Ehrgeiz, Demut, Glück - Chris Kraus - E-Book

Ehrgeiz, Demut, Glück E-Book

Chris Kraus

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Beschreibung

Ehrgeiz, Demut, Glück – seit über dreißig Jahren kreist Chris Kraus' Werk um diese Koordinaten. Sei es in ihren Essays zur Kunst, in denen zugleich die Kunst der Freundschaft Thema ist. Sei es in ihren berühmten Romanen oder den Texten über befreundete Schriftsteller:innen: Immer geht es um das unbedingte Streben, aus dem Wenigsten das Meiste zu machen – und um die zähe Überzeugung, selbst den widrigsten Umständen dieses Meiste abringen zu können. Mit einer Mischung aus Biografie, Autobiografie, Fiktion, Kritik und Gespräch erfindet Chris Kraus in den hier versammelten Texten eine neue Form der anthropologischen Erkundung: Ein Bericht über die Sex Workers' Art Show Tour reiht sich an eine Reportage über experimentelle Kleinstgalerien. Der Besuch bei einer autodidaktischen Tänzerin in der mexikanischen Wüste folgt Kraus' eigenen Erinnerungen an die Gründung des von ihr mitgeleiteten Theorie-Verlages Semiotext(e). Einblicke in ihre Zeit als Oben-ohne-Tänzerin sind zugleich Porträts der Gentrifizierung New Yorks wie von Nischen fragiler Freiheit. Ausgewählt von den Schriftsteller:innen Kevin Vennemann und Heike Geißler, vermitteln die Texte Eindrücke in eine lebenslange Auseinandersetzung an den Rändern der Kunstwelt sowie mit den Verhältnissen, die darüber entscheiden, wer an diese Ränder gebannt ist. Chris Kraus' Texte sind weniger Kritik als ein Vorschlag, wie gegenwärtige Kunstproduktion durch Begehren und Umstände, Delirium, Klatsch, Zufall und Rache gelesen werden kann. Alle Kunst, so impliziert sie, ist eine soziale Praxis. Und trotz all ihrer Fehler bleibt die Kunstwelt, so Kraus, die letzte Grenze für den Wunsch, anders zu leben.

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CHRIS KRAUS

EHRGEIZ, DEMUT, GLÜCK – TEXTE ZU KUNST UND FREUNDSCHAFT

Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Heike Geißler und Kevin Vennemann

August Verlag

INHALT

Ehrgeiz, Demut, Glück

Du bist herzlich eingeladen, das letzte winzige Geschöpf zu sein

Freier machen

Umweg

Die neue Ordnung

Kelly Lake und andere Erzählungen

Nachbemerkung der Übersetzer*innen

Nachweise

Bibliografie

EHRGEIZ, DEMUT, GLÜCK

Dieses Gespräch erschien ursprünglich aus Anlass von The Shelf Project für eine Broschüre der Baltischen Triennale im Contemporary Art Centre (CAC) in Vilnius. Die Kuratorin Justina Zubaitė hatte uns, Hedi El Kholti und Chris Kraus, eingeladen, einige unserer Lieblingsbücher auszuwählen und sie als Teil einer größeren Ausstellung zu präsentieren. Wir entschieden uns für 35 Bücher und sprachen dann über einige von ihnen. The Shelf Project bestand aus den folgenden 35 Titeln:

