. Mache heute blau und fahre gleich heim‹, hatte er vor einer Stunde geschrieben. ›Vielleicht können wir nachmittags mit Stefanie rodeln gehen oder sonst was unternehmen. Hab dich lieb.‹

Eine gute Idee. Ihre Tochter würde sich über einen unverhofften Ausflug freuen.

Als sie das Handy zurück in die Tasche steckte, klingelte das Telefon, das zwischen den Schreibtischen stand. Julia sah sie an. »Du oder ich?«

»Du. Ich hatte heute früh schon etliche Gespräche. Ich muss diese Abrechnung fertig kriegen, bevor ich gehe.« Marion drehte sich zu ihrem Computer und hörte nur noch mit halbem Ohr, wie sich Julia mit dem Namen der Versicherungsgesellschaft, für die sie arbeiteten, meldete.

»Frau Degenhart? Ja, die ist hier. Einen Moment.«

Marion seufzte. Als sie die Hand nach dem Telefonhörer ausstreckte, warf sie Julia einen fragenden Blick zu.

»Jemand vom Klinikum Fürstenfeldbruck«, raunte die Kollegin, während sie die Telefonmuschel mit der Hand abdeckte.

»Wegen einer Abrechnung?« Noch mehr Arbeit. Marion stöhnte innerlich. »Degenhart«, meldete sie sich und erwartete, mit den Versicherungsdaten eines Patienten konfrontiert zu werden. Doch dann wurde sie blass. Julia hielt in ihrer Arbeit inne und beobachtete sie. Marion umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Fingerknöchel langsam weiß wurden.

»Was ist los?«, fragte Julia alarmiert.

»Ja, natürlich, ich komme gleich«, murmelte Marion. »Auf Wiedersehen.«

Julia stand auf und lief um ihren Schreibtisch herum. Marion hielt immer noch den Hörer in der Hand, hatte ihn aber sinken lassen. Behutsam legte Julia ihre Hand auf die Schulter der etwas älteren Kollegin. Langsam und wie aus tiefer Trance erwachend, sah Marion auf.

»Was ist passiert?«, wiederholte Julia.

»Mein Mann hatte einen Unfall.« Marions Stimme war nur ein leises Wispern.

»Einen Unfall? Mit dem Auto?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Du glaubst?«

»Sie haben mich nur gebeten, sofort zu kommen.« Ein Schauer durchlief Marion, doch er riss sie aus ihrer Starre. Sie ließ das Telefon achtlos fallen, während sie aufsprang und nach ihrer Jacke und Tasche griff. »Ich muss sofort hin.«

Julia schüttelte den Kopf. »Ich lasse dich auf keinen Fall fahren. Du bist viel zu aufgewühlt. Ich bringe dich hin.«

»Das musst du nicht.«

»Doch, das muss ich. Ich sage nur schnell Bescheid.«

Stumm starrte Marion durch die Windschutzscheibe. Es schneite schon wieder und sie kamen nur langsam voran. Sie war Julia dankbar für den Fahrdienst. Sie bezweifelte, dass sie sich im Moment auf den Verkehr konzentrieren konnte. Der Ring um ihre Brust zog sich immer enger zusammen und nahm ihr die Luft zum Atmen. Ihr Mann war verunglückt und es war schlimm. Sie wusste einfach, dass es schlimm war. Es war nur ein Gefühl und sie hoffte mit aller Macht, dass es sie trog. Fröstelnd zog sie den Reißverschluss ihrer gefütterten Jacke höher.

»Mach dir nicht so viele Sorgen«, versuchte Julia sie aufzumuntern. »Wahrscheinlich hat er nur ein paar Kratzer.«

»Dann hätte er selbst angerufen.«

»Vielleicht kann er nicht, weil sie ihn gerade verarzten. Sie haben deine Nummer doch sicher von ihm bekommen. Bestimmt hat er einfach darum gebeten, dich zu informieren.«

Marion atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. »Er hat in der Brieftasche einen Zettel mit allen Nummern, unter denen ich zu erreichen bin. Nein, ich fühle es ganz deutlich: Es ist etwas Furchtbares passiert.«

»Hoffentlich nicht.« Julia ließ die Freundin für den Rest der Fahrt in Ruhe. »Soll ich mitkommen?«, fragte sie, als sie vor dem großen Gebäudekomplex hielt.

»Lieb von dir, aber das kann dauern. Du könntest dich um meine Abrechnungen kümmern.«

»Du hast vielleicht Nerven.« Julia schüttelte den Kopf. »Das sollte jetzt deine geringste Sorge sein. Sag ihm einen Gruß von mir.« Sie nickte der Kollegin noch einmal aufmunternd zu, bevor sie wendete und zurückfuhr.

Marion sah ihr nach und fröstelte. Sie hatte Angst, das Krankenhaus zu betreten. Sie glaubte einfach nicht, dass Julia recht hatte. Irgendein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass eine schreckliche Nachricht auf sie wartete. Es war wie ein lähmendes Entsetzen, das sich in ihre Glieder schlich.

Sie holte tief Luft. Vielleicht machte sie sich wirklich nur verrückt. Sie hasste es selbst, dass sie sich andauernd um alles Mögliche sorgte. Ihr Mann zog sie immer damit auf, dass sie viel zu jung für Sorgenfalten wäre, aber sie hatte in den letzten Jahren einfach zu viel verloren, um nicht ständig in Alarmbereitschaft zu sein.

Wie es ihm wohl ging? Sie würde es nie erfahren, wenn sie weiter vor dem Krankenhaus stand und die Fassade hinauf starrte. Seufzend setzte sie sich in Bewegung. Erst bei der Anmeldung blieb sie stehen.

»Mein Name ist Marion Degenhart«, sagte sie zu dem älteren Mann, der sie freundlich ansah. »Ich bin angerufen worden.«

»Ah ja.« Der Angestellte nickte. »Ich sage gleich Bescheid. Nehmen Sie doch bitte einen Moment Platz.«

Nach kaum fünf Minuten wurde sie von einer Schwester abgeholt.

»Frau Degenhart? Ich bin Schwester Ina. Würden Sie bitte mitkommen?«

Sie stand auf. Bildete sie es sich nur ein oder hatte die Schwester ihr einen mitleidigen Blick zugeworfen? Der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer.

»Bitte sagen Sie mir, was mit meinem Mann ist«, presste sie mühsam hervor. »Wie geht es ihm?«

»Er hatte einen schweren Unfall, Frau Degenhart«, meinte die junge Schwester leise. »Der behandelnde Arzt, Herr Dr. Drescher, möchte mit Ihnen sprechen.«

So schlimm war es also, dass sogar der Arzt mit ihr reden wollte, bevor sie ihren Mann sehen durfte? Marion wurde schwindelig. Die Wände schienen auf sie zuzukommen und sie zu erdrücken. Sie tastete nach einem Halt.

Schwester Ina legte ihr eine stützende Hand auf den Arm. »Möchten Sie sich einen Moment setzen?«

»Nein, danke, es geht schon.« Marion presste die Lippen aufeinander. Sie wollte endlich wissen, wie es ihrem Mann ging.

Der Marsch durch die Gänge erschien ihr endlos. Wie lange waren sie bereits unterwegs? Fünf Minuten? Zehn? Oder waren es erst Sekunden? Sie bewegte sich wie in einem Nebel, ohne jegliches Zeitgefühl. Der lähmende Schrecken hatte sie wieder im Griff und verhinderte, dass sie einen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Erst, als die Schwester an eine Tür klopfte und sie nach einer kurzen Ankündigung eintreten ließ, schaffte sie es, die Benommenheit abzuschütteln. Gefasst trat sie auf den Arzt zu, der von seinem Schreibtisch aufgestanden war. Er musste etwa Mitte Fünfzig sein und lächelte sie so warm und aufmunternd an, dass Marion wieder zu hoffen begann.

»Bitte nehmen Sie Platz, Frau Degenhart.«

»Bitte, was ist mit meinem Mann?«

»Wie es den Anschein hat, ist er auf eisglatter Fahrbahn ins Schleudern gekommen und hat die Kontrolle über seinen Wagen verloren. Er hat sich mehrmals überschlagen und ist dann gegen einen Baum geprallt.«

Vor Marions innerem Auge lief der Unfall wie auf einer Kinoleinwand in 3D ab. Ein eiskalter Schauer ließ sie erzittern. Sie wollte das nicht hören. Sie wollte zurück an die Arbeit und einfach so weitermachen wie bisher. Dann würde ihr Schatz auch am Abend zu ihr nach Hause kommen. Er würde sie küssen und sie fragen, wie ihr Tag gewesen war. Und sie würde sich an seine Schulter schmiegen und ihn nie wieder loslassen.

»Im Moment wird Ihr Mann operiert«, fuhr Dr. Drescher fort. »Eine Schwester wird Ihnen noch die nötigen Formulare bringen, die Sie bitte ausfüllen.«

»Wie schlimm ist es?« Marion hörte ihre eigene Stimme kaum.

