Lass die Kindheit hinter Dir - Ursula Nuber - E-Book

Lass die Kindheit hinter Dir E-Book

Ursula Nuber

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Beschreibung

Ein entlastendes Plädoyer fürs Loslassen und Vergeben»Warum bin ich so, wie ich bin? Und wäre ich anders, wenn meine Kindheit glücklicher verlaufen wäre?« Viele Menschen machen negative Erlebnisse in ihrer Vergangenheit für gegenwärtige Probleme verantwortlich. Tatsächlich: Wir alle werden von unserer Kindheit geprägt – doch sie ist nicht allein ausschlaggebend für unser späteres Glück oder Unglück. Die Psychologin Ursula Nuber plädiert dafür, sich nicht als hilfloses Opfer zu sehen, und zeigt, wie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit uns neue Kraft geben kann. Ein hoffnungsvolles Buch, mit dem es gelingt, sein Leben in die Hand zu nehmen.

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Für meine Mutter (1918–2009)

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, München

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort zur aktualisierten Neuauflage

Haben Sie es schon mal so gesehen?

Ein Zettel, der die Augen öffnete

Vorwort

Was ist damals geschehen?

Ausweichmanöver – früher nützlich, heute schädlich

Einleitung – Warum bin ich so, wie ich bin?

Kindheit hat Folgen

Marionetten der Vergangenheit?

Der Weg zur Selbsterkenntnis

1. Kindheitsgeschichten 1 – Der Einfluss der frühen Jahre

Kindheiten ohne Liebe

2. Weichenstellungen – Was Kinder brauchen

Das Recht auf Liebe

Unsere frühen Bedürfnisse

Falsches Selbst, wahres Selbst: Wer bin ich wirklich?

3. Einflüsterungen – Der Ursprung ungesunder Selbstbilder

Wer spricht denn da?

Wie Glaubenssätze entstehen

Alte Wunden, Stress und Wiederholungszwang

4. Kindheitsgeschichten 2 – Dem Einfluss der Kindheit Grenzen setzen

Die frühen Jahre stellen nicht endgültig die Weichen

Quellen des Selbstvertrauens

5. Alternative Erfahrungen – Was die Seele schützt

Resilienz – Gebogen, aber nicht gebrochen

Positive Begegnungen – Puffer gegen die harte Realität

6. Die Vergangenheit akzeptieren – Mit der Kindheit leben lernen

Den Umgang mit der Vergangenheit verändern

Nicht mehr länger auf das gute Leben warten

7. Eine eigene Geschichte erzählen – Die Regie im Leben übernehmen

Das Weil-Deshalb-Schema aufbrechen

Unseren Erinnerungen ist nicht zu trauen

Ein neues Skript verfassen

Das Selbstbild überprüfen

8. Abstand halten – Die Botschaften der Vergangenheit entmachten

Frühe Zuschreibungen prüfen

Falschen Annahmen auf die Spur kommen

Überzeugungen infrage stellen

Distanz herstellen

9. Das Kind beruhigen – Selbst gut für sich sorgen

Das »Innere Kind« braucht Zuwendung

Fürsorglich mit dem verletzten Kind umgehen

Unterscheiden lernen – Wohin gehört dieses Gefühl?

Resilienz lernen: Es ist nie zu spät

Sich helfen lassen

10. Vergebung – Die Eltern mit anderen Augen sehen

Die schwierige Ablösung

Vergeben – wie geht das?