Alles zerfällt von Chinua Achebe

Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago von Jane Addams

Vater Goriot von Honoré de Balzac

SauErde von John Berger

Die tote Gemeinde von Georges Bernanos

Telefongespräche von Roberto Bolaño

Zwei sehr ernsthafte Damen von Jane Bowles

Insensatez von Horacio Castellanos Moya

Leben und Denken wie die Schweine von Gilles Châtelet

Das nackte Brot von Mohamed Choukri

Die Schlampen von Dennis Cooper

Journal d’un innocent von Tony Duvert

Meine geniale Freundin von Elena Ferrante

Airless Spaces von Shulamith Firestone

Dem neuen Sommer entgegen von Janet Frame

Koma von Pierre Guyotat

The End of a Primitive von Chester Himes

Torpor von Chris Kraus

Three Month Fever von Gary Indiana

Notice von Heather Lewis

Fous d’Artaud von Sylvère Lotringer

Ein Sohn der neuen Welt von Mary McCarthy

Unseliges Wunder. Das Meskalin von Henri Michaux

Peyote Hunt: The Sacred Journey of the Huichol Indians von Barbara Myerhoff

Cool for You von Eileen Myles

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet von Herta Müller

Towazugatari von Go-Fukakusain no Nijō

Alma, or the Dead Women von Alice Notley

The Sad Passions von Veronica Gonzalez Peña

Die Preisgabe von James Purdy

Mercury von Ariana Reines

Huesos en el desierto von Sergio González Rodríguez

Absence Makes the Heart von Lynne Tillman

The Criminal von Jim Thompson

Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss

CHRIS KRAUS: Ich habe John Bergers SauErde ungefähr zur Zeit seines Erscheinens gelesen, 1979, 1980.1 Sein Buch Sehen war, als ich in Neuseeland studiert hatte, ein alter Liebling der Linken gewesen, und vielleicht auch überall sonst.2Sehen ist ein großartiges Buch, obwohl es oft dazu benutzt wurde, Diskussionen über bildende Kunst mit Leuten wie uns zu vermeiden, die nicht viel Ahnung hatten.

Jedenfalls befand sich der Autor und Kritiker Berger in Großbritannien auf einem der Höhepunkte seines Ruhms, als er entschied, mit seiner Familie in ein kleines Dorf in den französischen Alpen zu ziehen – nicht nur für den Sommer oder für ein Sabbatjahr, sondern dauerhaft. Er und seine Frau kauften einen kleinen Bauernhof, und sie arbeiteten auch auf den dazugehörigen Feldern. In der Einleitung zu SauErde beschreibt er sehr wortgewaltig seinen Wunsch, sich auf eine ländliche Kultur und Lebensweise einzulassen, bevor sie gänzlich verschwinden. Dieses Buch ist also eine Art Anthropologie, jedoch eine sehr literarische. Es ist von einer sehr persönlichen Dringlichkeit getrieben.

Ich weiß noch, wie ich in den frühen 90er-Jahren ein wundervolles Buch der Anthropologin Barbara Bode gelesen habe, die in das peruanische Gebirgstal Callejón de Huaylas gezogen war, in dem es wenige Monate zuvor ein katastrophales Erdbeben gegeben hatte. Sie hatte gerade ein Kind verloren und sehnte sich danach, ganz von ihrer Trauer umgeben zu leben. Ihr Buch No Bells to Toll zeigt sie zwar als ausgebildete Anthropologin, doch wenngleich sie als Fremde und Forscherin immer und umständehalber außerhalb dieser Kultur steht, wird sie als Trauernde zu einem Teil von ihr.3

In SauErde gibt Berger einige Geschichten wieder, die er in der Nachbarschaft gehört hat, aber auch selbst beobachtete Zwischenfälle. Das Material in SauErde wäre niemandem zugänglich gewesen, der sich auf der Durchreise nur mal so erkundigt – es basiert auf Vertrauen, das aus persönlichen Beziehungen entstanden war. Und, sicher: Lange genug vor Ort zu sein, um solche Beziehungen aufbauen zu können, bedeutete, andere Dinge aufgeben zu müssen. Das Buch ist sowohl bescheiden als auch grandios. Es gibt darin keinerlei Polemik, und Berger zieht keine strukturellen Schlüsse – doch natürlich sind sie dem Text eingeschrieben.

Als ich in den südlichen Adirondacks lebte, begegnete ich einer außergewöhnlichen Frau, Christine Macdonald, die die Stadtbibliothek von Glens Falls leitete. Sie war vom East Village in New York City nach Glens Falls gezogen, weil sie Teil einer ländlichen Kultur sein wollte, von der sie wusste, dass sie in ein paar Jahren verschwinden würde. Darüber hinausgehende Ambitionen hatte sie keine.

