Glücksfaserrisse - Gabriele Popma - E-Book
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Gabriele Popma

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Beschreibung

Bewährungsprobe für eine große Liebe

Nach langen Umwegen haben Corinna und Sandie ihr Glück gefunden. Doch plötzlich wird es bedroht. Sandie, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt, wird das Ziel perfider Anschläge, doch er kann seinen Feind nicht lokalisieren. Immer öfter vertraut er sich in dieser Situation einer neuen Kollegin an, während Corinna einen attraktiven Mann kennenlernt, der eindeutiges Interesse an ihr signalisiert.

Unterdessen verliebt sich ihr Sohn Gerry mitten im Abiturstress in eine Mitschülerin. Die Beziehung erweist sich jedoch als ungeahnt problematisch. Große Sorgen macht er sich zudem um einen Freund, der seit einem einschneidenden Erlebnis keinen Sinn mehr im Leben sieht. Als Gerry die komplette Tragweite seiner Geschichte erfasst, ahnt er, dass Hilfe für ihn zu einem Wettlauf gegen die Zeit wird.

Und dann taucht auch noch Corinnas Ex-Ehemann wieder auf ...

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Danksagung
Auf ein Wort

Impressum tolino

Gabriele Popma

Glücksfaserrisse

Roman

1

»Gerhard, übernehmen Sie bitte die nächste Frage?«

In dem nüchtern gehaltenen Klassenraum war es an diesem Maitag warm und stickig. Nicht nur die Schüler der Abiturklasse blickten ständig verstohlen auf die Uhr, auch der untersetzte Lehrer am Pult sehnte das Ende der Schulstunde herbei. Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete er auf eine Reaktion des Angesprochenen. Doch der große blonde Junge sah nicht auf. Wie festgesogen hing sein Blick am Profil des schräg vor ihm sitzenden Mädchens.

»Herr Wegener, könnten Sie bitte Ihre Aufmerksamkeit auf den Unterricht lenken?«

Die Klasse begann zu kichern und sich zu ihrem Kameraden umzudrehen, der noch immer in seine Gedanken versunken war. Sein Banknachbar stieß ihm kräftig den Ellbogen in die Rippen.

»Hey, Stadler-Heithmann-Wegener, dein Typ ist gefragt.«

»Lass den Quatsch, du Idiot«, zischte Gerhard leise, dann bemerkte er, dass ihn alle ansahen. Irritiert blickte er seinen Lehrer an. »Habe ich etwas verpasst?«, fragte er mit einem unschuldigen Lächeln, während ihm heiß wurde.

»In der Tat. Ich bat Sie, die nächste Frage zu beantworten.«

Hilflos sah der Junge auf sein Buch. »Es tut mir leid«, gab er dann zu. »Ich war wohl einen Moment abgelenkt. Können Sie mir sagen, wo wir sind?«

Sein Lehrer warf ihm einen Blick zu, der zwischen Ärger und Belustigung schwankte. »Ich kann gut verstehen, dass gerade an einem solch warmen Tag die Reize Ihrer neuen Mitschülerin um einiges attraktiver sind als der Inhalt Ihres Englischbuches. Aber ich würde es doch sehr begrüßen, wenn Sie Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit mir zuwenden könnten. Es geht um Frage 2c.«

»Danke«, murmelte Gerhard und spürte deutlich, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Jetzt wusste natürlich jeder, dass ihm die neue Schülerin gefiel. Als er dann auch noch aus den Augenwinkeln ihren spöttischen Blick auffing, hätte er sich am liebsten ins nächste Mauseloch verzogen. Die Antwort auf die englische Frage, die er stammelnd und nicht wirklich richtig hervorbrachte, setzte ihm noch mehr zu. Lautlos, dafür aber inbrünstig, murmelte er einen Fluch auf seinen unsensiblen Lehrer. Als kurz darauf die Glocke ertönte und das Ende der Stunde verkündete, lehnte er sich mit geschlossenen Augen zurück. Wie um alles in der Welt hatte er sich nur vor der ganzen Klasse so blamieren können?

»Oh Mann«, murmelte er. »So ein Reinfall.«

»Tja, Gerry, das war wirklich nicht deine beste Vorstellung.« Andreas, sein Freund und Banknachbar, grinste ihn spöttisch an. Dann stutzte er und setzte sich plötzlich gerade hin. »Hey.«

Neugierig geworden, was den veränderten Tonfall seines Kumpels verursacht hatte, sah Gerry hoch und augenblicklich begann sein Herz wie rasend zu pochen. Neben ihm stand das neue Mädchen, das erst den dritten Tag in seiner Klasse war und ihn von Anfang an fasziniert hatte. Der flüchtige Hauch eines blumigen Parfüms stieg ihm in die Nase und prompt trocknete sein Mund völlig aus. Nervös leckte er sich über die Lippen. Was hätte er für ein Glas Wasser gegeben, vor allem auch, um seine Hände zu beschäftigen, mit denen er plötzlich nichts mehr anzufangen wusste. Wie selbstverständlich setzte sich das hübsche Mädchen auf die Tischkante, wobei ihr ohnehin reichlich kurzer Rock hochrutschte und die schlanken Beine bis zu den Oberschenkeln seinem Blick freigab.

»Du heißt also Gerhard«, stellte sie fest.

Eine ewig dauernde Sekunde lang bemühte sich Gerry, die Zunge von seinem Gaumen und die Augen von ihren Schenkeln zu lösen. »Meine Freunde nennen mich Gerry«, murmelte er schließlich und war froh, dass ihm überhaupt eine Erwiderung einfiel. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. So dämlich stellte er sich doch sonst nicht an. Die neue Mitschülerin sah ihn mit einem Funkeln in den grünen Augen an und Gerry wusste nicht, wie er ihren Blick deuten sollte. Wahrscheinlich amüsierte sie sich köstlich über sein Gestammel. Es war ihr wirklich nicht zu verdenken.

»Ich konnte mir noch nicht alle Namen merken. Aber du weißt bestimmt schon, wie ich heiße, oder?« Sie sah ihn von der Seite her an, während sie sich mit einer geradezu aufreizenden Bewegung den Rock glattstrich.

Gerry wurde es noch wärmer. Das kribbelnde Gefühl schnürte ihm die Luft ab. Er nickte vage. »Michaela«, bestätigte er und suchte krampfhaft, aber vergeblich, nach weiteren Worten, die ihn nicht als totalen Trottel dastehen lassen würden. Im Gegensatz zu der Hitze, die sich in seinem Inneren ausbreitete, schien sein Gehirn völlig eingefroren zu sein.

»Genau.« Das Mädchen lachte, fuhr sich durch die schwarzen Haare und blitzte ihn kokett an. »Und meine Freunde nennen mich auch Michaela. Bitte keine Abkürzungen wie Michi oder so.«

Gerry nickte wortlos. Er studierte fasziniert die kleine Narbe an ihrer Schläfe, die sie vergeblich zu überschminken versucht hatte. Seine Verlegenheit ließ seinem sonst so natürlichen Charme keine Chance. Er verfluchte sich, dass er steif wie ein Stock dasaß und ihm absolut kein zusammenhängender Satz einfallen wollte.

»Was machst du heute Mittag?«, fuhr Michaela fort, die sein Unbehagen nicht zu bemerken schien. »Gehst du während der Pause heim?«

Er schüttelte den Kopf. Endlich konnte er mal eine vernünftige Antwort geben. »Lohnt sich nicht«, brachte er in beinahe normalem Tonfall heraus. »Ich wohne etwas außerhalb von München. Das schaffe ich in der Zeit nicht.«

»Möchtest du dann mit mir zu irgendeiner Imbissbude gehen? Ich kenne mich in München noch nicht so gut aus.«

Für einen kurzen Moment musste Gerry die Augen schließen, um zu verhindern, dass sie ihm vor Staunen aus dem Kopf fielen. Hatte sie ihn gerade gebeten, sie zu begleiten? »Natürlich«, stammelte er, als ihm einfiel, dass er vielleicht antworten sollte. »Gern.«

»Gut, dann bis nachher.« Mit einem unnachahmlichen Hüftschwung drehte sich Michaela um und ging zurück zu ihrem Platz.

Andreas grinste seinen Freund an. »Ich habe dich selten so wortgewandt erlebt«, spottete er.

»Halt die Klappe«, brummte Gerry, doch dann verzog er die Mundwinkel zu einem überlegenen Grinsen. »Was willst du denn? Immerhin verbringt sie die Mittagspause mit mir und nicht mit dir.«

»Stimmt.« Gespielt wehmütig sah Andreas zu Michaela hinüber. »Die Frau hat Klasse«, meinte er dann.

Gerry sagte nichts. Aber das selige Lächeln war für seinen Freund Antwort genug.

Als sie durch Münchens Straßen schlenderten, hatte sich Gerry von seiner Blamage am Vormittag erholt. Er war mittlerweile sogar fähig, sich völlig normal mit Michaela zu unterhalten. Er sah sie verstohlen von der Seite her an. Sein Herz klopfte immer noch nervös. Nie hätte er damit gerechnet, dass dieses hübsche Mädchen ausgerechnet ihm Beachtung schenken könnte.

»Warum hast du so kurz vor dem Abitur noch die Schule gewechselt?«, fragte er in einer Mischung aus Small Talk und wirklichem Interesse.

Michaela zuckte mit den Schultern. »Mein Vater ist bei der Bundeswehr. Da sind Versetzungen an der Tagesordnung. Leider fragt niemand danach, welche Umstellungen das für die Familie mit sich bringt.«

»Dann ist das schon öfter passiert?«

»Das dritte Mal jetzt.« Michaela seufzte. »Es ist immer so schwer, alle Freunde im Stich zu lassen und wieder von vorne anzufangen.«

»Damit hast du sicher keine Probleme«, versicherte Gerry schnell.