»Ich will Ihnen nichts vormachen, Frau Degenhart. Der Zustand Ihres Mannes ist sehr ernst. Aber nicht hoffnungslos. Wir müssen das Ende der Operation abwarten, um Genaueres sagen zu können.«

Marion nickte mechanisch. Sie war nicht in der Lage, das Gehörte zu verarbeiten. Ihr Gehirn schien sich abgeschaltet zu haben.

»Die OP wird noch eine ganze Weile dauern. Möchten Sie hier warten, oder sollen wir Sie zu Hause anrufen ...«

»Ich bleibe hier.«

»Gut. Die Schwester wird Sie in einen Wartebereich bringen. Wir sagen Ihnen so schnell wie möglich Bescheid.«

Marion blätterte eine Zeitschrift durch, doch sie sah nicht, was darin stand. Schon seit zwei Stunden saß sie hier. Angehörige von Patienten waren gekommen und wieder gegangen. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete oder sie eine Bewegung auf dem Gang wahrnahm, sah sie hoffnungsvoll auf. Doch es gab keine Neuigkeiten. Es dauerte schon viel zu lange. Zum gefühlt tausendsten Mal sah sie auf die Uhr, die unbarmherzig an der Wand vor sich hin tickte. Stefanie würde bald aus der Schule kommen. Sie zückte ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Nachbarin.

»Hallo Anja, hier ist Marion«, meldete sie sich, als die Freundin abhob. »Könntest du dich bitte um Stefanie kümmern, wenn sie nach Hause kommt?«

»Aber natürlich. Musst du länger arbeiten?« Die fröhliche Stimme ihrer quirligen Nachbarin schnitt Marion ins Herz.

»Nein, ich bin im Krankenhaus. Ich ...« Die Worte blieben ihr im Hals stecken und sie musste tief durchatmen. Doch dann erzählte sie, was passiert war.

Anja wurde abrupt ernst. »Oh Gott, es ist doch hoffentlich nicht schlimm?«

»Er wird gerade operiert. Ich weiß noch nichts Genaues, aber es scheint sehr ernst zu sein.«

»Soll ich kommen? Brauchst du Unterstützung?«

»Nein, wenn du für Stefanie sorgst, hilft mir das schon sehr viel.«

»Klar doch. Allerdings habe ich am späteren Nachmittag einen Zahnarzttermin mit Jana.«

»Kein Problem. Schick sie dann einfach heim. Sie ist ja alt genug, um auch mal allein zu sein. Es geht mir nur darum, dass sie was zu essen kriegt und ihre Hausaufgaben macht.«

»Das kriegen wir hin. Und sieh nicht so schwarz. Dein Schatz ist ein Kämpfer. Er wird bestimmt wieder gesund.«

»Danke.« Als Marion das Handy wegsteckte, bröckelte die mühsam auferlegte Selbstbeherrschung von ihr ab und sie begann zu weinen. Anja hatte recht, er war ein Kämpfer. Ihn konnte so leicht nichts umwerfen. Aber was, wenn das dieses Mal nicht reichte?

Sie durfte ihn nicht verlieren. Ohne ihn wäre sie völlig hilflos. Er war ihr Fels in der Brandung, er hatte sie aufgefangen, als ihr ganzes Leben über ihr zusammengestürzt war. Wie lange war das schon her? Eine gefühlte Ewigkeit. Unwillkürlich lächelte sie, als ihre Gedanken in die Vergangenheit zurückwanderten.

2

»Magst du am Freitag zu meiner Geburtstagsfeier kommen?«

Erstaunt sah Marion sich um. Katharina konnte unmöglich sie gemeint haben. Normalerweise würdigte die Klassenkameradin sie keines Blickes. Das ging so weit, dass sie Marion teilweise nur bei ihrem Nachnamen Lahner rief. Und plötzlich lud sie sie zum Geburtstag ein? »Meinst du mich?«

»Natürlich.« Das hübsche Mädchen lachte und strich sich durch die langen dunklen Haare. »Es wird Zeit, dass wir uns ein wenig besser kennenlernen. Immerhin sind wir schon etliche Jahre in der gleichen Klasse. Wie viel genau?«

Mehr als Marion zählen wollte. Drei Mal waren die Klassen inzwischen gemischt worden, als sie sich für unterschiedliche Fachrichtungen entschieden hatten und immer war Katharina in ihrem Zweig gelandet. Marion wäre gern mit ihr befreundet gewesen, denn Katharina und ihre Freundin Sabrina gaben hier den Ton an. Allerdings scheiterte dies an der hochnäsigen Art, mit der die zwei Mädchen sie behandelten. Und jetzt wurde sie zur Geburtstagsfeier eingeladen?

»Schau nicht so doof. Kommst du oder nicht?« Katharina grinste sie gutgelaunt an. Sie schien es wirklich aufrichtig zu meinen.

»Weiß ich noch nicht.« Marion musste zuerst ihren Vater um Erlaubnis fragen, aber das hätte sie nie zugegeben. Sie war siebzehn und musste erst betteln, ob sie zu einer Party gehen durfte, so etwas hängte man nicht an die große Glocke. »Was hast du denn geplant?«, fragte sie stattdessen.

»Ach, nichts Besonderes. Meine richtige Geburtstagsfeier ist erst am Samstag. Ich will nur mit ein paar Freundinnen abhängen und eine gute Zeit haben. Es kommen auch nicht viele. Sabrina natürlich, du und noch zwei oder drei andere. Meine Mama macht Kuchen und wir wollen im Wintergarten grillen. Vielleicht gibt es auch noch eine Überraschung. Man wird schließlich nur einmal achtzehn. Also, wie sieht es aus? Ich muss wissen, ob ich mit dir rechnen kann. Bist du dabei oder nicht?«

»Ja, ich komme gern«, sagte Marion zu. Es hörte sich so harmlos an, dass ihr Vater sicher nichts dagegen hatte. Diese Gelegenheit, sich mit dem beliebtesten Mädchen der Klasse anzufreunden, durfte sie sich nicht entgehen lassen.

»Du bist aber um elf Uhr daheim.«

»Papa!« Marion sah ihre Felle davonschwimmen. »Ich kann doch nicht um elf schon sagen, dass ich nach Hause muss wie ein kleines Kind. Tu mir das nicht an. Bitte.«

»Sie hat recht, Georg«, mischte sich ihre Mutter ein. »Gönn ihr ein bisschen mehr Zeit. Marion ist doch schon siebzehn und wir können ihr vertrauen.«

Das Gesicht ihres Vaters verfinsterte sich. Er mochte es nicht, wenn seine Frau ihm widersprach. Widerspruch ganz allgemein gefiel ihm nicht.

»Wie heißen diese Leute?«

»Helfenstein. Ich glaube, Katharinas Vater ist Rechtsanwalt, bin mir aber nicht ganz sicher.« Marion hielt den Atem an.

Zu ihrer Überraschung lenkte ihr Vater ein. »Gut, sagen wir bis zwölf Uhr. Dann bist du aber hier. Bis Mitternacht ist ja wohl lange genug für eine Feier. Was macht ihr überhaupt?«

»Essen, quatschen, grillen, so Zeug halt.«

»Sind Jungen dabei?«

»Katharina hat nichts davon erwähnt.«

»Okay. Dann viel Vergnügen.«

Marion war froh, als sie das Arbeitszimmer ihres Vaters verlassen konnte. Sie liebte ihn natürlich, aber sie hatte auch immer ein wenig Angst vor ihm. Ihre Familie gehörte väterlicherseits zu den Urgesteinen im Dorf und Georg Lahner war sehr darauf bedacht, das Ansehen zu wahren. Der große Betrieb, bestehend aus einem Sägewerk und einer Zimmerei, den er von seinen Eltern übernommen hatte, verhalf ihm zu einigem Einfluss, den er durch verschiedene Vereinszugehörigkeiten unterstrich. Marion hätte einen liebevollen Vater bevorzugt. Sie war noch nie geschlagen worden, aber sie konnte sich auch nicht erinnern, dass ihr Vater sie jemals in den Arm genommen hatte. Bei ihrer Schwester Laura war das anders. Die Zehnjährige schaffte es jederzeit, ihren Vater zum Lachen zu bringen. Sie kuschelte sich einfach auf seinen Schoß und wurde auch umarmt. Natürlich hatte Laura auch einen coolen Namen bekommen. Marion machte durchaus ihren Vornamen dafür verantwortlich, dass Katharina und Sabrina sie bisher so verächtlich behandelt hatten. Wer hieß denn heutzutage noch Marion? Aber ihr Vater hatte es damals so entschieden, wie sie von ihrer Mutter wusste. Deren Favorit war Sarah gewesen. Zumindest hatte Marion diesen Namen als Zweitnamen bekommen. Als sie ins Gymnasium gekommen war, hatte sie versucht, sich als Sarah vorzustellen, was aber natürlich daran gescheitert war, dass alle Lehrer sie mit Marion aufriefen. Der verächtlich spöttische Blick, den Katharina ihr damals zugeworfen hatte, brannte immer noch tief in ihr.

Ihre Mutter fuhr sie. »Wie kommst du denn wieder nach Hause?«, erkundigte sie sich.