SauErde steht für mich exemplarisch für diese Idee des „investigativen“ Schreibens. Investigatives Schreiben ist unmöglich ohne Demut … Berger bleibt im Buch anwesend als der, der er ist, doch er gibt auch einen Teil von sich auf, um an Informationen zu gelangen. Dieses Eintauchen zeigt die Bereitschaft des Autors, sich durch die Erfahrung verändern zu lassen. Diese Methode scheint sich sehr von der Form des „persönlichen Essays“ zu unterscheiden, die in den letzten Jahren in den USA und in Großbritannien so beliebt geworden ist. Vielleicht geht es gar nicht so sehr um die Frage, ob es sich bei einem Text nun um Fiktion oder Nicht-Fiktion handelt, ob man in der ersten oder in der dritten Person erzählen soll – sondern vielmehr nur um Immersion. Du hast Gary Indianas Three-Month Fever ausgesucht, was ich für ein brillantes Beispiel dafür halte. Vor Kurzem hat Alessandro Berni ein Interview mit Indiana geführt und dabei Gore Vidal zitiert, um Garys Zugang zum Buch zu beschreiben: „Wenn du in das Gesicht eines Mörders oder einer Mörderin sehen willst, schau einfach in einen x-beliebigen Spiegel.“4

HEDI EL KHOLTI: Three-Month Fever war mir vom Künstler John Boskovich empfohlen worden. Garys Porträt von Andrew Cunanans fragiler Subjektivität gelingt es, zugleich emphatisch zu sein und ein hohes Maß an moralischer Integrität beizubehalten. Das Buch antizipiert und diagnostiziert eine Art psychische Malaise, die mittlerweile alltäglich geworden ist, bei der sich in Kinos, an Schulen, bei Marathons und andernorts regelmäßig „unerklärliche“ Gewaltakte vollziehen. Wenn die Täter*innen Muslime oder Muslimas oder Ausländer*innen sind, nennt man das Terrorismus, und man ermahnt uns, unsere „Lebensweise“ und unsere „Freiheit“ zu verteidigen, die von diesen Eindringlingen gefährdet werde. Wenn sie aber hier geboren sind, haben wir keine Erklärung. Und ich denke, das ist eine der Operationen, die das Buch durchführt. Mit großer Sorgfalt zeigt es die größeren sozioökonomischen Zusammenhänge, innerhalb derer sich die Geschichte entwickelt. Es stellt eine Vorlage zur Verfügung, mit der sich diese Ereignisse auch unabhängig vom Schrecklichen und Persönlichen betrachten lassen. Es ist die Geschichte von einer gescheiterten Assimilation, von einer Transplantation, die nicht verfängt, oder vielleicht nur von missverstandenen Zeichen, mit denen wir in Amerika bombardiert werden und die wir für selbstverständlich halten – deren Nuancen jedoch unglaublich schwer zu entziffern sein können, wenn du in einer anderen Kultur aufgewachsen bist. Die wenigen Seiten über Cunanans Kindheit in unmittelbarer Nähe zu etlichen Militärbasen im Landkreis San Diego, der auf eine Art als entleert und prekär dargestellt wird, sind auf herzzerreißende Weise schön und traurig. Cunanan versucht, als südamerikanischer Jude durchzugehen – was eine Verbesserung ist im Vergleich zu seiner Herkunft aus der philippinischen Unterschicht. Garys Porträt von Cunanan entlarvt seine Naivität. In der in sich geschlossenen und nur halb geouteten schwulen Community von La Jolla, einem wohlhabenden Vorort von San Diego, ist er in einem Narrativ gefangen, das er selbst nicht gänzlich begreift – es geht um Status, Geld, den äußeren Schein. Er verkörpert, was Klossowski als „lebendes Geld“ bezeichnet.5 Als sein Marktwert fällt, wird er von seinem Sugardaddy, Norman Blachford, fallen gelassen, der ihm eine Art illusorischen Schutz geboten hatte. Das führt dazu, dass Cunanans fragiles Ego zerbricht.

