Eifel-Pakt - Peter Splitt - E-Book

Eifel-Pakt E-Book

Peter Splitt

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Beschreibung

Eifel-Pakt: Die Antiquitätenhändlerin Daniela Neumann ist als Spezialistin für ethnische Kunst weit über die Eifel hinaus bekannt, doch wenn sie allein ist, fühlt sie sich verfolgt und hat den Eindruck, ständig auf der Hut sein zu müssen. Als in ihrem unmittelbaren Umfeld mysteriöse Morde geschehen, ist sie davon überzeugt, dass es jemand in erster Linie auf sie abgesehen hat. In ihrer Verzweiflung sucht sie Zuflucht bei dem Reisejournalisten Roger Peters, ohne zu ahnen, dass der Mörder in Wahrheit wesentlich näher bei ihr ist, als sie es sich vorstellen kann. Doch eindeutige Spuren fehlen. Der etwas knochig wirkende Kommissar Laubach aus Daun versucht in seiner eigentümlichen Art und Weise herauszufinden, wer hinter den Verbrechen steht und schlägt prompt den falschen Weg ein.

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Peter Splitt

 

 

 

 

 

 

Eifel-Pakt

 

 

 

 

Splitt, Peter: Eifel-Pakt, Hamburg, ACABUS Verlag 2014

 

Originalausgabe

 

PDF-ISBN 978-3-86282-329-1

ePub-ISBN 978-3-86282-330-7

Print-ISBN: 978-3-86282-328-4

 

Lektorat: Elisabeth Hofmann, ACABUS Verlag

Cover: © Marta Czerwinski, ACABUS Verlag

Covermotive: blonde girl looks at the evening city near the river © prazis - Fotolia; A.Savin [CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or FAL], via Wikimedia Commons

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© ACABUS Verlag, Hamburg 2014

Alle Rechte vorbehalten.

http ://www.acabus-verlag.de

Printed in Europe

 

ERSTER TEIL

 

1

An einem klaren Morgen im August, der nur andeutungsweise von einem feinen Schleier über den grünen Hügeln der Eifel beeinträchtigt wurde, saß Wolfgang Ebersberger in seinem geräumigen Dachstudio und faltete Papierflugzeuge. Als Kaufmann verdiente er nicht schlecht und hatte sich vor einiger Zeit von seinen Erlösen das Fachwerkhaus aus dem 17. Jahrhundert am Rande des historischen Ortskerns von Monreal gekauft und liebevoll restaurieren lassen. In dem weiß-getünchten Untergeschoss waren jetzt Lagerräume untergebracht und oben, unter dem roten Fachwerkgiebel, befand sich das Paradestück: sein Büro.

Während er sich so kreativ betätigte, trank er Kaffee, rauchte Pfeife und nahm das eine oder andere Telefongespräch entgegen. Er hatte schon immer die Fähigkeit besessen, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun.

Kurz vor halb elf drückte er einen bestimmten Knopf an seiner Telefonanlage, um sich bei seiner Sekretärin, die in dem kleinen Vorzimmer hockte, bemerkbar zu machen.

„Komm doch bitte mal rein, Schätzchen.“

Ihr eigentlicher Name war Irene, aber er nannte sie einfach Schätzchen. Der Flieger war fast fertig und bis sein Lieferant eintraf, würde er sich mit ein paar Späßchen die Zeit vertreiben. Schätzchen war ein tüchtiges, aber übergewichtiges Mädchen, welches er sorgsam ausgesucht hatte. Stets stand am frühen Morgen eine Tasse mit frisch gebrautem Kaffee auf seinem Schreibtisch. Sie erledigte seine Korrespondenz, führte seine Telefonate und bügelte, falls es notwendig war, sogar seine Hemden. Dazu besaß sie dieses schmutzige Etwas, welches er an einer Frau so liebte. Sie trug viel zu kurze Röcke und Stöckelschuhe mit extrem hohen Absätzen. Manchmal, wenn er gerade über irgendwelchen Papieren saß und auf nichts und niemanden achtete, schlich sie sich an ihn heran.

„Herr Ebersberger“, pflegte sie dann zu sagen, drehte seinen Schreibtischstuhl zu sich herum, verbeugte sich vor ihm und hob ihren Rock bis zu den Hüften hoch. „Bekomme ich heute keinen Begrüßungskuss?“

Kennengelernt hatten sich Wolfgang und Irene auf einer Veranstaltung des Kleingartenvereins in Monreal. Das war an einem heißen Sommertag gewesen und die Frauen hatten enge Sommerkleider getragen. Hochgewachsen und sonnengebräunt, wie er war, hatte er sich die Aufmerksamkeit vieler Damen gesichert. Dann war die eher unscheinbare Irene erschienen und hatte ihn nach seinen Wünschen gefragt. Dabei hatte sie natürlich die Getränke gemeint, doch Wolfgang hatte mit dem Andeuten einer Verbeugung ihre Hand genommen und sofort das Funkeln in ihren Augen bemerkt. Später hatte er den Charmeur vom alten Schlage so perfekt gespielt, dass selbst Humphrey Bogart in Casablanca vor Neid erblasst wäre. Als sie ihm ein Eifelpils brachte, hatte er direkt und bestimmt zunächst ihre Hand, dann ihren Arm, ihre Schulter und ihre Hüfte berührt. Sie glühte, das hatte er sofort gespürt. In ihrem Fall war es gar nicht mehr notwendig, mit Raffinessen und Feingefühl vorzugehen. Diese Frau wollte einfach genommen werden und er beschloss, ihr seine Bereitschaft dazu so deutlich wie möglich zu signalisieren.

Nachdem er sein Bier getrunken und eine Frikadelle verspeist hatte, führte er sie von der allgemeinen Gesellschaft weg, indem er noch hier und da stehen blieb und sich irgendwelches Grünzeug anschaute. Danach verschwand er mit ihr durch eine Seitentür und gelangte auf jenen rustikalen Pfad, der hinter den urigen Fachwerkhäusern entlang bis hinunter zum Fluss führte. Als er sich sicher war, dass man sie von der Anlage aus nicht mehr sehen konnte, nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Irene ihrerseits steckte ihm ihre Zunge entgegen und schob beide Hände unter seine Leinenjacke. In dieser Position verblieben sie eine Weile, schleckten und knutschten was das Zeug hielt, bis Irene sich auf einmal verstohlen umschaute und ihn mit sich zog. Es ging in Richtung der Damentoilette, die sich in einem kleinen Anbau, direkt neben dem Vereinslokal, befand. Wolfgang hatte mit einer sexhungrigen Frau gerechnet, eine, die man leicht erobern konnte, aber nun musste er feststellen, dass ihre sexuellen Vorlieben mindestens genauso ausgefallen waren wie die seinigen. Ohne zu zögern bot er ihr die Stelle als Sekretärin an, und im Laufe der darauffolgenden Wochen wurde sie zu seiner festen Geliebten. In seinem Büro trieben sie fast alles, was ein Mann und eine Frau miteinander treiben konnten. Bald schon erkannte er, dass Irene all das, was sie für ihn tat, mit der aufrichtigen Freude einer Frau tat, die allzu lange auf ein erfülltes Liebesleben hatte warten müssen.

