I Love Dick - Chris Kraus - E-Book

I Love Dick E-Book

Chris Kraus

3,0

Beschreibung

Chris Kraus, eine gescheiterte Künstlerin, die unaufhaltsam auf die 40 zugeht, lernt durch ihren Ehemann den akademischen Cowboy Dick kennen. Dick wird zu ihrer Obsession. Völlig überwältigt von ihren Gefühlen schreibt sie zunächst eine Erzählung über ihr erstes Treffen, dann verfasst sie Briefe, die sie nicht abschickt, und auch Sylvère, ihr Mann, wird Teil dieses Konzept-Dreiers. Mal schreiben beide Dick gemeinsam, mal einzeln, doch während Sylvère irgendwann sein Interesse wieder verliert, verstrickt sich Chris immer mehr in die Abgründe ihrer eigenen Begierde. Chris Kraus hebt in ihrem mittlerweile in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzten und als Amazon-Serie verfilmten Roman die Grenzen zwischen Fiktion, Essay und Tagebuch auf und schuf damit gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein völlig neues Genre. Was die Autorin selbst als "Bekenntnis- Literatur" und "Phänomenologie der einsamen Mädchen" bezeichnet, ist weit mehr als das : Es ist der letzte große feministische Roman des 20. und der erste große Liebesroman des 21. Jahrhunderts.

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Chris Kraus

I

Love

Dick

Aus dem amerikanischen Englisch von Kevin Vennemann

Inhalt

Teil 1: Szenen einer Ehe

Teil 2: Jeder Brief ist ein Liebesbrief

Route 126

Die Exegese

Itzig-Kunst

Sylvère und Chris schreiben Tagebuch

Monster

Add It Up

Dick schreibt zurück

Danksagung

Ich möchte den folgenden Menschen danken, die mit ihrem Zuspruch und Rat geholfen haben: Romy Ashby, Jim Fletcher, Carol Irving, John Kelsey, Ann Rower und Yvonne Shafir. Außerdem danke ich Eryk Kvam für die Rechtsberatung, Catherine Brennan, Justin und Andrew Berardini fürs Korrekturlesen und die Faktenüberprüfung, den Lektoren Ken Jordan und Jim Fletcher, Marsie Scharlatt für einen Einblick in und hilfreiche Informationen zur Fehldiagnose von Schizophrenie; und Sylvère Lotringer wie immer für alles.

Teil 1

Szenen einer Ehe

3. Dezember 1994

Chris Kraus (39), experimentelle Filmemacherin, und Sylvère Lotringer (56), College-Professor in New York, essen gemeinsam mit Dick _____, einem Bekannten Sylvères, in einer Sushi-Bar in Pasadena zu Abend. Dick ist Kulturwissenschaftler, kommt ursprünglich aus England und hat seinen Wohnsitz vor Kurzem von Melbourne nach Los Angeles verlegt. Chris und Sylvère haben Sylvères Forschungstrimester in einer Hütte in Crestline verbracht, einer kleinen Stadt in den San Bernardino Mountains, etwa 90 Minuten außerhalb von Los Angeles. Weil Sylvère im Januar wieder unterrichtet, müssen sie schon bald nach New York zurückkehren. Während des Essens besprechen die Männer die jüngsten Entwicklungen postmoderner Theorie, und Chris, die keine Intellektuelle ist, bemerkt, dass Dick ihr wiederholt Blicke zuwirft. Dicks Aufmerksamkeit verleiht ihr ein Gefühl von Stärke, und als die Rechnung kommt, holt sie ihre Diners-Club-Kreditkarte hervor. »Bitte«, sagt sie. »Lasst mich bezahlen.« Im Radio wird für den San-Bernardino-Highway Schneefall angekündigt. Großzügig lädt Dick die beiden ein, die Nacht in seinem Haus in der Wüste des Antelope Valley zu verbringen, knapp 130 Kilometer entfernt.

Chris will aus ihrer Paarhaftigkeit ausbrechen, also erwärmt sie Sylvère für den Nervenkitzel einer Fahrt in Dicks prächtigem und uraltem Thunderbird Cabrio. Sylvère, der einen T-Bird nicht von anderen Vögeln unterscheiden kann und dem sowieso alles egal ist, willigt ein, wenn auch irritiert. Gesagt, getan. Voller Sorge beschreibt Dick ihr äußerst ausführlich den Weg. »Beruhig dich«, unterbricht sie ihn und lächelt. »Ich fahr dir einfach ganz dicht hinterher«, und das tut sie dann auch. Sie ist ein wenig angeheitert, gibt gleichmäßig Gas und fühlt sich an ihre Performance Car Chase erinnert, die sie mit 23 im St. Mark’s Poetry Project in New York aufgeführt hat. Sie und ihre Freundin Liza Martin waren einem extrem gut aussehenden Porschefahrer ganz dicht einmal quer durch Connecticut über den Highway 95 gefolgt. Irgendwann fuhr er auf einen Rastplatz ab, doch als Liza und Chris ausstiegen, rauschte er davon. Die Performance war zu Ende, als Liza auf der Bühne aus Versehen, aber in echt, Chris’ Hand mit einem Küchenmesser durchstieß. Blut floss, und alle fanden Liza umwerfend sexy und gefährlich und wunderschön. Unter ihrem flauschigen, sehr knappen Top sprang ihr Bauch hervor, ihre Netzstrumpfhose riss am grünen Vinylminirock auf, und als sie sich zurückschwang, um ihren Schritt zu zeigen, sah sie wie die allerbilligste Hure aus. Ein Star war geboren. Niemand im Publikum fand jedoch Chris’ blasses anämisches Äußeres und ihren durchdringend starren Blick auch nur entfernt einnehmend. Wie hätte man auch? Eine Frage, die vorübergehend zurückgestellt worden war. Doch das hier war jetzt eine ganz andere Welt. Die Musikwunschleitungen von 92.3 The Beat brummten. Los Angeles nach den Unruhen, eine auf Glasfasernerven gefädelte Stadt. Dicks Thunderbird befand sich immerzu irgendwo in Sichtweite, die beiden Fahrzeuge waren über das steinerne Flussbett des Highways hinweg auf unsichtbare Weise miteinander verknüpft, so wie John Donnes Augäpfel. Und diesmal war Chris allein.

