Eigensinn - Ursula Nuber - E-Book

Eigensinn E-Book

Ursula Nuber

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Beschreibung

*** Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burnout: Seien Sie eigensinnig! *** Man erfüllt Wünsche, die man nicht erfüllen will. Man schweigt, obwohl man anderer Meinung ist. Man ignoriert eigene Bedürfnisse, um andere nicht zu enttäuschen. Obwohl man Widerstand in sich spürt, zeigt man ihn nicht. Man sagt ja, wo man nein sagen möchte. Der Preis für dieses Verhalten ist hoch: Erschöpfung, das Gefühl der Sinnlosigkeit, Depression. Wer sich selbst verleugnet, riskiert seelische und körperliche Schäden. Ursula Nuber, Chefredakteurin der Zeitschrift »Psychologie Heute« und Bestsellerautorin, deckt die Gründe für diese ungesunde Zurückhaltung auf und zeigt, wie es anders geht: In der Partnerschaft, im Umgang mit den Kindern, am Arbeitsplatz – Widerstand leisten zu können, ist von großer Bedeutsamkeit für die seelische Stabilität und Resilienz. Eigensinnige Menschen kommen mit Stress besser zurecht und lassen sich nicht verbiegen. Der »Schutzschild Eigensinn« hilft Ihnen, die vielfältigen Herausforderungen und Stresssituationen des Alltags zu bewältigen – für ein glückliches und selbstbestimmtes Leben.

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Ursula Nuber

Eigensinn

Die starke Strategie gegen Burnout und Depression – und für ein selbsbestimmtes Leben

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoVorwortI Was Eigensinn ist – und was nichtEigensinn gleich Egoismus?Eigensinn gleich Selbstverwirklichung?Eigensinn gleich Resilienz?Eigensinn gleich Autonomie?Eigensinn gleich Authentizität?Was also ist Eigensinn?II Wie eigensinnig sind Sie?III Warum Eigensinn mit Ungehorsam verwechselt wirdJahrhundertwende: Erziehung zum GehorsamNationalsozialismus: Damit das Kind kein »Haustyrann« wird21. Jahrhundert: Die große VerunsicherungIV Ermutigung zum WiderstandDie Gedanken sind freiDen Eigensinn befreienV Wenn der Eigensinn fehlt»Ich fühle mich ausgenutzt«Man kann die Schuld bei den anderen suchen. Nur – was hat man davon?Fehlender Eigensinn – ein direkter Weg in die Depression?Woher kommt nur all die Nettigkeit?DAS PRINZIP EIGENSINN: Nicht mehr everybody’s darling seinWas ist mein Wille?Bin ich nicht auch wichtig?Muss ich wirklich Rücksicht nehmen?Muss ich die an mich gerichteten Erwartungen erfüllen?Muss ich mich anderen erklären?»Ich kann mich nicht durchsetzen«DAS PRINZIP EIGENSINN: Nein heißt das ZauberwortSie brauchen das Nein, wenn es um Ihre Prinzipien und Werte gehtSie brauchen das Nein, um nicht ausgenutzt zu werdenSie brauchen das Nein, um nicht von eigenen Zielen abgelenkt zu werdenSie brauchen das Nein, um sich vor Verletzung zu schützenEinübung in Unnachgiebigkeit»Ich werde nicht gesehen«Die Bescheidenheit der FrauenDAS PRINZIP EIGENSINN: Wert legen auf verfeinerte Aufmerksamkeit»Ich habe keine Zeit«Noch nicht mal mehr Zeit zum Zeitunglesen?DAS PRINZIP EIGENSINN: Die Entscheidungsfreiheit über die Zeit zurückgewinnenEigensinnige lassen sich nicht unter Zeitdruck setzen – auch nicht von sich selbstEigensinnige sind nicht immer erreichbarEigensinnige überlegen sehr genau, wem oder was sie ihre Zeit widmenEigensinnige behandeln ihre Zeit wie einen wertvollen RohstoffEigensinnige müssen nicht immer etwas tun»Mich stresst alles so«Den Stress herbeidenkenWarum Stress uns krank machen kannDAS PRINZIP EIGENSINN: Alles weniger wichtig nehmenEigensinnige sind selbstwirksamEigensinnige nehmen nicht alles persönlichEigensinnige haben einen selbstfreundlichen ErklärungsstilEigensinnige Menschen fühlen sich nicht als OpferEigensinnige bewahren sich den Blick für das GuteEigensinnige Menschen finden auch in Krisen und extremen Stresssituationen einen eigenen Sinn»Ich kann nicht mehr«DAS PRINZIP EIGENSINN: Sich nicht alles gefallen lassenIch muss nicht alles tun, was von mir verlangt wirdIch bin mit der Firma nicht verwandt oder verschwägertMuss ich wirklich zu allem Ja und Amen sagen?Ich will Anerkennung bekommenIch mache meine Belastung öffentlichIch verweigere mich dem MultitaskingIch schalte runterIch fordere richtige Autonomie»Ich muss noch besser werden«Perfekt ist grade gut genugDAS PRINZIP EIGENSINN: Einfach zufrieden seinEigensinnige hören nicht auf die Stimme ihres inneren AntreibersEigensinnige Menschen haben keine Angst vor Kritik oder FehlernEigensinnige vermeiden das Alles-oder-nichts-DenkenEigensinnige lassen sich nicht verführenEigensinnige vergleichen sich nichtEigensinnige machen nicht alles mit»Ich finde alles so sinnlos«DAS PRINZIP EIGENSINN: Eigene Gründe fürs Leben findenEigensinnig nach dem eigenen Sinn suchenVI Eigensinnig werden – Erst mal so tun als obVII Die 13 Grundrechte des EigensinnsLiteratur