Auf den ersten Blick konnte man Wolfgang Ebersberger als einen glücklichen Menschen bezeichnen. Nicht nur, dass er beruflich sehr erfolgreich war und viel Geld verdiente; auch sonst hatte ihn das Leben stets verwöhnt. Er war überzeugter Single und die neunundvierzig Lebensjahre, die er bereits hinter sich gebracht hatte, sah man ihm nicht an. Seinen Gesundheitszustand hatten die Ärzte als gut bezeichnet, wenn man von einem leichten Übergewicht einmal absah. Dazu besaß er strahlend weiße Zähne, die Haare auf seinem Kopf waren noch seine eigenen und mit seinem gewinnenden Lächeln flogen ihm sämtliche Sympathien zu. Man mochte ihn, Männer ebenso wie Frauen. Kurzum, er war ein Mann in den besten Jahren seines Lebens.

„Wo sie nur bleibt?“

Zweifellos machte sie sich schön für ihn.

Zum Teufel mit den Weibern, dachte Wolfgang und drückte abermals auf den besagten Knopf. Nichts tat sich. Als er bereits aufgeben wollte, öffnete sich die Tür, durch die man von Irenes Vorzimmer direkt in sein Büro gelangte, und sie erschien. Ihren Mund hatte sie mit einem knallroten Lippenstift frisch geschminkt und die Schultern gestrafft, um ihre beachtliche Oberweite ganz besonders hervorzuheben.

„Was gibt’s, Boss?“

Als ob du das nicht wüsstest, du kleines Biest. „Ich würde gerne etwas Schönes sehen.“

„Haben Sie mich deshalb hereingerufen?“

„Aber sicher!“

„Und das ist alles, was Sie wollen?“

„Wie? Ist das denn etwa nicht genug?“

Sein Blick sprach Bände. Eine Weile hielt sie seinem Blick stand, dann legte sie die Hände auf die Hüften und kam auf seinen Schreibtisch zu. In diesem Moment läutete das Telefon.

Verdammt, ausgerechnet jetzt! Als er abnahm, fauchte ihn eine Frauenstimme wütend aus dem Hörer an.

„Ich mach dich fertig, Wolfgang! Ich schwör es! Wenn ich erst in Monreal bin, dann bist du dran.“

Die Dame, die ihn so ankeifte, war seine Geschäftspartnerin Daniela Neumann: Achtunddreißig, klein, blond und hübsch. In diesem Moment starrte sie finster auf den Monitor ihres Laptops, der aufgeklappt auf dem Verkaufstisch von N&E lag. N&E stand für Neumann und Ebersberger und war das Kürzel für den Antiquitätenladen, den sie gemeinsam mit Wolfgang betrieb. Und genau dem galt im Moment ihr ganzer Zorn. Aufgebracht berichtete sie ihm, was sich zugetragen hatte.

Wolfgang verzog keine Miene. Er atmete tief durch, bevor er etwas erwiderte.

„Ist er sich denn sicher? Ist sich Helmut denn wirklich ganz sicher, dass es sich um dasselbe Stück handelt? Ich meine, besteht denn keine Chance, dass er sich irrt?“

Daniela schnaufte in den Hörer.

„Mein Bruder ist sich absolut sicher! Es handelt sich genau um jene Maske, die vor ein paar Jahren aus einem peruanischen Museum gestohlen worden ist.“

Niedergeschlagen las sie ihm die Mail vor:

„Betreff: Zeremonielle Maske. Material: Gold. Provinz: Museo de la Nación Lima – Peru.

Die Maske weist die stilisierte Form der Moche-Kultur auf, wie man sie im Norden Perus gefunden hat. Sie stammt wahrscheinlich aus dem sechsten Jahrhundert nach Christus. Die langgezogenen Augenbrauen sind typisch für diese Periode. Diese Maske ist besonders wertvoll, weil sie so gut erhalten ist. Es tut uns sehr leid, aber es besteht absolut kein Zweifel, dass dieses Stück gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft worden ist.“

Wolfgang Ebersberger schüttelte den Kopf. „Und wer will das beurteilen?“

„Helmut ist ein international anerkannter Kunst-Experte, wenn ich dich daran erinnern darf. Du selbst bist es gewesen, der ihn zu Rate ziehen wollte. Die Maske steht auf der Liste gestohlener Kunstobjekte. Das kannst du dir sogar im Internet anschauen. Außerdem liegen in allen Auktionshäusern Kopien aus.“

Wolfgang war sprachlos. Mit einem Wink deutete er Irene an, sie möge den Raum verlassen. Für heute hatte er die Nase voll von irgendwelchen Spielchen. Durch den Telefonhörer bekam er mit, wie Danielas Laptop herunterfuhr.

„Sind wir jetzt fertig?“ fragte er.

Seine Partnerin nickte missmutig, ohne dass er es sehen konnte. Dann legte sie auf.

Wolfgang, du verdammter Kerl. Habe ich dir nicht immer gesagt, du sollst dir nichts andrehen lassen, was nicht vollständig dokumentiert ist. Sie schäumte vor Wut. Solch einen Fehler können wir uns einfach nicht leisten. Wenn ich dich in die Finger kriege. Gott, ich könnte ihn wirklich umbringen! Sie griff nach ihrer Strickjacke und der ledernen Handtasche. Beides hatte ihr Helmut zum Geburtstag geschenkt.

Nichts wie raus! Sie brauchte dringend frische Luft. Durch die Ausgangstür trat sie hinaus ins Freie. Ein schmaler, gepflasterter Weg schlängelte sich durch gepflegte Grünflächen, welche Geschäfte, Restaurants und Parkplätze miteinander verbanden. Noch immer war ihr ganz übel von dem Schreck. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt. Verdammt, verdammt, verdammt!

Für Passanten, die an ihr vorbeigingen, hatte sie keinen Blick übrig. Selbst an diesem heißen Augusttag war das Rondell äußerst beliebt, seit die Stadtväter von Gerolstein dieses exklusive Einkaufszentrum auf die grüne Wiese gesetzt hatten. Auch an den Wochenenden war es nicht ungewöhnlich, dass bereits am frühen Morgen Busse mit Tagesausflüglern aus Holland und Belgien die Parkplätze besetzten. Alle kamen zum Shoppen her, auch wenn man schon über eine gut gefüllte Geldbörse verfügen musste, wollte man hier so richtig einkaufen.