»Früher war es einfacher. Als Kind ist man unbefangener. Aber neu in die Abschlussklasse zu kommen, ist schwierig. In vielen Fächern hast du unterschiedliche Mitschüler und es dauert ewig, bis du wenigstens ein paar mit Namen kennst.« Michaela schaute einen Moment lang nachdenklich auf die Straße, aber dann grinste sie vergnügt. »Gut, dass es immer wieder Jungs gibt, die einem Löcher in den Rücken starren.«

Gerry wand sich unbehaglich. »Ich wollte dich nicht anstarren. Tut mir leid.«

»Braucht es nicht. War doch eine ideale Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen.« Das Mädchen hängte sich bei ihm ein. »Schau, da ist ein Imbissstand. Da können wir uns was zu essen holen.«

Wenige Minuten später saßen sie gemütlich an einem der kleinen Tische über einer Currywurst. Michaela leckte sich die Finger ab. »Sag mal, Gerhard ist jetzt auch nicht gerade der modernste Name, oder?«

»Nö, aber mich stört es nicht. Ich bin nach meinem Opa benannt worden. Wenigstens heißt nicht die halbe Klasse so wie ich.«

»Auch wieder wahr. Und was war das für ein Nachname, mit dem dich dein Kumpel vorhin angeredet hat? Dreifachnamen gibt’s doch nicht, oder?«

Gerry lachte. »Nein, aber das sind Namen, die ich schon mal hatte. Andi ärgert mich ab und zu ganz gern damit.«

»Und wie kommst du zu drei Familiennamen?«

Gerry zuckte mit den Schultern und antwortete relativ kurz angebunden: »Mein Nachname ist Wegener, alles andere ist Vergangenheit.« Er lächelte, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Ich erzähle es dir später einmal«, versprach er ihr. »Es ist eine ziemlich lange Geschichte.«

Das war glatt gelogen. Eigentlich wären die Fakten in wenigen Sätzen erzählt gewesen. Doch Gerry wollte Michaela zu diesem Zeitpunkt nicht seine ganze Familienchronik auseinandersetzen, die mit sehr vielen Gefühlen verbunden war. Er mochte sie und er war gern mit ihr zusammen, aber so weit ging die Vertrautheit noch nicht.

Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie sich beleidigt von ihm abwenden, doch dann schluckte sie und wechselte das Thema.

»Gibt es Fächer, in denen du besonders gut bist?«

»Warum?«

»Weil ich Nachhilfe brauchen könnte.«

Gerry stöhnte. »Ich bin froh, wenn ich selbst ohne Nachhilfe über die Runden komme. Als Lehrer eigne ich mich nicht besonders gut, fürchte ich.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

»Na gut.« Er überlegte. »Ich habe von meinem Vater ein gewisses Verständnis für die Mathematik geerbt. Und von meiner Mutter die Begabung für Sprachen.« Er lachte. »Wenn es nicht in einem solchen Desaster wie heute endet, bin ich in Englisch ganz annehmbar.«

»Mathe und Englisch sind meine Knackpunkte. Gerade in Mathe komme ich ziemlich ins Schwimmen. Da werden Sachen vorausgesetzt, von denen habe ich noch nie was gehört. Vielleicht könnten wir ab und zu gemeinsam lernen, damit ich meine Lücken stopfen kann. Magst du?«

»Klar. Kein Problem.« Gerry freute sich. Er kam mit allen Mitschülern gut aus, trotzdem war es ihm bisher nicht leicht gefallen, Anschluss beim weiblichen Geschlecht zu finden. Die meisten Mädchen sahen ihn als guten Kumpel, aber vermutlich hielten sie ihn schlichtweg für langweilig. Er konnte es kaum glauben, dass es bei Michaela so einfach sein sollte. Ausgerechnet sie, der alle Jungen der Klasse nachsahen, suchte seine Gesellschaft. Und wie es aussah, würde sich das nicht nur auf die Schule beziehen.

Sie zog ihr Handy heraus. »Dann gib mir doch gleich mal deine Telefonnummer.« Sie scrollte bei der Gelegenheit durch ihre Nachrichten und gab vor, nicht zu bemerken, dass Gerrys Augen die ganze Zeit an ihr hingen. Er kam sich schon wie ein Spanner vor, aber sie gefiel ihm einfach.

Schließlich sah er auf die Uhr. »Wir müssen langsam wieder zurück«, stellte er widerwillig fest.

Die Fußgängerzone war dicht bevölkert. Die Leute haben alle nichts zu tun, dachte Gerry amüsiert, während er eine entgegenkommende Rollstuhlfahrerin beobachtete, die sichtliche Mühe hatte, sich durch all die Menschen zu schlängeln, die ohne nach links oder rechts zu sehen durch die Straße hasteten. Einen Moment lang war er versucht, ihr seine Hilfe anzubieten, doch sie hatte die Situation gut im Griff. Mit ein paar knappen Worten scheuchte sie eine Gruppe von Jugendlichen zur Seite, die ihr den Weg versperrten.

Taffe Frau, dachte er und wandte sich Michaela zu, doch seine Klassenkameradin hatte ihm den Rücken zugekehrt und schien die andere Straßenseite hochinteressant zu finden.

»Gibt’s da was?«, erkundigte er sich und versuchte vergeblich zu erspähen, was sie entdeckt hatte.

»Nein, gar nichts«, wehrte sie heftig ab und zerrte an seinem Arm. »Komm, wir müssen endlich weiter.«

Verwirrt drehte sich Gerry nochmal um, um zu sehen, was Michaela zu dieser Reaktion veranlasst hatte. Doch außer der jungen Rollstuhlfahrerin, die sich inzwischen mit den Jugendlichen unterhielt, die sie zuvor aus dem Weg gescheucht hatte, konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken.

»Hast du es bald?«, fragte Michaela ungeduldig. »Wir kommen noch zu spät zum Unterricht.«

»Was ist denn plötzlich los mit dir?« Gerry war irritiert. »Hat dich die Frau im Rollstuhl erschreckt?« Er hatte es als Scherz gemeint, doch an Michaelas Reaktion erkannte er, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Peinlich berührt sah sie zur Seite.

»Ist nicht wahr, oder?« Er schwankte zwischen Überraschung und Fassungslosigkeit. »Echt jetzt?«

»Lass es«, fauchte Michaela.

Aber Gerry war nicht der Typ, der ein Thema einfach unvollendet fallen ließ. Er sah nochmals kurz über die Schulter. »So erschreckend schaut sie wirklich nicht aus.« Er grinste.

»Ich sagte, lass es.« Michaela war puterrot geworden. Sie beschleunigte ihre Schritte. »Los jetzt. Ich mag nicht schon in der ersten Woche Probleme kriegen, weil ich zu spät komme.«

Gerry nickte. Dieses Mal verstand er, dass die Diskussion beendet war.

Noch beim Abendessen grübelte er über den kleinen Vorfall am Mittag nach. Michaela war während des Weges zur Schule sehr schweigsam gewesen. Er fragte sich, was eigentlich passiert war, dass ihre Laune so in den Keller gerutscht war. Vielleicht war ihre gerade erst beginnende Freundschaft schon am Ende. Er hätte nicht so irritiert reagieren dürfen. Während er dem ewig plappernden Mundwerk seiner fast zehnjährigen Schwester Sandra mit halbem Ohr zuhörte, versuchte er, sich Michaela vorzustellen. Er dachte an die langen Beine unter dem kurzen Rock und an die grünen Augen in dem herzförmigen Gesicht, die ihn regelrecht zu elektrisieren vermochten.

»Warum bist du denn so nachdenklich?«, fragte sein Vater plötzlich. »Irgendwas in der Schule?«

»Nein.« Gerry löste seine Gedanken von Michaela und grinste säuerlich. »Außer, dass ich mich sagenhaft blamiert habe.«

»Hast du nicht aufgepasst?«, fragte Sandra sofort.

»So könnte man es sagen.« Selbstironisch lachte Gerry auf. »Ich war zu beschäftigt damit, meine neue Mitschülerin anzuschauen.«

»Ist sie hübsch?«, wollte das Mädchen sofort von ihrem Bruder wissen.

»Natürlich.« Gerry zwinkerte ihr zu. »Fast so hübsch wie du. Aber sie hat dunkle Haare und grüne Augen.«

»Wir scheinen den gleichen Geschmack zu haben«, meinte sein Vater, während er seiner Frau einen lächelnden Blick zuwarf.

Überrascht sah Gerry seine Mutter Corinna an. Es stimmte schon, auch sie hatte dunkle Haare und grüne Augen, aber Michaela sah ihr nicht im Mindesten ähnlich. Corinna trug ihre glatten Haare zwar ebenfalls schulterlang, doch ihr Gesicht war schmal und im Gegensatz zu Michaela hatte sie kein Make-up aufgelegt. Das tat sie nie. Trotzdem sah sie jünger aus als neununddreißig, vielleicht auch durch die legere Kleidung, die sie trug. Michaela dagegen wollte sich wohl am liebsten älter machen. Gerry grinste, als ihm bewusst wurde, dass er seine Mutter mit einer Klassenkameradin verglich. Um sich abzulenken, schaufelte er sich eine zweite Portion auf den Teller.