»Seelenstärke ist die Fähigkeit, nein zu sagen,

wenn die Welt ja hören will.«

Erich Fromm

Vorwort

Um es gleich vorweg zu sagen: Der Eigensinn hat ein schlechtes Image. Menschen mit dieser Eigenschaft kommen in der Regel nicht gut an. Sie gelten als schwierig, unbequem, unangenehm, stur, dickköpfig, ungehorsam, trotzig, besserwisserisch, uneinsichtig. Ein eigensinniger Mensch ist ein anstrengender Zeitgenosse, der unbequeme Fragen stellt, sich mit Antworten, die anderen genügen, nicht zufrieden gibt, grundsätzlich anderer Meinung ist und konsequent auf Schwierigkeiten hinweist, wo andere gar keine sehen. Mit Eigensinnigen ist nicht gut Kirschen essen. Sie stören die Harmonie, weichen von der Norm ab und können ganz schön nerven. So die verbreitete Meinung. Es ist also alles andere als ein Adelsprädikat, wenn man als »eigensinnig« tituliert wird. Jeder, den es trifft, weiß sofort: »Das ist kein Lob!«

Der Eigensinn gehört für die meisten Menschen also ganz sicher nicht zum Kanon erwünschter Eigenschaften. Würde ich Sie fragen, was Sie an sich ändern wollten, dann würden Sie wohl kaum antworten: »Ich will unbedingt eigensinniger werden.« Und doch haben Sie zu diesem Buch gegriffen. Warum? Ich vermute, weil Sie längst das Potential ahnen, das im Eigensinn steckt, und weil Sie insgeheim wissen, dass es für Sie von Vorteil wäre, wenn Sie eigensinniger durchs Leben gingen. Sie ahnen, dass Ihr Nicht-eigensinnig-Sein Ihnen im Wege steht und Sie es sich oft unnötig schwermachen: Weil Sie sich zu bereitwillig anpassen und Ihre Bedürfnisse, Ihre Sicht der Dinge zu wenig wichtig nehmen; weil Sie sich immer wieder in Situationen wiederfinden, die Sie sich nicht selbst ausgesucht haben; weil Sie sich häufig wie eine Marionette fühlen, die nach fremden Regieanweisungen tanzt; weil oft das, was Sie wollen oder nicht wollen, kein Thema ist. Stattdessen geben Sie viel zu bereitwillig anderen zuliebe nach und vernachlässigen die Dinge, die Ihnen wirklich wichtig sind.

Wenn das Ihre Situation ist und Sie sich wie ein Hamster im Laufrad fühlen, spüren Sie ganz sicher die Folgen: Es geht Ihnen nicht wirklich gut. Sie fragen sich, welchen Sinn die ganze Plackerei überhaupt noch hat und die viel beschworene Work-Life-Balance gelingt nur mit äußerster Anstrengung. Wahrscheinlich haben Sie bereits alles Mögliche ausprobiert, um Ihr Befinden zu verbessern. Yoga, Meditation, Schweigetage im Kloster, Thai Chi, Stressreduktionstraining oder andere wunderbare Methoden, die wichtige Erkenntnisse vermitteln. Aber erleichtern diese auch nachhaltig Ihren Alltag? Wahrscheinlich nicht. Der Eigensinn kann das. Er ist das Mittel der Wahl, wenn Sie Gefahr laufen, sich selbst zu verlieren (oder sich vielleicht schon gar verloren haben). Der Eigensinn ist die Lösung für so manches private und berufliche Problem. Wenn Sie eigensinnig sind, kommen Ohnmachts- und Überforderungsgefühle nicht so schnell auf. Und wenn doch, dann werden Sie besser damit fertig, weil Sie mit dem Eigensinn ein mächtiges Abwehrmittel gegen die Zumutungen unserer Zeit besitzen. Denn wenn Sie eigensinnig denken und handeln, sorgen Sie dafür, dass Sie als die Person wahrgenommen werden, die Sie sind – mit Ihrer Sicht der Dinge, Ihrer Meinung, Ihrem Willen, Ihren Bedürfnissen. Der Eigensinn ist eine Art »Leibwächter«: Er passt auf Sie auf und achtet darauf, dass Sie sich nicht ausnutzen lassen, dass Sie sich nicht bereitwillig anpassen, dass Sie nicht auf Ihre Rechte verzichten, dass Sie nicht Ihre Kräfte verschleudern.

Wenn Sie eigensinnig sind, fällt Ihnen das Leben leichter: Sie haben weniger Probleme in Ihrer Partnerschaft und Ihrer Familie, Sie haben es einfacher mit Kollegen und Vorgesetzten, Sie haben es nicht zuletzt auch leichter mit sich selbst. Sie fühlen sich nicht länger als Spielball irgendwelcher Mächte oder anderer Menschen, sondern gehen Ihren eigenen Weg.

Ohne Übertreibung kann man sagen: Eigensinn ist eine Grundvoraussetzung, um in der heutigen Zeit mit ihren vielfältigen Herausforderungen seelisch stabil und gesund zu bleiben. Inzwischen gibt es eindrucksvolle Belege dafür, dass eigensinnige Menschen seltener krank sind als eher angepasste Zeitgenossen und dass sie sogar länger leben. Der Grund: Eigensinn stärkt das seelische Immunsystem und lässt krankmachende Gefühle wie Resignation, Fatalismus, Hilflosigkeit oder auch Ärger nicht überhandnehmen. Ein »eigener Kopf« verhindert quälende Grübeleien und Selbstzweifel und bietet damit einen hervorragenden Schutz vor Stresserkrankungen wie Burn-out und Depression. Deshalb: Wenn Sie an Körper und Seele gesund bleiben (oder werden) wollen, ist Eigensinn die allerbeste »Medizin«.