Daniela war eine der Ersten, die im Rondell einen Mietvertrag unterschrieben hatten. Instinktiv hatte sie gespürt, welche Vorteile es in sich barg, zu einer Geschäftskette zu gehören, die vorrangig als edel und hochqualitativ vermarktet wurde. Da sich die meisten der Händler auf irgendetwas spezialisiert hatten, gab es kaum Konkurrenz untereinander, auch wenn die Geschäfte immer zahlreicher wurden. Neben privaten Kunden bediente Daniela unter anderem Händler in anderen Landesteilen sowie im Ausland. Ihr Geschäft besaß einen soliden Ruf, auch wenn sie momentan eine gewisse Durststrecke durchmachte.

Bei dem Gedanken an ihren guten Ruf stieß Daniela einen schweren Seufzer aus und ging zurück in ihren Laden. Wütend drückte sie gegen die Eingangstür, bis sie aufsprang. Drinnen versuchte sie sich zu beruhigen. Mit einem Taschentuch wischte sie über eine Jugendstil-Anrichte, die links neben der Tür stand. Die Staubschicht war entsprechend dick.

Sie konnte es immer noch nicht fassen. „Verdammter Wolfgang“, murmelte sie immer wieder. „Ach zum Teufel mit dir. Mit deinem dummen Kauf hast du meine ganze Arbeit zunichte gemacht. Halt, nein. Stimmt nicht!“, sagte sie laut, während sie hinter die Verkaufstheke trat und begann, die goldene Maske mit einer speziellen Folie zu verpacken. „Mit dem weiteren dummen Kauf von dir!“

Über die Jahre hatte Wolfgang versucht, schnell reich zu werden. Danach war er des Öfteren mit sogenannter heißer Ware aufgeflogen. Aber so schlimm wie dieses Mal war es noch nie gewesen. Fünfzigtausend Euro! Gottverdammte fünfzigtausend Euro hat er für die Maske bezahlt! Die konnten sie jetzt bis an den Rand des Ruins bringen. Sie biss die Zähne zusammen. Noch immer hatte sie sich nicht beruhigt.

„Ich habe schon einen Käufer“, hatte er großspurig behauptet, als sie ihn angerufen hatte. „Mach dir bloß keine Sorgen, Daniela. Das ist ein völlig verrückter Sammler. Der bezahlt mindestens doppelt so viel für die Maske. Glaub mir, ich weiß schon, was ich tue.“

„Nein, Wolfgang! Du weißt eben nicht, was du tust! Am besten lässt du es einfach. Kauf bloß keine Antiquitäten mehr … Wolfgang? Hallo?“ Nichts, die Leitung war tot gewesen und natürlich hatte er auch nicht zurückgerufen. Ein paar Tage später war dann die Maske eingetroffen. Daniela hatte sie ausgepackt und die Probleme quasi gewittert, die da auf sie zukommen würden. Sie hatte sogar noch versucht, einen Archäologen zu Rate zu ziehen. Jemand, der wusste, wie man mit solch einem delikaten Fundstück umging. Aber so richtig genützt hatte es ihr nichts. Den Rat, sich des heißen Eisens so schnell wie möglich zu entledigen, hätte sie sich auch selber geben können.

Und trotz alledem hatten Wolfgang und sie vieles gemeinsam. Sie kannten sich von der Kunsthochschule. Wolfgang war dort Gastdozent gewesen und dabei hatten sie ihre gemeinsame Leidenschaft für alles Alte entdeckt. Dabei war der Gedanke an ein eigenes, anspruchsvolles Antiquitätengeschäft entstanden. Doch nach ihrem Examen hatten sie sich zunächst für einige Jahre aus den Augen verloren. Wolfgang war nach Peru gegangen und sie hatte für ein hiesiges Museum gearbeitet. Aber dann hatte er plötzlich vor ihrer Tür gestanden und von einem beträchtlichen finanziellen Polster gesprochen, das er nun in Antiquitäten investieren wollte. Und sie hatte ihn niemals gefragt, woher das Geld gekommen war oder ob er in Südamerika sein Glück gemacht hatte.

Und so hatten sie angefangen: mit seinem Geld und ihrem Fachwissen über Antiquitäten. Dazu kam noch ein gewisses Feingespür für eine spezielle Kundschaft, und das Geschäft boomte. So sehr, dass es sie bald ernährte und darüber hinaus noch etwas abwarf. Später hatte Wolfgang andere Ideen. Er war inzwischen so etwas wie ein stiller Teilhaber geworden und kümmerte sich ausschließlich um den Papierkram. Daneben ging er einem neuen Geschäft nach: Import und Export. Er importierte Waren aller Art aus Südamerika. Darunter befanden sich auch Antiquitäten, wovon er die besten Stücke selbst behielt, und den Rest Daniela in den Laden stellte. Die dadurch ständig wechselnden Auslagen brachten ihr eine zunehmende Stammkundschaft. Zusätzlich entwickelte sie beachtliche Fähigkeiten, wenn es um echte Schnäppchen ging. So hatte sie einmal auf einer Kunstauktion vier Bilder eines unbekannten Malers ersteigert, die sie für Werke von Otto Dix hielt. Sie war noch überrascht gewesen, dass sie überhaupt den Zuschlag bekommen hatte, aber die Bilder waren verstaubt und vergammelt gewesen. Doch ihre Einschätzung hatte sich als zutreffend erwiesen, und sie hatte mit dem Deal so viel Geld verdient, dass sie den Laden im Rondell anmieten konnte. Und sogar für neue Ware war noch etwas übrig gewesen, doch jetzt …

Sie tippte Wolfgangs Nummer in ihr Handy ein.

„Wolfgang, du bist tot, du Idiot“, zischte sie wütend, als seine Mailbox antwortete. „Wenn du auch nur einen Funken Verstand besitzt, dann bleibst du in Monreal, denn wenn ich dich zu fassen kriege …“

„Entschuldigung?“, ertönte eine verblüffte männliche Stimme hinter ihr.

„Oh!“ Daniela erschrak und drehte sich um. Schnell steckte sie das Handy in ihre Tasche. „Es tut mir leid, ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.“

Ein gut gekleideter Mann in den Vierzigern lächelte sie an. Seine Blicke ruhten einen Moment lang auf ihrem Gesicht, bevor sie über die ausgestellte Ware glitten.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte Daniela und legte vorsichtig die Folie mit der Maske in die Holzschublade unter der Theke.

„Ich dachte, Sie hätten möglicherweise präkolumbische Keramiken aus Südamerika“, sagte der Mann. „Ein Freund von mir hat neulich bei Ihnen eine Nazca-Keramik gekauft und meinte, Sie hätten vielleicht noch mehr davon?“

„Vor gut einer Woche?“

„Ja.“

„Beige mit bunten Mustern und einem Bügel?“

„Ja, ganz genau. So hat sie ausgesehen.“ Der Mann nickte. „Er hat mir gestern erst gezeigt, was er bei Ihnen gekauft hat.“

„Aber das ist ja ein Zufall.“ Daniela zwang sich zu einem Lächeln. „Ich habe tatsächlich ein paar neue Stücke hereinbekommen. Gerade eben. Sie sind noch nicht einmal ausgepackt. Damit wollte ich mir noch Zeit lassen, aber da Sie schon einmal hier sind und danach fragen, vielleicht möchten Sie …?“

Der Mann strahlte. „Oh ja, ich würde sie mir gerne ansehen.“

In diesem Moment wusste Daniela, dass er ganz bestimmt etwas kaufen würde.