CK: Shulamith Firestone repräsentiert eine andere Art Außenseiterin – eine, der die Welt keinen Platz zugestehen will … obwohl sie die meiste Zeit ihres Lebens psychisch krank war und eben keine Serienmörderin. Ich habe Airless Spaces für Semiotext(e) ungefähr zu der Zeit redigiert, als ich an I Love Dick zu schreiben begann.6 Es war fast unheimlich – ich hatte gerade über Firestone nachgedacht, darüber, wie wichtig ihr bahnbrechendes Buch Frauenbefreiung und sexuelle Revolution für mich als Teenager gewesen war.7 Und dann kontaktierte mich eine jüngere Freundin von ihr. Sie sagte, dass Shulamith ein neues Buch geschrieben hätte, und erkundigte sich, ob wir uns das Manuskript ansehen wollten. Ich sagte: „Ja, natürlich, sofort!“ Das Buch war erschütternd traurig, aber auch perfekt. Nachdem sie ihre Karriere als „professionelle Feministin“ aufgegeben hatte, ging es mit Shulamiths Leben steil bergab. Sie hatte schizophrene Episoden und kein Geld, weshalb sie in den städtischen Einrichtungen von New York landete, meistens im Krankenhaus Bellevue. Diese kurzen Stücke, sie nannte sie „Vignetten“, handelten nicht von ihrer psychischen Erkrankung … sie erzählten die Geschichten anderer Patienten und davon, was in solchen Einrichtungen passierte … die kleinen und kleinlichen Hierarchien, die früher oder später in allen Institutionen entstehen.

HEK: Ja. Was ich an Airless Spaces liebe, ist, wie ökonomisch und unsentimental diese Vignetten sind. Die Aufzeichnungen spiegeln die Strukturen, die sie beschreiben. Und doch ist die Detailgenauigkeit wirklich erstaunlich für einen Text, der so kurz und so beherrscht ist. Ich erinnere mich an die Geschichte, die den Abschnitt „Nach der Anstalt“ eröffnet, wo eine Patientin eine Jeans kaufen und flicken lassen muss, vermutlich, weil sie während der Therapie zugenommen hat.8 Firestone verwendet die dritte Person, doch es wirkt, als könne es sich genauso gut um sie selbst handeln. Auf jeden Fall betont der Wechsel zwischen erster und dritter Person, dass diese Erfahrungen einerseits spezifisch, andererseits aber austauschbar sind. Die Geschichte, in der es ja eigentlich nur um einen einfachen Kaufvorgang geht, wird zu einer regelrechten Qual, und in ihrem Verlauf werden wir des gigantischen Aufwandes gewahr, der nötig ist, um nur irgendwie mitzuhalten, und wir bemerken all die Angst, die beim Versuch aufkommt, ein extrem fragiles Gleichgewicht zu bewahren. Wir begreifen die kräftezehrende Einwirkung der Medikamente, die permanente Angst vor einem Rückfall und schließlich die allgegenwärtige, tiefgreifende Erniedrigung, die dazugehört, wenn man in dieser Gesellschaft krank ist.

Insgesamt zeichnet das Buch nach, wie desillusioniert Firestones Generation in den späten 70ern von der radikalen Politik war. Die Geschichte über ihren Bruder, über seine Verwicklung in verschiedene religiöse Kulte und über seine spirituelle Suche, die im Selbstmord endet, bricht einem das Herz.

CK: Das ist ein immer wiederkehrendes Thema in vielen der Bücher, die wir bei Semiotext(e) veröffentlichen … die große Enttäuschung, die auf religiösen Glauben oder auf politisches Engagement folgt.

HEK: In diesem Moment schließt sich etwas, was Deleuze als „Eindringen des Werdens“ bezeichnet: zu einem Revolutionär ohne revolutionäre Zukunft zu werden.9 Für mich ist es interessant zu historisieren, was mit den Leuten an der vordersten Front geschieht, was nach ihrem Scheitern mit ihnen geschieht – das ist mir viel wichtiger als die Verharmlosung. Pierre Guyotats Koma macht Ersteres sehr gut.