»Ich nehme mir noch was«, kündigte er an. »Bevor unser kleiner Vielfraß alles in ihrem heißgeliebten Ketchup ertränkt.«

»Ich bin kein Vielfraß«, entrüstete sich Sandra. »Und zu viel Ketchup habe ich auch nicht genommen.«

»Na, ich weiß nicht, in diesem roten See könntest du schwimmen«, hänselte Gerry sie gutmütig. Er liebte seine neun Jahre jüngere Schwester sehr, aber es machte ihm auch Spaß, sie gelegentlich zu ärgern. Sandra streckte ihm die Zunge heraus und holte sich noch mehr Ketchup, wobei sie den mahnenden Blick ihrer Mutter geflissentlich ignorierte.

Gerry erzählte unterdessen bereitwillig von der Stunde, die er gemeinsam mit Michaela verbracht hatte, und sparte auch die kurze Szene nicht aus, die beinahe in einen Streit ausgeartet wäre.

Corinna zog die Augenbrauen hoch. »Du denkst, sie hat wegen der Frau im Rollstuhl so komisch reagiert?«

Er schnitt eine Grimasse. »Was anderes kann es eigentlich nicht sein. Ich meine, viele Leute wissen nicht, wie sie sich behinderten Menschen gegenüber verhalten sollen, aber ihre Reaktion war schon krass. Na, ist ja auch egal.« Gerry zuckte mit den Schultern und drehte sich zu seiner Schwester um: »Und was gab es bei dir in der Schule heute Neues?«

»Gar nichts.« Konzentriert badete Sandra ein Pommes frites Stäbchen im Ketchup und sah dabei nicht auf. Zwei blaue und ein grünes Augenpaar trafen sich, als Gerry und seine Eltern sich ansahen. Alle drei hatten das Gefühl, dass etwas vorgefallen war, über das Sandra nicht sprechen wollte. Eine kurze Stille trat ein, bis Gerry den Faden wieder aufnahm und erzählte, was er für den folgenden Tag plante.

»Hast du heute Abend was vor?«, fragte er Michaela am nächsten Morgen.

»Wahrscheinlich hänge ich mich vor die Glotze. Warum?«

Gerry zögerte. »Magst du mit mir weggehen?«

»Klar. Wieso fragst du das so umständlich?«

»Na ja, weil morgen doch Schule ist.« Er verfluchte sich, weil er schon wieder so ungeschickt herumstotterte. Er wollte vor diesem Mädchen cool erscheinen, aber er fühlte sich wie ein kleiner, verlegener Junge. Aber Michaela ließ sich nichts anmerken.

»Na und?«, lächelte sie. »Gehst du etwa nicht während der Woche weg? Ich mache das ständig.« Ihre Augen funkelten, als sie Gerry interessiert musterte. »Was hast du denn geplant?«

»Hier in München spielt heute Abend eine sehr gute Band. Ich dachte, das könnte dir vielleicht gefallen.«

»Ein Konzert? Von wem?«

»Konzert kann man nicht sagen. Das klingt zu groß. Es ist eigentlich mehr ein Lokal, in dem fast jeden Abend Live-Musik geboten wird. Und die Band heute ist wirklich klasse.«

»Aha«, machte Michaela. Sie gab sich nicht viel Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Ein Lokal also. Und was für eine Art Musik gibt es da?«

Gerry hatte sich vor dieser Frage gefürchtet. »Die Band heute Abend hat viele Musikrichtungen im Repertoire«, antwortete er ausweichend, dann fasste er sich ein Herz. »Hauptsächlich spielen sie New Country.«

»Und das gefällt dir?« Michaelas Miene nahm einen verächtlichen Ausdruck an.

Gerry seufzte innerlich auf. Er hatte diese Reaktion erwartet. »New Country ist gute anspruchsvolle Musik. Kannst du heutzutage von Pop kaum noch unterscheiden«, erklärte er säuerlich. »Viele Country-Songs sind in den Pop-Charts vertreten. Aber ich dachte mir schon, dass es nicht dein Geschmack ist.« Er fühlte sich von Michaela belächelt. Er hätte gar nicht davon anfangen sollen. Wieder ein Minuspunkt für ihn. In einer Mischung aus Ärger und Verlegenheit wandte er sich ab, doch das Mädchen hielt ihn am Arm fest.

»Jetzt lass mich hier nicht so stehen. Ich gebe ja zu, dass es nicht gerade meine Lieblingsmusik ist, aber ich komme schon mit.«

Doch nun war Gerry skeptisch. »Wir können auch ins Kino gehen, wenn dir das besser gefällt.«

»Nein, jetzt hast du mich neugierig gemacht. Wie heißt deine sagenhaft tolle Band denn?«

Gerry hatte das untrügliche Gefühl, dass Michaela sich insgeheim über ihn lustig machte. Doch dann schluckte er seine Unsicherheit hinunter und gab bereitwillig Auskunft. »Sie nennen sich die Highway Heroes.«

Michaela zog die Augenbrauen hoch. »Leider noch nie davon gehört. Also gut, sehen wir mal, was deine Band so drauf hat.«

2

Gerry war aufgeregt, als er zu Michaelas Adresse fuhr. Er konnte sich nicht erklären, warum ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Lag es nur an ihr oder auch daran, dass er befürchtete, der Abend könnte ein Flop werden? Sein Instinkt sagte ihm, dass Michaela nicht der Typ für diese Musikrichtung war, doch er wollte ihr das besondere Flair eines Countryabends zeigen.

Er kannte die Highway Heroes schon lange. Sein Vater war seit seinen Studientagen mit Steve, dem Kopf der Truppe, befreundet und hatte die Gründung der Musikgruppe miterlebt. Als die Band an Gerrys zwölftem Geburtstag in München aufgetreten war, durfte er seine Eltern begleiten. Steve hatte ihn damals auf die Bühne geholt und ihn nach seinem Lieblingslied gefragt. Das einzige Countrylied, das Gerry zu der Zeit kannte, war John Denvers »Take Me Home, Country Roads« gewesen, und obwohl die Band es normalerweise nicht in ihrem Repertoire hatte, hatten sie den Song speziell für ihn gespielt. Plötzlich hatte Steve ihm ein Mikrofon vors Gesicht gehalten und ihn aufgefordert, mitzusingen. Gerry kannte nur einige Brocken des englischen Textes, doch er bekam tosenden Applaus vom Publikum für seine Gesangsversuche. An diesem Abend hatte er sein Faible für die Countrymusik entdeckt. Hauptsächlich hörte er sie bei den mitreißenden Auftritten der Highway Heroes, aber auch zu Hause hatte er sich eine Playlist mit Countrysongs erstellt, die er sich je nach Laune immer wieder mal anhörte.

Als er die richtige Adresse gefunden hatte und den Polo seiner Mutter in der breiten Hofeinfahrt abstellte, erschien auch schon Michaela. Sie deutete an, dass er das Fenster öffnen sollte, und beugte sich herunter.

»Können wir eine Freundin mitnehmen?«

»Wieso denn?« Ein weiteres Mädchen passte nicht in Gerrys Pläne.

»Yvonne wohnt neben mir. Ich habe ihr erzählt, wohin wir heute Abend gehen und sie würde gerne mitkommen.«

»Na gut«, stimmte Gerry mit einem unhörbaren Seufzer zu. »Meinetwegen.«

»Prima. Wir sind gleich da.« Schnell huschte Michaela wieder ins Haus.

Fünf Minuten später kam sie mit ihrer Freundin zurück. Das Mädchen begrüßte Gerry und stellte sich vor.

»Finde ich super, dass du mich mitnimmst«, sagte sie, als sie es sich auf dem Rücksitz des Polos bequem machte. »Ich mag Countrymusik und was Michaela erzählt hat, hört sich interessant an.« Sie lachte, als sie dem Mädchen einen Blick zuwarf. »Nicht, dass es besonders viel gewesen wäre.«

Gerry musterte Yvonne im Rückspiegel. Sie war Anfang zwanzig und hatte blonde Strähnchen in ihrem kurzen braunen Haar. Trotz ihrer Jugend sah er bereits leichte Krähenfüßchen in ihren Augenwinkeln. Obwohl sie seine Pläne von einem gemütlichen Abend mit Michaela durchkreuzte, fand Gerry sie sympathisch. Er warf ihr im Spiegel ein Lächeln zu, das sie erwiderte. »Du bist das erste Mädchen, das ich treffe, das Countrymusik hört.«

Yvonne schmunzelte. »Und immer wieder gern.« Sie klopfte Michaela auf die Schulter. »Es wird dir auch gefallen, glaub mir.«

Das Mädchen nickte, dann wandte sie sich an Gerry. »Ist das dein Auto?«

»Nö. Nur Leihgabe meiner Mutter. Vielleicht reicht mein Geld ja irgendwann mal für ein eigenes. Aber dafür muss ich noch eine ganze Weile sparen.«

»Deine Eltern kaufen dir keins?«

Gerry schnaubte. »Nein, dummerweise nicht. Und leider kann ich ihre Gründe dafür auch verstehen.« Er warf Michaela einen belustigten Blick zu, in den sich aber unterschwellige Besorgnis mischte. »Hoffentlich sind für dich nicht nur Jungs mit eigenem Auto interessant.«

»Natürlich nicht.« Michaela lachte ihn aus ihren katzengrünen Augen an. »Ich suche mir meine Freunde nach anderen Kriterien aus.«

»Da bin ich aber froh.« Gerry setzte das Auto gekonnt rückwärts in eine Parklücke. »So, wir sind da.«

Die drei jungen Leute wurden von Stimmengewirr und stickiger Wärme empfangen. Als sie den Eintritt zahlten, kam ein großer schwarzhaariger Mann auf sie zu. »Gerry, schön, dich mal wieder zu sehen.«

»Hallo Steve.« Gerry drückte die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. »Ich freue mich auch. Ist schon eine ganze Weile her, dass wir uns gesehen haben. Darf ich dir Michaela und Yvonne vorstellen? Sie hören euch heute zum ersten Mal.«