Bei Dick zuhause entfaltet sich die Nacht wie jener feuchtfröhliche Weihnachtsabend in Eric Rohmers Film Meine Nacht bei Maud. Chris bemerkt, dass Dick mit ihr flirtet. Seine unermessliche Intelligenz reicht weit über alle PoMo-Rhetorik hinaus und lässt eine grundsätzliche Einsamkeit erkennen, derer sich nur sie und er bewusst sind. Benommen erwidert Chris seine Blicke. Um zwei Uhr morgens spielt Dick ihnen ein Video vor, das im Auftrag des englischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens entstanden ist und in dem er als Johnny Cash verkleidet auftritt. Er spricht von Erdbeben und Aufständen und über sein rastloses Verlangen nach einem Ort, den er als Zuhause bezeichnen kann. Zwar formuliert Chris sie noch nicht aus, doch ihre Reaktion auf Dicks Video ist sehr komplex. Als Künstlerin findet sie Dicks Arbeit hoffnungslos naiv, sie hat jedoch ein Faible für bestimmte Formen schlechter Kunst. Für Kunst, die einen Einblick ermöglicht in die Hoffnungen und Wünsche ihres Schöpfers. Schlechte Kunst macht ihre Betrachter sehr viel aktiver. (Jahre später wird Chris begreifen, dass ihre Vorliebe für schlechte Kunst den starken Gefühlen entspricht, die Jane Eyre für Rochester empfindet, einen sehr durchschnittlichen, pferdegesichtigen Junkie: Üble Burschen machen erfinderisch.) Doch Chris behält diese Gedanken für sich. Weil sie sich so gut wie nie in theoretischer Sprache ausdrückt, erwartet niemand allzu viel von ihr, und längst hat sie sich daran gewöhnt, sich ganz allein für sich und schweigend an vielschichtigen Komplexitäten zu berauschen. Chris’ unausgesprochener Doppelsalto in Bezug auf Dicks Video führt dazu, dass sie sich nur noch mehr zu ihm hingezogen fühlt. Sie träumt die ganze Nacht von ihm. Doch als Chris und Sylvère am nächsten Morgen auf dem Schlafsofa aufwachen, ist Dick verschwunden.

4. Dezember 1994, 10 Uhr

Sylvère und Chris verlassen Dicks Haus, widerwillig und an diesem Morgen allein. Chris stellt sich der Herausforderung, eine dieser Dankesnotizen zu improvisieren, die man zurücklassen muss. Sylvère und sie frühstücken bei International House of Pancakes in Antelope. Weil die beiden nicht mehr miteinander schlafen, erhalten sie ihre Intimität via Dekonstruktion aufrecht, d. h. sie erzählen einander alles. Chris erzählt Sylvère, dass sie glaubt, dass Dick und sie soeben einen Konzeptfick erlebt haben. Dicks Verschwinden am Morgen danach habe diese Erfahrung lediglich vollendet und ihr einen subkulturellen Subtext verliehen, den Dick und sie nun miteinander teilen. Sie fühlt sich an all ihre verschwommenen Einmalficks mit Männern erinnert, die zur Tür hinaus waren, bevor sie die Augen öffnen konnte. Sie trägt Sylvère ein Gedicht von Barbara Barg zu diesem Thema vor:

What do you do with a Kerouac

But go back and back to the sack

with Jack

How do you know when Jack

has come?

You look on your pillow and

Jack is gone …

Und dann war da noch die Nachricht auf Dicks Anrufbeantworter. Als sie am Abend zuvor ins Haus kamen, zog Dick seinen Mantel aus, goss ihnen Drinks ein und drückte auf die Wiedergabetaste. Die Stimme einer sehr jungen, sehr kalifornischen Frau setzte an:

Hi Dick, Kyla hier. Dick, e-es tut mir leid, dass ich dich immer wieder zuhause anrufe, und jetzt habe ich deinen Anrufbeantworter dran, und ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut, dass gestern Nacht irgendwie nichts so richtig funktioniert hat, und – ich weiß, es ist nicht dein Fehler, aber ich glaube, dass ich dir eigentlich nur dafür danken wollte, dass du ein so netter Mensch bist …

»Das ist mir jetzt ziemlich peinlich«, murmelte Dick auf sehr reizende Weise, während er die Wodkaflasche öffnete. Dick ist 46 Jahre alt. Hatte diese Nachricht zu bedeuten, dass er am Ende ist? Und könnte er gerettet werden, falls er denn tatsächlich am Ende ist, indem er eine Konzeptromanze mit Chris einginge? War der Konzeptfick nur ein erster Schritt? Während der nächsten paar Stunden diskutieren Sylvère und Chris darüber.

4. Dezember 1994, 20 Uhr

Zurück in Crestline kann Chris nicht aufhören, über diesen Abend mit Dick nachzudenken. Also fängt sie an, eine Erzählung mit dem Titel Abstrakte Romantik zu schreiben, die von ihm handelt. Es ist ihre erste Erzählung seit fünf Jahren.

»Es begann im Restaurant«, beginnt sie. »Es war früher Abend, und wir lachten alle ein wenig zu viel.«

Immer wieder wendet sie sich in dieser Erzählung an David Rattray, weil sie überzeugt davon ist, dass Davids Geist während der Autofahrt letzte Nacht bei ihr war und ihren Pick-up-Truck über den gesamten Highway 5 vor sich hergeschoben hat. Chris, Davids Geist und der Truck waren zu einer einzigen sich vorwärts bewegenden Einheit verschmolzen.

»Letzte Nacht habe ich mich so gefühlt«, schrieb sie an Davids Geist, »wie ich es bisweilen tue, wenn sich mit einem Mal ganz neue und wahnsinnig aufregende Aussichten aufzutun scheinen – dass du hier warst: ganz dicht neben mir geschwebt bist, irgendwo zwischen meinem linken Ohr und meiner Schulter, so verdichtet wie ein Gedanke.«

Sie dachte andauernd an David. Es war geradezu unheimlich gewesen, dass Dick, als hätte er ihre Gedanken gelesen, irgendwann mitten in dem versoffenen Gespräch der letzten Nacht ganz unvermittelt sagte, wie sehr er Davids Bücher verehre. David Rattray war ein verwegener Abenteurer gewesen und ein Genie und ein Moralist, der bis zum Augenblick seines Todes im Alter von 57 Jahren regelmäßig den unmöglichsten Schwärmereien erlag. Und jetzt spürte Chris, wie Davids Geist sie dazu drängte, ihre eigene Schwärmerei zu begreifen und zu begreifen, wie der geliebte Mensch zu einer Warteschleife werden kann für all die zerfransten Enden sämtlicher Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken, die man in seinem Leben angesammelt hat. Also begann sie Dicks Gesicht zu beschreiben, »blass und lebhaft, gute Knochen, rötliches Haar und tiefliegende Augen«. Während sie schrieb, behielt sich Chris sein Gesicht vor Augen, und dann klingelte das Telefon, und es war Dick.

Chris schämte sich schrecklich. Sie fragte sich, ob er nicht eigentlich für Sylvère anrief, doch Dick erkundigte sich gar nicht nach ihm, also blieb sie in der kratzenden Leitung. Dick rief an, um sein Verschwinden in der Nacht zuvor zu erklären. Er war früh aufgestanden und nach Pearblossom rübergefahren, um sich ein paar Eier mit Speck zu holen. »Ich leide ein bisschen an Schlaflosigkeit, weißt du.« Als er ins Antelope Valley zurückgekehrt sei und festgestellt habe, dass sie weg waren, sei er ernsthaft überrascht gewesen.

An dieser Stelle hätte Chris ihm ihre eigene, weithergeholte Interpretation der Dinge darlegen können: Hätte sie es getan, wäre diese Geschichte anders verlaufen. Doch die Verbindung war zu schlecht und sie fürchtete sich ohnehin schon vor ihm. Fiebernd dachte sie darüber nach, ob sie ein nächstes Treffen vorschlagen sollte, tat es aber nicht, und dann legte Dick auf. Chris stand in ihrem provisorisch eingerichteten Büro und schwitzte. Dann rannte sie die Treppe hinauf, um Sylvère zu suchen.