Im Allgemeinen konnte sie ihre Kunden ganz gut einschätzen. Dieser Mann würde bestimmt nicht aus ihrem Laden gehen, ohne etwas von der neu eingetroffenen Ware erstanden zu haben. Sammler waren eben so. Und wenn es nur galt, vor den Kollegen mit einer neuen Akquisition zu prahlen.

Sie öffnete die erste Kiste, die ein Paketservice erst vor ein paar Stunden gebracht hatte, und begann die Keramiken auszupacken. Es war zwar keine Vase der Chavin-Kultur dabei, aber immerhin welche aus der Nazca-Epoche; und die würden auch einen guten Preis erzielen. Präkolumbische Ausgrabungsstücke erfreuten sich zunehmender Beliebtheit. Zum Glück hatte sie vorgesorgt und besaß einige ausgewählte Stücke in ihrem Sortiment. Allerdings würde sie jetzt die meisten davon verkaufen müssen, um Wolfgangs Fehler wieder auszubügeln. Seufzend stellte sie eine große Figur auf den Verkaufstisch. Mit dem Trottel würde sie sich später befassen. Im Moment musste sie irgendwie dafür sorgen, das Defizit wieder auszumerzen.

„Dieses Gefäß ist wirklich spektakulär.“ Sie setzte ihre Brille auf und erklärte in bester Verkaufstaktik: „Es stammt aus der späten Nazca-Epoche. Sehen Sie sich nur die feine Linienführung an.“

Das Telefon klingelte. Sie entschuldigte sich und ging ins Hinterzimmer, das ihr gleichzeitig als Büro diente, und nahm ab. Am anderen Ende der Leitung war ihr Bruder Helmut aus Bonn.

„Ich dachte, wir hätten abgemacht, dass du gestern Abend noch bei mir vorbeikommen solltest?“, sagte er emotionslos. Daniela seufzte stumm.

„Wir haben gar nichts abgemacht. Nur miteinander telefoniert.“

„Das weiß ich aber besser.“

Daniela hatte überhaupt keine Lust, sich noch mehr zu ärgern. Jedenfalls nicht über ihren Bruder.

„Ich schau in den nächsten Tagen mal bei dir rein“, sagte sie diplomatisch. „Aber mit Sicherheit hatten wir nicht abgemacht, dass ich gestern noch vorbeikommen sollte.“

„Na gut, vielleicht irre ich mich auch.“ Helmuts Stimme klang auf einmal erstaunlich milde.

„Sobald ich Zeit habe, komme ich bei dir vorbei. Aber jetzt muss ich Schluss machen. Ich habe gerade Kundschaft im Laden“, sagte Daniela und legte auf. Mein Bruder betreibt manchmal eine Art emotionaler Erpressung, dachte sie. Und das Schlimmste ist, dass er damit immer wieder bei mir durchkommt. Hoffentlich ist Rita heute etwas früher in ihrem Laden. Ich muss ihr unbedingt erzählen, was passiert ist. Na ja, ist eigentlich auch egal. Ich werde sie gleich anrufen. Die Aussicht auf einen ruhigen Nachmittag war dahin.

 

2

Auf der Straße, die am Gerolsteiner Stausee entlangführte, war es stockdunkel. Die Scheinwerfer ihres Autos reichten nicht weiter als bis zur nächsten Biegung. Daniela hasste dieses düstere Teilstück zwischen ihrem Zuhause in Birresborn-Rom und der Stadtbibliothek von Gerolstein, wo sie am heutigen Abend einen Vortrag gehalten hatte. Das Thema lautete: Präkolumbische Hochkulturen des alten Peru. Ihr spezielles Fachgebiet.

Noch immer konnte sie die Straße nicht entlangfahren, ohne an jenes Ereignis vor über einem Jahr denken zu müssen, als dieser Verrückte sie verfolgt hatte. Regelmäßig, wie aus dem Nichts, war Scheinwerferlicht hinter ihr aufgetaucht und hatte sie so geblendet, dass ihre Heimfahrt zu einem Höllentrip wurde. Und der endete schließlich für sie im Graben und danach im Krankenhaus. Und das war längst noch nicht alles gewesen.

Auch jetzt blickte sie ständig prüfend in den Rückspiegel, obwohl sie wusste, dass der Mann, der sie letztes Jahr bedrängt und belästigt hatte, sicher hinter schwedischen Gardinen saß.

Verkrampft setzte sie ihren Weg fort. Ein Fahrzeug kam ihr mit quietschenden Reifen entgegen. Sie zuckte zusammen und konnte sich gerade noch an ihr Lenkrad klammern. Ihr Wagen schlingerte. Verdammt, das war knapp! Jetzt war das andere Fahrzeug auf gleicher Höhe. Einige junge Typen grölten ihr etwas durch eine geöffnete Fensterscheibe zu. Dann gaben sie Gas und spurteten davon. Daniela war wieder allein. Angstschweiß benetzte ihre Stirn.

Ich muss nur noch die Zufahrt zu den Eishöhlen hinter mir lassen, dann habe ich es fast geschafft. Das Geräusch eines weiteren Wagens ließ sie aufhorchen. Dieser fuhr deutlich langsamer. Im Rückspiegel sah sie zwei Scheinwerferlichter auf sich zukommen. Ich glaube, jetzt spinne ich total. Am besten fahre ich einfach weiter. Auch wenn sie vor Angst zitterte, trat sie fast automatisch aufs Gaspedal. Ihr Wagen machte einen Satz nach vorne. Auch ihr Hintermann beschleunigte. Langsam fuhr eine dunkle Limousine an ihr vorbei. Daniela versuchte, möglichst unauffällig in das andere Fahrzeug hineinzuspähen, aber sie konnte den Fahrer nicht erkennen. Jetzt bremste er an dem Stoppschild weiter vorne, was sie an den aufleuchtenden Bremslichtern erkannte. Daraufhin blieb der Wagen stehen. Verdammt! Warum fährt er denn nicht weiter?

Sie spürte, wie sich ihre Muskeln verkrampften. Nun fahr schon los! Ob der Fahrer sie beobachtete?

Ihr Handy! Natürlich, das hatte sie ganz vergessen. Es befand sich in ihrer Handtasche auf dem Beifahrersitz. Noch während sie den kleinen Apparat hervorzerrte, ertönte lautes Motorengeräusch. Der Wagen vor ihr beschleunigte und verschwand.