Steve begrüßte die Mädchen mit einem Küsschen auf die Wange. »Ich freue mich, dass ihr da seid. Hoffentlich habt ihr Spaß.« Er wandte sich wieder an Gerry. »Kommen deine Eltern auch?«

»Nein, heute nicht«, verneinte Gerry. »Sie sind bei Freunden eingeladen. Aber ich soll dich grüßen und sagen, dass sie euch bald mal wieder besuchen kommen.«

»Das wäre schön.« Steve strahlte über das ganze Gesicht. »Ich muss auf die Bühne, aber wir sehen uns nachher noch, okay?«

»Wer war denn das?«, fragte Michaela, während sie sich einen Platz an einem Tisch in der Mitte des Saales suchten. »Hat sich nicht wie ein Deutscher angehört.«

Gerry nickte. »Steve kommt ursprünglich aus Chicago. Er wohnt schon seit vielen Jahren in Deutschland, aber sein amerikanischer Akzent verrät ihn immer noch.«

Michaela sah sich interessiert um. Was sie sah, schien ihr zu gefallen. Das Lokal war im Country-Stil eingerichtet, jedoch nicht damit überladen. An einer Wand prangten amerikanische Autokennzeichen, eines aus jedem Staat, die in Form einer amerikanischen Landkarte angeordnet waren. Der Hintergrund der Bühne war bedeckt mit Postern und Plakaten von Künstlern, die hier bereits aufgetreten waren. Eine gemütliche Bar und ein geräumiger Vorraum mit einer Sitzecke und einem Billardtisch rundeten das Bild ab.

»Wo ist jetzt deine Band?«, flüsterte Michaela Gerry zu.

»Wird gleich losgehen. Warte es nur ab.«

Ein junger Mann hastete gerade an ihrem Tisch vorbei, an dem sie saßen. Er umarmte Gerry und stellte sich den Mädchen kurz als »Thommy« vor, bevor er weiterhastete. »Sorry, keine Zeit«, schnaufte er. »Sonst fangen sie ohne mich an.«

Thommys Kollegen warteten bereits auf ihn. Steve begrüßte das Publikum mit einigen freundlichen Worten und dann legte die Band auch schon los.

»Nicht schlecht«, entschlüpfte es Michaela, als sie das erste Lied hörte, das sehr temperamentvoll vorgetragen wurde.

Unwillkürlich entfuhr Gerry ein erleichterter Seufzer. Er hatte sich schon ein Worst Case Szenario ausgemalt, in dem ihr weder die Musik noch das Lokal gefiel und sofort wieder gehen wollte. Diese Gefahr schien zumindest für den Moment gebannt zu sein. Er klopfte den Takt der Lieder auf der Tischplatte mit und hörte am Rande dem Gespräch der Mädchen zu, die sich über Schule, Hobbys, Mode und andere Dinge unterhielten. So nebenbei schnappte er auf, dass Michaela noch zwei jüngere Schwestern hatte, gerne mit ihrem Moped fuhr und Pferde liebte.

»Hast du Lust, mal mit mir reiten zu gehen?«, fragte er sie daraufhin spontan.

»Du kannst reiten?« Ihre Augen blitzten auf. »Schaust gar nicht so aus.«

Er grinste schief. »Wie sieht denn jemand aus, der reiten kann?«

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Dann weißt du bestimmt, wo hier in der Gegend ein Reitstall ist. Das habe ich bisher noch nicht herausbekommen.«

»Klar«, nickte Gerry. »Bei mir in der Nähe gibt es einen. Hast du Samstagvormittag Zeit? Wir könnten irgendwo ein Picknick machen.«

»Gern.« Michaela warf ihrer Freundin einen flüchtigen Blick zu. »Was ist mit Yvonne?«, flüsterte sie. »Sollten wir sie nicht auch einladen?«

Gerry zuckte resigniert mit den Schultern. »Frag sie.«

Doch Yvonne lehnte dankend ab. »Tut mir leid, Leute. Auf Pferde stehe ich so überhaupt nicht.«

Erleichtert atmete er aus. Er war lieber mit Michaela alleine. Verstohlen betrachtete er sie von der Seite. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre Augen blitzten fröhlich, als sie den Rhythmus eines temporeichen Liedes mitklatschte. Er fühlte, wie ihm warm wurde, und das lag nicht an der schwülen Hitze im Lokal. »Gefällt es dir?«, fragte er sie.

»Ja, ist nicht schlecht.« Michaela versuchte, herablassend zu klingen, doch dann küsste sie ihn spontan auf die Wange. Als er den Kuss jedoch erwidern wollte, wandte sie plötzlich den Blick ab und starrte ganz intensiv auf die Bühne.

Gerry war verwirrt. Ob dieser kleine Kuss sie derart verlegen gemacht hatte? Michaela schien ihn völlig vergessen zu haben, sie klatschte frenetischen Applaus, als das Lied beendet war. Doch er hatte das Gefühl, dass dies nur ein Vorwand war. Irritiert lehnte er sich zurück, als sein Blick auf einen Mann im Rollstuhl fiel, der eben angekommen war und mit einigen Freunden an der übernächsten Tischreihe Platz nahm. Das war es also. Michaela schien tatsächlich ein Problem damit zu haben, behinderten Menschen zu begegnen. Gerry war enttäuscht. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass sie derartige Vorurteile haben sollte, doch sie saß immer noch stocksteif neben ihm und hielt ihre Augen starr auf die Bühne gerichtet. Der Mann drehte den Kopf, als er Gerrys grübelnden Blick spürte, und zwinkerte ihm freundlich zu. Gerry hob in einer grüßenden Geste die Hand von der Tischplatte, aber seine Gedanken waren nach wie vor bei Michaela.

»Hast du was gegen Behinderte?«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er hörte den Vorwurf in seiner Stimme und versuchte, ihn mit einem Lächeln zu mildern.

Michaela drehte sich nur halb zu ihm um. »Was meinst du?«, fragte sie mit gespielter Unschuld.

»Den Mann da drüben.«

Sie machte sich nicht die Mühe, seiner Kopfbewegung zu folgen. »Ach so, hab ich nicht gesehen.« Sie wandte sich wieder aufmerksam der Bühne zu.

Gerry biss sich auf die Unterlippe. Halt die Klappe, Wegener, sagte er zu sich selbst, du willst jetzt keinen Streit. Sei einfach ruhig. Doch er konnte es nicht lassen. Entgegen besseren Wissens raunte er Michaela ein beinahe aggressives »Glaube ich nicht« zu.

Sie zuckte mit den Achseln. »Und wenn schon. Ich muss mir das nicht anschauen.«

»Was ›das‹? Was ist so schlimm daran?«, reagierte Gerry verständnislos. »Wenn der Mann nicht an der Stirnseite sitzen würde, wäre der Rollstuhl von hier aus gar nicht zu sehen. Dann wäre er dir ganz normal vorgekommen. Was er übrigens mit Sicherheit auch ist.«

»Lass es Gerry, ich mag das nicht diskutieren.«

Yvonne sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Worüber redet ihr denn?«

»Über den Mann da drüben am Tischende«, gab Gerry bereitwillig Auskunft.

Sie reckte den Hals. »Der im Rollstuhl?«, fragte sie. »Hey, der schaut aber süß aus.«

»Spinnst du?« Michaela sah ihre Freundin perplex an.

»Wieso?«

Als Michaela keine Antwort gab, lachte Yvonne laut auf. »Mensch, ich will den Typ nicht heiraten und auch nicht mit ihm ausgehen. Ich sagte nur, dass er gut ausschaut. Ich stehe eben auf blonde Männer mit Schnurrbart.«

»Wirklich?« Gerry grinste und strich betont lässig über seine blonden Haare.

»Tut mir leid, du bist ein bisschen zu jung für mich«, bedauerte Yvonne mit einem fröhlichen Blitzen in den Augen. »Ich schwärme mehr für ältere Männer. Außerdem fehlt dir der besagte Schnurrbart.«

Gerry fuhr sich mit dem Finger über die Oberlippe. Für einen Schnauzer fühlte er sich eindeutig zu jung. Doch so schnell wollte er sich noch nicht geschlagen geben. »Der da drüben ist zu alt für dich«, wandte er ein.

Yvonne warf wieder einen abschätzenden Blick auf die übernächste Tischreihe. »Würde ich nicht sagen. Der ist höchstens zehn Jahre älter als ich.«

»Und wie alt bist du?«

»Vierundzwanzig.«

»Dann kannst du locker noch mal zehn Jahre dazurechnen. Der Mann könnte dein Vater sein.«

»So ein Quatsch.« Yvonne schüttelte vehement den Kopf, aber sie lachte dabei. »Also gut, ich lege noch ein paar Jahre drauf. Aber du musst zugeben, dass er höchstens wie Ende dreißig ausschaut.«

Gerry griff nach seinem Glas und nahm einen großen Schluck von der Cola. Das Wortgefecht mit Yvonne machte ihm Spaß. »Gebe ich zu, ja. Aber das heißt nicht, dass er nicht älter ist.«

»Könnt ihr damit nicht aufhören?«, wandte Michaela unbehaglich ein. »Was ihr da tut, ist doch voll peinlich. Er schaut schon dauernd zu uns her, als ob er wüsste, dass ihr über ihn redet.«

Gerry sah hoch und grinste zum Gegenstand ihrer Konversation hinüber. Der Andere nahm sein Glas und prostete ihm und den beiden Mädchen zu. Yvonne gab den Gruß mit einem strahlenden Lächeln zurück, Michaela schien jedoch wieder einen Punkt auf der Bühne ungemein interessant zu finden und gab vor, die Geste nicht zu sehen. Gerry verzichtete darauf, ihrem Rücken einen irritierten Blick zuzuwerfen, sondern hob stattdessen seine Cola und prostete zurück.