5. Dezember 1994

Sylvère und Chris waren allein in Crestline und verbrachten den größten Teil der vergangenen Nacht (Sonntag) und dieses Morgens (Montag) damit, über Dicks Dreiminutenanruf zu sprechen. Warum zieht Sylvère das eigentlich alles überhaupt nur in Betracht? Möglich, dass Chris zum ersten Mal seit letztem Sommer wirklich lebendig und munter zu sein scheint, und weil Sylvère sie liebt, erträgt er es nicht, sie traurig zu sehen. Möglich, dass er mit seinem Buch über die Moderne und den Holocaust in einer Sackgasse gelandet ist, und dass es ihm davor graust, nächsten Monat an seine Lehrerstelle zurückkehren zu müssen. Möglich, dass er pervers ist.

6. bis 8. Dezember 1994

Dienstag, Mittwoch und Donnerstag dieser Woche verstreichen undokumentiert, verschwommen. Falls wir uns richtig erinnern, verbrachten Chris Kraus und Sylvère Lotringer die Dienstage dieses Trimesters in Pasadena und unterrichteten dort am Art Center College of Design. Wollen wir versuchen, ihre Tage zu rekonstruieren? Sie stehen um acht Uhr auf, fahren den Hügel hinunter, auf dem Crestline liegt, holen sich in San Bernardino Kaffee, nehmen den Highway 215 bis zum Freeway 10 und sind dann eineinhalb Stunden unterwegs, bevor sie unmittelbar nach dem schlimmsten Verkehr in L. A. ankommen. Wahrscheinlich sprachen sie den größten Teil der Fahrt über Dick. Und doch müssen sie, weil sie vorhaben, Crestline in weniger als zehn Tagen, am 14. Dezember, zu verlassen (Sylvère über die Feiertage nach Paris, Chris nach New York), auch kurz Logistisches besprochen haben. Eine ruhelose Sehnsucht … Sie fuhren durch Fontana und Pomona, durch eine bedeutungslose Landschaft, der eine sehr uneindeutige Zukunft bevorstand. Während Sylvère seine Vorlesung über den Poststrukturalismus hielt, fuhr Chris nach Hollywood, um einige Pressefotos für ihren Film abzuholen und Käse bei Trader Joe’s einzukaufen. Dann fuhren sie nach Crestline zurück und in Schleifen den Berg hinauf durch Dunkelheit und dichten Nebel.

Mittwoch und Donnerstag verschwinden. Ganz offensichtlich wird es Chris’ neuer Film nicht sehr weit bringen. Was soll sie als Nächstes tun? Ihre ersten künstlerischen Erfahrungen hatte sie in den Siebzigern gemacht, als sie an einer Reihe verdrogter Psychodramen mitwirkte. Die Vorstellung, dass Dick eine Art Spiel zwischen ihnen vorgeschlagen haben könnte, ist unglaublich aufregend. Sie erklärt es Sylvère wieder und wieder. Sie fleht ihn an, Dick doch anzurufen und nach irgendeinem Hinweis zu bohren, dass er an sie denkt. Und falls er das tut, würde sie ihn anrufen.

Freitag, 9. Dezember 1994

Sylvère ist ein europäischer Intellektueller, der Proust unterrichtet und sehr bewandert ist in der Analyse all der zahllosen winzigen Einzelheiten der Liebe. Doch wie lange kann man einen einzigen Abend und einen dreiminütigen Anruf auseinandernehmen? Sylvère hat bereits zwei unbeantwortete Nachrichten auf Dicks Anrufbeantworter hinterlassen. Und Chris hat sich in ein aufgekratztes Emotionsbündel verwandelt, das zum ersten Mal seit sieben Jahren sexuell erregt ist. Also schlägt Sylvère ihr am Freitagmorgen schließlich vor, dass sie Dick doch einen Brief schreiben solle. Weil sie sich schämt, fragt sie ihn, ob er ihm nicht auch einen schreiben möchte. Sylvère willigt ein.

Ist es normal, dass Ehepaare gemeinsam an Billets-doux arbeiten? Wären Sylvère und Chris nicht derart militant gegen die Psychoanalyse, hätten sie diesen Moment wohl als Wendepunkt betrachtet.

Beweisstück A:

Chris’ und Sylvères erste Briefe

Crestline, Kalifornien

9. Dezember 1994

Lieber Dick,

es muss der Wüstenwind sein, der uns in jener Nacht zu Kopf gestiegen ist, vielleicht auch der Wunsch, das Leben ein wenig zu fiktionalisieren. Ich weiß es nicht. Wir sind uns erst ein paar Mal begegnet, doch ich mochte dich sofort und verspürte den Wunsch, dir näher zu sein. Obwohl wir völlig verschiedener Herkunft sind, haben wir beide versucht, mit unserer Vergangenheit zu brechen. Du bist ein Cowboy. In New York war ich zehn Jahre lang Nomade.

Lass uns also noch einmal auf jenen Abend bei dir zuhause zu sprechen kommen: die herrliche Fahrt in deinem Thunderbird von Pasadena an das Ende der Welt, ich meine ins Antelope Valley. Es war ein Treffen, das wir fast ein Jahr lang immer wieder verschoben hatten. Und das nun sehr viel wahrhaftiger war, als ich es mir vorgestellt hatte. Doch wie bin ich da nur reingeraten?

Ich will über jenen Abend bei dir zu Hause sprechen. Ich hatte das Gefühl, dass ich dich irgendwie kenne und dass wir einfach das sein konnten, was wir gemeinsam sind. Doch jetzt höre ich mich schon so an wie die Tussi, deren Stimme wir in jener Nacht versehentlich auf deinem Anrufbeantworter gehört haben …

Sylvère

Crestline, Kalifornien

9. Dezember 1994

Lieber Dick,

weil Sylvère den ersten Brief geschrieben hat, finde ich mich nun in diese merkwürdig reaktive Rolle gedrängt – wie Charlotte Stant im Verhältnis zu Sylvère alias Maggie Verver, wenn wir in Henry James’ Roman Die goldene Schale leben würden. Die dumme Fotze, eine von allen Männern evozierte Emotionsfabrik. Also ist das Einzige, was mir zu tun bleibt, Die Geschichte von der dummen Fotze zu erzählen. Doch wie?

Sylvère glaubt, dass sie nichts weiter als eine perverse Sehnsucht nach Zurückweisung ist: die Liebe, die ich für dich empfinde. Doch ich bin anderer Meinung, im Grunde bin ich ein äußerst romantisches Mädchen. Was mich sehr berührt hat, waren all die Verletzlichkeiten, die sich auftaten in deinem Haus … So spartanisch und so selbstreflektiert. Das Cover der Some Girls-Platte, die düsteren Wände – wie altmodisch und déclassé. Doch ich habe eine Schwäche für die Verzweiflung, für die Zögerlichkeit – für ebenjenen Moment, in dem die große Show in sich zusammenfällt, in dem alle Ambitionen scheitern. Ich liebe diesen Moment und fühle mich schuldig, weil ich mir seiner überhaupt bewusst bin, doch dann werde ich von der wärmsten, unbeschreiblichsten Zuneigung erfüllt, mit der ich die Schuld ertränke. In Neuseeland habe ich aus diesen Gründen jahrelang Shake Murphy verehrt, der ein hoffnungsloser Fall ist. Doch gerade das bist du nicht: Du hast einen guten Ruf und einen Job, bist selbstreflektiert, und deshalb dachte ich, dass wir beide etwas lernen könnten, wenn wir diese Romanze auf eine wechselseitig selbstreflektierte Weise auskosten. Abstrakte Romantik?