Es gibt also gute Gründe, sich mit dem Eigensinn und seinen Qualitäten vertrauter zu machen und das Projekt »eigensinniger werden!« Schritt für Schritt in Angriff zu nehmen. Dieses Buch will Sie dazu ermutigen. Auf den nächsten Seiten erfahren Sie,

ob die Vorstellungen zutreffen, die Sie sich bislang vom Eigensinn gemacht haben. Die Frage »Was ist Eigensinn – und was nicht?« beantwortet Kapitel 1;

wie es bislang mit Ihrem Eigensinn bestellt ist und welchen Stellenwert er im Moment in Ihrem Leben einnimmt. Das Kapitel 2, Wie eigensinnig sind Sie?, liefert Anhaltspunkte für Ihren »Eigensinn-Quotienten«;

woher Ihre Schwierigkeiten mit dem Eigensinn kommen. Das Kapitel 3, Erziehung zum Gehorsam, zeigt, welche Rolle die Erfahrungen spielen, die Sie als Kind mit Gehorsam und Ungehorsam machen konnten oder mussten. Erst wenn Sie die eigenen inneren Barrieren und deren Ursprung aufdecken, können Sie das eigene Handeln besser verstehen – und langfristig verändern;

welche Folgen es für Sie hat, wenn es Ihnen an Eigensinn mangelt. Sicher bringen Sie so manches Problem, mit dem Sie sich herumschlagen, bislang nicht mit dem fehlenden Eigensinn in Zusammenhang. Ihre tiefe Erschöpfung führen Sie auf Arbeitsüberlastung zurück, Ihre Niedergeschlagenheit kreiden Sie Ihrem Pessimismus an, Ihre Selbstzweifel versuchen Sie vielleicht durch positives Denken in den Griff zu bekommen. Möglicherweise ginge es Ihnen besser, wenn Sie ein eigensinniger Mensch werden könnten? Das Kapitel 4, Wenn der Eigensinn fehlt. Diagnosen und eigensinnige Gegenstrategien, führt Ihnen vor Augen, welche Auswirkungen es hat, wenn Sie zu wenig eigensinnig sind;

dass Sie eigensinniges Denken und Handeln sofort in Ihren Alltag integrieren können. Kapitel 5 zeigt Ihnen, wie das geht.

Für das »Projekt Eigensinn« brauchen Sie Beharrlichkeit. Lassen Sie sich nicht einschüchtern und ins Bockshorn jagen. Sie müssen damit rechnen, dass die Menschen in Ihrer nächsten Umgebung irritiert und mit Unverständnis auf Ihr eigensinniges Verhalten reagieren. Das ist nicht verwunderlich, denn als Andersdenkender stiften Sie Unruhe, als Abweichler sind Sie unbequem. Es kann daher schon sein, dass Sie öfter mal alleine stehen und nicht auf Unterstützung hoffen können. Denn, so Mark Twain, »wir alle lieben jene Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken, sofern sie dasselbe denken wie wir«. Oder, um es mit den Worten der Schauspielerin Sophia Loren zu sagen: »Ganz und gar man selbst zu sein, kann schon einigen Mut erfordern.«

Hans Kohlhase lebte im 16. Jahrhundert als Kaufmann im brandenburgischen Cölln an der Spree. Auf dem Weg zur Leipziger Messe im Jahre 1532 wurden ihm auf Befehl des Junkers von Zaschnitz zwei seiner Pferde abgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, die Tiere gestohlen zu haben. Kohlhase empfand diese Tat zu Recht als himmelschreiende Ungerechtigkeit und versuchte, sowohl seine Pferde wiederzubekommen, als sich auch vom Vorwurf des Diebstahls zu rehabilitieren. Aber seine juristischen Bemühungen blieben erfolglos und Kohlhase schwor Rache. Er brannte Häuser in Wittenberg nieder und beging noch viele andere Verbrechen. Im Jahre 1540 wurde er in Berlin durch Rädern hingerichtet.

Wohl für die meisten gilt diese Geschichte, die Heinrich von Kleist in seiner Novelle »Michael Kohlhaas« verewigt hat, als abschreckendes Beispiel. Sie ziehen daraus die Folgerung, dass es nicht sinnvoll ist, stur und eigensinnig auf seinem Recht zu bestehen, und dass der Klügere nachgeben sollte, wenn er einsieht, dass er nicht gewinnen kann. Man kann die Geschichte von Michael Kohlhaas tatsächlich als Warnung vor zu großem Eigensinn lesen.

Man kann sie auch anders interpretieren: Der Kaufmann Kohlhase wehrte sich gegen die Willkür und Ungerechtigkeit der Obrigkeit, er wollte nicht auf sein Recht »um des lieben Friedens willen« verzichten. Sein Eigensinn half ihm, sich und seine Werte nicht zu verraten. Auch das erzählt die Geschichte von Michael Kohlhaas.

IWas Eigensinn ist – und was nicht

Der preußische General Carl Philipp von Clausewitz hatte eine eindeutige Meinung zum Eigensinn: Er hielt ihn für einen »Fehler des Gemüts«. Eigensinnigen Menschen attestierte er einen unbeugsamen Willen und eine »Reizbarkeit gegen fremde Einrede«. Ursache des Eigensinns, so meinte der General, sei eine »besondere Art von Selbstsucht«. Verständlich, dass der Militär im Eigensinn nichts Gutes sehen kann – im militärischen Leben zählt Gehorsam, ein eigener Wille ist nicht erwünscht. Aber warum hat eigensinniges Verhalten im ganz normalen zivilen Alltag so ein schlechtes Ansehen? Warum empfindet man die Zuschreibung »Du bist eigensinnig!« nicht als Lob? Warum glauben die meisten Menschen: »Wenn ich bei anderen gut ankommen und beliebt sein will, dann sollte ich mir eigensinniges Verhalten besser abschminken?«

Stellen Sie sich vor: Sie bewerben sich auf eine interessante Stelle und die Personalleiterin konfrontiert Sie mit der bei Arbeitgebern so beliebten Frage: »Was ist Ihre größte Stärke?« Sie antworten: »Ich bin eigensinnig.«