Gott sei Dank! Daniela spürte, wie ihre Hände zitterten. Sie blickte hinter ihm her und kam sich selten dämlich vor. „Jetzt leide ich schon unter Paranoia“, sagte sie zu sich selbst, behielt aber das Handy fest in jener Hand, mit der sie eigentlich schalten wollte. Ihr Wagen ruckelte, dann stand er still. Abgesoffen! Auch ihr Handy rührte sich nicht. Ein Funkloch, so ein Mist! Aber wen könnte ich anrufen?

Sie betätigte den Anlasser. Ihr Wagen startete glücklicherweise sofort wieder. Langsam fuhr sie weiter und hielt an dem Stoppschild, wo auch der andere Wagen zuvor angehalten hatte. Alles war still. Ihre Füße brannten, als sie beschleunigte, um die freie Tankstelle zu passieren, die jetzt auf der rechten Seite in ihr Blickfeld kam. Tagsüber tummelte sich hier das wahre Leben. Zu dieser Stunde jedoch war die Tankstelle geschlossen und lag verlassen da. Schnell weiterfahren.

Trotzdem beschlich sie wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. An den Zapfsäulen war niemand, bloß ein dunkler Wagen. Komisch, der ist mir zuvor noch gar nicht aufgefallen. Großer Gott, ist das etwa derselbe Wagen von vorhin?

Daniela gab Gas. Nichts wie weg! Der fremde Wagen fuhr ebenfalls los. Ohne Licht. Verzweifelt wählte sie mit der linken Hand den Notruf und hielt sich das Handy ans Ohr, während sie mit der rechten das Lenkrad dirigierte. Immer noch kein Empfang. Es ertönte kein Freizeichen und das Display zeigte an, dass der kleine Apparat nach einem Netzt suchte. Verfluchte Eifel!

Jetzt war der andere Wagen auf ihrer Höhe und fuhr langsam neben ihr her. Die Scheiben waren abgedunkelt. Ganz offensichtlich spielte der Fahrer mit ihrer Angst.

Sie hielt das Handy vor ihren Mund und tat so, als würde sie telefonieren. Plötzlich beschleunigte der Wagen wieder und verschwand in der Dunkelheit vor ihr.

Nur noch ein kleines Stück weiter.

Rechts flackerte eine Straßenlaterne. Irgendetwas stimmte nicht mit der Birne. Sie ging immer an und aus. Als sie daran vorbei war, piepste das Handy. Endlich! Das kleine Ding hatte ein brauchbares Netz gefunden. Aber jetzt brauchte sie es nicht mehr. Sie war bald zu Hause. Das Örtchen Rom erschien nach einer scharfen Kurve und zählte vielleicht ein Dutzend Häuser. Sie fuhr die Anhöhe hinunter und bog in ihre Einfahrt ein. Dabei schaute sie sich noch ein letztes Mal nach der dunklen Straße um, die jetzt hinter ihr lag. Da war keine Menschenseele zu sehen. Sie wusste, dass niemand hinter ihr her war, aber sie kam einfach nicht dagegen an. Ständig musste sie sich umdrehen.

Nachdem sie vor über einem Jahr von diesem Kerl verfolgt, belästigt und in Angst versetzt worden war, hatte sie sich sehr verändert. Die einst so charakterfeste Frau, die es liebte, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, vermied jetzt öffentliche Auftritte, wo es nur möglich war. Eine Ausnahme blieben ihre Vorträge in Gerolstein, zu denen sie sich verpflichtet fühlte. Ansonsten beließ sie es beim Schreiben gelegentlicher Kolumnen für das lokale Heimatblatt.

Daniela parkte ihren Wagen auf dem kleinen Vorplatz und eilte die Vordertreppe zu ihrem Fachwerkhaus hinauf, das früher einmal eine Weinkellerei beherbergt hatte. Als sie näher kam, reagierten die Bewegungsmelder sofort und die breite Fensterfront wurde hell erleuchtet. Nun gab es keine Dunkelheit mehr, in der sich jemand verbergen konnte. Mit einem Schritt war sie beim Briefkasten, der neben der Haustür hing, und griff nach der Post. Eilig überflog sie die Briefumschläge. Werbung, was sonst?

Etwas fiel zu Boden. Eine Rose. Jemand musste sie an den Türrahmen gestellt haben. Daniela verzog das Gesicht, bückte sich, hob sie auf und warf sie über das Treppengeländer.

Innen trat sie in eine bereits hell erleuchtete Diele, die Wohnzimmer, Esszimmer und Küche miteinander verband und in einen kleineren Flur mündete. An seinem Ende befand sich eine Treppe, die hinauf in den zweiten Stock führte, wo sich ihr Arbeitszimmer, das Bad und die Schlafzimmer befanden. Fast automatisch schaute sie auf ihr Telefon. Das blinkende Licht des Anrufbeantworters fiel ihr ins Auge. Geistesabwesend drückte sie auf Wiedergabe, während sie nachschaute, ob sich zwischen ihrer Post nicht doch noch etwas Interessantes befand. Klick, aufgelegt.

Sie blickte auf das Display. Unbekannte Nummer. Sicher hatte sich jemand verwählt. Der zweite Anruf kam von einer dieser lästigen Telemarketing-Firmen. Die nerven einen also schon, obwohl man gar nicht zu Hause ist. Der dritte Anrufer hatte nicht sofort aufgelegt. Ganz deutlich konnte sie sein schweres Atmen hören. Wieder begannen ihre Hände zu zittern. Sie legte langsam die Post auf das Tischchen neben dem Telefon und setzte sich auf eine der unteren Treppenstufen. Hier atmete sie tief durch. Nichts, sagte sie sich. Es ist absolut nichts. Sicher nur wieder so ein Werbe-Fuzzie oder irgendein Witzbold. Genauso gut konnte es ein Irrtum sein. Jemand hatte sich verwählt. Das kam vor. Daniela stand auf und wollte gerade in die Küche gehen, als das Telefon erneut klingelte. Sie erschrak und lehnte sich gegen die Wand. Jeden Moment musste der Anrufbeantworter anspringen.

„Daniela? Ich bin es, Wolfgang.“ Sie griff zum Hörer.

„Wo bist du?“, herrschte sie ihn an.