Merkwürdig, dass ich mich niemals wirklich gefragt habe, ob ich überhaupt »dein Typ« bin (bisher nämlich, empirische Romantik, war ich nie der Typ von Cowboys, da ich weder hübsch noch mütterlich bin). Doch vielleicht kommt es jetzt einzig und allein darauf an, zu handeln. Was die Menschen miteinander tun, überschattet, wer sie sind. Wenn ich dich nicht dazu bringen kann, dich für das in mich zu verlieben, was ich bin, kann ich dein Interesse vielleicht mit dem wecken, was ich verstehe. Anstatt mir also die Frage zu stellen: »Würde er mich mögen?«, frage ich mich: »Macht er mit?«

Als du am Sonntagabend anriefst, war ich gerade dabei, eine Beschreibung deines Gesichts zu verfassen. Ich konnte nicht sprechen, und am unteren Ende der romantischen Gleichung legte ich mit klopfendem Herzen und schwitzigen Händen auf. Unglaublich, sich so zu fühlen. Zehn Jahre lang war mein Leben so organisiert, dass sich ebendieser schmerzhafte Elementarzustand verhindern ließe. Ich wünschte, ich könnte mit romantischen Mythen herumspielen so wie du. Aber das kann ich nicht, weil ich immer verliere und bereits im Verlauf dieser dreitägigen, völlig fiktiven Romanze begonnen habe, krank zu werden. Und ich frage mich, ob es jemals möglich sein wird, die Jugend und das Alter miteinander auszusöhnen oder die anorektische offene Wunde, die ich einmal war, mit dem Geld hortenden, hässlichen alten Weib, das ich geworden bin. Wir ermorden uns selbst, damit wir überleben. Gibt es irgendeine Hoffnung, dass wir auch im Leben in die Vergangenheit zurückschwimmen und zugleich um sie kreisen können, so wie man es in der Kunst kann?

Sylvère, der das hier tippt, behauptet, dass dieser Brief nicht wirklich etwas aussage. Welche Reaktion erhoffe ich mir? Er denkt, dass der Brief zu literarisch sei, zu baudrillardisch. Er sagt, ich quetsche all die zittrigen Kleinigkeiten heraus, die er doch so rührend fand. Dies sei nicht die Exegese der dummen Fotze, die er erwartet habe. Doch Dick, ich weiß, dass du, während du das hier liest, begreifen wirst, dass alles wahr ist. Du verstehst, dass das Spiel reale Realität ist oder sogar noch besser als die Realität und besser als das, worum es bei diesem Spiel geht. Welche Art Sex ist besser als Drogen, welche Art Kunst ist besser als Sex? Besser als bedeutet, sich in die vollkommene Intensität hineinzubegeben. Weil ich in dich verliebt bin, weil ich jederzeit bereit bin aufzuspringen, fühle ich mich wieder wie 16, als ich noch Lederjacken trug und mit meinen Freunden den ganzen Tag in dunklen Ecken herumlungerte. Ein verdammt zeitloses Bild, bei dem es darum geht, auf alles einfach einen Scheißdreck zu geben, keinerlei Konsequenzen zu fürchten, aber trotzdem etwas zu tun. Und ich glaube, dass du – so wie ich – immer nach genau diesem Zustand suchst, und es ist so aufregend, wenn man auf Menschen trifft, die auf derselben Suche sind.

Sylvère hält sich für einen solchen Anarchisten. Aber das ist er nicht. Ich liebe dich, Dick.

Chris

Doch als sie ihre Briefe beendet hatten, waren Chris und Sylvère überzeugt, dass sie es noch besser konnten. Dass noch nicht alles gesagt war. Also eröffneten sie eine zweite Runde, verbrachten den größten Teil des Freitags auf dem Wohnzimmerboden in Crestline und reichten sich den Laptop hin und her. Und sie schrieben jeweils einen zweiten Brief, Sylvère über die Eifersucht, Chris über die Ramones und die kierkegaardische zweite Entfernung. »Vielleicht möchte ich so sein wie du«, schrieb Sylvère, »und ganz allein in einem Haus inmitten eines Friedhofs leben. Ich meine, warum nicht die Abkürzung nehmen? Also habe ich tatsächlich zu fantasieren begonnen, auch auf erotische Weise, weil das Verlangen sogar dann lockt, wenn es nicht auf einen selbst ausgerichtet ist, und es ist voller Energie und Schönheit, und ich glaube, dass es mich angeturnt hat, dass du Chris angeturnt hast. Nach einer Weile wurde es schwer, nicht die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass ja nicht wirklich etwas geschehen war. Ich glaube, dass ich irgendwo in einer sehr dunklen Ecke meines Verstandes realisiert habe, dass ich, wenn ich denn schon nicht eifersüchtig bin, auf eine irgendwie perverse Weise doch immerhin zu einem Teil dieser fiktionalen Liaison werden muss. Wie sonst sollte ich ertragen, dass meine Frau in dich verknallt ist? Die Gedanken, die mir kommen, sind ziemlich geschmacklos: Ménage-à-trois, der bereitwillige Ehemann … Wir sind alle drei viel zu aufgeklärt, um uns mit solch trostlosen Archetypen abzugeben. Haben wir versucht, neue Wege zu beschreiten? Deine Cowboy-Persona und Chris’ Träume von all den zerrissenen und insgeheim verzweifelten Männern, die sie zurückgewiesen haben, griffen doch so gut ineinander. Die Tatsache, dass du auf unsere Nachrichten nicht antwortest, verwandelt deinen Anrufbeantworter in eine leere Fläche, auf die wir unsere Fantasien projizieren können. Gewissermaßen habe ich Chris also tatsächlich angespornt, weil sie sich nur deinetwegen eines sehr viel größeren Bildes entsann, nämlich wie sie sich letzten Monat nach ihrer Rückkehr aus Guatemala gefühlt hatte, und wir alle sind potenziell größere Menschen, als wir sind. Es gibt so viel, über das wir noch nicht gesprochen haben. Doch vielleicht wird man ja gerade so zu engeren Freunden. Indem man Gedanken austauscht, die nicht unbedingt ausgetauscht werden müssen …«