Stellen Sie sich vor: Sie haben online einen interessanten Menschen kennengelernt und treffen diese Person nun zu einem ersten Date. Früher oder später kommt das Gespräch unweigerlich auf Ihre Charaktereigenschaften, und unter anderem gestehen Sie Ihrem durchaus sympathischen Gegenüber: »Ich bin ziemlich eigensinnig.«

Stellen Sie sich vor: Die Klassenlehrerin Ihres Grundschulkindes beklagt sich, Ihre Tochter oder Ihr Sohn sei so eigensinnig, würde immer alles hinterfragen und sich zur Wehr setzen, wenn sie oder er sich ungerecht behandelt fühlt. Die Lehrerin erwartet, dass Sie entsprechend auf Ihr Kind einwirken. Doch statt sich kleinlaut zu entschuldigen, sagen Sie: »Das ist doch gut so!«

Was glauben Sie, wie diese drei Szenen enden? Bekommen Sie die Stelle? Wird aus dem Date eine feste Beziehung? Zeigt die Lehrerin Einsicht? All das ist eher unwahrscheinlich. Denn die Personalleiterin wird keinen »Querulanten« einstellen wollen, sie fürchtet die Schwierigkeiten, die ein eigensinniger Kollege, eine eigensinnige Kollegin in einem Team anrichten kann. Auch die zunächst durchaus an Ihnen interessierte Dating-Bekanntschaft reagiert auf einmal ganz reserviert und sucht baldigst das Weite. Jemand, der sich offen zu seinem Eigensinn bekennt, macht als Partner oder Partnerin doch nur Schwierigkeiten. Und die Lehrerin? Sie wird Ihnen konsterniert einen Vortrag darüber halten, welch schlimme Folgen der »Dickkopf« Ihres Kindes hat.

Diese Beispiele zeigen ganz klar: Eigensinn weckt bei anderen Argwohn und Abwehr. Ein Grund dafür liegt in der Vorstellung, die man sich gemeinhin von einem eigensinnigen Menschen macht. Wenn man kein realistisches Bild dieser Eigenschaft hat, wird man sich schwertun, eigensinniger zu werden. Deshalb muss zunächst der Begriff Eigensinn von den vielen Missverständnissen, die ihn überwuchert haben, freigelegt, und seine tatsächliche Verwandtschaft mit wichtigen Konzepten der Psychologie beschrieben werden. Also:

Was ist Eigensinn wirklich – und was ist er nicht?

Eigensinn gleich Egoismus?

Wer seine Interessen artikuliert und deutlich sagt, was er will und was nicht, wird schnell als aggressiv und egoistisch kritisiert. »Der will seinen Willen durchsetzen, der ist rücksichtslos, der geht über Leichen«, heißt es dann. Doch wenn man sich vor Augen führt, was aggressives, egoistisches Verhalten kennzeichnet, wird schnell klar, dass Eigensinn und Aggression nichts miteinander zu tun haben. Der Psychologe Heinz Ryborz beschreibt einen aggressiven, egoistischen Menschen so: Dieser »ist überlegen auf Kosten anderer, setzt andere herab und erreicht sein Ziel durch Verletzung anderer«. Für einen aggressiven Menschen ist es eine Katastrophe, wenn er seinen Willen nicht bekommt und die Einstellung »Ich setze meine Interessen durch, was aus den anderen wird, interessiert mich nicht«, ist für ihn typisch.

Egoismus bedeutet, so die Definition des Duden: Ich-Bezogenheit, Ich-Sucht, Selbstsucht. Egoistische Menschen fragen: »Was bringt es mir?«, und interessieren sich wenig oder gar nicht für die Bedürfnisse anderer. Solidarität und Einfühlungsvermögen bleiben bei Egoisten auf der Strecke. Sie geben ihre Meinung als Tatsachen aus (»So wie ich das sehe, ist es richtig.«), sie neigen dazu, anderen die Schuld zu geben (»Du hast ja nicht auf mich gehört.«), oder sie drohen anderen, wenn die nicht spuren. (»Wenn du nicht machst, was ich will, wird das Konsequenzen haben!«) Auch die Worte »sollte« und »müsste« tauchen häufig in ihrem Wortschatz auf, und sie setzen andere herab. (»Das weiß doch jeder!«) Außerdem neigen egoistische Menschen zu manipulativem Verhalten. Um zu erreichen, was sie wollen, ist ihnen jedes Mittel recht – auch seelische Erpressung. (»Wenn dir wirklich etwas an mir liegt, dann fährst du nicht auf den Kongress, sondern bleibst bei mir.«) Meist setzen sie sich mit ihrem Willen durch, weil die anderen dem massiven Druck nachgeben. Doch akzeptiert und gemocht werden diese Menschen in der Regel nicht – selbst wenn sie oft erfolgreich sind und andere »im Griff« haben.

Auch wenn heute viel vom »gesunden« Egoismus die Rede ist – wohl niemand wird sich ernsthaft mit dieser Eigenschaft brüsten wollen. Weil Eigensinn fälschlicherweise mit Rücksichtslosigkeit und Egoismus in Verbindung gebracht wird, ist es nicht verwunderlich, wenn man von dieser Eigenschaft nicht viel hält. Doch hier liegt das große Missverständnis: Eigensinn hat nichts mit Egoismus oder mit rücksichtslosem Durchsetzen der eigenen Interessen zu tun. Eigensinnig sein heißt nicht »ich zuerst«, heißt nicht, sich egoistisch über die Rechte und Bedürfnisse anderer hinwegzusetzen und ohne Rücksicht auf Verluste nur seine Ziele zu verfolgen. Eigensinnig sein heißt nicht, egoistisch zu handeln.

Was aber heißt es dann? Was für ein Mensch sind Sie, wenn Sie eigensinnig sind? Worin besteht der Unterschied zwischen einer eigensinnigen und einer egoistischen Person?