Ein lautes »Geht’s euch gut?«, das von der Bühne ins Publikum gerufen wurde, rettete die Situation. Gerry nahm die Gelegenheit gerne wahr.

»Das ist Thommys Standardspruch«, ließ er die Mädchen wissen, während das Publikum laut »Ja« rief, doch Thommy war damit nicht zufrieden.

»Seid ihr denn schon müde, Leute?«, fragte der junge Mann auf der Bühne und rief noch einmal, diesmal lauter und fordernder: »Geht’s euch gut?«

»Ja!«, brüllte das Publikum und diesmal war die Band zufrieden.

»Stimmung machen sie ja schon«, gab Michaela zögernd zu.

»Aber absolut.« Yvonne klatschte begeistert den Takt des nächsten Liedes mit. Nur Gerry war nicht ganz bei der Sache. Sein nachdenklicher Blick ruhte auf dem Mann im Rollstuhl, der sich inzwischen wieder mit den Gästen an seinem Tisch unterhielt.

»So, das war’s wohl«, meinte Gerry, als die Band kurz nach Mitternacht endgültig von der Bühne ging. Vier Zugaben hatte das Publikum ihnen abgefordert. Doch nun schien der Abend zu Ende zu sein.

»Schade«, sagte Yvonne bedauernd. »Ich bin gerade so richtig in Fahrt.«

Der Raum leerte sich schnell. Plötzlich kam der blonde Mann im Rollstuhl zu ihrem Tisch. »Hey Gerry, ich dachte, du kommst mal zu uns rüber.«

»Hey«, erwiderte Gerry und fühlte dabei Michaelas Blick wie einen Dolchstoß in seinem Rücken. Nun musste er wohl Farbe bekennen. »Sorry, hat sich nicht ergeben. Ich war überrascht, dich hier zu sehen.«

»Ja, ich auch«, schmunzelte sein Gegenüber. »Hatte ich eigentlich nicht geplant. Stellst du mir deine Begleitung vor?«

Gerry drehte sich um. »Das sind Michaela und Yvonne und das ist …« Er zögerte kaum merklich, bevor er fortfuhr: »… mein Freund Sandie.«

Sandie warf ihm einen flüchtigen, erstaunten Blick zu, dann bedachte er die Mädchen mit einem gutgelaunten »Hallo«. Yvonne erwiderte sein Lächeln freundlich, doch Michaela bückte sich gerade nach ihrer Jacke, die von der Stuhllehne gerutscht war. Sandie wandte sich wieder an Gerry. »Hübsche Mädels. Eine reicht dir wohl nicht?«, flüsterte er ihm zu.

»Wer hat, der hat«, feixte Gerry.

Sandie nickte. »Ja, das sehe ich. Also bis dann.«

»Tschüss.«

Gerry drehte sich um, um Yvonnes vorwurfsvollen Blick zu begegnen.

»Dein Freund, was?«, fragte sie. »Warum hast du das nicht vorhin erzählt? Du hättest mich gleich mit ihm bekannt machen können.«

»Das hätte nichts gebracht. Glaube mir, Yvonne, Sandie steht nicht auf Mädchen, die zwanzig Jahre jünger sind als er.«

»So ein Quatsch. Der ist höchstens zehn …« Sie sah Gerry unsicher an. »Bist du sicher?«

Er nickte. »Zufällig weiß ich, dass er letzte Woche seinen fünfundvierzigsten Geburtstag hatte.«

»Dann hat er sich aber wirklich gut gehalten. Was meinst du, Michaela?«

»Keine Ahnung. Können wir jetzt heimgehen?«

Gerry half ihr in ihre Jacke. »Bist du sauer?«

»Wieso sollte ich?« Sie lachte, doch es klang nicht echt. Sie sah auf ihre Uhr. »Gehen wir noch in eine Disco?«

»Ich kann dich gern irgendwo absetzen, wenn du willst, aber ich möchte morgen wenigstens einigermaßen ausgeschlafen sein.«

Michaela zuckte mit den Schultern. »Und du, Yvonne?«

»Ich passe auch. Leider sind die Zeiten für mich vorbei, als ich auf der Schulbank hinter meinem Vordermann versteckt eine Runde pennen konnte.« Sie gähnte. »Bist du so nett und bringst mich heim, Gerry?«

»Ja, natürlich. Ich möchte mich nur noch gern von der Band verabschieden.«

3

Im Haus brannte noch Licht, als Gerry eine knappe Stunde später Corinnas Polo in der Einfahrt parkte. In aller Ruhe sperrte er die Haustür hinter sich ab, streifte die Schuhe von den Füßen und schlenderte ins Wohnzimmer, wo sein Vater auf ihn wartete.

»Wacht die Obrigkeit darüber, wann ich heimkomme?«

»Ich dachte mir, dass es nicht mehr so lange dauern kann.« Sein Vater deutete auf die Flasche Mineralwasser, die auf dem Tisch stand. »Magst du?«

»Nein, danke.« Gerry ließ sich auf die Couch fallen. »Ich habe mir fast gedacht, dass du auf mich wartest.«

»Klar. Es interessiert mich schon, warum du auf einmal deinen alten Vater verleugnest und mich nur als Freund vorstellst.«

»Ich bin doch nicht verrückt, Mensch. Die Mädels hätten mich in Stücke gerissen. Die eine ist total verknallt in dich und die andere kriegt anscheinend Ausschlag, wenn sie einen Rollstuhl sieht. Ich setze mich doch nicht in die Nesseln und sage denen, dass du mein Vater bist. Dann würde ich jetzt noch dort stehen und versuchen, mich zu rechtfertigen.«

Sandie lehnte sich grinsend zurück. »Welche ist in mich verknallt, sagtest du?«

»Yvonne. Ich habe fünf Minuten zugebracht, um ihr klarzumachen, dass du zu alt für sie bist.«

»Danke. Sehr fürsorglich. Hast du ihre Adresse?«

»Die kriegst du bestimmt nicht. Glaubst du, ich will Krach mit Mama?« Gerry stand auf und reckte sich. »Warum warst du eigentlich da? Ich dachte, ihr wart bei Andis Eltern eingeladen.«

»Claudia hat kurzfristig abgesagt. Sie fühlte sich nicht besonders. Mama übrigens auch nicht, sonst wäre sie mitgegangen. Vielleicht ist irgendein Virus unterwegs. Ich habe dann ein paar Kollegen mobilisiert. Aber sag mal, Michaela, das ist deine neue Freundin, nicht wahr? Die zwei Minuten lang ihre Jacke auf dem Boden gesucht hat, nachdem sie sie ganz unabsichtlich vom Stuhl gestreift hat.«

Gerry schnaubte. »Dir entgeht aber auch nichts.«

»Lade sie doch mal zu uns ein.«

Das Schnauben wurde zu einem ungläubigen Huster. »Du gehst wohl keiner Konfrontation aus dem Weg, wie?«

»Vielleicht können wir ihre Vorurteile ein wenig abbauen.«

Gerry kaute auf seiner Unterlippe. »Zuerst will ich herausfinden, warum sie sich derart bescheuert benimmt.« Er gähnte herzhaft. »Aber nicht, bevor ich sie besser kenne. Und jetzt muss ich in die Falle. Gute Nacht.«

»Schlaf gut.«

Als Sandie sich in sein Bett umsetzte, blinzelte Corinna. »Hattest du einen schönen Abend?«

Er wandte sich zu ihr um. »Habe ich dich geweckt? Dabei war ich doch echt leise.«

»Nein, du hast mich nicht geweckt.« Sie strich ihm über den nackten Rücken. »Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht besonders gut einschlafen kann.«

Sandie beugte sich zu ihr und küsste sie. »Geht es dir besser?«

»Ja, danke.« Corinna warf einen kurzen Blick auf die Uhr. »Ist Gerry auch schon zu Hause?«

»Er kam kurz nach mir.« Sandie schob seine Beine unter die Bettdecke und streckte einen Arm nach seiner Frau aus. Behaglich kuschelte sie sich an seine Schulter.

»Hast du seine Freundin auch gesehen?«

»Ja. Ein sehr hübsches Mädchen. Allerdings weiß ich nicht, ob sie wirklich seine Freundin wird.«

»Wieso das denn?«

Sandie lachte verhalten. »Na ja, sie scheint diese Schwellenangst Behinderten gegenüber zu haben. Und das passt Gerry nicht.«

»Natürlich nicht. Er nimmt das persönlich. Merkt man es ihr tatsächlich so deutlich an?«

»Sie ist einer der schlimmsten Fälle, die ich je getroffen habe. Sie ist lieber auf dem Boden herumgekrochen, als mich anzuschauen.« Zärtlich streichelte er ihre Wange. »Ich bin froh, dass du da anders bist.«

Sie kicherte. »Ich habe keine Probleme damit, dich anzuschauen. Und das gilt für alle Teile deines Körpers.«

»Da bin ich ja beruhigt.« Sandie drückte sie an sich. »Übrigens wird es morgen auch wieder später.«

»Irgendeine Verabredung, von der ich wissen sollte?«

»Große Feier im Betrieb.« In gespielter Ergebenheit schloss Sandie die Augen. »Die alte Henne geht in Rente.«

»Du meinst Frau Hahn?«, rügte Corinna mit aufgesetzter Strenge.