Chris’ zweiter Brief war weniger edel. Zu Beginn schwärmte sie noch einmal von Dicks Gesicht: »An jenem Abend im Restaurant fing ich an, dein Gesicht zu betrachten. – Oh wow, hört sich das nicht an wie die erste Zeile in dem Ramones-Song Needles & Pins? ›I saw your face / It was the face I loved / And I knew‹ – und ich fühlte mich wie immer, wenn ich diesen Song höre, und als du anriefst, begann mein Herz zu hüpfen, und dann dachte ich, dass wir vielleicht etwas miteinander machen könnten – etwas, das sich zum jugendlichen Verliebtsein genauso verhält wie das Ramones-Cover zum Original dieses Songs. Die Ramones verleihen Needles & Pins die Möglichkeit der Ironie, ohne dass diese Ironie die Emotionalität des Songs untergrübe. Sie macht sie noch stärker und wahrer. Søren Kierkegaard nannte dies »die zweite Entfernung«. In seinem Aufsatz Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin behauptet er, dass die knapp 14-jährige Julia von keiner Schauspielerin gespielt werden könne, die noch nicht mindestens 31 sei. Weil die Schauspielerei eine Kunst sei und weil die Kunst verlange, dass man in der Lage sein müsse, weit über sich hinauszuwachsen. Und mit den Schwingungen zwischen dem Hier und dem Dort und dem Damals und dem Jetzt zu spielen. Und denkst du nicht auch, dass man eine Realität am ehesten dialektisch erschafft? PS: Dein Gesicht ist lebendig, markant, schön …«

Als Sylvère und Chris ihre zweiten Briefe beenden, ist es später Nachmittag. Lake Gregory schimmert in der Ferne, umringt von schneebedeckten Bergen. Die Landschaft glüht und ist weit entfernt. Für den Moment sind beide zufrieden. Erinnerungen ans Familienleben, als Chris jung war, vor 20 Jahren: ein Eierbecher aus Porzellan und eine Teetasse, ein um sie herum gemalter Kreis aus Menschen, blau und weiß. Ein blauer Sperlingsvogel am Boden der Tasse, durch bernsteinfarbenen Tee erkennbar. Alles Hübsche dieser Welt, enthalten in diesen beiden Objekten. Als Chris und Sylvère den Toshiba-Laptop beiseitelegen, ist es bereits dunkel. Sie bereitet das Abendessen zu. Er arbeitet wieder an seinem Buch.

Beweisstück B: Hysterie

Teil I. Sylvère flippt aus

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

heute Morgen bin ich mit einer Idee aufgewacht. Chris sollte dir eine kurze Nachricht schicken und auf diese Weise aus ihrem dichten, referenziellen Delirium ausbrechen. Die Nachricht sollte folgendermaßen lauten:

»Lieber Dick, Mittwochmorgen bringe ich Sylvère zum Flughafen. Ich muss mit dir sprechen. Können wir uns bei dir treffen?«

In Liebe

Chris

Ich hielt diese Idee für einen Geniestreich: ein Stück Realität, das diese kranke Emotionsbrutstätte zertrümmert. Denn schließlich waren unsere Briefe ausschließlich an uns selbst gerichtet, Mariage-à-deux. Das ist übrigens der Titel, an den ich für diesen Text gedacht hatte, bevor ich schlafen ging, und als sie aufwachte, wollte ich mit Chris sofort darüber sprechen. Doch das ging nach hinten los. Nachdem wir gestern Abend Ideen gesammelt hatten, fuhr sie ihre Schwärmerei für dich etwas zurück. Sie war auf die sichere Seite zurückgekehrt – Ehe, Kunst, Familie, doch meine Bedenken entfachten ihre Obsession aufs Neue, und mit einem Mal wurden wir zurück in die Realität der Nichtrealität geworfen, in die Herausforderung, die allem zugrunde liegt. Nach außen hin, so sagt sie zumindest, hat dies mit Chris’ Unruhe zu tun, weil sie nämlich bald 40 wird. Ich habe Angst, dass meine Briefe zu hochgeistig und herablassend waren. Wie auch immer, lass es mich noch einmal versuchen –

Sylvère

Buschhäher krächzten vor den Schlafzimmerfenstern. Sylvère saß aufrecht mit zwei Kissen im Rücken, er tippte, blickte durch die Glastüren nach draußen über die Veranda. Wie oft sie auch versuchten, ihren Rhythmus zu verändern, begannen ihre Tage doch nur selten vor Mittag, wenn er und Chris zusammen schliefen. Während Chris noch döste, machte Sylvère für gewöhnlich den ersten Kaffee des Tages und brachte ihn ins Schlafzimmer. Dann berichtete Chris Sylvère zunächst von ihren Träumen und anschließend von ihren Gefühlen, und Sylvère war der beste, subtilste und assoziativste Zuhörer, den sie jemals finden würde. Dann ging Sylvère in die Küche, um einen zweiten Kaffee und etwas Toast zu machen. Als das Koffein zuschlug, verlagerte sich das Gespräch, wurde allgemeiner, drehte sich um alles und um alle, die sie kannten. Sie mochten die Anspielungen und Verweise des jeweils anderen, und miteinander fühlten sie sich um ein Vielfaches klüger. Sylvère und Chris gehörten zu den fünf belesensten Menschen, die sie jeweils kannten, ein echtes Wunder, weil keiner von beiden auf eine gute Uni gegangen war. Mit ihm fühlte sie sich so friedlich. Sylvère, Sylvalium, akzeptierte sie vorbehaltlos, und sie trank kleine Schlucke Kaffee, um ihren Kopf von den Morgenträumen zu befreien.

Sylvère träumte nie und wusste nur sehr selten, was er fühlte. Also spielten sie manchmal ein Spiel, das sie entwickelt hatten, um ihm behutsam seine Gefühle zu entlocken: das objektive Korrelat. Wer war Sylvères metonymischer Spiegel? Einer seiner Studenten, eine seiner Studentinnen? Ihr Hund? Der Typ von Dart Canyon Storage?