Verständnis für die Eltern aufbringen

Von Generation zu Generation

11. Wenn die Eltern älter werden – Jetzt soll ich für dich da sein?

Die alten Wunden brechen wieder auf

Die Perspektive verändern

Schluss – Weil Sie kein Kind mehr sind

Befreit leben: Das 8-Punkte-Programm

Danksagung

Literatur

»Ich denke nicht mit Wehmut an meine Kindheit zurück. In all den Jahren, die vergangen sind, habe ich niemals das Gefühl gehabt, das Paradies verloren zu haben, sondern ein Paradies finden zu müssen, anderswo, das auf mich wartet. Ein Paradies, begraben in meinem Innern.«

-Hélène Grimaud

Vorwort zur aktualisierten Neuauflage

Meine Mutter und ich – das war immer ein schwieriges Kapitel. Viele Jahre meiner Kindheit und auch im Erwachsenenalter bemühte ich mich, ihre Liebe zu gewinnen. Mit wenig Erfolg. Zumindest war ich weitaus erfolgloser als meine ältere Schwester – obwohl ich das brave Kind war. Sie durfte rebellieren, schmollen, Türen knallen. Ich bekam schon beim kleinsten Fehlverhalten oft schmerzhaft Grenzen gesetzt. Einschlägige Erinnerungen an Liebesentzug und andere von mir als extrem ungerecht empfundene Strafen waren für mich lange Zeit Belege dafür, dass meine Mutter mir – beschönigend ausgedrückt – Desinteresse entgegenbrachte. Es gab kaum Zärtlichkeit, kaum Verständnis, kaum unbeschwertes Zusammensein.

Meine Kindheit mit dieser Mutter war alles andere als glücklich. Als ich erkannte, dass ich daran selbst mit größtem Wohlverhalten nichts ändern konnte, ging ich sooft ich konnte auf Abstand. Ich suchte Unterschlupf bei einer Tante, später bei einer Freundin und deren Familie. Sobald es möglich war, zog ich aus, und weil das nicht ausreichte, nahm ich nach Abschluss meines Studiums einen Job in einer weit entfernten Stadt an.

Von da an konnten wir besser miteinander, das heißt: Ich konnte besser mit meiner Mutter. Es war mir möglich, ihre Bedürfnisse ohne Groll zu erfüllen.

Dennoch verschwand das schmerzhafte Gefühl, ein ungeliebtes Kind gewesen zu sein, nie ganz. Vor allem in schwierigen, stressreichen Lebenssituationen machte es sich blockierend bemerkbar. Als ich in einem Interview (Süddeutsche Zeitung Magazin 18/2018) diese Aussage des Regisseurs Oskar Roehler las, verstand ich sofort, was er meinte: »Ich muss ehrlich sagen, dass ich durch meine Kindheit und Jugend unheimlich viele Defizite habe, die ich nie in meinem ganzen verfickten Leben wegkriege … Und dass ich immer an irgendwelche Grenzen stoße, weil ich gar nicht anders kann. Die Lebensangst, die einen ständig plagt und die man nicht abschütteln kann. Diese existenzielle Angst, weil man als Kind öfter mal ins Nichts geworfen wurde und darum jederzeit wieder ins Nichts geworfen werden kann.«

Roehler hatte berühmte Eltern: Sein Vater Klaus Roehler machte sich einen Namen als Lektor von Günter Grass, seine Mutter war die Schriftstellerin Gisela Elsner. Er war drei, als die Eltern sich trennten. Zunächst wurde er zwischen Großeltern und dem Vater hin und her geschoben, später kam er ins Internat. Seine Mutter sah er erst mit 20 wieder. Jahre danach, 1992, nahm sie sich das Leben. In seinem Spielfilm Die Unberührbare (mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle) setzte Roehler seiner Mutter ein Denkmal.

Eine schwierige, belastete Kindheit wirft lange Schatten. Sie ist nie ganz vorbei, sie kann sich auf alles auswirken, was wir als längst erwachsener Mensch tun, fühlen und denken. Denn das Kind, das wir waren, lebt mitsamt seinen Gefühlen und Einstellungen in uns weiter. Unter Umständen kann dieses frühere Kind, so erklärt der Psychiater W. Hugh Missildine, »es Ihnen erschweren oder unmöglich machen, im Erwachsenenleben zu Erfüllung und Zufriedenheit zu gelangen, kann Ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen, Sie den letzten Nerv kosten und ganz krank machen.«