„Ich bin noch im Büro. Ich hab dir doch gesagt, dass …“

„Hör zu, Wolfgang! Wir müssen reden!“

„Ist ja schon gut, ich weiß Bescheid. Wie wär’s denn morgen in der Eifelstube? Wir könnten …“

„Nein, jetzt, Wolfgang!“

„Daniela, es ist schon nach zehn. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir. Können wir nicht …“

„Das ist mir egal. Hör zu! Wir haben ein ernsthaftes Problem. Ich habe genug von deinen Alleingängen. So geht das einfach nicht mehr weiter. Ich meine, wir beide sind Partner. Da kannst du doch nicht einfach …“

Seufzend gab er nach. „Okay, okay. Du hast ja recht. Immerhin hat Helmut gesagt, es sei eine Belohnung ausgeschrieben worden.“

„Wie bitte? Jetzt willst du auch noch eine Belohnung kassieren?“

„Und wenn schon?“

„Na, die wird wohl kaum ausreichen, um allein die Versandkosten für die verdammte Maske zu bezahlen. Immerhin weiß ich nun wenigstens, was ich mit ihr tun muss. So ein verdammter Leichtsinn!“

„Warte, Daniela. Lass uns später darüber sprechen. Ich sehe ja ein, dass ich einen Fehler gemacht habe. Am besten komme ich doch noch raus zu dir.“

„In Ordnung, ich werde auf dich warten.“

Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht den Hörer auf die Gabel zu knallen. Sie trat in die Küche und schaltete das Licht ein. Rasch blickte sie sich um. Es war alles in Ordnung.

„Ein Tee wird mir jetzt gut tun“, sagte sie sich. Sie setzte Wasser auf und griff nach der Schachtel mit dem Earl Grey, den sie immer im Haus hatte.

Ob Wolfgang auch einen mag? Eigentlich hat er überhaupt nicht verdient, dass ich mich auch noch um ihn kümmere. Egal, ich stelle ihm einfach eine Tasse hin. Verdammt, irgendwo müssen doch auch noch Kekse sein …

Daniela versuchte sich abzulenken. Die Hauptsache war, dass sie etwas zu tun hatte und nicht darüber nachdenken musste, was sie ihrem Partner sagen wollte, und vor allem, wie sie es ihm sagen würde. Und wenn ich ihm die Partnerschaft aufkündige? Vielleicht wäre das sogar das Beste für uns. Nur blöd, dass ich damit bereits beim letzten Mal gedroht habe, als er wieder einmal eine seiner dummen Entscheidungen getroffen hatte. Während sie noch überlegte, pfiff der Wasserkessel und wollte vom Herd genommen werden.

Sie blickte auf die Uhr. Es war zwanzig nach zehn. Allzu lange wird es nicht mehr dauern. Während sie den Teebeutel im Wasser ziehen ließ, sortierte sie nochmals die Post. Es war wirklich nur Werbung. Sie trank einen Schluck und blickte erneut auf die Uhr. Jetzt war es halb elf. Er wird sicher gleich kommen. Sie setzte sich aufs Sofa und blätterte in der Fernsehzeitung. Da läuft auch immer das gleiche. Langsam spürte sie, wie sie müde wurde.

Um elf Uhr gab das Schlagwerk der alten Standuhr einen dumpfen Ton von sich. Daniela sprang erschrocken auf. Was? Es ist ja schon elf. Verdammter Wolfgang! Kann er denn niemals pünktlich sein?

Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und wählte verärgert seine Nummer. Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme.

Nanu, Irene?, wunderte sie sich und hätte Wolfgangs Sekretärin fast gefragt, was sie zu solch später Stunde noch in dessen Büro tat. Allerdings schluckte sie eine entsprechende Bemerkung hinunter und sagte stattdessen: „Hier ist Daniela. Gibst du mir mal bitte Wolfgang.“

Irene schwieg zunächst. Dann fragte sie vorsichtig: „Ist er denn nicht bei dir?“

„Nein, deshalb rufe ich ja an. Und mittlerweile ist es mir auch egal. Richte ihm aus, wir treffen uns morgen in der Eifelstube, so wie er es ursprünglich vorgeschlagen hat.“

„Aber, Daniela. Er ist gleich, nachdem er mit dir telefoniert hat, aus dem Büro gegangen. Er müsste längst bei dir sein.“ Irenes Stimme klang besorgt.

„Müsste, müsste … ist er aber nicht. Hatte er noch vor, woanders hinzufahren?“

„Um diese Uhrzeit? Sicher nicht. Übrigens, er ist wirklich angepisst wegen dieser Geschichte mit der Maske.“

Daniela zog eine Grimasse. „So angepisst wie letztes Jahr, als er die angeblich echte Jadefigur gekauft hat?“

„Aber nein. Viel schlimmer. Er ist richtig schlecht drauf und weiß, dass er es vermasselt hat.“

„Das hat er auch, ganz genau! Fast hätte er uns in den Ruin getrieben.“

„Ist es wirklich so schlimm, Daniela? Das Geld lässt sich doch sicher wieder reinholen?“

„Und wenn schon. Aber was ist mit unserem guten Ruf? Unsere Klienten achten sehr auf Seriosität. Und letztendlich kann ihm die Sache eine Menge Ärger einbringen. Der Handel mit gestohlenen Antiquitäten ist eine Straftat.“

„Oh Gott, bloß das nicht. Wolfgang ist doch nicht kriminell.“

„Hör zu, Irene. Ich weiß, dass du Wolfgang sehr schätzt, aber manchmal ist er einfach viel zu oberflächlich. Und er hat sich wirklich nicht gemeldet?“

„Nein. Da war zwar ein Anruf von seinem Handy, etwa vor fünfzehn Minuten, aber er hat nichts gesagt. Ich habe nur so ein seltsames Geräusch gehört.“

„Was denn für ein Geräusch?“ Daniela spürte wie ihr kalt wurde. Doch nicht etwa ein anonymer Anrufer?

Irene fuhr fort: „Ich habe ein paarmal seinen Namen gesagt, aber es hat niemand geantwortet.“

„Hm … seltsam. Vielleicht hat er das Handy irgendwo liegen gelassen?“

„Das wäre allerdings möglich. Warte mal, Daniela, da kommt gerade ein Anruf auf der anderen Leitung. Vielleicht ist es Wolfgang.“

Daniela legte den Hörer auf das Beistelltischchen und lief in die Küche. Der Tee war fast schon kalt. Als sie wieder am Telefon war, fragte sie: „Bist du noch dran, Irene?“

„Natürlich.“

„Und, war es Wolfgang?“

Irene schluckte. „Nein, jemand hat sich verwählt.“

„Schade, aber weißt du was? Lass uns lieber Schluss machen. Es ist schon spät genug. Bitte sag Wolfgang, dass ich auf ihn gewartet habe.“

„In Ordnung, Daniela. Wenn ich ihn sehe, sag ich ihm, dass er dich anrufen soll. Bleib nicht mehr so lange auf, hörst du!“

„Mach ich, Irene. Schlaf gut, wir sprechen uns morgen.“ Daniela legte den Hörer auf die Gabel. Sofort beschlich sie ein unbehagliches Gefühl. Sie ging zur Haustür und vergewisserte sich, dass diese verschlossen war. Alles war still. Es gab nichts Ungewöhnliches. Bis auf Wolfgangs Ausbleiben natürlich. Während sie hinauf in ihr Schlafzimmer ging, überlegte sie nochmals, was sie ihm am nächsten Morgen sagen würde.