Wenn sie gegen elf nun endlich ganz aufgewacht waren, erreichte die Unterhaltung normalerweise mit einer hitzigen Debatte über Schecks und Rechnungen ihren Höhepunkt. Solange Chris Independent-Filme drehte, würden sie ewig mit ihrem Geld jonglieren müssen, ein paar Tausender hier, ein paar dort. Chris hatte einige Zeit darauf verwandt, Langzeitmietverträge für drei Wohnungen und zwei Häuser aufzukaufen oder anderweitig zu erwerben, die sie mit Gewinn weitervermieteten, während sie selbst sich in Dreckslöchern auf dem Land verkrochen. Sie hielt Sylvère über den Status ihrer Hypotheken, Steuern, Mieteinkünfte und Reparaturrechnungen auf dem Laufenden. Und glücklicherweise, ganz unabhängig von diesem primitiven Vorstoß in das Reich der Akquise, wurde Sylvères Karriere mit Chris’ Hilfe einträglich genug, um die Verluste auszugleichen, die die ihre nach sich zog. Die Hardcore-Feministin Chris sah sich häufig selbst dabei zu, wie sie an einem großen elisabethanischen Glücksrad drehte, bei dem Gedanken lächelnd, dass sie sich von ihrem Ehemann würde unterstützen lassen müssen, um weiterhin Kunst machen zu können. »Wer ist hier unabhängig?«, verlangte Isabelle Hupperts Zuhälter zu wissen, während er ihr auf dem Rücksitz eines Autos in Sauve Qui Peut den Arsch versohlte. »Die Haushälterin? Der Bürokrat? Der Banker? Nein!« Doch! War im Spätkapitalismus denn nur irgendwer so richtig frei? Sylvères Fans waren zumeist junge weiße Männer, die sich zu den »transgressiveren« Elementen der Moderne hingezogen fühlten, zu den heroischen Wissenschaften von Menschenopfern und Folterritualen, die erstmals durch Georges Bataille legitimiert worden waren. Mit Tesafilm klebten sie Fotokopien des berühmten Fotos Tod der 1000 Schnitte aus Batailles Buch Die Tränen des Eros auf ihre Notizbücher – ein Königsmörder, den französische Anthropologen 1905 in China auf Gelatine-Trockenplatten aufgenommen hatten. Die Bataille Boys wollten Seligkeit noch in der qualvollen Miene des Opfers entdecken, dem der Henker auch das letzte verbliebene Glied absägte. Doch noch weniger entschuldbar war die Tatsache, dass sie Chris gegenüber häufig sehr unverschämt waren. Nach seinen Vorträgen in Paris, Berlin und Montréal gingen die Boys mit Sylvère Lotringer noch in Bars, um sich weiter mit ihm auszutauschen, und sie ärgerten sich über alles, das ihnen den Zugang zu dem großen Mann verwehrte (vor allem, wenn es sich bei einem solchen Hindernis um eine Ehefrau handelte, die nicht einmal sonderlich verlockend war). Chris reagierte auf derlei, indem sie Sylvères wachsende Reputation zu Geld machte und immer noch höhere Gagen forderte. Ob das Geld aus Deutschland und die 2000 Dollar aus Wien wohl ausreichten, um ihre Filmlaborrechnung in Toronto zu begleichen? Nein. Sie sollten Dieter noch um einen zusätzlichen Tagessatz anschnorren. Und so weiter. Gegen Mittag, nach Kaffee Nummer drei, viel zu aufgedreht, um noch an irgendetwas anderes als an Geld denken zu können, setzten sie sich ans Telefon.

Dicks Anwesenheit in ihrem Leben bot etwas Erholung von solchen Machenschaften. Sie bedeutete einen Vorstoß in Machenschaften ganz anderer Art. An jenem Samstag, als sie ihren Morgenkaffee tranken, planten sie bereits eine zweite Runde von Briefen, jonglierten Sylvères Laptop zwischen Toast und Kaffeetassen hin und her. Sylvère, ein großartiger Korrekturleser, mochte den Klang seines ersten Briefs nicht. Und deshalb schrieb er:

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

letzte Nacht schlief ich ein, als mir ein großartiger Titel für unseren Text einfiel: Ménage-à-deux. Doch als ich aufwachte, schien er viel zu offensichtlich und eigentlich auch ziemlich bescheuert. Waren Chris und ich diese vergangene Woche allein deshalb so aufgewühlt gewesen, nur um unser Leben in einen Text zu verwandeln? Während ich Kaffee machte, fiel mir die perfekte Lösung ein, eine Möglichkeit, die Karten ganz neu zu mischen. Denn Dick: Chris und ich haben darüber debattiert, ob wir die Briefe abschicken sollen, die wir dir gestern Abend geschrieben haben. Es handelt sich dabei um eine vollkommen verrückte Destillation unseres Geisteszustands, und du, armer Dick, verdienst es nicht, einer solchen masturbatorischen Passion ausgesetzt zu werden. Ich stelle mir vor, wie unsere 14 Seiten Zeile für Zeile aus deinem einsamen Faxgerät herauskommen. Überhaupt darüber nachzudenken, sie abzuschicken, war schon verrückt. Diese Briefe waren nicht für dich bestimmt. Sie waren die dialektische Bewältigung einer Krise, die es nie gegeben hatte. Deshalb bin ich auf die Idee gekommen, dir den folgenden knappen Zwischenruf zu senden:

Lieber Dick, Mittwochmorgen bringe ich Sylvère zum Flughafen. Ich muss mit dir sprechen.

In Liebe

Chris

Was wirst du damit anfangen? Nicht antworten, wahrscheinlich!

Sylvère

Seit seinem neunzehnten Lebensjahr wollte Sylvère Lotringer Schriftsteller werden. Mit einem riesigen Kassettenrecorder fuhr er auf seiner Vespa über die Britischen Inseln und interviewte für ein kommunistisches Magazin aus Frankreich in fehlerhaftem Englisch sämtliche literarischen Größen – T. S. Eliot, Vita Sackville-West und Brendan Behan. Zum ersten Mal war er von seiner Familie aus Holocaust-Überlebenden, die auf der schäbigen Rue des Poissonniers lebten, getrennt, und dies war nun seine Freiheit. Zwei Jahre später, als er an der Sorbonne bei Roland Barthes studierte, schrieb er einen Essay über die historische Funktion des Erzählens. Er veröffentlichte ihn in einer prestigeträchtigen Literaturzeitschrift namens Critique. Der Rest war Geschichte. Seine. Er wurde Spezialist für Erzählungen, schrieb aber selbst keine. Als die französische Armee begann, Soldaten für den Algerienkrieg abzukommandieren, zog er zwischen Lehrtätigkeiten in der Türkei und Australien und schließlich Amerika hin und her. Nun, über dreißig Jahre später, schrieb er über Antonin Artaud und versuchte, Artauds Wahnsinn und den Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs auf irgendeine Weise miteinander zu verknüpfen. In all diesen Jahren hatte Sylvère niemals wirklich über etwas geschrieben, das er liebte, oder nur irgendetwas über den Krieg (was dasselbe ist). Und er erinnerte sich, wie David Rattray einmal über Antonin Artaud gesagt hatte: »Das ist wie die Wiederentdeckung der Wahrheiten des Gnostizismus; so wie die Vorstellung, dass dieses Universum verrückt ist …« Nun ja, Artaud war ziemlich verrückt, und das galt auch für David. Und vielleicht ist es ja so, dass Sylvère, anstatt lediglich unglücklich zu sein, schlichtweg ebenfalls verrückt ist? Also fuhr er fort:

»In jener Nacht mit dir fingen wir uns den Western-Virus ein. Deinen Virus. Ich mein, Chris und ich sind vernünftige Leute. Wir tun nichts ohne einen Grund. Also musst du verantwortlich sein. Ich habe das Gefühl, dass du uns in den vergangenen Tagen mit einem John-Wayne-Grinsen beobachtet und aus der Entfernung manipuliert hast. Ich verabscheue das wirklich sehr an dir, Dick. In unser Leben einzudringen. Ich mein, vor dieser Nacht lief es echt gut zwischen Chris und mir. Vielleicht nicht leidenschaftlich, aber komfortabel. Wir hätten ewig so weitermachen können, und dann kamst du, der Umherziehende, mit deinen ganzen expatriierten Philosophien, denen wir in den letzten 20 Jahren entwachsen waren. Das alles ist nicht wirklich unser Problem, Dick. Du führst ein Geisterstadt-Leben und infizierst alle, die dir nahekommen, mit einer Geisterkrankheit. Du kannst sie zurückhaben, Dick. Wir brauchen sie nicht. Hier ist noch ein Fax, das ich mir ausgedacht habe:

Lieber Dick, warum hast du uns das angetan?

Kannst du uns nicht in Ruhe lassen?