Mussten wir als Kinder Lieblosigkeit, Vernachlässigung oder Desinteresse erleiden, blieb uns nichts anderes übrig, als Überlebensstrategien zu entwickeln. Wir lernten, wie wir Strafen vermeiden, wie wir den Schmerz der Nichtbeachtung verdrängen und mit welchen Verhaltensweisen wir der Mutter ein Lächeln und dem Vater ein Lob abtrotzen konnten. Kommen wir heute als Erwachsene in Situationen, die uns an früher erinnern (ohne dass uns das im Einzelfall bewusst wird), kann das die damaligen Überlebensstrategien reaktivieren; wir passen uns an die Wünsche und Bedürfnisse anderer an, um Anerkennung und Zuwendung zu bekommen. Oder wir verschließen uns wie eine Auster, wenn uns jemand zu nahe kommt, aus Angst vor erneuter Verletzung. Diese Überlebensstrategien sind vielfältig und variantenreich – je nachdem, welche Herausforderungen wir in der Kindheit meistern mussten. Doch so hilfreich die Strategien für uns früher waren, so destruktiv ist ihre Wirkung heute. Heute können sie zu Irritationen, seelischen Belastungen und wenig erwachsenen Reaktionen führen. Das Früher lebt dann in der Gegenwart auf ungute Weise weiter. Das ist eine bittere Wahrheit.

Aber es ist nur ein Teil der Wahrheit.

Denn wahr ist auch: Es liegt an uns, ob wir als Erwachsene immer noch von den frühen Erfahrungen gesteuert werden, und im Schatten der Kindheit stehen bleiben oder ob wir aus diesem Schatten heraustreten. Die Anfangsjahre unserer Lebensgeschichte können wir nicht mehr verändern. Der bekannte Satz »Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit« ist schön, aber leider falsch. Wenn wir von den Eltern nicht geliebt wurden, können wir keine Wiedergutmachung erhoffen. Was sich jedoch positiv beeinflussen lässt, ist unsere Haltung den Eltern gegenüber, die Art und Weise, wie wir auf die Kindheit blicken, und wie wir uns selbst sehen. Wir können uns entscheiden: Wollen wir unsere Geschichte ausschließlich als Problemgeschichte erzählen, oder wollen wir ihr einen neuen, konstruktiven »Dreh« geben? Ein Perspektivenwechsel lohnt sich. Ohne das Erlittene zu beschönigen, können wir uns fragen: Habe ich etwas übersehen? Ist meinen Erinnerungen zu trauen? Wäre es nicht möglich, dass ich aufgrund meiner negativen frühen Erfahrung vielleicht sogar Eigenschaften entwickelt habe, auf die ich heute stolz bin?

Haben Sie es schon mal so gesehen?

Der Schriftsteller Andreas Altmann hat wütend mit seiner schlimmen Kindheit abgerechnet. Der Titel seines Buches könnte eindeutiger nicht sein: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend. Altmann schildert darin seine Kindheit in der Provinz, »voller Misshandlungen, Demütigungen, bigotter, tätlicher Pfarrer und verkappter Nazis«. Doch er ist nicht gefangen von diesen belastenden Erinnerungen. Er wollte sein Leben nicht als »greinende Heulsuse« verbringen, er wollte nicht »ewiglich der abwesenden Liebe von Mutter und Vater hinterherlamentieren«, wie er in seiner unnachahmlich direkten Art in seinem Buch schreibt. »Irgendwann musste Schluss sein, irgendwann muss ein Mann ein Mann werden, muss sich zwischen einem Leben als Opfer oder Täter entscheiden.«