»Katharinas Vater bringt mich heim. Ihr braucht nicht auf mich zu warten. Ich bin bestimmt pünktlich da. Danke übrigens.«

Ihre Mutter nickte nur und lächelte. Marion wusste, wie schwer es ihr fiel, sich gegen ihren Mann aufzulehnen. Auch wenn es um so einfache Sachen ging, wie eine Stunde mehr Ausgangszeit für ihre Tochter herauszuschlagen. Sie glaubte nicht, dass sich ihre Eltern besonders liebten. Ihre Mutter kam ihr immer etwas resigniert und schicksalsergeben vor.

»Wir sind da«, sagte Frau Lahner einige Minuten später, als sie vor einem gelb gestrichenen Wohnhaus anhielt. »Viel Spaß.«

Marion hatte nicht den Eindruck, als würde Katharina ihre Freundschaft suchen. Seit zwei Stunden war sie schon hier, aber sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Trotzdem fühlte sie sich wohl. Katharinas Eltern waren sehr nett und sprachen mehr mit ihr als Katharina in der ganzen Schulzeit.

»Wann wollt ihr denn fahren?«, fragte Herr Helfenstein.

»Fahren? Wohin denn?«, erkundigte sich Marion.

»Wir gehen noch in eine Bar in der Münchener Innenstadt«, erklärte Hannah ihr. Sie war Katharinas Nachbarin und mit zwanzig Jahren die Älteste der Gruppe.

»Eine Bar?« Marion war sicher, dass ihr Vater damit nicht einverstanden wäre.

Katharina lachte anzüglich. »Was ist los? Kneifst du?«

»Nein. Aber ich habe kein Geld dabei.«

»Du brauchst auch keines. Du bist natürlich eingeladen.«

»Danke. Aber du weißt, dass ich erst siebzehn bin, oder?«

»Klar. So wie Sabrina und Franziska auch. Aber wir können ja trotzdem bis Mitternacht bleiben.«

»Da soll ich schon daheim sein«, bekannte Marion kleinlaut.

»Das kriegen wir hin«, versprach Katharina gönnerhaft. »Nur keine Bange. Na los, wir haben bestimmt viel Spaß.«

Entgegen Marions Befürchtungen wurde es tatsächlich sehr lustig. Die anderen Mädchen schienen schon öfter hier gewesen zu sein, doch für sie war eine Bar absolutes Neuland. Wenn ihr Vater wüsste, dass sie hier war, würde er sie höchstpersönlich an den Haaren hinauszerren. Aber zum Glück würde er es nie erfahren. Sie konnte bestimmt behaupten, dass Katharinas Eltern geraucht hatten, wenn ihre Eltern den Zigarettenqualm in ihren Kleidern rochen. Dass mehr als die Hälfte der Gäste rauchte, störte sie, aber es gehörte einfach zur Atmosphäre einer Bar dazu.

Die fünf Mädchen saßen in einer Nische, schlürften Cocktails mit und ohne Alkohol und unterhielten sich über Gott und die Welt. Marion hörte meistens nur zu. Wenn es um Themen wie Mode und Jungs ging, konnte sie nicht allzu viel beitragen. Markenklamotten bekam sie so gut wie nie und ihr Vater ließ keinen Zweifel daran, dass sie nach seiner Ansicht für näheren Kontakt zum anderen Geschlecht noch zu jung war.

Marion sah das natürlich anders. Einer der zwei jungen Männer, die drüben an der Bar lehnten und sich unterhielten, gefiel ihr sehr. Er war groß und blond und hatte ein sympathisches Lachen.

»Welcher von den beiden gefällt dir?«, fragte Katharina, die ihrem Blick gefolgt war.

»Der Blonde«, gab sie zu.

Katharina nickte. »Ist schon ein Schnuckelchen«, stimmte sie zu. Sie stand auf. »Ich hole noch was zu trinken. Wer mag noch?«

Marion sah auf die Uhr. Die Zeit wurde allmählich knapp. Sie sollte die neue Freundin langsam daran erinnern, dass sie um Mitternacht zu Hause sein musste.

Aber das war nicht so einfach. Denn Katharina kam in Begleitung der zwei jungen Männer von der Bar zurück, die sich als Frank und Simon vorstellten und sich ganz selbstverständlich zwischen die Mädchen setzten. Wenn Marion allerdings gehofft hatte, mit Simon ein paar Worte wechseln zu können, wurde sie enttäuscht. Denn Katharina flirtete ganz offen mit ihm.

»Hast du Feuer?«, fragte sie und hielt ihm eine Zigarette entgegen. Lächelnd zündete er sie ihr an. Sie sah ihm tief in die Augen, als sie sich bedankte und sein Lächeln wurde breiter.

Marion rümpfte die Nase über den Qualm, den Katharina in ihre Richtung blies. Auch Simons Freund hatte sich eine Zigarette angesteckt und sie musste husten. Verstohlen versuchte sie, den Blick der Schulkameradin aufzufangen, und tippte auf ihre Uhr.

»Was ist los?«, fragte Katharina.

»Wir müssen langsam gehen.«

»Müssen wir gar nicht. Es wird doch gerade erst schön.«

»Aber ich muss um zwölf daheim sein.«

»So ein Pech für dich.«

Marion wurde kalt. Es war ihr peinlich, dass sich alle ihr zuwandten, aber die Angst vor ihrem Vater war größer. Wenn sie zu spät nach Hause kam, gab es bestimmt Hausarrest oder Fernsehverbot. Oder beides.

»Du weißt schon, dass Minderjährige um Mitternacht raus müssen, oder?«

»Klar, aber ich bin seit heute nicht mehr minderjährig.«

»Aber Sabrina und Franziska schon.« Marion sah die beiden Mädchen an.

Sabrina lächelte maliziös. »Wir haben von unseren Eltern Aufsichtsvollmachten für Katharina und Hannah ausfüllen lassen. Somit können wir beide auch länger bleiben.«

Marion wurde schlecht. Sie ahnte, worauf das alles hinauslief.

»Ich kann dich schnell heimfahren«, bot Hannah an.

»Nein, kannst du nicht«, widersprach Katharina schnell. »Du bist Franziskas Aufsichtsperson, du musst hierbleiben. Sie hätte sich einfach früher kümmern müssen.« Sie warf Marion einen schadenfrohen Blick zu, der ihre wahren Absichten enthüllte.

Es war eine Falle gewesen. Die ganze angebliche Vorfeier war nur dazu bestimmt, sie zu demütigen. Katharina hatte sich damit anscheinend ein besonderes Geschenk gemacht. Marion hatte willig mitgespielt. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, dass Katharina sie auf einmal mochte? Menschen änderten sich nicht von heute auf morgen.

Sie biss sich auf die Lippe, die anfing zu zittern. Für ihre Mitschülerin war es bestimmt ein toller Streich, Marion mitten in München stranden zu lassen, um ihr zu zeigen, was sie für ein unbedarftes Landei war, aber für sie konnte es weitreichende Folgen haben.

»Ich muss aber heim«, versuchte sie es noch einmal.

»Kein Problem.« Katharina lachte laut. »Wir halten dich nicht. Ganz im Gegenteil. Niemand braucht hier so eine Spaßbremse wie dich. Na los, verschwinde. Geh draußen jemanden anbetteln, der dir Geld für die Heimfahrt gibt.« Sie wedelte gönnerhaft mit der Hand und wandte sich kichernd Sabrina zu. »Schau mal, sie heult gleich«, feixte sie.

Marions Gesicht brannte, als sie aufstand. Nur Hannah und der blonde Mann warfen Katharina einen ungläubigen Blick zu, doch die anderen lachten lauthals mit.

3

Das hämische Lachen klang ihr noch in den Ohren, als sie vor der Bar stand und sich gegen die Wand lehnte. Die kalte Nachtluft ließ sie zittern. Doch es lag nicht nur an der kühlen Aprilnacht, dass ihr eiskalt war. Sie war verzweifelt. Was sollte sie jetzt nur tun? Ein Taxi nehmen? Ohne Geld würde das nicht funktionieren. Auch öffentliche Verkehrsmittel waren damit ausgeschlossen. Vielleicht konnte sie in der Bar fragen, ob sie telefonieren durfte. Doch bei dem Gedanken, zu Hause anzurufen, damit man sie abholte, drehte sich ihr der Magen um. Wahrscheinlich würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Ärgerlich wischte sie die Tränen fort, die sich in ihre Augen drängten. Sie war selbst schuld. Wieso hatte sie Katharina vertraut? Sie war schon immer ein Biest gewesen, das Marion gerne verspottet hatte. Spätestens, als die Bar zur Sprache gekommen war, wäre es Zeit für den Rückzug gewesen. Aber Marion hatte so gern einfach mal dazugehören wollen, dass sie alles geglaubt hatte, was die Schulkameradin ihr aufgetischt hatte.

Sie wollte nicht mehr hinein und nach jemandem suchen, der ihr das Telefonieren erlaubte. Die Vorstellung, sich noch einmal Katharinas spöttischen Blicken auszusetzen, trieb ihr sofort eine tiefe Schamesröte ins Gesicht. Doch was blieb ihr übrig? Sie konnte hier nicht stehenbleiben. Fröstelnd rieb sie sich über die Arme.