Du fällst in unser Leben ein – warum?

Ich verlange eine Erklärung.

Alles Liebe

Sylvère

Konnte man diese Briefe denn überhaupt abschicken? Chris sagte Ja, Sylvère sagte Nein. Wenn nicht, warum schrieben sie sie überhaupt? Sylvère schlug vor, solange weiterzuschreiben, bis Dick endlich zurückrief. O. k., dachte sie, und glaubte an Telepathie. Doch Sylvère, der nicht verliebt war, dafür aber Spaß an der gemeinsamen Arbeit mit Chris hatte, begriff, dass sie ihm wohl bis in alle Ewigkeit würden schreiben können.

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

wenn ich so drüber nachdenke, warum hast du uns am Sonntagabend überhaupt angerufen? An jenem Abend nach unserem »Date« mit dir im Antelope Valley. Du hättest doch dieser coole Typ sein sollen, der sonntagmorgens hinter seiner Schlafzimmertür eine Zigarette raucht und einfach nur darauf wartet, dass wir endlich verschwinden. Es hätte vollkommen deiner Rolle entsprochen, wenn du nicht angerufen hättest. Warum hast du also angerufen? Weil du im Grunde wolltest, dass es irgendwie weitergeht, nicht wahr? So eine billige Ausrede, dass du dir irgendwo Frühstück geholt hast! – Um halb acht Uhr morgens in dieser winzigen Stadt, wo der nächste Lebensmittelladen nur drei Minuten entfernt ist? Du hast drei Stunden gebraucht, Dick, um dir dieses verfluchte Frühstück zu holen. Wohin bist du also wirklich gefahren? Hast du dich hinausgeschlichen, um dieses Tussimädchen zu treffen, die ihre unterwürfige Nachricht auf deinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte? Kannst du wirklich keine einzige Nacht alleine verbringen? Oder warst du bereits dabei, gegen die Invasion dieser beiden zynischen räuberischen Freigeister in dein geistiges Universum anzukämpfen? Hast du versucht, dich zu verteidigen? Oder war das eine Falle, um mit deinem angeblich völlig unschuldigen Anruf die Schlinge am folgenden Abend dann zuzuziehen? Um ehrlich zu sein, hob ich an jenem Abend den Hörer einen Augenblick lang ab und hörte deine Stimme. Eine leise Stimme zumal, obwohl es doch um so viel ging. In den vergangenen Tagen hast du unser Schicksal in den Händen gehalten. Kein Wunder, dass Chris nicht wusste, was sie sagen sollte. Was spielen wir also, Dick? Du steckst schon viel zu tief drin, um dich auch weiterhin in der Entfernung zu verstecken, an deinen Nägeln zu kauen und Some Girls oder irgendwelchen anderen Mädchen zuzuhören. Du musst schon irgendwie fertigwerden mit dem, was du geschaffen hast. Dick, du musst auf das folgende Fax antworten:

Lieber Dick, ich glaube, du hast gewonnen. Ich bin vollkommen besessen von dir. Chris wird quer durch Amerika fahren. Wir müssen das besprechen –

Sylvère

Was hältst du davon, Dick? Ich verspreche, dir nichts zu tun. Ich mein, ich bin ja schon unterwegs nach Frankreich zu meiner Familie, und am Flughafen gibt es Sicherheitskontrollen. Ich kann es mir nicht leisten, mit einer Schusswaffe erwischt zu werden. Aber es ist an der Zeit, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Du kannst nicht einfach so die Leben anderer Menschen durcheinanderbringen.

Alles Liebe

Sylvère

Chris und Sylvère sitzen auf dem Boden und lachen hysterisch. Weil Chris 90 Worte pro Minute tippen kann, schauen sie und Sylvère sich an, während er spricht. Sylvère war noch nie so produktiv. Wenn er bei der Arbeit an seinem Buch Modernism & the Holocaust mit ungefähr fünf Seiten pro Woche vor sich hin dümpelt, ist er schon ganz aus dem Häuschen, wie schnell die Worte zusammenkommen. Sie wechseln sich ab, einander zu dick-tieren. Alles ist zum Totlachen, aus ihren Mündern und Fingerspitzen sprüht Macht, und die Welt steht still.

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

vor zwei Tagen sprachen Sylvère und ich darüber, wie man am besten eine Leiche verschwinden lassen könnte. Ich hielt ein Mietlager auf dem Land für den besten Ort. Diese Woche sind wir zu einer solchen Anlage hier in Crestline gefahren, und mir fiel auf, dass sich eine Leiche dort ziemlich unbefristet aufbewahren lässt, solange man nur die Miete pünktlich bezahlt. Sylvère jedoch wandte ein, dass die Leiche bald zu verwesen und stinken beginnen würde. Wir sprachen über verschiedene Kühlmöglichkeiten, doch wenn ich mich recht erinnere, haben die Lagerboxen keine Steckdosen.

Highway-Mittelstreifen sind berüchtigte Orte zur Leichenentsorgung und zudem auch deutliche Kommentare zur öffentlichen Architektur der 80er, denkst du nicht auch? So wie Selbstbedienungstankstellen (sagt diese Bezeichnung nicht eigentlich schon alles?) handelt es sich bei ihnen um einen viel und dennoch anonym befahrenen Ort, für den niemand so wirklich verantwortlich zu sein scheint. In Highway-Nähe sieht man nie jemanden picknicken, oder? Hier spielen keine Kinder. Mittelstreifen sind überhaupt nur von schnell fahrenden Fahrzeugen aus einsichtig: perfekte Bedingungen, um eine Leiche loszuwerden.

Ich interessiere mich schon lange für Zerstückelungen. Hast du mal von dem Mord an Monika Beerle im East Village gehört, etwa 1989? Der Fall war apokryph für die damaligen Zustände in New York. Monika war aus der Schweiz hergekommen, um bei Martha Graham Tanz zu studieren. Sie verdiente sich etwas dazu, indem sie Teilzeit oben ohne in Billy’s Lounge tanzte. Sie traf einen Typen namens Daniel Rakowitz, der vor ihrem Haus herumhing, und sie mochte ihn. Eins führte zum anderen, und sie bot Daniel an, bei ihr einzuziehen. Vielleicht konnte sie ja weniger tanzen, wenn sie sich mit jemandem die Miete teilte? Mit Daniel Rakowitz klarzukommen, war jedoch noch schwieriger als mit Billy’s Lounge. Er verschwand tagelang, dann brachte er reihenweise Gruppen verrückter Typen aus dem Park mit nach Hause. Sie sagte, er solle ausziehen. Doch Daniel wollte Monikas mietgeschützte Wohnung. Und vielleicht hatte er auch deshalb beschlossen, sie zu töten, weil der Stadtrat von New York inmitten der Aids-Krise eine Verordnung erlassen hatte, durch die sich der Mietvertrag eines Verstorbenen an seine Mitbewohner vererben ließ, auch wenn er nicht mit ihnen verwandt war. Oder vielleicht hatte er ihr auch nur versehentlich zu fest mit dem Besenstiel in die Kehle geschlagen. Doch auf einmal fand sich Daniel Rakowitz auf der 10th Steet allein mit ihrer Leiche wieder.