Geholfen haben ihm bei diesem Prozess zwei Perspektivenwechsel: Zum einen versuchte er, seinem Vater mit Verständnis zu begegnen. Er sah in ihm nicht mehr nur den Mann, der Frau und Kind seelisch misshandelte, er sah auch den Mann, dessen Träume vom Krieg zerstört worden waren, der seine Intelligenz, seine Kreativität, seine Musikalität nicht ausleben konnte. Natürlich, so sagte er in einem Interview, vergibt kein Kind »einem Vater das, was er ihm angetan hat. Aber du verstehst ihn. Wenn du älter wirst und anfängst, dich für die Vergangenheit zu interessieren, verstehst du, dass er nicht Herr seiner selbst war. Sondern Spielball der Umgebung.«

Der zweite Perspektivenwechsel, den der Schriftsteller vornahm, galt seinem Selbstbild. Er konzentrierte sich nicht mehr länger auf die Schwächen und Defizite, die ihm seine Kindheit beschert hatte, sondern lenkte den Blick auf seine Stärken, die er wohl nur aufgrund seiner frühen Erfahrungen entwickeln konnte: »Das Wissen um die eigene Verwundbarkeit macht empfindsamer, durchlässiger, lotet rigoroser die Wirklichkeit aus. Meine Verletzungen sind, so vermute ich, der Eintrittspreis für mein Davonkommen. Andersherum: Hätte ich eine liebliche Kindheit verbracht, ich hätte wohl nie zu schreiben begonnen.«

Ein Zettel, der die Augen öffnete

Wie befreiend ein Perspektivenwechsel sein kann, habe auch ich erfahren. Ich war noch mitten im Psychologiestudium, als ein simpler Zettel meinen Blick auf meine Kindheit veränderte.

Ich weiß noch, es war ein trüber Samstag im November. Gerade das richtige Wetter, um endlich mein unordentliches, übervolles Bücherregal aufzuräumen und auszumisten. Wer Bücher liebt, weiß, wie schwer die Entscheidung fällt, sich von einem Werk zu trennen. So prüfte auch ich jeden Band, ehe ich ihn auf den »Kann weg«-Stapel legte. Es war eine entspannende, fast kontemplative Aufgabe – bis plötzlich aus einem Buch ein unscheinbarer Zettel herausfiel. Sofort erkannte ich die Handschrift meiner Mutter. Diese wackeligen Druckbuchstaben waren typisch für sie. Als Kind hatte sie Sütterlin gelernt, die lateinische Schrift beherrschte sie nicht.

 Liebe Ursula! Danke für all Deine Liebe und Fürsorge! Ich bin so glücklich, dass ich Dich habe. Liebe Grüße Deine Mama.

Hatte ich richtig gelesen? In meinem Kopf brach ein Gedankengewitter aus: Wann hatte sie mir diesen Zettel gegeben oder geschickt? Was war der Anlass gewesen? Ich wusste es nicht. Noch schlimmer: Ich konnte mich nicht daran erinnern, diese Notiz jemals gelesen zu haben. So liebevoll und einfühlsam schrieb meine Mutter an mich? Fassungslos starrte ich auf den Zettel. Was da stand, widersprach dem Bild, das ich bislang von ihr hatte, vollkommen. War das die strenge, kühle Mutter, deren Aufmerksamkeit ich mir nicht einmal durch Wohlverhalten verdienen konnte? War das die Mutter, die mich niemals zärtlich in den Arm genommen hatte?

 

Quälende Fragen gingen mir durch den Kopf: »Habe ich meiner Mutter unrecht getan? Habe ich meine Kindheit zu düster gesehen?« Der zufällig gefundene Zettel hatte enorme Auswirkungen. Ich begann, meine Erinnerungen auf den Prüfstand zu stellen, fragte noch lebende Zeitzeugen nach meiner Mutter: Wie war sie früher? Welche Eigenschaften hatte sie nach Meinung der anderen? Wie ist sie aufgewachsen, geboren Ende 1918, am Ende des Ersten Weltkrieges? Konnten sich die Eltern, die in den 1920er- und 1930er-Jahren von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen waren, um das Mädchen kümmern? Wie hat sie als 18-Jährige den frühen Tod ihrer Mutter erlebt? Nach und nach entwickelte ich ein vorher nie da gewesenes Interesse an dieser Frau, die ich bislang nur in ihrer Mutterrolle kannte.