Als eigensinniger Mensch setzen Sie sich für Ihre Rechte und Interessen ein, aber in einer Art und Weise, die die Rechte anderer nicht verletzt und auch nicht deren Gefühle. Während Egoisten der Meinung sind, »Die Welt ist grundsätzlich feindlich, deshalb muss ich schauen, wo ich bleibe«, haben Sie als Eigensinniger eine ganz andere Haltung: »Ich habe Bedürfnisse und Wünsche. Andere haben auch Bedürfnisse und Wünsche. Ich habe Rechte und darf sie artikulieren – andere haben auch Rechte.« Sie respektieren Ihre eigenen Rechte und die der anderen.

Ein egoistischer Mensch dagegen drängt anderen seine Meinung auf und lässt keine andere gelten.

Ein Beispiel verdeutlicht den Unterschied zwischen egoistischem und eigensinnigem Verhalten: Stellen Sie sich vor, Sie halten einen Vortrag in einem Saal vor vielen Menschen. Sie sind verständlicherweise etwas nervös, aber alles läuft gut. Die Gesichter der Zuhörer signalisieren Interesse. Doch nach einer Weile unterbricht Sie ein Herr aus den vorderen Reihen und fragt laut und vorwurfsvoll »Schön und gut, aber was ist die Lösung?« Sie haben verschiedene Reaktionsmöglichkeiten: Sie können Ihre Verärgerung zeigen und den Herrn kurz abfertigen: »Bitte stören Sie nicht den Vortrag.« Das wäre ein aggressives Verhalten. Oder Sie bedanken sich für die Frage und bitten ihn um Geduld, am Ende des Vortrags werden Sie auf sein Anliegen eingehen. Diese Reaktion ist im besten Sinne eigensinnig. Sie respektieren das Anliegen des Zuhörers, verlieren aber Ihr eigenes Recht nicht aus den Augen, Ihren Vortrag ungestört weiter fortzusetzen.

Wenn Sie eigensinnig sind, halten Sie mit Ihren Ansichten nicht hinterm Berg. Aber anders als der Egoist, lassen Sie Ihren Mitmenschen aber immer ausreichend Raum, damit auch diese ihre Meinung vortragen und ihre Bedürfnisse äußern können. Sie erwarten nicht, wie der Egoist, dass andere Menschen Ihnen »zu Diensten« sind. Wichtig ist Ihnen aber, dass der andere Ihren Willen kennt. Sie kommunizieren mit dem Gegenüber auf Augenhöhe. Eine Auseinandersetzung über gegensätzliche Meinungen ist für Sie kein Konflikt, bei dem es einen Sieger geben muss. Der Austausch über unterschiedliche Interessenlagen ist Ihnen jedoch wichtig. Das kann in einem Kompromiss enden oder auch in der Feststellung »We agree that we disagree« – Wir stimmen darin überein, dass wir nicht übereinstimmen.

Als eigensinniger Mensch kennen Sie keine falsche Bescheidenheit. Sie stellen Ihr Licht nicht unter den Scheffel, sondern sind stolz auf Ihre Leistung und Ihr Können – und zeigen das auch. Aber anders als ein egoistischer Zeitgenosse, halten Sie sich nicht für den Nabel der Welt, sondern lassen auch die Leistungen anderer gelten. Arthur Schopenhauer beschrieb den Egoismus als eine Gesinnung, bei der ein Mensch »sich zum Mittelpunkt der Welt macht, seine eigene Existenz und Wohlsein vor dem andern berücksichtigt, ja auf dem natürlichen Standpunkte alles andere dieser aufzuopfern bereit ist, bereit ist, die Welt zu vernichten, um nur sein eigenes Selbst, diesen Tropfen im Meer etwas länger zu erhalten.« Auf einen eigensinnigen Menschen kann diese Beschreibung nicht zutreffen.

Eigensinn ist gleich Egoismus? Auf keinen Fall! Als eigensinniger Mensch setzen Sie sich für sich selbst ein. Aber genau dasselbe Recht gestehen Sie auch anderen Menschen zu. Sie zwingen anderen nicht Ihren Standpunkt oder Ihren Willen auf – allerdings sorgen Sie dafür, dass diese erfahren, was Sie denken, fühlen und wünschen. Sie verkehren mit anderen auf Augenhöhe, das heißt: Ihr Wille ist niemals mehr wert – aber auch nicht weniger – als der eines anderen Menschen. Deshalb: Eigensinn und Egoismus sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.

Eigensinn gleich Selbstverwirklichung?

Selbstverwirklichung ist ein Begriff, der etwas aus der Mode gekommen ist. In den 1970er Jahren galt »sich selbst verwirklichen« als ein unabdingbares Ziel der Persönlichkeitsentwicklung. Der humanistische Psychologe Abraham Maslow verstand unter Selbstverwirklichung »das menschliche Verlangen nach Selbsterfüllung«. In den 1970er Jahren führte er eine Studie zu diesem Thema durch und stellte fest: Selbstverwirklichte Personen »kann man autonom nennen, das heißt, von den Gesetzen beherrscht, die sich aus ihrem eigenen Charakter ergeben und nicht von jenen der Gesellschaft«. Selbstverwirklichte Menschen, so Maslow, seien eine »weniger angepasste, weniger breitgeschlagene, weniger verformte« Gruppe.

Selbstverwirklichte Menschen kennen ihre Gefühle und Gedanken, sie besitzen einen starken Willen und sorgen für geeignete Voraussetzungen, um ihre besonderen Fähigkeiten entwickeln und zum Ausdruck bringen zu können. »Wenn der Mensch im Wesentlichen nicht abgelenkt wird, entwickelt er sich zur Selbstverwirklichung hin«, so die Psychoanalytikerin Karen Horney. Wird er aber »abgelenkt« – und dies geschieht vor allem durch entsprechende Erziehungsmaßnahmen wie Kapitel 3 zeigt – verliert er die Überzeugung, »eine aktiv bestimmende Kraft im eigenen Leben zu sein«, wie Karen Horney meint. Und damit geht auch der eigene Sinn verloren.