CK: Koma beschreibt einen Zusammenbruch.

HEK: Ja, einen ganz ähnlichen Zusammenbruch, wie ihn auch Firestone erlebt hatte. Die letzten Zeilen des Buches bieten vielleicht eine Art Ruhepause:

Nach der Klinik, Eintritt in die sanfte Depression, die langsame Heilung: Die Belohnung für diese Durchquerung des Todes ist nicht das verzauberte Schloss, das man um den Preis seines Schweißes und Blutes gewonnen zu haben glaubt, sondern eine entzauberte Welt ohne merkliche Formen und Farben, es sind glanzlose Blicke, die einen nicht mehr sehen, Stimmen, die stets einem anderen gelten als einem selbst, der man von zu weit herkommt, es ist die tägliche Pflicht zu überleben, mit einem Herz, das einfach nur Blut pumpt, ein Blut, das nicht mehr wärmt. Man muss warten. Ohne Zorn. Fleißig essen, schlafen, sich waschen, ankleiden, gehen, jeden Tag: all das fast alleine, nicht einmal mit sich selbst zur Seite: Stoßweise, wenn auch ungeschickt, versuchen, wieder Mut zu fassen.

Geduld, Geduld.

Ende.10

Ich denke, wir reden über etwas, das gleichermaßen tiefgreifend und ambitioniert ist. Bescheiden in seiner Rahmensetzung, aber in der Intensität ambitioniert.

CK: Was Guyotat da schreibt, ist erstaunlich. Ich habe Chinua Achebes Alles zerfällt aus ähnlichen Gründen ausgewählt.11 Achebe ist ein großer, klassischer Autor, und ich mag alle seine Bücher, doch was in Alles zerfällt passiert, ist spektakulär: Die ersten drei Viertel des Buches entfalten sich langsam, nämlich in jenem ursprünglichen Zeitfluss, der vor dem Aufkommen des Christentums dominiert hatte. Dann aber beschleunigt sich alles – die Dorfkultur ist unwiederbringlich verloren, die Dörfler haben ihre primitive „Grausamkeit“ aufgegeben und sind zu einer europäischen Zeitwelt aus Zielen, Vergleich und Ängsten übergetreten. Es ist ähnlich wie das, was du über Airless Spaces sagst: Das Buch spiegelt die Strukturen, die es beschreibt.

HEK: Ich habe das Buch nicht gelesen, aber es klingt wirklich sehr gut.

CK: Wir könnten über die Bücher, die wir für dieses Regal ausgewählt haben, nun aber vielleicht auch in Bezug auf ihre Intensität sprechen. Diesen Sommer habe ich Catherine Laceys Niemand verschwindet einfach so gelesen.12 Ich konnte nicht anders, als es mit Janet Frames Dem neuen Sommer entgegen zu vergleichen, einem Roman, den ich ebenfalls für das Regal ausgewählt habe.13 Als Neuseeländerin, die versuchte, im London der 1960er-Jahre eine Karriere als Schriftstellerin zu starten, findet sich Frame in einem fremden Land entfremdet wieder. Sie war ungefähr dreißig Jahre alt und hatte fast ein Jahrzehnt in einem Krankenhaus in South Island verbracht – fälschlicherweise wegen einer psychischen Erkrankung eingesperrt; sie beschreibt diese Erfahrung in ihrem ersten Roman Wenn Eulen schrein.14 Frame war schmerzhaft schüchtern, und Dem neuen Sommer entgegen ist ein unerträglich detaillierter Bericht eines Wochenendes, das sie mit einem Journalisten verbringt, der nett sein wollte und sie eingeladen hatte, etwas Zeit mit seiner jungen Familie in ihrem Landhaus zu verbringen. Von dem Moment an, da die Erzählerin aus dem Zug steigt, wird jede noch so kleine Interaktion mit der Familie zu einer nahezu unüberwindbaren Tortur. Soll sie beim Abwasch helfen? Ist es in Ordnung, spazieren zu gehen? Das Buch war so qualvoll realistisch, dass Frame die Veröffentlichung bis nach ihrem Tod zurückhielt, als ihre identifizierbaren Gastgeber dieses Sommers entweder tot oder zu alt wären, um sich darum noch zu kümmern.