»Sage ich doch. Halleluja. Friede ihrer Asche.«

»Sandie.« Sie boxte ihn spielerisch in die Rippen. »So spricht man nicht von der Sekretärin des Chefs.«

»Für neunzig Prozent der Firma wird es keine Abschieds- sondern eine Freudenfeier.«

»Jetzt übertreib mal nicht. So schlimm ist Frau Hahn wirklich nicht.«

»Sie ist ein alter Drachen«, widersprach Sandie vehement. »Und sie hat Hanke bewacht wie ein Ei, das sie gerade ausbrütet. Leichter kriegt man eine Audienz beim Papst, als an ihr vorbei zum Chef zu kommen.«

Corinna schmunzelte. »Weißt du schon, wer ihre Nachfolge antritt?«

»Hanke sagte etwas von einer Spitzenkraft. Soll angeblich eine Bekannte von ihm sein. Da haben wir die Vetternwirtschaft schon wieder zusammen. Na ja, wir werden sehen. Schlimmer als vorher kann es nicht mehr werden.«

»Jetzt komm schon in die Hufe, Junge. Das Layout muss heute raus. Wenn du dich nicht beeilst, schaffen wir es nie rechtzeitig zur Feier.«

Sandie sah von seinem Computer auf, um seinem Kollegen Dieter einen kurzen Blick zuzuwerfen. Er war noch müde von dem langen Abend zuvor und hätte den Empfang nach der Arbeit am liebsten geschwänzt. Doch Frau Hahn hatte alle Mitarbeiter persönlich eingeladen und er fand keinen plausiblen Grund, um jetzt noch abzusagen.

»Ich hätte nichts dagegen, wenn ich hier so lange beschäftigt wäre, dass ich das ganze Getue verpasse«, grunzte er unwillig.

»So ein Unsinn«, widersprach Dieter. »Ich habe vorhin gesehen, welche Köstlichkeiten dafür angekarrt wurden. Das gibt ein Festessen, sage ich dir.« Er leckte sich genüsslich über die Lippen.

Sandie grinste. Dieter hatte sich besonders fein gemacht. Er trug eine graue Hose und ein schickes Sakko. Am Morgen war er sogar mit Krawatte erschienen, die er jedoch abgelegt hatte, als Sandie bei seinem Anblick laut herausgeprustet war. Er selbst hatte widerwillig Corinnas Drängen nachgegeben, wenigstens ein weißes Hemd anzuziehen. Die Leinenhose, die sie ihm herausgelegt hatte, hatte er allerdings verschmäht und sich stattdessen für eine schwarze Jeans entschieden. Es waren nun mal seine Lieblingshosen und bei der Arbeit am praktischsten. Er musste schon höllisch auf das weiße Hemd aufpassen. Feixend dachte er an Corinnas Gesichtsausdruck, als sie entdeckt hatte, dass er ein rotes T-Shirt darunter angezogen hatte. Er konnte von Glück sagen, dass sie ihm seine Klamotten nicht um die Ohren geschlagen hatte. Aber sie hatte keine Ruhe gegeben, bis er wenigstens das T-Shirt gegen ein weißes eingetauscht hatte.

Er schob sich von der Tischkante zurück. »Wir haben ja noch fast zwei Stunden Zeit«, beschwichtigte er seinen Kollegen. »Das reicht locker für das Layout. Ich hole mir erst mal einen Kaffee, sonst schlafe ich hier noch ein.«

Sandie machte sich auf den Weg zur Kantine, in der ständig frischer Kaffee für die Mitarbeiter bereitstand. Wie immer umfasste er die Ecksäule vor dem Eingang in den großen Raum mit der Hand und drehte sich mit Schwung um sie herum. Allerdings kam ihm dieses Mal jemand entgegen. Er sah nur einen vagen Schatten, war jedoch geistesgegenwärtig genug, seinen Rollstuhl mit einem schnellen Griff in die Greifräder zu stoppen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass eine schlanke, ihm unbekannte Frau fast auf seinem Schoß landete. Sie bewahrte in letzter Sekunde ihr Gleichgewicht, doch den Becher Kaffee, den sie in der Hand gehalten hatte, leerte sie dabei über seiner Brust aus. Er zuckte zurück, als der heiße Kaffee ihn traf und sah dann fassungslos auf sein so gehegtes, ehemals weißes Hemd.

»Können Sie nicht aufpassen?«, fuhr er die Frau an, die ihm gegenüberstand, obwohl er genau wusste, dass es seine Schuld gewesen war.

»Entschuldigung«, murmelte sie. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen, als wolle sie ihr Entsetzen verbergen, doch die Laute, die Sandie hörte, klangen eher wie ein Kichern. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus, und sie platzte laut heraus.

»Sehr witzig«, knurrte er und drehte sich um.

»Warten Sie, rennen Sie nicht davon.« Die Frau, die nach seiner Meinung etwa in seinem Alter sein musste, lief um ihn herum und stellte sich ihm in den Weg. »Es tut mir leid, dass ich lachen musste«, entschuldigte sie sich. »Aber Ihr Gesichtsausdruck war einfach zu komisch.« Sie wurde ernst. »Sie gehören doch hoffentlich nicht zu der Sorte Mensch, die schnell beleidigt ist, oder?«

Gegen seinen Willen musste Sandie lachen und sein Ärger verflog. Das freundliche, offene Gesicht der Frau war ihm sympathisch. Außerdem gab es nicht viele Leute, die sich trauten, im Zusammenhang mit ihm das Wort rennen zu benutzen. Das allein imponierte ihm schon. »Nicht wirklich«, gab er zu.

»Hervorragend.« Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen. »Ulla Hanke. Ich fange morgen hier offiziell als Sekretärin an.«

»Hanke?«, hakte Sandie nach, als er die gepflegte Hand schüttelte.

»Ja.« Sie lächelte. »Um die Frage vorwegzunehmen, die man mir inzwischen etwa zwanzig Mal gestellt hat, ja, ich bin mit Ihrem Chef verwandt. Er ist mein Schwager.«

Also doch Vetternwirtschaft, dachte Sandie, aber er konnte sein anzügliches Grinsen gerade noch zu einem freundlichen Lächeln umwandeln.

»Aha«, sagte er nur, als ihm einfiel, dass er sich ebenfalls vorstellen sollte. »Mein Name ist Alexander Wegener.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Frau Hanke erwiderte das Lächeln. »Was haben Sie denn jetzt vor?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, in dem Hemd können Sie doch nicht zu Frau Hahns Abschiedsfeier gehen.«

»Ein guter Grund, dem Fest fernzubleiben.«

»Kommt nicht in Frage.« Frau Hanke schüttelte energisch den Kopf. »Kommen Sie mit. Für mich ist ein kleines vorläufiges Büro eingerichtet worden. Ich wasche ihnen die Flecken schnell heraus, dann lassen wir das Hemd auf der Heizung trocknen und wenn ich mich nicht irre, hat Frau Hahn in ihrem unerschöpflichen Bestand sogar ein Bügeleisen.«

»Wundert mich nicht«, murmelte Sandie.

»Eine Chefsekretärin muss auf alles vorbereitet sein. Kommen Sie.«

Er folgte der Frau in einen Raum in der Nähe des Vorstandszimmers.

»Also, runter mit dem Hemd.«

Sandie gehorchte. Während er sein Hemd aufknöpfte, betrachtete er verstohlen die neue Chefsekretärin. Sie war sehr attraktiv. Das kurze dunkelbraune Haar trug sie in einer eleganten Dauerwelle, was ihr ein würdiges Aussehen verlieh, das allerdings durch ihre joviale und freundliche Art wieder zunichtegemacht wurde. Sie war mittelgroß, schlank und modisch gekleidet. An der rechten Hand trug sie einen Ehering und einen Vorsteckring mit zwei kleinen Saphiren, sowie ein zartes Goldkettchen.

»Sie sind also Alexander der Große.«

»Wer bin ich?« Sandie hielt in der Bewegung inne und sah die neue Kollegin erstaunt an. Wer um alles in der Welt hatte ihr gegenüber diesen uralten Spitznamen ausgegraben?

»Wissen Sie denn nicht, wie man Sie nennt? Ihr Ruf ist Ihnen schon vorausgeeilt.« Frau Hanke streckte die Hand nach dem Hemd aus und Sandie reichte es ihr gehorsam.

»Doch«, gab er zu. »Allerdings ist das eine Ewigkeit her.« Er hoffte, dass die neue Sekretärin den Namen tatsächlich seiner Größe von 1,90 Metern zuordnete, die man ihm sogar im Rollstuhl ansah, und ihr die wahren Hintergründe dieser Bezeichnung verborgen geblieben waren.

Sie sah ihn prüfend an. »Ihr T-Shirt hat ebenfalls etwas abbekommen. Soll ich das auch mitnehmen?«

»Nein, danke. Die Flecken sieht man ja unter dem Hemd nicht.« Es wäre ihm einfach zu peinlich gewesen, mit nacktem Oberkörper vor dieser attraktiven und resoluten Frau zu sitzen.

»Okay.« Sie nickte, während sie ein Papiertaschentuch aus ihrer Rocktasche zog. »Hier sind auch noch ein paar Spritzer. Darf ich?« Mit einer Selbstverständlichkeit, die Sandie erstaunte, wischte sie seinen Rollstuhl ab. »So, jetzt dürften alle Spuren unseres ersten Treffens beseitigt sein.« Sie lächelte. »Ab morgen steht eine Kaffeemaschine zu meiner Verfügung. Darf ich Sie mal zu einer Tasse einladen? Als Ausgleich für den, mit dem ich Sie getauft habe.«

»Es war ja eigentlich meine Schuld«, gab er zu. »Aber ich komme gern. Allerdings muss ich jetzt noch etwas arbeiten. Sonst bin ich zur Feier nicht fertig.«

»Das wäre schade.«

»Ja, das wäre es wirklich.« Sandie stellte fest, dass er sich plötzlich auf die Betriebsfeier freute. Vielleicht ergab sich dabei die Möglichkeit, diese Bekanntschaft zu vertiefen. Als Frau Hanke ihm die Hand reichte, elektrisierte ihn die Berührung. Tief verwirrt drückte er fester zu, als er beabsichtigt hatte und fühlte deutlich, wie zwischen ihnen ein Funke der Sympathie übersprang.