Wie der Eigensinn ist auch die Selbstverwirklichung in Verruf geraten. Das liegt zum einen daran, dass die Menschen, die sich in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts auf den Weg zu sich selbst begaben, das Konzept sehr individualistisch und egozentrisch auslegten. Selbstverwirklichung wird meist mit dem abgrenzenden »Ich bin ich, und du bist du. Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben, und du nicht, um meine zu erfüllen« in Zusammenhang gebracht. Dieses sogenannte »Gestaltgebet« des Psychologen Frederick S. Perls hat die Psycho-Welle der 1970er und 1980er Jahre wesentlich geprägt – aber auch zu einem verzerrten Bild der »Selbstverwirklichung« beigetragen.

Inzwischen wird der Begriff, so der Psychotherapeut Dieter Schnocks »inflationär verwendet und ist nahezu sinnentleert. Zeitschriften liefern simplifizierende 10-Punkte-Tipps, und der Job wird gekündigt, weil er kaum Möglichkeiten bietet, sich selbst zu verwirklichen.«

Mit Selbstverwirklichung sind also ebenso wie mit dem Eigensinn falsche Vorstellungen verbunden, die dazu geführt haben, dass Selbstverwirklichung wie Eigensinn mit Egoismus gleichgesetzt werden. Doch der Wunsch, sich selbst zu verwirklichen, hat nichts mit dem egoistischen »Ich bin ich« der Psychowelle zu tun. Der Sinn der Selbstverwirklichung liegt vielmehr darin, erklärt der Philosoph Magnus Schlette, »unser Leben um seiner selbst willen zu führen, es nach eigener Façon, ohne Bevormundung durch Dritte zu gestalten, und dass es dabei um die Entfaltung persönlicher Eigenschaften und Anlagen, um die Ausbildung von Fähigkeiten, um die Befriedigung von Bedürfnissen, die Erfüllung von Wünschen und die Umsetzung … von Lebensplänen geht.« Ersetzt man in dieser Beschreibung das Wort »Selbstverwirklichung« durch »Eigensinn« wird klar: Eigensinn hat sehr viel mit Selbstverwirklichung zu tun, konkret schafft er die Voraussetzungen, um unser Leben ohne »Bevormundung durch Dritte« führen zu können. Nur ein eigensinniger Mensch kann sich selbstverwirklichen.

Auch der Analytiker Carl Gustav Jung hielt die Selbstverwirklichung – er sprach in diesem Zusammenhang von »Individuation« – für wesentlich, um der Mensch zu werden, als der man gedacht ist. Wir sollten, so meinte er, »bescheiden danach streben, uns selbst zu erfüllen und möglichst vollständige Wesen zu werden«. Im Zuge dieses Prozesses geht es darum, sich selbst zu behaupten, eigene Ziele zu finden und zu verfolgen, sich von den Erwartungen anderer und deren Regeln zu emanzipieren, nicht das zu tun, was man tun »soll«, sondern das, was man will. Um das herauszufinden, so Jung, muss man sich mit seinem »Schatten«, den durch Erziehung und Geboten unterdrückten und vernachlässigten Seiten auseinandersetzen, und diesen zu ihrem Recht verhelfen. In diesem Prozess, so schreibt der Psychologe Andreas Dick, wird man »immer mehr zu der Person, die man eigentlich ist, statt lediglich zu leben, was man darzustellen gewohnt ist«.

 

Eigensinn ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns nicht von uns selbst entfernen und selbstbestimmt leben können. Er ist die Garantie, dass wir nicht von fremden Erwartungen und Einflüssen geformt und beeinflusst werden. Eigensinn kann also zu Recht als Voraussetzung für Selbstverwirklichung bezeichnet werden. Denn der Eigensinn hilft, in Kontakt mit sich selbst zu bleiben, mit den eigenen Bedürfnissen und Wünschen – also dem »Eigentlichen« im Leben. Wer eigensinnig ist, fragt bei allem, was geschieht, ob und welchen Sinn es für ihn ganz persönlich hat. Er lässt sich nicht von anderen bestimmen und steuern, sondern hält die Fäden selbst in der Hand.

Eigensinnige, selbstverwirklichte Menschen sind Nonkonformisten. Das heißt, sie können durchaus unbequem sein: zum einen für sich selbst, denn sie müssen es aushalten, dass sie unter Umständen als Außenseiter und Störenfried betrachtet werden. Unbequem aber sind sie vor allem für die Nichteigensinnigen, denen ein eigensinniger Mitmensch zeigt: Es geht auch anders. Man braucht sich nichts gefallen zu lassen.

Eigensinn gleich Resilienz?

Resilienz hat im Englischen die Bedeutung von »Widerstandsfähigkeit, Elastizität« und meint in der Psychologie die Fähigkeit, »Krisen unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen«. So hat es die im Jahr 2010 verstorbene Psychotherapeutin und Resilienz-Expertin Rosemarie Welter-Enderlin formuliert. Manchmal wird Resilienz auch verglichen mit einem elastischen Bungeeband, das uns in angespannten und schwierigen Zeiten davor bewahrt, Mut und Zuversicht zu verlieren. Wenn es das Leben mal nicht so gut mit uns meint, schützt uns dieses seelische Bungeeband davor, unsanft auf dem Boden aufzuprallen, es gibt uns die notwendige Elastizität, uns den Gegebenheiten auf eine Weise anzupassen, die uns davor bewahrt, zusammenzubrechen.

Resilienz ist heute wichtiger denn je, weil unsere seelische »Elastizität« durch die enormen Herausforderungen unserer Zeit besonders beansprucht wird. Viele Bücher und Studien zum Thema Resilienz beschäftigen sich daher mit der Frage, wie es uns gelingen kann, dem Stress in Beruf und Privatleben angemessen zu begegnen und auch in belastenden Situationen an Leib und Seele gesund zu bleiben. Es mangelt nicht an Hinweisen, wie wir lernen können resilienter zu werden. Der Eigensinn wird dabei nicht erwähnt.