Meine Recherchen veränderten meinen Blick auf meine Mutter und meine Kindheit. Er wurde milder und versöhnlicher. Ich erkannte, dass meine bisherigen Erinnerungen nicht die ganze Wahrheit waren. Natürlich, da gab es diese Strenge mir gegenüber, diese schmerzhaften Strafen, diese schreckliche Ungeduld. Aber nun gab es auch diese Bilder: Die Mutter in ihrer Kittelschürze, wie sie jeden Mittag in der Tür stand, als ich von der Schule nach Hause kam. Die gemeinsamen gemütlichen Nachmittage mit Tee, Rosinenstullen und Erdbeermarmelade. Und wie lustig es war, wenn sie sich sonntags mit mir aus dem katholischen Gottesdienst stahl, mit dem sie, die »Evangelische«, wie sie im Dorf hieß, nichts am Hut hatte.

Diese neuen Bilder lösten einen befreienden Prozess aus. Meine Besuche bei ihr gestalteten sich nun entspannter, ich erzählte ihr bereitwillig mehr von mir und konnte wirkliches Interesse an ihren Sorgen und Erlebnissen aufbringen. Am Ende, als meine Mutter pflegebedürftig wurde, löste ich sogar die räumliche Trennung auf. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in einem Heim in meinem Wohnort.

Meine Mutter verstarb 2009. Im gleichen Jahr erschien die erste Ausgabe des Buches Lass die Kindheit hinter dir. Dass ich es damals in dieser Weise schreiben konnte, verdankte ich ganz sicher auch dem Prozess, den der zufällig gefundene Zettel angestoßen hatte. Dieser Prozess verhalf mir zu einem differenzierten Bild von mir, meiner Mutter und meinen frühen Jahren und zu der Erkenntnis, dass Erinnerungen an die frühe Kindheit nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Unsere ersten Jahre sind nicht zwangsläufig ein Leben lang tonangebend; wir sind ab einem gewissen Zeitpunkt in der Lage, die Melodie selbst zu komponieren.

 

Ladenburg, Frühjahr 2019

Vorwort

Sie gehen eine Straße hinunter. Da ist ein tiefes Loch, Sie sehen es nicht und fallen hinein. Vor Schreck sind Sie zunächst wie gelähmt, fühlen sich verloren und hilflos. Sie haben das Gefühl, dass es Ihre Schuld ist, dass Sie nun in diesem Loch gefangen sind. Hätten Sie nur besser aufgepasst! Es dauert eine Ewigkeit und kostet Sie viel Kraft, ehe Sie wieder herausfinden.

Einige Zeit später gehen Sie erneut diese Straße entlang. Das Loch ist immer noch da, Sie wissen das, aber Sie tun so, als gäbe es das Loch nicht. Wieder fallen Sie hinein. Sie sind fassungslos, können nicht glauben, dass Ihnen dasselbe Unglück schon wieder passiert ist. Sie hadern mit der Straße, aber vor allem hadern Sie mit sich selbst. Wieder brauchen Sie lange, bis Sie sich aus dem Loch herausgekämpft haben.

Nach ein paar Wochen führt Sie Ihr Weg erneut durch diese Straße. Noch immer ist das Loch nicht aufgefüllt worden. Sie sehen das Hindernis durchaus – und fallen dennoch wieder hinein. Sie grämen sich und machen sich Vorwürfe. Sie halten es für eine dumme Angewohnheit, dass Sie diesem Loch nicht ausweichen können. Ihre Verzweiflung ist groß, und Sie fragen sich, ob Sie jemals eine Chance haben, diese Straße ohne Gefahr entlanggehen zu können.