Sie drehte sich um, als sich die Eingangstür öffnete. Heraus kam der blonde junge Mann, von dem sie noch nicht einmal den Namen wusste.

»Hey«, sagte er. »Soll ich dich nach Hause bringen?«

Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Dann kam sie vermutlich vom Regen in die Traufe. »Ich komm schon klar«, murmelte sie.

»Entschuldige, aber so sieht es nicht aus. Deine sogenannten Freundinnen da drin haben dich ganz schön auflaufen lassen. Diese Katharina, wie sehr magst du sie?«

»Die dämliche Kuh!« Marion wollte nicht so deutlich zeigen, wie ihr zumute war, doch ihre Worte kamen aus tiefstem Herzen.

Der junge Mann lachte laut. »Ich bin ganz deiner Meinung.«

»Wirklich?« Erstaunt sah sie ihn an.

»Meinst du, weil sie hübsch ist und die Regeln des Flirtens beherrscht, liegen ihr alle Männer zu Füßen? Was sie da abgezogen hat, war widerlich. Und mit meinem Kumpel werde ich morgen auch noch ein Hühnchen rupfen wegen seiner dämlichen Lache.«

Marions Mundwinkel hoben sich ein klein wenig.

»Na komm«, sagte er. »Ich hatte den Eindruck, dass du schnell nach Hause möchtest. Willst du mein Angebot nicht noch einmal überdenken?«

Sie musterte ihn. Er sah wirklich ehrlich aus. Nicht wie ein Typ, der sie hinter die Büsche zerren und vergewaltigen würde. Ihr Vater hatte ihr zwar eingebläut, dass sie niemals zu Fremden ins Auto steigen dürfe, aber angesichts ihrer Notlage war eine Ausnahme angemessen. Zögernd nickte sie.

»Prima. Mein Auto steht gleich um die Ecke.«

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er, als er den Motor startete. »Deine Freundin hat so schnell das Gespräch an sich gerissen, dass du gar keine Gelegenheit hattest, dich vorzustellen.«

Das war ihre Chance, sich unter einem vernünftigen Namen zu präsentieren. Für eine halbe Stunde konnte sie Sarah sein, ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen.

»Das weißt du doch, oder?«, hakte er nach und warf ihr einen schnellen Blick zu.

Sie lächelte verhalten. »Ich heiße Marion. Aber ich habe überlegt, ob ich dir meinen zweiten Namen sagen soll, der ist nämlich viel schöner.«

»Und der wäre?«

»Sarah.«

»Mir gefällt Marion besser.«

»Echt wahr?«

»Ja. Der Name steht dir. Du siehst nicht aus wie eine Sarah. Aber durchaus wie eine Marion.«

Sie lachte. »Und wie sieht eine Marion aus?«

Er schielte zu ihr herüber. »Dunkle Haare, etwas über schulterlang, eine schmale, gerade Nase, ein paar Sommersprossen und ... Was für eine Augenfarbe hast du?«

»Grün.«

»Und grüne Augen. Die perfekte Marion.«

»Du kannst unmöglich hier im Dunkeln meine Sommersprossen sehen.«

»Ich habe dich drinnen schon genau angeschaut. Als deine Freundin gedacht hat, sie könnte mich anbaggern.«

Hatte er das wirklich gerade gesagt? Dass er sie angesehen hatte, während die schöne Katharina mit ihm geflirtet hatte?

»Erzähl mir von dir. Gehst du noch zur Schule?« Als sie nickte, fuhr er fort. »Und wo? Gymnasium schätze ich. Sag bloß, die hübsche Katharina ist in deiner Klasse.«

»Ist sie.« Marion kicherte. Simon schaffte es, ihr jegliche Scheu zu nehmen. Völlig offen erzählte sie ihm von der Schule und wie Katharina sie hereingelegt hatte.

»Hat aber auch was Gutes. Sonst hätte ich dich nie kennengelernt. Wohin muss ich jetzt?«

»Da vorne links.« Marion war froh, dass sie ihm den Weg weisen musste. Sie konnte mit seinen Komplimenten nicht so richtig umgehen. »Hier kannst du mich aussteigen lassen.«

»Wie weit ist es noch.«

»Die Seitenstraße runter, das letzte Haus auf der rechten Seite.«

»Ich lasse dich doch nicht mitten in der Nacht noch laufen, wenn ich dich heimfahre.«

Marion schluckte. Hoffentlich waren ihre Eltern schon im Bett.

»So, da wären wir.« Er sah sich um. »Gehört das Sägewerk euch?«

»Ja, hat mein Großvater gebaut. Da war es aber noch etwas kleiner. Dahinter haben wir auch noch eine Zimmerei.«

»Hört sich reich an. Habt ihr auch Grund und Boden?«

»Meinen Eltern gehört ein Stück Wald. Und auch ein paar Hektar Wiese, die mein Vater verpachtet hat. Aber reich würde ich nicht sagen.« Zumindest nicht, was sie anging. An ihrem Taschengeld zeigte sich das Vermögen ihres Vaters mit Sicherheit nicht.

»Man muss sehr geschäftstüchtig sein, um heutzutage mit einem eigenen Betrieb über die Runden zu kommen. Ich habe vor jedermann Respekt, der das schafft.«

»Es steckt schon viel Arbeit drin«, stimmte Marion zu, als die Beifahrertür aufgerissen wurde.

»Was soll das denn?«, polterte ihr Vater und packte sie am Arm. »Wer ist das?«

Marion fiel das Herz bis in den Fußraum. »Das ist Simon«, brachte sie stotternd hervor. »Er hat mich heimgebracht.«

»Ich dachte, du warst bei der Geburtstagsfeier deiner Freundin.«

»War ich ja auch.«

»Die besagte Freundin hat sie in der Bar abserviert und wollte sie nicht nach Hause bringen«, warf Simon hilfreich ein. »Ich habe mich angeboten, weil Marion pünktlich daheim sein wollte.«

»Sie halten sich da raus«, schnaubte ihr Vater. »Welche Bar? Davon war nie die Rede.«

Simon warf Marion einen erschrockenen Blick zu. »Hören Sie, ich ...«

»Ich sagte, Sie halten sich raus.« Georg Lahner zerrte Marion aus dem Auto, knallte die Beifahrertür zu und zog sie ins Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.

4

Am Montag zur Schule zu gehen, war der reine Horror. Natürlich bestätigten sich ihre Befürchtungen. Schon als sie das Klassenzimmer betrat, wurden ihr hämische Blicke zugeworfen. Katharina und Sabrina erzählten jedem, der es hören wollte, und auch etlichen, die es nicht interessierte, von Marions Blamage.

»Schaut mal, wer da ist?«, stichelte Katharina. »Ich dachte, du sitzt immer noch in München fest.« Sie kicherte boshaft. »Wie bist du überhaupt heimgekommen? Gelaufen? Du hattest doch kein Geld. Oder hast du am Ende wirklich gebettelt?« Sie lachte schallend. »Trau ich dir echt zu. Ich meine, wer ist denn so dämlich, ohne einen Cent nach München zu fahren.«

Marion wäre am liebsten im Boden versunken. Aber dann regte sich ihr Widerspruchsgeist. »Du sagtest, ich brauche keins. Und ich habe nicht gebettelt. Sowas mache ich nicht. Simon hat mich heimgefahren.«

»Simon? Wer soll das denn sein?«

»Der große Blonde, der bei uns am Tisch saß. Weißt du nicht mal, wie er hieß?«

»Doch, ich erinnere mich. Aber die Flunkerei hilft dir gar nichts. Er war eindeutig mehr an mir interessiert als an dir.«

»Vielleicht täuschst du dich.«

»Bestimmt nicht. Warum sollte er dich beachten? Es ist eher so, dass du etwas von ihm wolltest. Hast du mir ja selber gesagt, aber blöderweise warst du für ihn gar nicht existent. Deshalb zimmerst du dir eine Geschichte zurecht, dass er dich heimgebracht hat. Das ist so süß, aber trotzdem gelogen.«

»Er ist aber kurz nach Marion gegangen«, warf Sabrina ein.

»Das hat nichts zu sagen. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er der Vogelscheuche auch nur einen zweiten Blick gegönnt hat.« Sie bedachte Marion mit einem hämischen Grinsen. »Aber ich habe ihm meine Telefonnummer gegeben und bin sicher, dass er mich heute noch anruft. Außerdem weiß er, wo ich zur Schule gehe.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, was noch passiert.«

Marion zermarterte sich das Gehirn nach einer Antwort, doch bevor sie eine fand, trat ihr Lehrer ein und bat die Schüler, Platz zu nehmen. Somit musste sie Katharinas gehässige Anschuldigung unkommentiert stehen lassen. Die ganze Stunde über spürte sie schadenfrohe Blicke von der Seite, doch sie gab vor, sie nicht zu sehen.