In Frames Welt ist großer Kummer – oder Wahnsinn – nie nur etwas, das für sich allein steht, sondern hochgradig sozial bedingt. Es gibt Tausende kleiner Ungewissheiten, mit denen man klarkommen muss, jeden Tag. Soll ich meine Zahnbürste im Badezimmer draußen liegen lassen? Was werden meine Gastgeber denken? Tue ich ihnen leid?

Der Unterschied zwischen Niemand verschwindet einfach so und Dem neuen Sommer entgegen wirkt fast politisch: Essenzialismus versus Materialismus. Niemand verschwindet einfach so zeigt ein isoliertes, fast autistisches Individuum, das auf ein einziges amorphes Ding reagiert, Schmerz und Trauer … Doch in Wirklichkeit ist Kummer – oder Wahnsinn – voll von qualvollen Wahlmöglichkeiten zwischen entweder A oder B, voller Mikrokontingenzen.

HEK: Das erinnert mich an Jane Bowles. Die Szene in Zwei sehr ernsthafte Damen, als Frau Quill in der Bar kein Geld hat, um die Rechnung zu begleichen – die psychischen Qualen, die sie durchmacht und die Bowles detailgenau beschreibt. Das ist so realistisch und lustig.15 Diese Art von Befangenheit über das Sein in der Welt, über das Sein in einer sozialen Welt, die weder Anfang noch Ende hat, ist notwendig für uns und deshalb in all diesen Büchern, die wir lieben, ein Thema.

CK: Oder wie Eileen Myles’ Cool for You. Die Erzählerin hatte als Kind immer in ein Sommercamp nach Neuengland reisen wollen, doch ihre Eltern konnten es sich nie leisten, sie mitfahren zu lassen. Schließlich geht sie als Betreuerin hin, aber ist dann vollkommen fehl am Platz. Am Showabend kommt sie auf die Idee, sich ein Gorillakostüm anzuziehen, und dann schämt sie sich in Grund und Boden, als sie begreift, dass das genau das ist, als was die Mädchen sie sehen: als einen großen, schwerfälligen Gorilla …16

HEK: Ich denke, derzeit verlangt die Kultur nichts anderes als fein säuberlich verpackte Geschichten über Leute, die auf ihrem Weg zum Glück Hindernisse überwinden …

CK: … und das Glück wird so sehr überbewertet.

HEK: Ich finde es bedrückend. Wie Tony Duvert in Journal d’un innocent schreibt:

Ich kann deshalb deutlich erkennen, was die glückliche Mehrheit von den Minderheiten trennt: Erstere leidet allein unter der Existenz Letzterer; wohingegen Letztere unter sich selbst leiden und – obwohl sie nur eine Handvoll sind – verhindern, dass ungetrübte Zufriedenheit herrscht. Deshalb muss man anderen ähneln, um glücklich zu sein, und man muss die Unterschiede zur Strecke bringen, um es zu bleiben.17

CK: Das Glück kommt, wenn es denn kommt, vollkommen unerwartet. Henri Michaux nimmt Meskalin, um in Ekstase zu geraten, empfindet jedoch die kristallinen Visionen der Droge als zutiefst repetitiv.18

HEK: Das klingt realistisch.

CK: Wie Balzac. Oder wie Jane Addams’ Buch Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago.19 Auf eine Art ist das Buch so merkwürdig – es ist ein autobiografischer Bericht über ihre Arbeit mit den Armen in einem Haus der Settlement-Bewegung im späten neunzehnten Jahrhundert. Ich meine, sie war schrecklich ernst, sie verehrte ihren Vater, aber was sie und ihre Freunde und Freundinnen mit der Settlement