Den amerikanischen Autoren Sidney und Suzanne Simon verdanke ich die Vorstellung, dass bestimmte Erfahrungen, die wir im Leben machen müssen, zu »Schlaglöchern« auf unserem Weg werden können. Schlaglöcher, die wir manchmal gar nicht sehen, und wenn doch, ihnen nicht ausweichen können. Sicher kennen auch Sie diese Situationen: Immer wieder fallen Sie in dasselbe Loch, immer wieder müssen Sie bestimmte Erfahrungen machen, die alles andere als angenehm sind. Und Sie sind nicht in der Lage, Verhaltensweisen zu ändern, die Ihnen nur schaden. Wenn Ihnen solche Erfahrungen nicht unbekannt sind, dann gibt es auf Ihrer Lebensstraße wahrscheinlich auch gefährliche Löcher – wie beispielsweise folgende:

Sie verlieben sich immer in die »Falschen« und müssen immer wieder aufs Neue Zurückweisung und Enttäuschungen erleben.

Sie rutschen, wenn Sie erschöpft und ausgelaugt sind, in eine depressive Stimmung, die oft tage- oder wochenlang nicht weichen will.

Beim kleinsten Misserfolg zweifeln Sie grundsätzlich an Ihren Fähigkeiten.

Sie haben Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Selbst bei kleinen Dingen fällt es Ihnen schwer herauszufinden, was Sie wirklich wollen.

Sie essen mehr, als Ihnen guttut – vor allem dann, wenn Sie sich einsam fühlen.

Sie entspannen sich mit zu viel Alkohol oder Süßem, wenn Sie Ärger hatten.

Sie haben manchmal aus heiterem Himmel Angst und wissen nicht wovor.

Sie zweifeln an Ihrer Beliebtheit und ziehen sich deshalb von anderen Menschen zurück.

Sie reihen Erfolg an Erfolg und wundern sich, dass Sie sich über keine Ihrer Leistungen freuen können.

Sie sehnen sich nach Nähe und intensiven Kontakten, doch sobald Ihnen ein Mensch näherkommt, ziehen Sie sich zurück.

In schöner Regelmäßigkeit tauchen diese Situationen und Stimmungen, diese »Löcher« in Ihrem Leben auf. Und in schöner Regelmäßigkeit tun Sie das, was Sie immer tun: Sie fallen hinein. Das heißt, Sie ziehen sich zurück, Sie betäuben sich, Sie bekämpfen Ihre Ängste und Ihre Niedergeschlagenheit: mit Arbeit, mit Essen, mit Alkohol oder anderen Drogen. Sie hadern mit sich, den Menschen, mit denen Sie es zu tun haben, oder mit Ihrem Leben. Denn was immer Sie versuchen, es gelingt Ihnen nicht, dem jeweiligen »Loch« auszuweichen. Ihnen ergeht es immer wieder wie in der beschriebenen Straßenszene: Entweder sehen Sie das Loch nicht, oder Sie tun so, als wäre es nicht da.

Doch das Loch existiert. Es ist vor langer Zeit gegraben worden, als Sie klein waren. Damals konnten Sie noch nicht erkennen, dass es ein Hindernis gibt, vor dem Sie sich hüten sollten. Sie konnten die Gefahr nicht sehen, und Sie hatten auch gar keine Möglichkeit, ihr auszuweichen. Sie mussten zwangsläufig hineinplumpsen. Sie konnten nichts gegen dieses Loch unternehmen, das von Ihren Eltern und anderen wichtigen Menschen Ihrer Kinderwelt gegraben wurde.