Der Schultag zog sich endlos hin. Und dann gab ein Lehrer Katharina auch noch Munition für den absoluten Supergau. »Ich gebe euch heute keine Hausaufgaben auf«, erklärte er lächelnd. »Geht lieber an die frische Luft. Vor allem Mädchen kriegen Falten, wenn sie zu lange über ihren Büchern sitzen.«

Marion wunderte sich noch über den seltsamen Spruch, als Katharina das Stichwort aufnahm. »He Lahner, wie viele Stunden am Tag lernst du eigentlich?«, rief sie durchs Klassenzimmer und sonnte sich in dem folgenden Gegacker. Marions Wangen brannten wie Feuer, als sie die schadenfrohen Blicke der Klassenkameraden auf sich spürte und wagte es für den Rest der Stunde nicht mehr, aufzusehen.

Endlich war Schulschluss. Sie hatte zwar auch keine Lust, nach Hause zu gehen, doch da brauchte sie wenigstens Katharinas boshaftes Gesicht nicht zu sehen.

Als sie auf den Schulhof hinaustrat, wartete jedoch eine Überraschung auf sie. Simon lehnte an einem Baum und lächelte ihr entgegen.

»Na, wen haben wir denn da?«, hörte sie Katharinas erfreute Stimme neben sich. »Wusste ich es doch.« Überheblich grinste sie Marion an. »Was sagst du jetzt, du Niete?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie auf Simon zu und umarmte ihn stürmisch. »Toll, dass du mich abholst.«

Simon nahm ihre Arme von seinem Hals und schob sie von sich. »Sorry, aber ich bin wegen Marion hier«, sagte er frostig.

Katharina starrte ihn verdattert an. »Aber wir zwei wollten doch ...«

»Du wolltest, aber ich nicht. Tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber deine Art liegt mir nicht besonders.«

Marion konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie näher kam. Mindestens vier Mitschüler hatten die Szene mitbekommen und Simons Worte gehört. Das würde reichen, um sie in der Klasse zu rehabilitieren und zur Abwechslung Katharina dumm dastehen zu lassen.

Wie selbstverständlich legte Simon den Arm um ihre Schulter. »Komm«, sagte er nur.

»Ja, hau doch ab«, schrie Katharina ihnen hinterher. »Wer braucht schon sowas wie dich.«

Simon schüttelte den Kopf. »Wie kann man nur so missgünstig sein?«

»Was tust du denn hier?«, fragte Marion. »Ich habe nicht damit gerechnet, dich wieder zu sehen.«

»Ich hatte Freitagnacht den Eindruck, dass ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe, anstatt dir zu helfen. Katharina hat mir gesagt, wo sie zur Schule geht und ich habe einfach kalkuliert, wann Schluss sein müsste. Ich wollte nachsehen, ob es dir gut geht.«

»Natürlich geht es mir gut. Trotzdem danke. Ich muss jetzt zum Bus.«

»Hast du nicht ein bisschen Zeit? Ich fahre dich heim.«

»Ich muss pünktlich daheim sein, sonst kriege ich noch mehr Krach.«

»Also doch Probleme?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe zwei Wochen Zimmerarrest.«

»Was? Wofür denn? Du hast doch nichts falsch gemacht?«

»Ich habe gleich drei eiserne Regeln gebrochen.«

»Die da wären?«

»Steige nie zu einem Fremden ins Auto. Kein näherer Kontakt zum männlichen Geschlecht, bevor du achtzehn bist. Keine Lügen.«

Simon starrte sie fassungslos an. »Ist nicht dein Ernst.«

Als Marion nichts sagte, schüttelte er den Kopf. »Ersteres kann ich ja verstehen. Man macht sich Sorgen um seine Kinder. Aber kein Kontakt zu Männern? Wie schwachsinnig ist das denn? Und gelogen hast du überhaupt nicht.«

»Tut nichts zur Sache. Ich hätte daheim anrufen und meinen Vater um Erlaubnis fragen müssen, ob ich mit in die Bar darf. Dass ich das nicht getan habe, fällt unter die gleiche Kategorie wie Lügen. Außerdem habe ich in einem Nachtclub absolut nichts verloren.«

»Es war ja kein Nachtclub, sondern nur eine kleine Bar.« Simon seufzte. »Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber ist es möglich, dass dein Vater ein Despot ist?«

Sie lächelte kläglich. »Ich muss jetzt wirklich los, sonst verpasse ich den Bus.«

»Lass mich dich heimfahren. Dieses Mal kannst du an der Hauptstraße aussteigen, damit niemand was merkt.«

Marion schwankte, dann nahm sie sein Angebot an. Hoffentlich wurde sie von keinem Bekannten gesehen, der dann bei ihrem Vater petzte. Dann würde sie wirklich in Teufels Küche kommen.

»Warum hast du am Freitag nicht gesagt, wieso du ein Stück laufen wolltest?«, hakte Simon nach, als sie auf der Straße waren.

»Es war mir peinlich«, gestand Marion.

»So ein Quatsch. Du kannst doch überhaupt nichts dafür. Ist dein Vater immer so engstirnig?«

»Meistens. Zumindest, was mich angeht. Mit meiner Schwester Laura ist er nachsichtiger. Sie kann auch mal eine Vier heimbringen. Ich traue mich das nicht.«

»Kannst du das so einfach beeinflussen?«

»Ich versuche es.«

»Was wären die Konsequenzen?«

»Zimmerarrest, Fernsehverbot, Lernen, Lernen, Lernen.«

»Wegen einer Vier?«

»Das Komische daran ist, dass ich den Eindruck habe, dass es meinem Vater gar nicht so wichtig ist, was aus mir wird.«

»Da irrst du dich bestimmt. Ich bin sicher, er sorgt sich um dich.«

Marion wollte jetzt nicht darüber diskutieren, dass sie sich zu Hause ungeliebt fühlte. »Hast du noch Geschwister?«, fragte sie stattdessen.

»Nein. Meine Eltern waren schon vergleichsweise alt, als sie mich bekamen. Sie haben spät geheiratet und dann hat es auch nicht gleich geklappt. Meine Mutter war fast vierzig, als sie schwanger wurde.«

»Dann bist du ein absolutes Wunschkind.«

»Du bestimmt auch.«

»Glaube ich nicht. Meine Eltern waren gerade mal fünf Monate verheiratet, als ich zur Welt kam.«

Simon gluckste. »Also eindeutig ein Kind der Liebe.«

»Aber vermutlich haben sie nur wegen mir geheiratet.«

»Heutzutage muss man doch nicht mehr heiraten, nur weil ein Kind unterwegs ist.« Simon hielt an der Seitenstraße an, die zu ihrem Elternhaus führte. »Darf ich dich wiedersehen?«, bat er.

»Ich weiß nicht.« Marion zögerte. »Wenn meine Eltern das merken ...«

»Kann ich dich wenigstens anrufen? Hast du ein Handy?«

»Nein. Vielleicht kriege ich zum Geburtstag eins. Aber ich glaube kaum.« Sie verzog das Gesicht. »Mein Vater meint, das ist nicht nötig.«

»Natürlich meint er das.« Simon lächelte warm. »Lass dich nicht unterkriegen. Wir finden einen Weg.« Und damit beugte er sich zu ihr herüber und küsste sie sanft auf die Lippen.

Als Marion am Nachmittag über ihren Büchern saß, dachte sie immer wieder an diesen Augenblick zurück. Ihr erster Kuss. Er war so unverhofft gekommen und so schön gewesen. Sie wollte unbedingt mehr davon. Sie mochte Simon. Er war ein netter Kerl und hübsch war er auch noch.

Trotzig reckte sie das Kinn vor. Sie war siebzehn. Was war denn dabei, wenn sie sich mit einem Jungen traf? Sie wollte mit Simon zusammen sein. Es war so aufregend gewesen, wie er den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Sie sehnte sich nach seiner Berührung. Selig lächelnd schloss sie die Augen und träumte vor sich hin.

Simon wartete auch am nächsten Tag nach Schulschluss auf sie. Allerdings hielt er sich außer Sicht, um Katharina nicht zu begegnen. Marion war froh darüber, denn sie wollte der Schulkameradin nicht noch mehr Grund geben, sie zu hassen. Natürlich hatte das arrogante Mädchen die Abfuhr am Vortag nicht gut aufgenommen und nutzte jede Gelegenheit, um Marion zu schikanieren. Der Vormittag war eine endlose Litanei von gehässigen Bemerkungen gewesen, doch das war jetzt vergessen.