Sie öffnete ihm die Tür. »Ich bringe Ihnen nachher das Hemd vorbei.«

Sandie fühlte sich abrupt in die Realität zurückgeholt. »Ich kann es auch holen«, erwiderte er nüchtern. »Sie wissen doch gar nicht, wo mein Zimmer ist.«

»Werde ich schon finden. Es wird schließlich Zeit, dass ich mich hier im Haus auskenne.« Die sympathische Frau lachte. »Ich frage einfach nach dem großen Alexander.«

Frau Hahn saß auf einem Stuhl inmitten ihrer Kollegen und jammerte. Sie bedauerte es, dass Sie aus Altersgründen in den Ruhestand gehen musste und die Geschicke der Firma nicht mehr leiten konnte.

»Gut gesagt«, raunte Dieter Sandie zu. »Ohne sie hätte die Firma wirklich schon längst bankrott gemacht. Hoffentlich wacht die Neue auch so fürsorglich darüber, dass unser Boss beim Zeitungslesen nicht gestört wird. Wo ist sie überhaupt?«

»Da hinten beim Buffet.«

Dieter reckte den Hals, aber er konnte niemanden entdecken, auf den Sandies Beschreibung zutraf.

»Wo denn?«

»Mensch, du hast doch den besseren Blickwinkel als ich.« Sandie stemmte sich hoch und beugte sich zur Seite, damit er an einem voluminösen Kollegen vorbei sehen konnte. »Du hättest eben vorhin da sein sollen, als sie mir mein Hemd gebracht hat.« Er erhaschte einen kurzen Blick auf die neue Mitarbeiterin. »Komm, wir gehen hin«, schlug er Dieter dann vor. »Ich stelle dich vor.«

»Frau Hanke?«

Die Angesprochene drehte sich um. »Ja?« Als sie Sandie sah, lächelte sie freundlich. »Herr Wegener, Sie haben es also doch noch rechtzeitig geschafft.«

»Ich möchte Ihnen gern einen Kollegen vorstellen. Dieter Krämer.«

»Ah ja.« Frau Hanke gab Dieter die Hand. »Ich freue mich sehr.« Sie lächelte charmant. »Hoffentlich kann ich mir Ihren Namen merken, Herr Krämer. Ich bekam heute schon so viele Leute vorgestellt, dass mir der Kopf schwirrt.«

»Frau Hanke, haben Sie einen Moment Zeit?«, rief es von der Tür her.

»Ja, ich komme.« Sie nickte den Männern freundlich zu. »Sie entschuldigen mich bitte, ja?«

»Natürlich«, murmelte Dieter, dann wandte er sich an Sandie. »Eine klasse Frau.«

»Ja.« Sandie sah ihr nach. Sie wurde an der Tür von einem Mann erwartet, der ihr flüchtig die Hand auf den Rücken legte und sie hinaus schob. »War das nicht Lehmann aus der Buchhaltung?«, fragte er.

»Achim?« Dieter trat einen Schritt vor, doch die Tür hatte sich schon geschlossen. »Keine Ahnung, aber was sollte der von Frau Hanke wollen?«

»Weiß ich nicht. Es kam mir nur irgendwie komisch vor.«

Dieter lachte. »Hör bloß auf, Junge. Was soll da komisch sein? Komm, wir holen uns noch etwas zu trinken.« Er drehte sich noch einmal kurz zu der Tür um, durch die die neue Sekretärin gerade verschwunden war. »Ich möchte fast wetten, deinen Namen merkt sie sich«, meinte er.

»Meinen Namen kann sie auch mit einem besonderen Merkmal verknüpfen«, grinste Sandie ironisch, dann sah er seinen Kollegen spöttisch an. »Bei so einem Allerweltsgesicht wie deinem tut man sich da als Frau halt schwer.«

Dieter schnitt eine Grimasse. »Na, ganz ehrlich, ich bin auf dein besonderes Kennzeichen nicht so scharf. Da soll die werte Dame lieber dreimal nach meinem Namen fragen.« Er schlug Sandie freundschaftlich auf die Schulter. »Komm, wir mischen uns wieder unters Volk. Mal hören, welche mütterlichen Ratschläge unser Hähnchen noch für uns hat.«

Es wurde spät. Sandie hatte sich vorgenommen, spätestens gegen neun Uhr zu verschwinden, doch dann war es zwei Stunden später, als er sich von Frau Hahn verabschiedete und ihr alles Gute wünschte.

Die ältere Dame brach beinahe in Tränen aus. So unbeugsam sie in früheren Zeiten ihren Arbeitgeber verteidigt und sogar beschützt hatte, so gerührt war sie an diesem Tag. Sandie fürchtete schon, sie würde seine Hand gar nicht mehr loslassen. Erst, als er ihr dreimal versprochen hatte, Corinna zu grüßen und gut auf sich aufzupassen, konnte er gehen.

Frau Hanke lächelte ihm zu. »Frau Hahn hat wohl einen Narren an Ihnen gefressen?«, meinte sie.

»Leider merke ich das heute zum ersten Mal. Wir beide haben schon einige Hahnenkämpfe ausgefochten.« Sandie lachte, als ihm sein unbewusstes Wortspiel aufging.

Auch Frau Hanke lachte. »Ich hoffe, wir werden auch gut miteinander auskommen. Ein bisschen Angst habe ich schon, ob ich als Nachfolgerin von Frau Hahn anerkannt werde.«

»Natürlich. Ich glaube nicht, dass Sie da Probleme bekommen werden.«

»Danke. Sie wissen gar nicht, was mir Ihr Zuspruch bedeutet. Ich erwarte Sie in den nächsten Tagen zum Kaffee im Chefsekretariat. Einverstanden?«

»Habe ich Ihnen ja schon versprochen. Und vielen Dank noch mal, dass Sie mein Hemd gerettet haben. Das erspart mir die Standpauke meiner Frau.«

»Gern geschehen.« Frau Hanke musterte ihn neugierig, sagte jedoch nichts mehr. Allerdings fühlte Sandie ihren Blick in seinem Rücken, bis er die Tür hinter sich schloss.

4

Corinna öffnete ihm die Haustür. »Na, war es nett?«, fragte sie mit einem anzüglichen Blick auf die Uhr.

»Ja, netter, als ich erwartet hatte.« Während er sich seiner Jacke entledigte, erzählte Sandie bereitwillig von seinem Zusammentreffen mit Frau Hanke.

Corinna lachte kopfschüttelnd. »Dir darf man nichts Ordentliches anziehen. Das musste ja schief gehen.« Dann deutete sie zum Wohnzimmer. »Gerry wartet noch auf dich. Er will etwas mit dir besprechen. Magst du noch einen Kaffee?«

»Ja, gern. Was gibt es denn so Wichtiges?« Sandie öffnete die Tür zum Wohnzimmer. »Hi Gerry. Was tust du denn am Freitagabend daheim?«

»Ich hatte keine Lust, heute schon wieder wegzugehen. Aber ich würde gern etwas mit dir bereden.«

Sandie nickte. »Mama hat so was angedeutet. Also, schieß los.«

»Ich war heute bei Michaela.«

»Habt ihr gelernt?«

»Das wollten wir. Dabei hat sie mich eher vom Lernen abgehalten. Aber es geht um Yvonne.«

»Das Mädchen, das in mich verknallt ist?« Sandie hob die Augenbrauen. »Was wollte sie?«

»Sie wohnt neben Michaela und kam kurz herüber, als sie mich sah. Sie hat eine Freundin, deren Schwester wieder eine Freundin hat.« Gerry winkte ab. »So ähnlich zumindest. Auf jeden Fall hat diese Freundin einen Cousin, der letztes Jahr einen Autounfall hatte und seitdem querschnittgelähmt ist.«

»Kommt mir bekannt vor«, murmelte Sandie.

»Dieser Cousin lebt in München allein in einer Wohnung. Sein Vater versorgt ihn mit allem, was er braucht, lässt sich aber nie bei ihm sehen. Seine Cousine und ihre Eltern haben sich bisher um ihn gekümmert, aber sie ziehen weg. Jetzt sucht sein Vater jemanden für diesen Job. Yvonne hat gestern gehört, dass ich für ein Auto spare und meint, das könnte etwas für mich sein.«

»Weil du einen behinderten Freund hast.«

Gerry grinste frech. »Das gab wohl den Ausschlag. Es soll ganz gut bezahlt sein, sagte sie.«

»Und wo ist der Haken an der Sache?«

»Nachdem, was Yvonne von ihrer Freundin weiß, muss er ein ziemlicher Kotzbrocken sein. Knabbert wohl noch an den Folgen seines Unfalls.«

»Kann ich mir vorstellen.« Sandie dachte einen Augenblick nach. »Was hat Mama dir geraten?«

»Sie hat nur gelacht und mich an dich verwiesen.«

»Sie hat also gelacht, interessant.« Sandie schnitt eine Grimasse. »Warum nur?«

Corinna, die gerade den Kaffee hereinbrachte, hatte die letzten Worte gehört. »Du kannst eine solche Frage schließlich am besten beantworten, oder etwa nicht?«, fragte sie mit scheinheiligem Augenaufschlag. »Magst du auch eine Tasse?«, wandte sie sich an Gerry, aber der winkte ab.