 

3

Daniela erwachte und war weit davon entfernt sich wohl zu fühlen. Sie hatte kaum geschlafen und starrte benommen auf die mit Holzpaneelen verkleidete Zimmerdecke. Ihr Verstand schien ihr einen Streich zu spielen. Nicht wissend, was ihr der Tag bringen würde, schnappte sie sich ihre Jeans, ging ins Badezimmer und dort direkt unter die Dusche. Mit voller Absicht drehte sie nur den Kaltwasserhahn auf. Brr, ist das kalt! Ihr fröstelte. Während das kalte Wasser auf sie niederprasselte, kamen ihr die Gedanken vom Vortag in den Sinn. Habe ich mir die Entscheidung auch gut überlegt? Wolfgang wird nicht gerade begeistert sein. Aber wenn das Vertrauen einmal dahin ist …

Sie nahm die Waschlotion und seifte sich von Kopf bis Fuß ein. Vielleicht gelang es ihr, dieses ungute Gefühl einfach von sich abzuwaschen. Was sie danach brauchte, war ein klarer Kopf, um in Ruhe nachdenken zu können. Selbst ihr Haus, das sie so liebte, kam ihr vor wie ein stickiges Gefängnis. Noch während sie sich abtrocknete, beschloss sie, laufen zu gehen. Damit hatte sie zu ihrer wilden Zeit angefangen, während sie die Kunsthochschule besuchte. Damals war sie fast jeden Tag vor Beginn der Vorlesung um das scheußlich graue Basaltgebäude herumgelaufen, während ihre Kommilitonen noch zu schlafen pflegten oder gerade gähnend aus ihren Betten stiegen.

Anstatt in die Jeans schlüpfte sie in ihren orangefarbenen Jogginganzug und hastete die Treppe hinunter auf den Flur. Sie war gerade bei der Tür angekommen, als das Telefon klingelte. Als sie den Hörer abnahm, vernahm sie Irenes Stimme, die aber irgendwie fremd klang.

„Daniela?“

„Ja.“

„Gut, dass ich dich erreiche. Du musst sofort herkommen! Oh mein Gott …“

Irene schluchzte ins Telefon. Die kleine Uhr auf dem Display zeigte kurz vor halb zehn an.

„Was ist denn los, Irene? Du klingst ja völlig aufgelöst. Hat Wolfgang sich gemeldet?“ Daniela spürte die sich ausbreitende Gänsehaut auf ihren Armen.

Irene stammelte und schluchzte etwas in den Hörer. Doch ihre Antwort war zunächst nicht zu verstehen. „Was meinst du?“

„Er ist tot, Daniela.“

„Wer ist tot?“

„Wolfgang! Jemand hat ihn erstochen.“

„Was sagst du da?“ Daniela sank auf die Treppenstufe.

„Wolfgang ist tot. Er ist erstochen worden. Die Polizei hat seinen Wagen gefunden. Er hing leblos über dem Lenkrad.“

„Großer Gott. Du meinst er ist … nicht mehr da? Einfach so? Bist du …  Ist jemand bei dir?“

„Die Polizei ist hier. Bitte komm schnell.“

„Bin schon unterwegs.“

Das kann doch nicht wahr sein. Das glaube ich einfach nicht. Wolfgang ist tot? Er kann doch nicht einfach tot sein.

Daniela versuchte aufzustehen, aber ihre Beine spielten nicht mit. Langsam sank sie wieder auf die Treppenstufe zurück. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. In sich gekehrt verharrte sie einen Augenblick, fast ratlos, dann griff sie entschlossen nach ihrem Autoschlüssel. Sie wusste, dass sie der Wahrheit ins Auge sehen musste. Zeit zum Trauern würde es noch genug geben.

Sie hatte sich nicht mehr umgezogen und kaum wahrgenommen, wie sie die Strecke nach Monreal hinter sich brachte, aber plötzlich stand sie vor dem historischen Gebäude, indem sich Wolfgangs Büro befand. Ohne auf die Einsatzfahrzeuge der Polizei zu achten, die am Straßenrand parkten, lief sie zur Haustür.

„Irene“, rief sie, als sie eintrat.

Irenes Äußeres hatte sich sehr verändert. Sie trug eine dunkle Bluse, einen weiten Rock, flache Schuhe und wirkte um Jahre gealtert.

„Daniela! Gott sei Dank, dass du da bist!“ Irene umarmte sie. Erst jetzt schien sich die Anspannung von ihr zu lösen. Sie heulte, was das Zeug hielt.

„Was soll ich bloß tun? Was soll ich bloß …?“

Daniela versuchte, sie zu trösten, wusste aber nicht, was sie ihr sagen sollte. Automatisch drückte sie Irene an sich. Dann vernahm sie eine andere Stimme.

„Sind Sie seine Geschäftspartnerin?“

Ein auf den ersten Blick ungepflegt wirkender Mann, irgendwo in den Fünfzigern, erhob sich und kam auf sie zu. Er war hochgewachsen, aber hager. Seine Gesichtsfarbe war gelblich, unter den Augen lagen schwere Ringe. Das braune Haar war an den Schläfen bereits weiß und schien oben auf seinem Kopf gänzlich zu verschwinden.

Um die Lippen lag ein angewiderter Zug. Das lag am zu vielen Alkohol, den er täglich literweise in sich hineinkippte, um das auszublenden, was ihn in der letzten Zeit mehr und mehr ankotzte. Besonders das, was seine Arbeit betraf.

Daniela hielt Irene weiterhin fest umschlungen. „Ja, die bin ich. Mein Name ist Daniela Neumann.“

„Können wir einen Moment ungestört miteinander reden, Frau Neumann? Ich bin Kommissar Laubach von der Polizei in Daun.“

„Ja, natürlich.“ Sie nickte. Er kam ihr bekannt vor, obwohl sie noch niemals mit ihm persönlich zu tun gehabt hatte. Aber die Zeitungen in der Eifel waren voll mit Berichten über seine Arbeit. „Können Sie mir sagen, was genau passiert ist?“, fragte sie.

Kommissar Laubach räusperte sich. „Kollegen von mir haben heute früh einen Anruf entgegengenommen. Demnach stand an der L96 ein ungesichertes Fahrzeug mit einem verletzten Insassen. Die Beamten und der Rettungsdienst sind dann auch gleich losgefahren, doch als sie an besagter Stelle eintrafen, war der Mann bereits tot. Zum Glück hatte er seine Papiere bei sich, und die wiesen ihn als Wolfgang Ebersberger aus, wohnhaft in Monreal. Was wir bis jetzt wissen, ist, dass Herr Ebersberger gestern Abend sein Büro verlassen hat und angeblich noch zu Ihnen wollte. Ist das korrekt?“

„Ja, das stimmt.“

Laubach blickte Irene an, doch die schien das alles um sie herum nicht wahrzunehmen.