»Wieso bist du denn schon wieder hier?«, fragte sie, als Simon sie mit einem Kuss auf die Wange begrüßte. »Hast du nichts zu tun?«

»Doch. Ich sollte jetzt eigentlich in einer Vorlesung sitzen.«

»Was studierst du?«

»Elektrotechnik. Ich habe noch zwei Semester, dann kann ich endlich mein eigenes Geld verdienen.«

»Wohnst du noch bei deinen Eltern?«

»Es ist die beste Lösung. Ich würde dich ihnen gern mal vorstellen.«

»Ist das nicht noch viel zu früh? Wir kennen uns ja gerade erst ein paar Tage. Außerdem kann ich die nächsten Wochen sowieso nicht weg.«

»Stimmt. Du hast ja Hausarrest. Kannst du nicht wenigstens mal spazieren gehen? Es ist doch so ein herrliches Wetter. Ganz unüblich für April. Es ist doch ungesund, dich in einem Zimmer einzusperren.«

Marion lachte. »Ich versuche es. Aber versprich dir nicht zu viel davon.«

»Wenn es klappt, ruf mich an. Ich habe in eurem Dorf eine Telefonzelle gesehen. Ich komme dann, so schnell ich kann.«

»Musst du nicht studieren?«

»Doch, aber ich kann auch Prioritäten setzen.« Er öffnete die Autotür für sie. »Jetzt lass uns aber fahren. Ich will nicht, dass du wieder Ärger bekommst.«

Es funktionierte tatsächlich. Ihr Vater schien gute Laune zu haben und erlaubte ihr, eine Stunde spazieren zu gehen. Marion handelte noch eine weitere halbe Stunde heraus mit dem Hinweis, dass sie die letzten Tage fleißig gelernt hatte. Sie sah am Gesicht ihres Vaters, dass sie den Bogen nicht überspannen durfte, aber der Versuch war es wert. Simon brauchte dreißig Minuten, um zu ihr zu kommen, da durfte sie keine Sekunde verschenken.

Sie rannte zur Telefonzelle. Als er abnahm, war sie so atemlos, dass sie kaum sprechen konnte. Sie erklärte ihm kurz, wo er sie finden würde, und machte sich dann auf den Weg. Sie wanderte über einen Feldweg am Bach entlang in Richtung des Nachbardorfes und bog dann zum Wald ihres Vaters ab. Kurz bevor sie ihn erreichte, hupte es hinter ihr. Simon ließ sein Auto stehen und gemeinsam suchten sie sich ein Plätzchen, das sie vor den Blicken anderer Spaziergänger verbarg. Simon hatte eine Decke mitgebracht, auf der sie sich niederließen.

Marions Herz klopfte aufgeregt. Sie hatte keine Ahnung, was jetzt passieren würde. Aber es wurde einfach nur eine sehr schöne Stunde. Sie redeten und lernten sich besser kennen. Sie lag in seinen Armen und genoss die unerwarteten Gefühle. War das Liebe? Auf jeden Fall mochte sie ihn wahnsinnig gerne und wäre am liebsten ewig geblieben.

»Lass uns das zu unserem Treffpunkt machen«, schlug Simon vor. »Ich muss mich für eine Weile um mein Studium kümmern, aber wenn dein Hausarrest vorbei ist, können wir uns vielleicht öfter sehen.«

Sie nickte. Sie war selig, dass Simon mit ihr zusammen sein wollte. Die Zukunft sah plötzlich deutlich rosiger aus.

»Kann ich dich anrufen?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.« Die Gefahr, dass jemand anderes als sie an den Apparat ging, war einfach zu groß.

»Dann musst du dich bei mir melden. Ich freu mich drauf.«

»Ich mich auch.« Marion nahm ihren ganzen Mut zusammen und küsste ihn.

5

Leise schloss sie ihre Zimmertür und schlich in den Flur. Ihre Mutter war zum Vater ins Sägewerk hinübergegangen und Laura spielte mit einer Freundin in ihrem Zimmer. Marion hatte nie Freundinnen nach Hause bringen dürfen, bei Laura war es selbstverständlich. Wie so oft spürte sie brennenden Neid über die Ungerechtigkeit. Sie hatte keine Ahnung, warum sie so anders behandelt wurde als ihre kleine Schwester. Als sie einmal ihre Mutter danach gefragt hatte, hatte diese nur geseufzt. »Das stimmt doch gar nicht, Liebes«, hatte sie gesagt, doch ihre traurigen Augen sagten ihr die Wahrheit. Marion hatte oft Mitleid mit ihrer Mutter. Sie ließ sich zu leicht von ihrem Ehemann unterbuttern. Marion wusste gar nicht, wann sie ihre Mutter zuletzt hatte lachen hören. Es war schon ewig her.

Leise nahm sie den Telefonhörer ab und wählte Simons Nummer.

»Hallo, mein Schatz«, begrüßte er sie fröhlich. »Wie geht es dir?«

Der Klang seiner Stimme löste einen wohligen Schauer in ihr aus und sie fühlte ein ganzes Heer von Schmetterlingen in ihrem Bauch flattern. »Ich vermisse dich«, gestand sie.

»Ich dich auch. Wann können wir uns sehen?«

»Mit wem telefonierst du da?«

Marion wirbelte herum, als sie die neugierige Stimme hörte. Laura stand hinter ihr und sah sie fragend an.

»Geht es dich was an?«, schnappte sie.

»Das sage ich Papa.«

»Tu das. Es wird ihn brennend interessieren, dass ich mit einer Freundin telefoniert habe. Du blamierst dich nur, wenn du petzt.«

»Hm.« Laura schmollte und zog sich in ihr Zimmer zurück.

»Deine Schwester?«, erkundigte sich Simon.

»Richtig. Die mich so gerne anschmiert, weil sie dann als Papas Liebchen dasteht.«

»Ist es so schlimm, dass du telefonierst?«

»Nein. Es darf nur niemand wissen, mit wem. Wenn sie wirklich tratscht, sage ich einfach, ich hätte eine Schulkameradin wegen der Hausaufgaben angerufen.«

»Ich will aber nicht, dass du meinetwegen lügen musst.«

»Es geht aber nicht anders. Tut mir leid, dass es bei mir so kompliziert ist.«

»Hauptsache, ich kann dich bald sehen. Am Freitag an unserem Platz?«

Marion hörte die Haustür. Ihre Mutter kam zurück. »Ja, um vier Uhr bin ich dort. Ich freu mich.« Dann legte sie auf und lief schnell in ihr Zimmer, bevor Frau Lahner die Wohnung betrat.

Marion genoss die heimlichen Treffen. Sie war jedes Mal nervös, aber sie hatte das Gefühl, dass sie zum ersten Mal selbst über ihr Leben bestimmte. Sie hatte sich in Simon verliebt. Eigentlich musste sie Katharina für ihre Hinterhältigkeit dankbar sein, sonst hätte sie ihn nie kennengelernt.

Sie blinzelte in die Sonne. Sie hatten sich einen neuen Platz suchen müssen, weil auf der Wiese das Gras mittlerweile so hoch stand, dass Marion befürchtete, sie würden von einem Bauern mit seinem Mähwerk überrascht werden. Aber sie hatten eine Lichtung im Wald gefunden, wo sie niemand störte. Sie lag in Simons Armen und er streichelte ihr zärtlich über die Wange.

»Möchtest du mit mir schlafen?«, fragte er unvermittelt.

»Was?« Sie setzte sich auf.

»Wir sind jetzt seit sechs Wochen zusammen. Ist es dir noch zu früh?«

»Ich weiß nicht«, gestand Marion ehrlich. Sie konnte Simon alles sagen, was in ihr vorging. Bei ihm brauchte sie sich nicht zu verstellen oder etwas vortäuschen. Er hatte immer Verständnis für sie.

»Wenn du noch warten willst, ist das okay.«

»Wir waren ja noch nicht mal zusammen im Kino«, platzte sie heraus und Simon lachte laut. Ihre Beziehung war nicht einfach. Sie konnten nicht zusammen weggehen, wie es normal gewesen wäre, weil Marion am Abend nicht ohne plausiblen Grund fort durfte. Es lag ihr nicht, plötzlich irgendwelche Freundinnen zu erfinden, bei denen sie übernachten wollte. Eine solche Ausrede würde auf Dauer Verdacht erregen. Sie hatte nie wirklich gute Freundinnen gehabt, woran ihre Eltern nicht unschuldig waren. Und ihr Vater würde sicher so lange nachbohren, bis sie sich in Widersprüche verwickelte. Es war besser, ehrlich zu sein. Noch ein paar Monate, dann war sie achtzehn. Sie befürchtete insgeheim, dass sich dadurch nicht viel ändern würde, aber zumindest rechtlich hätte ihr Vater nicht mehr so viel Macht über sie.

»Was überlegst du?«, unterbrach Simon ihre Gedanken. Er umschlang sie von hinten und legte den Kopf auf ihre Schulter. »Ich werde dich nicht bedrängen«, versprach er ihr. »Wenn du noch nicht so weit bist, dann warten wir eben.«

»Hast du schon mit vielen Mädchen geschlafen?«, fragte Marion beklommen.

»Du wärst die Erste.«

»Echt wahr?« Sie drehte sich um. »Du musst doch schon tausend Freundinnen gehabt haben, so wie du aussiehst.«

Er grinste über ihren Spruch und Marion blieb fast das Herz stehen. Seine blauen Augen blitzten fröhlich unter den blonden Haaren und sie musste ihn augenblicklich küssen, noch bevor er antworten konnte.

»Das Thema Freundin war mir bisher nicht so wichtig«, meinte er dann. »Meine Eltern glauben schon, dass mit mir was nicht stimmt. Aber die simple Wahrheit ist: Ich war noch nie verliebt.«

»Und jetzt bist du es?«

»Ja. So sehr, dass ich dich sofort heiraten würde.«

Marion riss die Augen auf. Sie wusste, dass er sie mochte, aber sie hätte nie gedacht, dass es ihm so ernst war. »Und was ist mit Verhütung?«

»Keine Sorge. Ich bin vorbereitet.« Er grinste verlegen, zog ihr das T-Shirt über den Kopf und entledigte sich seines Hemdes. So weit waren sie schon öfter gewesen, aber als sie sich gemeinsam auf ihre Decke legten, wusste Marion, dass sie bereit war für mehr.