In der Mehrheit der Fälle entstand dieses Loch nicht aus bösem Willen und nicht aus Absicht. Eltern wollen ihren Kindern keine Löcher graben. Fast alle Väter und Mütter wünschen sich für ihr Kind nur das Beste. Welche Eltern möchten schon bewusst und willentlich einem Kind etwas Schlechtes antun oder ihm Steine in den Weg legen? In der Regel bemühen sich Eltern darum, gute Eltern zu sein. Meist setzen sie ihren ganzen Ehrgeiz ein, damit es ihren Töchtern und Söhnen besser geht als ihnen selbst. Doch auch wenn sie nur das Beste für ihr Kind wollen, gelingt ihnen das nicht immer oder nicht im gewünschten Maße. Eltern haben ihre eigenen Probleme und Schwächen – und diese wirken sich auf den Umgang mit ihrem Kind aus. Eltern haben Liebeskummer, finanzielle Sorgen, sie werden arbeitslos, krank, müssen vielleicht ständig den Wohnort wechseln oder sind zu manchen Zeiten ihres Lebens schlichtweg überfordert. Weil das Leben für sie schwer ist, machen sie es oft ungewollt auch ihren Kindern schwer.

Was ist damals geschehen?

Eltern sind fehlbar. Alle. So gibt es wohl niemanden, der optimal von seinen Eltern umsorgt und geliebt worden wäre.

Dabei sind es nicht immer nur traumatische Erlebnisse wie beispielsweise körperliche oder seelische Misshandlungen, die Löcher in die Straße der Kindheit graben. Sie mögen in einer scheinbar ganz intakten Familie aufgewachsen sein – und dennoch ist das keine Garantie, dass Sie ohne seelische Blessuren heranwachsen konnten. In den »besten Familien« kann es zu Entwicklungen kommen, die eben nicht »das Beste« für ein Kind bedeuten. Ebenso zerstörend wie schwere Traumata sind die subtilen seelischen Verletzungen, die tiefe Löcher graben und unter Umständen einen Menschen ein Leben lang blockieren und beschäftigen können.

Vielleicht sind Sie mit Eltern aufgewachsen, die viel Angst um Sie hatten und deshalb alle Ihre Schritte kontrollierten. Sie wollten Sie vor Leid und Fehlern bewahren, indem Sie Ihnen vorschrieben, was Sie zu tun und zu lassen hatten. Eine 32-jährige Frau erinnert sich noch genau an den Tag, an dem ihre Sportlehrerin zu ihren Eltern nach Hause kam. Sie war damals elf Jahre alt. Die Lehrerin war von ihrem Schwimmtalent überzeugt und wollte sie in den Schwimmverein aufnehmen. Die Eltern sollten ihre Zustimmung dazu geben. Die erwachsene Frau kann sich gut erinnern, wie ihre Mutter reagierte: »Mein Kind soll in den Schwimmleistungskurs? Das kommt überhaupt nicht infrage!« Weil die Tochter im Alter von sechs Monaten an einer schweren Virusinfektion erkrankt war und lange im Krankenhaus behandelt werden musste, glaubte die Mutter, sie sei verletzlicher und schwächer als andere Kinder. Ein Schwimmleistungskurs erschien ihr da ein Ding der Unmöglichkeit.

Mussten auch Sie solche gut gemeinten Schutzmaßnahmen öfter erleben, dann wagen Sie sich heute als erwachsener Mensch möglicherweise oft nicht aus der Deckung. Sie scheuen das Risiko, sehen es sogar da, wo es gar keines gibt. Ihr Loch heißt dann vielleicht »Lebensunsicherheit«.

Möglicherweise sind Sie mit Eltern aufgewachsen, die beruflich sehr eingespannt und selten zu Hause waren oder die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht besonders um Sie kümmern konnten. Sie waren von Anfang an auf sich alleine gestellt, denn die Erwachsenen hatten mit sich selbst und ihren Problemen genug zu tun. Sie mussten schnell erwachsen werden – und möglicherweise sind Sie darauf heute sogar stolz. Sie brauchen niemanden. Sie können sich auf sich selbst verlassen. Das Loch, das Ihnen zu schaffen macht, heißt dann möglicherweise »Angst vor Nähe«.