Dabei ist gerade er es, dem wir seelische Widerstandskraft verdanken. Ohne Eigensinn können sich resiliente Denk- und Verhaltensweisen kaum entwickeln. Eigensinn ist der Weg zur Resilienz. Wenn wir in der Lage sind, eigensinnig zu denken und zu handeln, dann schaffen wir uns jenes flexible Bungeeband, das uns vor schmerzhaften seelischen Abstürzen bewahrt. Was die Forschung als typisch für resiliente Menschen herausgefunden hat, gilt auch für eigensinnige: Resiliente Menschen sind Optimisten. Sie betrachten Schwierigkeiten als vorübergehend, erwarten, dass sie sie meistern und die Dinge zum Positiven beeinflussen können. Sie können Ungewissheit und Unsicherheiten aushalten, verfügen über eine gesunde Selbstdistanz und können über sich selbst auch mal lachen. Resiliente Menschen verstellen sich nicht, sie zeigen sich so, wie sie sind, sie bewerten nicht, wollen aber auch nicht bewertet werden. Sie sind überzeugt, dass sie sich durch schwierige Erfahrungen weiter entwickeln. Typische Aussagen von Resilienten sind beispielsweise: »Ich konnte schon mal Unglück in Glück umwandeln und habe Nützliches aus schlechten Erfahrungen gewonnen.« Oder: »Wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht und ich vor einer Herausforderung stehe, kremple ich die Ärmel hoch und handle.«

Resilienten Menschen fällt das Leben leichter, und zwar gleichgültig, ob es positive Erfahrungen oder belastende Erfahrungen bereithält. »Ein Mensch, der seine Resilienz, seine inneren Kraftquellen, zu nutzen weiß, kommt mit sich, mit den anderen, mit dem Leben gut aus«, stellt die Psychotherapeutin Brigitte Dorst fest.

Betrachtet man die Erkenntnisse der Resilienzforschung aus dem Blickwinkel des Eigensinns, fällt schnell auf, dass Eigensinn eine wichtige Voraussetzung für diese seelische Widerstandsfähigkeit ist. Wenn wir den Geschehnissen des Lebens und anderen Menschen eigensinnig begegnen, bewahrt uns das seelische Bungeeband vor Abstürzen. Eigensinnige Menschen sind resiliente Menschen. Eigensinn ist der Weg zur Resilienz.

Eigensinn gleich Autonomie?

Autonomie ist ein viel benutzter und häufig ebenfalls missverstandener Begriff. Viele assoziieren damit völlige Unabhängigkeit von anderen. Sie artikulieren damit oft auch ein Bedürfnis nach Abgrenzung oder wollen ihre eigene Bedeutung damit betonen. Doch all das ist nicht Autonomie. »Autonom-Sein ergibt sich nicht aus Ideen über die eigene Bedeutsamkeit, sondern aus den Möglichkeiten des ungehinderten Erlebens der eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Bedürfnisse«, definiert der Psychoanalytiker Arno Gruen diesen Begriff.

Autonomie ist ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen – neben dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem nach Kompetenz, wie die Psychologen Edward Deci und Richard Ryan in ihrer sogenannten »Selbstbestimmungstheorie« formuliert haben. Nach Autonomie zu streben heißt: Wir wollen möglichst viel selbst wählen und mitbestimmen, wenn es um unsere Lebensverhältnisse geht, unsere Ziele und Pläne. Wir wollen das tun, was wir selbst interessant und attraktiv finden. Autonomie heißt, frei darüber bestimmen zu können, wie wir durchs Leben gehen. Wenn wir autonom sind, reagieren wir wachsam und sensibel auf alle Angriffe auf unsere Unabhängigkeit und begegnen den vielen »Du sollst/Du darfst nicht«-Vorgaben mit Skepsis. Als autonomer Mensch verfügen wir über die wichtige »Selbststeuerungsfähigkeit«. Mit dieser lässt sich, wie der Psychotherapeut und Neurowissenschaftler Joachim Bauer schreibt, »im Leben vieles, ohne sie nichts erreichen. Ihr tiefer Sinn liegt darin, unser ganz eigenes, wahres Leben zu leben.«

Doch Autonomie ist mehr als Selbstbestimmung und Selbststeuerung, wie die Autoren Michael Pauen und Harald Welzer erklären. »Wir würden niemanden als wirklich autonom bezeichnen, der seinen eigenen Prinzipien nur folgt, sofern die Bedingungen optimal und keine Hindernisse vorhanden sind. Wer wirklich nach den eigenen Wünschen, Überzeugungen und Prinzipien leben will, der muss imstande sein, Widerstände zu überwinden.« Und damit meinen der Philosoph und der Sozialwissenschaftler: »Man muss an den eigenen Prinzipien festhalten, wenn andere widersprechen, man muss in der Lage sein, sie durchzusetzen, wenn es Hindernisse gibt, und man darf sich nicht beirren lassen, wenn andere sich anders verhalten.« Man könnte auch sagen: Man muss eigensinnig sein, um autonom leben zu können. Ohne Eigensinn kann man kein autonomer Mensch sein. Nur, wenn man eigensinnig für sich und seine Überzeugungen einsteht und auch bei Gegenwind nicht klein beigibt, besitzt man innere Unabhängigkeit.

Eigensinn gleich Authentizität?

»Erkenne dich selbst«, riet das Orakel von Delphi. Und im Thomasevangelium, einem von 52 Texten, die 1945 in Nag Hammadi am Toten Meer gefunden wurden, werden Jesus folgende Worte zugeschrieben: »Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du hervorbringst, dich retten. Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du nicht hervorbringst, dich zerstören.« Worte, die man so deuten kann: Nur wer sein Wesen und seine Bestimmung kennt, lebt ein authentisches Leben. Wer aber sein wahres Ich ignoriert, der lebt an seinem wahren Leben vorbei.

Was aber ist mit »authentisch« genau gemeint?