»Du weißt doch, dass ich nicht auf dieses Gesöff stehe.« Er deutete auf sein Saftglas. »Außerdem habe ich noch.«

Corinna setzte sich und sah Sandie fragend an. »Ich glaube, Gerry würde diesen Job gerne machen. Was meinst du dazu?«

»Wäre bestimmt eine interessante Erfahrung«, gab Sandie zu und wandte sich an seinen Sohn. »Aber kannst du so kurz vor dem Abitur eine solche Belastung brauchen?«

»Jetzt vielleicht nicht, aber in vier Wochen sind die Prüfungen geschrieben. Wie sieht es dann aus? Bis zum Semesterbeginn würde ich gerne ein wenig Geld verdienen. Außer du würdest dich zu einer größeren Spende hinreißen lassen?« Gerry ließ die Frage erwartungsvoll im Raum hängen.

»Wenn ich im Lotto gewinne«, erwiderte Sandie.

»Vielleicht solltest du dann mal anfangen, zu spielen«, seufzte Gerry und kam nach einer kurzen Pause zum Thema zurück. »Es wäre mal was anderes als beispielsweise im Supermarkt Regale einzuräumen.«

»Schon, aber auch schwieriger. Außerdem hast du ein gewisses Maß an Verantwortung.«

»Immerhin hat Gerry keine Berührungsängste«, unterstützte Corinna ihren Sohn.

»Ja, aber wie ist es, wenn der Junge mit dem Schicksal hadert und das an seiner Umwelt auslässt?« Sandie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Weißt du, wie hoch der Querschnitt bei ihm ist?«

»Keine Ahnung.«

»Du musst dich auf jeden Fall erkundigen, worauf du dich einlässt, bevor du dir etwas auflädst, das du nicht bewältigen kannst.«

»So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Sucht dieser Vater nur einen Gesellschafter oder einen richtigen Betreuer für seinen Sohn? Das solltest du wissen, bevor du dich entscheidest.«

»Yvonne meinte, ich könnte jederzeit dort anrufen und einen Gesprächstermin ausmachen, wenn ich interessiert bin. Es scheint ziemlich dringend zu sein. Die Aufgabe würde mich schon reizen, aber ich möchte wissen, wie du grundsätzlich zu der Sache stehst.«

»Generell ist es sicher nicht schlecht.«

»Gerry würde wenigstens dafür bezahlt«, warf Corinna gleichmütig ein.

»Willst du damit andeuten, dass ich dich für ähnliche Anstrengungen nicht entlohnt habe?«, fragte Sandie lauernd. »Schließlich habe ich dich geheiratet.«

»Ich hoffe, diese Belohnung bleibt ihm erspart.«

Gerry lachte. »Müsst ihr euch eigentlich dauernd kabbeln? Ich habe hier ein ernstes Problem. Also sagt mir, was ich tun soll.«

»Na gut.« Sandie wandte sich ihm zu. »Erkundige dich zuerst mal, was alles von dir verlangt wird. Wenn du meinst, du schaffst es, kannst du den Job gerne annehmen. Allerdings sollten deine Prüfungsvorbereitungen nicht darunter leiden. Aber vielleicht hat die Sache ja noch etwas Zeit. Ich kann mir im Grunde keinen Besseren dafür vorstellen.« Seine Augen funkelten. »Außer Michaela hätte Interesse?«

Grinsend schüttelte Gerry den Kopf. »Es tut mir leid, das über meinen Vater sagen zu müssen, aber du bist wirklich unmöglich.« Er stand auf und gähnte ausgiebig. »Ich werde da morgen mal anrufen und mich informieren. Und jetzt stört es euch hoffentlich nicht, wenn ich euch verlasse«, meinte er. »Mein Bett ruft.«

Sandie und Corinna blieben noch sitzen, um ihren Kaffee auszutrinken. Sandie streckte sich ausgiebig. »Endlich Wochenende. Ich muss mal wieder gründlich ausschlafen. Haben wir morgen irgendetwas vor?«

»Du hast mir versprochen, die Schublade vom Buffet im Esszimmer zu reparieren, die immer von selbst aufgeht. Und um den Lift solltest du dich auch mal kümmern.«

Sandie stöhnte. »Stimmt. Das elende Ding verweigert immer noch den Dienst.«

Ungerührt hob Corinna ihre Tasse. »Wir können auch einen Fachmann holen«, schlug sie vor.

»Das ist nur was in der Elektronik. Das kriege ich selber hin.«

»Dann kümmere dich mal darum.«

»Muss das unbedingt morgen sein?«

»Nein.« Corinna lehnte sich zurück. »Ich brauche keinen Lift, um in den Keller oder in den ersten Stock zu kommen.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst.« Sandie versuchte, seiner Stimme einen sarkastischen Klang zu geben.

»Gern geschehen.« Sie lächelte. Sie wusste genau, warum er davor zurückscheute, festzustellen, wieso der Lift vor einigen Tagen gestreikt hatte. Während sie selbst und die Kinder innerhalb von Sekunden über die Treppen laufen konnten, musste Sandie jedes Mal umständlich den Treppenlift benutzen, der ihm seine Behinderung deutlich vor Augen führte. Ein defekter Lift war ein perfekter Vorwand, ihn nicht nutzen zu müssen.

Er rieb sich über den Oberschenkel. Corinna kannte die Geste, die er unbewusst einsetzte, wenn er sich unwohl fühlte und nach einer passenden Antwort suchte.

»Eigentlich ist es ja ganz praktisch so«, meinte er schließlich. »Jetzt kann ich die Kinder bitten, mir mal ein Bier aus dem Keller zu holen, und brauche mich nicht mehr selbst zu kümmern.«

»Das tun sie doch sowieso«, widersprach Corinna. »Ohne dass du dich auf deinen Status als armer Behinderter und einen kaputten Lift berufst.« Sie wurde ernst. »Nein wirklich, du musst dich darum kümmern. Sandra ist traurig, dass du nicht mehr zu ihr nach oben kommst, wenn sie ins Bett geht. Das ist doch ein guter Grund, oder?«

Das musste Sandie zugeben. Auch er vermisste das Gute-Nacht-Ritual, das er schon seit Sandras Geburt pflegte.

»Na gut. Ich werde mich morgen darum kümmern. Aber jetzt muss ich ins Bett. Sonst falle ich dir hier noch vor die Füße.«

»Du willst ja nur, dass ich dich hinterher aufsammele.« Corinna lachte, aber sie stand bereitwillig auf. »Geh schon vor, ich räume nur noch die Tassen weg.«

»Kann ich noch einmal dein Auto haben, Mama?«, fragte Gerry am nächsten Morgen beim Frühstück. »Ich möchte mit Michaela zum Reiten gehen.«

»Ich habe gehofft, du hilfst mir dabei, den Lift zu reparieren«, wandte Sandie ein.

»Vielleicht heute Nachmittag.« Gerry setzte eine unschuldige Miene auf. »Tut mir echt leid, Alter, wenn du gestern etwas davon gesagt hättest …«

»Da wusste ich es selbst noch nicht«, erklärte Sandie mit einem Seitenblick auf Corinna. »Deine Mutter hat sich das in den Kopf gesetzt. Na, macht nichts, ich komme auch alleine damit klar.«

»Zuerst reparierst du die Schublade, ja?«, warf Corinna ein. »Ich habe mich schon ein paar Mal daran angeschlagen.«

»Bist du schon mal auf die Idee gekommen, sie auszuräumen?«

»Ja, stell dir vor.« Sie bemühte sich, den giftigen Tonfall zu unterdrücken, der sich in ihre Stimme schleichen wollte. Sandie war sehr geschickt in handwerklichen Dingen und half überall bei seinen Freunden bereitwillig aus. Doch zu Hause ließ er nötige Reparaturen gerne schleifen und das ärgerte sie. »Hat aber nichts geholfen«, fügte sie hinzu.

»Wenn du weißt, dass sie von alleine aufgeht, musst du eben immer damit rechnen, dass sie es auch tut.«

Corinna setzte zu einer genervten Antwort an, doch Sandie hatte sich bereits Sandra zugewandt, die ihm ihren Traum erzählen wollte.

Nach dem Frühstück ließ er seinen Rollstuhl ein Stück zurückrollen, um ihn dann mit Schwung herumzudrehen. Schweigend beobachtete Corinna, wie hinter ihm, vielleicht ausgelöst durch die schwache Erschütterung des Bodens, die defekte Schublade leise und ohne Vorwarnung aufglitt. Als er sich umdrehte, knallte er mit der Schulter gegen die Kante der Lade.

»Aua«, stöhnte er, rieb sich die Schulter und rammte mit der anderen Hand zornig die Schublade zu. Unbeeindruckt von seinem Wutanfall glitt sie wieder auf.

»Reparierst du sie jetzt?«, fragte Corinna sanft.

Er sah sie finster an. »Du hast das doch gesehen, oder?«

»Natürlich. Aber wenn du dich nur von den Tatsachen überzeugen lässt, sollst du sie auch haben. Du weißt doch, dass die Schublade von selbst aufgeht, also musst du auch damit rechnen, dich anzuschlagen.«

Unwillkürlich musste Sandie lachen. »Erinnere mich daran, mich nie auf ein rhetorisches Duell mit dir einzulassen.« In einer gespielt hilflosen Geste hob er die Hände. »Leider steht mein Werkzeug im Keller«, wandte er ein. »Und wie du weißt, ist der Lift kaputt.«

»Sandra, kannst du bitte Papas Werkzeugkoffer aus dem Keller holen?«, bat Corinna ihre Tochter, die auch sofort losflitzte.

»Aber ich habe mir bestimmt die Schulter geprellt«, wagte Sandie einen letzten Versuch. »Sie tut so weh, dass ich sicher nicht arbeiten kann.«