Träumend döste sie an Simons Schulter. Sie fühlte sich völlig anders. Sie war kein Mädchen mehr, jetzt war sie eine Frau. Versonnen lächelte sie vor sich hin. Sie waren beide etwas unbeholfen gewesen und Simon war mehrmals zurückgezuckt, als er bemerkt hatte, dass er ihr weh tat. Aber das war okay. Sie gehörte jetzt ihm. Für immer.

Doch wie würde es weitergehen? Es war einfach lächerlich, dass sie ihren Freund verstecken musste, und ihn nur hier in der abgeschiedenen Natur treffen konnte. Irgendwann musste sie ihren Eltern von Simon erzählen. Aber noch nicht jetzt. Ein solches Geständnis konnte ganz leicht in einer Katastrophe enden.

Aber sie hatte nur noch ein Schuljahr bis zum Abitur. Sie hatte nie studieren wollen, aber vielleicht war das ein Ausweg. Ein Studium in München würde sie aus dem Elternhaus und in Simons Nähe führen. Vorausgesetzt, ihr Vater erlaubte ihr eine eigene Bude oder wenigstens ein Studentenwohnheim. Möglicherweise konnte sie die Entscheidung mit einem ausgezeichneten Abitur ein wenig beeinflussen. Aber das dauerte noch über ein Jahr. Wie sollte sie so lange geheim halten, wie glücklich sie war?

»Ich würde dich gerne meinen Eltern vorstellen«, gähnte Simon neben ihr.

»Um die Sache offiziell zu machen?«

»Nein, einfach, weil ich möchte, dass du sie kennenlernst. Kannst du das irgendwie einrichten?«

»Wie wäre es Sonntagnachmittag?«

»Fällt es auf, wenn du länger weg bist?«

»Nö, so lange ich pünktlich daheim bin, kümmern sich meine Eltern nicht darum, was ich treibe. Sie fragen höchstens hinterher, wo ich war, aber da werde ich mir schon eine Ausrede einfallen lassen.«

»Es gefällt mir nicht, dass du meinetwegen ständig deine Eltern anlügen musst.«

»Mir auch nicht, aber es ist besser als die Wahrheit.«

»Dann hole ich dich am Sonntag ab, okay?«

Marion zitterte vor Aufregung, als sie in Simons Auto stieg. Sie hatte keinerlei Vorstellung von seinen Eltern. Sie wusste nur, dass sein Vater bereits in Rente war und seine Mutter als Verwaltungsangestellte arbeitete.

Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Keine Angst, meine Leute sind nicht so wie deine.«

»Hoffentlich.« Sie sah auf die verkrampften Fäuste in ihrem Schoß und versuchte, sich zu entspannen. »Wohnt ihr mitten in München?« Warum hatte sie ihn das noch nie vorher gefragt? Es gab noch so viel, das sie nicht von ihm wusste.

»Kennst du die Mietpreise dort? Mein Vater war nur ein Bauarbeiter, das könnten sich meine Eltern nicht leisten.« Er hielt inne. »Klang das jetzt abfällig? Das sollte es nicht. Mein Vater war ein sehr guter Arbeiter, der es wirklich zu etwas gebracht hat. Aber er ist halt nichts ›Besseres‹, so wie dein Vater.«

»Findest du? Mein Vater hat nur den Familienbesitz übernommen. Er arbeitet schon auch hart, aber es war alles bereits da. Er ist bestimmt nicht besser als andere Leute. Auch wenn er es gerne hätte.«

Simon bog auf die Umgehungsstraße ab, die sie um München herum führen würde. »Meine Eltern haben ihr ganzes Leben lang gespart, um sich ein Haus auf dem Land leisten zu können. Den Plan haben sie zurückgestellt, um mich studieren zu lassen. Wenn ich nächstes Jahr fertig bin, hoffe ich, einen guten Job zu bekommen, damit sie sich diesen Traum endlich erfüllen können.«

»Das ist nett von dir.«

Sie näherten sich einer Hochhaussiedlung und Simon parkte sein Auto am Straßenrand. »Ich möchte einfach etwas zurückgeben. Meine Eltern haben alles für mich getan. Immer haben sie ihre eigenen Bedürfnisse hintenan gestellt.«

»Jetzt weiß ich, warum du so ein verwöhnter Bengel bist.« Schmunzelnd schmiegte sich Marion an ihn und Simon legte den Arm um ihre Schultern.

»Ja, für den Charakter ist eine strenge Erziehung, wie du sie bekommst, bestimmt besser«, flachste er. Dann wurde er ernst. »Ich wünschte mir, du wärst in einem so liebevollen Elternhaus aufgewachsen wie ich.«

Sie nickte und wischte schnell die Tränen fort, die sich ungebeten in ihre Augen drängten. Das konnte sie jetzt wirklich nicht brauchen.

Die Wohnung war nicht besonders groß, aber sehr gemütlich. Bei ihr zu Hause hatte alles seinen festen Platz und Unordnung konnte ihr Vater überhaupt nicht leiden. Nicht, dass es hier unordentlich war, aber es wirkte nicht so steril. Man merkte, dass hier Menschen wohnten.

Als Simon ihr die Jacke abnahm, erschien seine Mutter. »Hallo Junge, schön, dass ihr hier seid.« Sie umarmte ihn und wandte sich dann Marion zu. Das freundliche Lächeln, mit dem sie willkommen geheißen wurde, nahm ihr die Scheu. Auch sie wurde einfach umarmt. »Ich freue mich, dass wir dich endlich kennenlernen können, Marion«, sagte Simons Mutter. »Der Junge redet von nichts anderem mehr als nur von dir.«

»Mama«, mahnte Simon. »Du machst sie ja verlegen.«

»Quatsch. Jetzt kommt erst mal weiter. Rainer«, rief sie dann laut. »Simon und seine Freundin sind da.«

»Jaja, ich komme ja schon.« Aus einem Zimmer kam ein älterer Mann geschlurft, der aussah, als hätte er gerade ein Nickerchen gemacht. Auch er lächelte Marion freundlich an. »Wurde Zeit, dass der Junge mal ein Mädchen mit nach Hause bringt. Man stelle sich das nur vor. Vierundzwanzig und hatte noch nie eine Freundin.«

»Papa!« Simon wandte sich Marion zu. »Meine Eltern sind völlig normal«, erklärte er mit einem gequälten Gesichtsausdruck. »Auch, wenn sie es gerade nicht zeigen.«

Sein Vater lachte. »Ich rieche Kaffee. Trinkst du welchen, Marion? Oder möchtest du lieber etwas anderes?«

»Ich habe auch Tee«, ergänzte seine Frau. »Aber setzt euch erst einmal.«

Marion hatte sich noch nie unter Erwachsenen so wohl gefühlt. Dies hier war wirklich ein liebevolles Elternhaus und plötzlich wusste sie, was bei ihr zuhause fehlte. Simons Eltern sprachen respektvoll miteinander, sie berührten sich öfters und sein Vater hatte auch keine Scheu, seiner Frau im Vorbeigehen einen schnellen Kuss auf die Wange zu drücken.

»Rainer«, wehrte sie ab und schlug mit einem Geschirrtuch nach ihm. »Was soll Marion denn denken? Benimm dich doch deinem Alter entsprechend.«

»Ach, tue ich das nicht?« Er sah die jungen Leute unschuldig an und schmunzelte. »Wenn ich meine Frau nicht mehr küssen darf, dann lasse ich mich begraben. Dann macht es hier keinen Spaß mehr.«

Simon schüttelte gespielt entrüstet den Kopf, doch Marion sah ihm an, dass er seine Eltern genauso mochte, wie sie waren.

»Erzähl uns von deiner Familie, Marion«, forderte seine Mutter sie auf.

Für einen Moment war sie unsicher. Sie wusste nicht, wie viel Simon seinen Eltern bereits berichtet hatte. Aber es war einfach, schwierige Stellen zu umschiffen, denn das Gespräch driftete rasch auf andere Themen ab. Marion fühlte sich ernst genommen und zum ersten Mal schien es jemanden außer Simon zu interessieren, was sie zu sagen hatte.

Die Zeit verging viel zu schnell. Schon musste Simon sie nach Hause bringen. Seine Eltern luden sie ein, wiederzukommen, und bedankten sich bei ihr für den netten Nachmittag.

Sein Vater beugte sich zu ihr. »Danke, dass du unserem Sohn zeigst, dass es noch was anderes gibt als sein Studium«, wisperte er ihr ins Ohr.

»Sie mögen dich«, stellte Simon fest, als sie im Auto saßen.

»Ich mag sie auch. Du hast wirklich liebe Eltern.« Marion sah auf die Uhr. »Kannst du ein bisschen schneller fahren?«

Sie war fast pünktlich zum Abendessen daheim. Atemlos streifte sie ihre Schuhe ab, hängte die Jacke auf und lief ins Esszimmer, wo die Familie auf sie wartete.