Als authentisch gilt, wer in Übereinstimmung mit sich selbst, mit seinen innersten Überzeugungen und Werten lebt, wer glaubwürdig ist, sich nicht verstellt. Ein authentischer Mensch handelt, wie er redet, und er redet, wie er denkt. Authentisch sein heißt: man selbst sein.

Authentizität ist einer der wichtigsten Entwicklungsschritte. Ein authentischer Mensch ist in Kontakt mit seinen Gefühlen, seinen Zweifeln, seinem Willen, er setzt sich eigene Ziele und lässt sich nicht von seinem Weg abbringen. Authentisch sein heißt, dass der Mensch, der man wirklich ist, nicht unter einem Berg von Konventionen, Anpassungsleistungen und Gewohnheiten verschüttet ist, sondern dass man genau weiß, was der Sinn des eigenen Lebens ist.

Wer authentisch leben will, erklärt Erich Fromm, muss die Bereitschaft aufbringen, »täglich neu geboren zu werden. Und das wiederum erfordert die Bereitschaft, alle Sicherheiten aufzugeben. Mut, sich von den anderen zu unterscheiden und die Isolierung zu ertragen. Mut, sich um nichts zu kümmern als um die Wahrheit, und zwar um die Wahrheit nicht nur in Bezug auf das eigene Denken, sondern auch in Bezug auf das eigene Fühlen.

Authentische Menschen haben den Mut, ganz sie selbst zu sein. Selbständigkeit im Denken und Handeln und die Bereitschaft zum Nonkonformismus sind dafür die notwendigen Voraussetzungen. Wie die Forschung zeigt, werden sie dafür mit einer stabilen seelischen Gesundheit, mit einer hohen Problemlösungsfähigkeit und einem starken Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen belohnt.

Der Autor Mike Robbins zählt in seinem Buch Be yourself. Everyone else is already taken (Sei du selbst. Jeden anderen gibt es bereits) noch weitere »Wohltaten« der Authentizität auf:

Selbstvertrauen und die Bereitschaft, seine Leidenschaften zu verfolgen;

Freiheit von allem, was einen zurückhalten könnte: Sorgen, Ausreden, die Meinung anderer, Manipulation, Vermeidung;

Gesundheit, weniger Stress, größere Energie;

Bereichernde Beziehungen zu anderen;

in Kontakt mit sich selbst sein;

Selbstakzeptanz und Selbstliebe.

»All diese wundervollen Dinge werden möglich, wenn wir den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, wir selbst zu sein und wirklich authentisch zu leben«, so Mike Robbins. Selbständigkeit im Denken und Handeln und der Mut zur Wahrhaftigkeit sind dafür die notwendigen Voraussetzungen. Wenn man authentisch lebt, hat man eigene Gründe für sein Leben gefunden. Man drückt dem Leben seinen eigenen Stempel auf und sorgt dafür, dass der eigene Sinn nicht in der hintersten Ecke seiner Seele verstaubt.

Eigensinn ist gleich Authentizität? Ersetzt man in diesem Textabschnitt das Wort »authentisch« mit »eigensinnig«, dann wird schnell klar: Ohne Eigensinn ist uns der Zugang zu unserem »eigentlichen« Selbst versperrt. Authentisch leben kann nur, wer eigensinnig seinen Weg geht und in den Dingen und Menschen, die ihm begegnen, einen eigenen Sinn sehen kann.

Was also ist Eigensinn?

Wenn Sie eigensinnig sind, wirken Sie auf andere Menschen möglicherweise exzentrisch und eigenbrötlerisch. Doch niemand wird Sie als egoistisch, manipulativ oder aggressiv wahrnehmen. Denn als eigensinnige Person leben Sie nach dem Motto »Was du nicht willst, was man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu«: So wie Sie in Ihrem So-Sein akzeptiert und nicht bevormundet werden wollen, so akzeptieren Sie auch andere und gestehen diesen ihren Eigensinn zu. Wenn Sie eigensinnig sind, sind Sie unabhängig von anderen Menschen und deren Meinungen. Und Sie wollen, dass andere von Ihnen ebenfalls unabhängig sind. Die Haltung »Hier bin ich, und dort bist du« ist ein wesentliches Merkmal eines eigensinnigen Lebens.

Die »Differentialdiagnose« zeigt: Die Eigenschaft »Eigensinn« hat nichts mit Egoismus und aggressiver Dominanz über andere zu tun. Aber sehr viel mit wichtigen Konzepten der Persönlichkeitspsychologie: Eigensinn ist die Voraussetzung für Selbstverwirklichung, Autonomie, Resilienz und Authentizität. Erst der Eigensinn ermöglicht es einem Menschen, sein volles Potential zu entfalten und zu dem Menschen zu werden, als der er gedacht ist.

Der erste eigensinnige Mensch war eine Frau. Eva wusste, dass es verboten war, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Doch sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und ließ sich von der Schlange verleiten, einen Apfel zu kosten. Damit nicht genug: Sie verführte den willensschwachen Adam dazu, es ihr gleichzutun. Das Gebot Gottes erschien Eva weniger wichtig als ihre Neugier auf die verbotene Frucht.

Wie wir wissen, wurde dieser Akt des Ungehorsams aufs Schlimmste bestraft: Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben. Die Botschaft an die Menschheit war eindeutig: Wer sich über Gebote und Verbote hinwegsetzt, fällt in Ungnade.

Doch was den einen als Erbsünde gilt, ist für andere der erste Schritt in die Unabhängigkeit. Der Psychoanalytiker Erich Fromm sieht in Adams und Evas eigensinnigem Handeln »die Vorbedingung dafür, dass der Mensch sich seiner selbst bewusst wurde und dass er fähig ist, sich für etwas zu entscheiden«. Dass Eva den Apfel angenommen hat, ist für Fromm »der erste Schritt des Menschen auf dem Weg zur Freiheit«.

IIWie eigensinnig sind Sie?