„Merkwürdige Uhrzeit“, sagte er trocken, als er sich wieder Daniela zuwandte. „Kam es öfters vor, dass er Sie um diese Uhrzeit besuchte, Frau Neumann?“

Daniela schüttelte den Kopf. „Im Allgemeinen nicht. Aber gestern hatten wir noch etwas Dringendes zu besprechen. Geschäftlich, meine ich.“

„Und das hätte nicht bis heute warten können?“

Daniela suchte nach einem Taschentuch, um sich eine Träne aus dem Auge zu wischen. Sie fand es in ihrer Handtasche.

„Die Angelegenheit war wirklich sehr dringend, und so etwas pflege ich am liebsten sofort und auf der Stelle zu besprechen“, sagte sie und schluchzte.

Laubach blickte sie streng an.

„Aber er ist nicht gekommen?“

„Nein, er ist nicht gekommen.“

„Und da haben Sie sich keine Sorgen gemacht?“

„Nein, nicht sofort.“

„So? Passierte ihm das denn öfter?“

„Ist schon vorgekommen. Er war manchmal sehr zerstreut.“

Wieder lief ihr eine Träne über die Wange. Sie blickte zu Irene, aber die zeigte keinerlei Reaktion. Stur vergrub sie den Kopf in ihren Händen.

„Und was hat ihn so abgelenkt?“

Laubachs Worte ließen Daniela zusammenzucken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie bereits in der Vergangenheitsform von Wolfgang sprach.

„Er besaß eine lebhafte Fantasie, worüber er manchmal Arbeit und Zeit vergaß. Nur die Leute sahen es ihm meistens nach, weil er sehr charmant sein konnte.“

„Also dachten Sie sich nichts dabei, als er gestern Abend nicht bei Ihnen auftauchte?“

„Nun ja. Etwas seltsam war es schon, aber ich bin dann bald zu Bett gegangen.“

„Und wann haben Sie zum ersten Mal erfahren, dass Herr Ebersberger nicht nach Hause gekommen ist?“

„Nach Hause? Gar nicht. Irene hat mich heute Morgen angerufen. Da fällt mir ein …  seine Angehörigen … mein Gott, wissen die schon Bescheid?“

„Wir haben sie noch nicht verständigt.“

Laubach blickte aus dem Fenster. Vor dem Haus stand sein Assistent Rainer Sigismund und sprach mit ein paar Journalisten. Er pflegte seinen Assistenten aufgrund dessen Auftretens auch Schwarzenegger zu nennen. Soll er ruhig mit ihnen sprechen und sich wichtigtun, dachte Laubach. Im Grunde genommen war er froh, dass ihm die Fragerei selbst erspart blieb. Er winkte Sigismund zu sich hinauf. Als er vor seinem Chef stand, wirkte Schwarzenegger zum ersten Mal ein wenig ratlos. Nervös spielte er mit seiner Sonnenbrille. Anscheinend schien er zu ahnen, was jetzt auf ihn zukam. Laubach gab ihm den entsprechenden Wink. Im Grunde hassten sie es beide, solche Nachrichten überbringen zu müssen, aber es musste nun einmal sein, und Laubach war der Boss. Wolfgang Ebersberger besaß entfernte Verwandte, die benachrichtigt werden mussten.

Während Sigismund seine Sonnenbrille aufsetzte und sich anschickte die Räumlichkeiten zu verlassen, wandte sich Laubach wieder den beiden Frauen zu.

„Wissen Sie, ob Herr Ebersberger manchmal Anhalter mitgenommen hat?“

„Wolfgang?“

„Ja.“

Daniela schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Er hätte niemals einen Fremden mitgenommen, es sei denn, es handelte sich dabei um eine junge, hübsche Frau. Warum fragen Sie?“

„Weil er von hinten erstochen worden ist. Wer immer es auch getan hat, muss auf dem Rücksitz gesessen haben.“

Irene brach weinend zusammen.

„Das wäre zunächst alles, meine Damen. Aber ehe ich es vergesse, ich würde mir sehr gern einmal Ihren Laden anschauen, Frau Neumann. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie ihn erst einmal geschlossen halten werden?“

„Natürlich bleibt er vorerst geschlossen“, antwortete Daniela barsch. „Aber ich werde nachmittags da sein, um etwas aufzuräumen. Ich muss einfach etwas zu tun haben. Das verstehen Sie doch sicher?“

„Ich verstehe. Ich verstehe alles. Wenn ich Sie jetzt noch bitten dürfte, sich ein wenig um Frau Baumgartner zu kümmern. Der Tod von Herrn Ebersberger scheint sie doch sehr mitgenommen zu haben.“

Dem konnte sie nicht widersprechen. Nachdem der Kommissar gegangen war, blieb sie noch eine Zeit lang bei Irene. Der Versuch, sie einigermaßen zu beruhigen, gelang ihr nur mäßig. Schließlich sorgte sie dafür, dass Irene eine Schlaftablette nahm und sich hinlegte. Gegebenenfalls würde sie am Abend noch einmal nach ihr sehen oder sie zumindest anrufen.

Den Schönheiten des Ortes mit seinen historischen Fachwerkhäusern sowie den Ruinen der Löwen- und Philippsburg schenkte sie keinen Blick, als sie in ihren dunkelgrünen Mini Cooper stieg und losbrauste. Auf der L98 fuhr sie nach Kaisersesch, nahm hier die Autobahn A48 und nach 22 weiteren Kilometern die A1 in Richtung Daun. Dann ging es weiter auf den Bundestraßen B421 und B410 über Gerolstein, immer geradeaus bis nach Birresborn-Rom, wo sie wohnte. Ihr Haus wirkte seltsam verlassen und leer. Komisch! So war es ihr noch nie vorgekommen.

Sie tauschte den Jogginganzug gegen ihre Jeans und wählte eine dazu passende schwarze Bluse. Irgendwie war ihr hundeelend zumute. Die geballte Ladung Ärger und Wut über Wolfgangs Fehlkauf hatte sich in Trauer und Verzweiflung verwandelt.

Sie fuhr zurück nach Gerolstein und parkte den Mini Cooper auf der Parkfläche hinter dem Rondell. Von dort aus ging sie in ihren Laden und überlegte, was sie tun konnte, um den fürchterlichen Gedanken, die sich ihr aufdrängen wollten, zu entfliehen. Aus Gewohnheit ging sie wieder nach draußen und öffnete die Rollläden, obwohl sie ihr Geschäft geschlossen halten wollte.

Als sie wieder reinging, atmete sie tief durch. Das hier war ihre Welt, ihr eigenes Refugium. Der Laden bedeutete viel mehr für sie, als nur ein Ort, an dem sie Geschäfte tätigte. In ihm sah sie so etwas wie ihre eigene Selbstverwirklichung. Und er war das Ergebnis ihrer langjährigen, freundschaftlichen Beziehung zu Wolfgang Ebersberger. Wolfgang, der jetzt einfach nicht mehr da war. Grausam