In Manhattan eine Leiche loszuwerden, muss sehr, sehr schwer sein. Es ist ja schon schwierig genug, ohne Auto oder Kreditkarte in die Hamptons zu kommen. Ein befreundeter Schreiner lieh ihm eine Kettensäge. Die Arme, Beine, den Kopf abschneiden. Er stopfte die einzelnen Körperteile in Müllsäcke und machte sich auf den Weg wie Santa Claus. Ein Bein tauchte am Port-Authority-Busbahnhof im Müll auf. Monikas Daumen fand sich in irgendeiner Wohlfahrtssuppe im Tompkins Square Park.

Und dann war da noch der Flugzeugpilot in Connecticut, der seine Frau tötete, einen gemieteten Häcksler auf die Ladefläche seines Pick-Up-Trucks lud und im Schneesturm mit dem Haut und Knochen wirbelnden Häcksler durch die Straßen von Newtown fuhr. Sylvère sagt, dass ihn diese Geschichte an die Romanze von Sir Perceval erinnere. Das viele Blut muss ein ganz schönes Spektakel gewesen sein.

Wo wir schon von Sylvère sprechen, inzwischen glaubt er, dass sich eine Leiche am ehesten beseitigen lässt, indem man sie unter einem Basketballkorb einzementiert. Das ginge vielleicht in einem Vorort (beispielsweise da, wo du wohnst). Das Grundstück, das ich besitze, liegt in der Stadt Thurman, Upstate New York, fast 5000 Kilometer von hier – obwohl, nächste Woche werde ich hinfahren.

Dick, ist dir eigentlich klar, dass du denselben Namen trägst wie das Mordopfer Dickie in Patricia Highsmiths Ripley-Büchern? Ein Name, der mit Unschuld und Amoralität konnotiert ist, und ich glaube, dass Dicks Freund und Mörder sich mit ganz ähnlichen Problemen wie den unseren konfrontiert sah.

In Liebe

Chris

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

am 15. Dezember werde ich Crestline verlassen, um mit unserem Pickup-Truck, unserem Hausrat und unserem Mini-Rauhaardackel Mimi zurück nach New York zu fahren. Sechs oder sieben Tage, fast 5000 Kilometer. Ich werde einmal quer durch Amerika fahren und dabei an dich denken. Das Kartoffelmuseum von Idaho, jede einzelne Sehenswürdigkeit, an der ich vorüberfahren werde, wird mich näher an die nächste heranziehen, und sie alle werden bedeutsam sein und lebendig, weil sie alle verschiedene Gedanken an dich auslösen werden. Wir werden diese Reise gemeinsam unternehmen. Ich werde nie allein sein.

In Liebe

Chris

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

ich wette, wenn so etwas wie das hier mit deiner Jane möglich gewesen wäre, hättest du nie mit ihr Schluss gemacht, oder? Beneidest du uns darum, wie pervers wir sind? Du bist so hochnäsig und voreingenommen, doch ganz tief in dir drin, so will ich wetten, würdest du gerne so wie wir sein. Wünschtest du nicht auch, dass du jemanden hättest, mit dem du es tun könntest?

Dein Freund

Sylvère

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

Sylvère und ich haben grade beschlossen, ins Antelope Valley hinauszufahren und diese Briefe um dein Haus herum zu verteilen und auf die Kakteen zu kleben. Ich bin noch nicht sicher, ob wir uns nicht gleich nebenan mit einer Videokamera (Machete) verstecken werden, um deine Rückkehr zu dokumentieren, doch wir sagen dir Bescheid, was wir vorhaben.

In Liebe

Chris

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

wir haben beschlossen, diese Korrespondenz zu veröffentlichen, und haben uns gefragt, ob du eine Einführung würdest schreiben wollen? Die könnte in etwa so lauten:

»Ich habe dieses Manuskript in der Schublade eines alten Küchenschranks gefunden, den ich auf der Tauschbörse in Antelope Valley gefunden habe. Es liest sich ziemlich schräg. Diese Leute sind eindeutig sehr krank. Ich glaube nicht, dass sich das Material zur Verfilmung eignet, weil keine der Figuren wirklich sympathisch ist.

Doch ich glaube, dass diese Briefe als kulturelles Dokument von Interesse sind. Ganz eindeutig drückt sich in ihnen die Entfremdung des postmodernen Intellektuellen in ihrer kränksten Form aus. Ich bedaure diese parasitischen Auswüchse wirklich sehr, die ausschließlich von sich selbst zehren …«

Was hältst du davon?

Alles Liebe

Sylvère

PS: Könntest du uns eine Ausgabe deines letzten Buches, The Ministry of Fear, per Express senden? Wir haben das Gefühl, dass wir, wenn wir denn schon für dich schreiben, uns mehr mit deinem Stil vertraut machen sollten.

In Liebe

Chris

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

Chris und ich haben den Morgen damit verbracht, mit unserem Computer in der Gegend herumzuliegen und dabei an dich zu denken. Glaubst du, dass diese ganze Sache für Chris und mich womöglich nichts anderes ist als ein Weg, endlich wieder Sex zu haben? Wir haben es heute Morgen probiert, doch ich glaube, wir hatten uns bereits viel zu sehr in unsere morbiden Fantasien verloren. Chris nimmt dich auch weiterhin sehr ernst. Sie glaubt, dass ich krank bin, und jetzt wird sie mich nie wieder anfassen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Bitte hilf –

Alles Liebe

Sylvère

PS: Wenn ich recht drüber nachdenke, scheinen mir diese Briefe ein neues Genre zu eröffnen, etwas irgendwo zwischen Kulturkritik und Belletristik. Du hast uns von deiner Hoffnung berichtet, den Studiengang Kreatives Schreiben an deiner Kunsthochschule auf diese oder ähnliche Weise umgestalten zu können. Soll ich in meinem Critical-Studies-Seminar aus unseren Briefen an dich vorlesen, wenn ich nächsten März vorbeikomme? Mir scheint, dass wir einen Schritt in Richtung ebenjener konfrontativen Performance-Kunst gemacht haben, die du doch so vehement unterstützt.

Gruß

Sylvère

Inzwischen war es zwei Uhr nachmittags. Sylvère war siegestrunken, Chris war verzweifelt. Sie hatte doch nichts anderes gewollt, in diesen letzten sieben Tagen, als eine Möglichkeit, Dick _____ zu küssen und zu ficken, und jetzt verblassten alle Hoffnungen. Ein Treffen zwischen ihnen rückte mit jedem weiteren Tag in immer weitere Ferne und es blieben ihr immer weniger Ausreden, um ihn anzurufen. Natürlich ließen sich die Briefe unmöglich abschicken. Und Sylvère war dermaßen begeistert von ihrer Arbeit und geradezu erregt von ihr und er wusste, dass all dies enden würde, wenn nicht bald wieder etwas geschähe und wenn es nicht bald zu einem nächsten Kontakt käme, mit dem sich Chris’ Erwartungen schüren ließen. Aus all diesen Gründen beschlossen die beiden, ein Fax zu senden.

Fax an: Dick _____

Von: Chris Kraus & Sylvère Lotringer

Datum: 10. Dezember 1994

Lieber Dick,