»Wo warst du?«, fragte ihr Vater und stand vom Tisch auf, wo er in der Zeitung gelesen hatte.

»Bei einer Schulkameradin. Sie hat mich um Hilfe bei den Hausaufgaben gebeten und dann haben wir einfach noch ein bisschen gequatscht.«

Er musterte sie mit stechenden Augen. »Bist du dir sicher?«

»Ja, natürlich.« Marion fühlte eine Gänsehaut über ihren Rücken laufen.

»Lüg nicht!«, schrie ihr Vater sie an und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. »Laura hat gesehen, wie du zu einem Mann ins Auto gestiegen bist. War das derselbe wie damals, als du dich in München herumgetrieben hast? Wie lange geht das schon? Rede! Und zwar die Wahrheit, sonst gnade dir Gott.«

6

Marion zitterte. Es war das erste Mal, dass sie geschlagen worden war und es zeigte ihr, wie aufgebracht ihr Vater war. Ihre Mutter stand auf und legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.

»Beruhige dich, Georg. So schlimm wird es schon nicht sein.«

»Was weißt du denn?« Wütend schüttelte er ihren Arm ab. »Das ist nur dein Einfluss. Von mir hat sie es nicht, dass sie sich den Männern an den Hals wirft.«

»Ich werfe mich keinen Männern an den Hals«, widersprach Marion trotzig. »Simon ist mein Freund. Wir lieben uns.«

»Liebe! So ein Unfug. Du hast doch keine Ahnung, was das ist.«

›Du aber auch nicht‹, dachte Marion bei sich. Denn sie hatte heute gesehen, wie Liebe zwischen Eheleuten aussehen konnte. »Doch«, sagte sie laut. »Du kannst mich dafür bestrafen, aber das wird nichts ändern. Ich bin alt genug, um einen Freund zu haben. Und Simon ist es ernst mit mir.«

»Simon heißt er?«, fragte ihre Mutter und lächelte. Doch ihr Versuch, die Situation zu entspannen, blieb wirkungslos.

»Du wirst ihn selbstverständlich nicht wiedersehen«, entschied ihr Vater.

»Doch. Wir waren heute bei seinen Eltern. Und die sind sehr nett. Nicht so engstirnig wie du.«

Marion wusste, dass sie sich damit noch eine Ohrfeige einhandeln würde, aber es musste einfach raus. Da passierte es auch schon. Sie wich dem Schlag nicht aus, sondern sah ihren Vater fest an. Ihre Schwester begann zu weinen.

»Geh sofort auf dein Zimmer, Fräuleinchen. Und da bleibst du. Ich will dich heute nicht mehr sehen. Abendessen fällt für dich aus.«

Ihre Mutter war am Tisch zusammengesunken und starrte vor sich hin. Als Marion aus dem Zimmer lief, sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich ihr Vater vor Laura hinkniete und sie in den Arm nahm. »Na, was denn, Kleines, es ist doch alles in Ordnung. Warum weinst du denn?«

Alles in Ordnung. Fast hätte Marion laut aufgelacht. Aber sie war froh, dass die Heimlichtuerei vorbei war. Sie würde sich nicht verbieten lassen, Simon zu sehen. Irgendwie würde sie es möglich machen.

Am nächsten Morgen hatte ihr Vater sich beruhigt. »Es tut mir leid, dass ich dich geohrfeigt habe«, sagte er ohne großes Bedauern in der Stimme. »Aber du hast die Regeln missachtet. Alle. Ich habe dir verboten, dich mit Männern einzulassen. Und das aus gutem Grund. Du wirst diesen jungen Mann nicht mehr belästigen. Vergiss ihn. Natürlich hast du bis auf weiteres Hausarrest. Kümmere dich um die Schule. Kein Wunder, dass du plötzlich Dreier nach Hause bringst. Das hört auf, hast du verstanden?«

Sie nickte wortlos und holte ihre Schultasche. Sie hatte keine Lust auf Frühstück. Vielleicht konnte sie ja noch schnell zur Telefonzelle und Simon alles erzählen, bevor der Bus fuhr.

Nach Schulschluss wartete er auf sie. Marion warf sich in seine Arme und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Es tut mir so leid«, murmelte er, als er sie ihr abwischte. »Wenn ich das nur gewusst hätte.«

»Wir konnten nicht ahnen, dass Laura mir hinterherspioniert und petzt.« Marion schniefte. »Diese kleine Kröte, am liebsten würde ich, würde ich ...« Sie verstummte. Es fiel ihr nichts ein, was sie ihrer Schwester antun konnte, das nicht wieder auf sie selbst zurückfallen würde.

Simon drückte sie an sich. »Vielleicht ist es besser, wenn wir uns eine Zeitlang nicht sehen. Nur bis sich dein Vater beruhigt hat.«

Vehement schüttelte sie den Kopf. »Ich lasse mir von ihm nicht vorschreiben, wen ich lieben darf.«

»Aber ich will nicht, dass du noch mehr Ärger kriegst.«

»Du bist ein ganz schönes Weichei«, grinste sie. »Kaum macht mein Vater Theater, duckst du dich weg und willst mich nicht mehr sehen. Ist das die große Liebe, von der du mir erzählt hast?«

»Weichei bin ich nur, was dich angeht. Ich sage dir besser nicht, was ich im Moment am liebsten täte.«

»Mich küssen oder meinen Vater verprügeln?«

»Beides. Aber ich glaube, dir zuliebe werde ich mir das Zweite verkneifen und das Erste dafür doppelt nehmen.«

»Morgen fällt die letzte Stunde aus«, erzählte Marion ihm zwischen zwei Küssen mit einem spitzbübischen Lächeln. »Das müssen meine Eltern nicht unbedingt erfahren.«

Simon erwiderte das Lächeln. »Hast du ein Glück, dass ich morgen keine Vorlesungen habe. Da kann ich dir die Zeit vertreiben. Jetzt komm, ich fahr dich heim.«

»Nein, lieber nicht. Ich traue Laura nicht. Die ist dazu imstande, sich an der Straße herumzutreiben, um zu sehen, ob ich auch wirklich aus dem Bus steige.«

Resigniert zog er die Schultern hoch. »Dann wenigstens ein paar Haltestellen. Ich muss dir noch was geben.« Er ließ sie einsteigen und griff dann auf den Rücksitz. »Hier.«

»Was ist das?«, fragte sie verwirrt.

»Nach was sieht es denn aus?« Simon lachte. »Du hast schon mal ein Handy gesehen, oder?«

»Ja, natürlich.« Sie lachte ebenfalls. »Aber ich verstehe nicht ganz, was das soll.«

»Meine Eltern haben heute Morgen deinen Anruf mitgekriegt und wollten wissen, was los war. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich es ihnen erzählt habe. Sie waren beide sehr bestürzt. Aber mein Vater ist ein praktischer Mensch. Als er hörte, dass du Hausarrest hast, hat er mich gefragt, ob du ein Handy hast. Als ich verneinte, gab er mir seines für dich, damit wir ungestört telefonieren können. Er braucht es sowieso nicht, meinte er, und du könntest es gern eine Weile behalten.«

Marion schossen Tränen in die Augen, als sie an Simons Vater dachte. Von so viel Großzügigkeit war sie schlichtweg überwältigt.

»Weißt du, wie es funktioniert?«

»Ich kann mich ja heute Nachmittag damit befassen. Wenn ich dich anrufe, hast du die Antwort.«

»Tu das. Ich freue mich drauf.«

Simon ließ sie eine Haltestelle vor ihrem Heimatort aussteigen. Sie küssten sich durch das geöffnete Fenster, bis er den Bus im Rückspiegel auftauchen sah. »Bis morgen. Ich liebe dich.« Dann gab er Gas.

Die Krankheit ihrer Sportlehrerin war ein Geschenk für Marion. Dadurch fiel zwei Mal in der Woche die letzte Schulstunde aus. Simon holte sie dann ab und fuhr mit ihr zu der Lichtung im Wald. Nach einer knappen Stunde brachte er sie zur Bushaltestelle im Nachbarort. Tatsächlich wartete Laura öfters am Bus auf sie. Marion vermutete, dass ihr Vater seine kleine Tochter auf sie angesetzt hatte, doch sie fragte nicht nach. Zu Hause benahm sie sich mustergültig, um ihm den Eindruck zu vermitteln, dass sie sich seinen Anordnungen fügte. Durch das Handy konnte sie trotz des Hausarrests mit Simon Kontakt halten und sie war seinem Vater unendlich dankbar für seine Freundlichkeit. Meistens legte sie sich aufs Bett und zog die Decke über den Kopf, damit ihre Stimme gedämpft war und niemand sie hörte. Sie würde es sich nicht verbieten lassen, Simon zu sehen. Zur Not konnte sie in der Schule auch mal Übelkeit oder Kopfschmerzen vortäuschen und sich für die letzten zwei Stunden vom Unterricht befreien lassen. Das war natürlich nur einmal möglich, aber die Idee gefiel ihr. Alles war in Ordnung, so lange sie nur bei Simon sein konnte.