Oder Sie sind in einer Familie groß geworden, in der es ungerecht zuging. Vielleicht haben Ihre Eltern ein Geschwister Ihnen konsequent vorgezogen? Wie amerikanische Wissenschaftler in einer Studie feststellten, ziehen zwei Drittel aller Eltern ein Kind ihren anderen Kindern vor. Die meisten Eltern haben also ein Lieblingskind. Dabei wird das Erst- oder das Letztgeborene oft mit mehr Aufmerksamkeit und Zuneigung bedacht als ein mittleres Kind. Die ungerechte Verteilung der elterlichen Liebe hat Folgen: Kinder, die sich zurückgesetzt fühlen, haben weniger Selbstvertrauen und neigen zu aggressivem Verhalten. Auch Verhaltensprobleme sind bei ihnen häufiger zu beobachten. In Langzeitstudien konnte ferner nachgewiesen werden, dass sich die ungerechte Verteilung der Elternliebe oft im Erwachsenenalter fortsetzt. Auch ihren erwachsenen Kindern zeigen Eltern manchmal deutlich, ob sie ihnen am Herzen liegen oder nicht. Eltern bevorzugen Töchter und Söhne, die die Werte und Ansichten der Eltern teilen.

»Meine Mutter lässt heute noch alles stehen und liegen, wenn mein Bruder sie anruft oder zu Besuch kommt. Das war schon immer so, er ist ihr Liebling«, sagt eine erfolgreiche Managerin, und es kommen ihr die Tränen. Noch jetzt tut es ihr weh, sich an die ungerechte Verteilung der mütterlichen Liebe zu erinnern.

Wenn Sie solche Erfahrungen machen mussten, dann fallen Sie vielleicht immer wieder in das Loch »Ich werde nicht geliebt.«

Möglicherweise hatten Sie Eltern, die Sie regelrecht verwöhnten, die sich immer um alles gekümmert und Ihnen viele Aufgaben abgenommen haben. Wenn Sie von Ihren Eltern so grenzenlos geliebt worden sind, wenn Ihnen alle Wünsche von den Augen abgelesen wurden, dann mag das für Sie als Kind paradiesisch gewesen sein. Aber spätestens in der Schule dürften die Probleme angefangen haben: Da mussten Sie feststellen, dass Ihnen doch nicht alles gelingt und dass es Menschen gibt, die etwas von Ihnen fordern. Heute als Erwachsener haben Sie eventuell immer noch Schwierigkeiten, Grenzen zu akzeptieren und auf die Bedürfnisse anderer einzugehen.

Ein 18-Jähriger weiß nach dem Abitur nicht, welchen beruflichen Weg er einschlagen soll. Jeden Morgen findet er auf dem Frühstückstisch neue Vorschläge, die seine Mutter aus der Zeitung ausgeschnitten oder aus dem Internet heruntergeladen hat. Dann würde er am liebsten kehrtmachen und sich wieder ins Bett legen. »Sie meint es nur gut«, sagt er, »aber wenn sie endlich aufhören würde, mir alles abnehmen zu wollen, könnte ich darüber nachdenken, was ich eigentlich will.«

Wenn Sie in Ihrer Kindheit nicht ausreichend gefördert und gefordert worden sind, dann kann es sein, dass das Loch, in das Sie regelmäßig fallen, etwas mit dem Gefühl zu tun hat: »Ich weiß nicht, was richtig ist.«

Wenn Sie als Kind mit einer psychisch kranken Mutter oder einem psychisch kranken Vater aufwachsen mussten oder wenn ein Elternteil alkoholabhängig war, haben Sie wahrscheinlich zu wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung erfahren. Die Eltern waren mit ihren eigenen Problemen überfordert, möglicherweise war auch der kranke Elternteil wochenlang abwesend, weil er in einer Klinik behandelt werden musste. Das alles war für Sie unverständlich und hat Ihnen Angst gemacht. Diese frühen Gefühle von Hoffnungs- und Hilflosigkeit sowie die Sorge um den kranken Elternteil hinterlassen Spuren und führen unter Umständen dazu, dass Sie nun, als erwachsene Frau oder als erwachsener Mann, ebenfalls Angst vor Erkrankung haben – der eigenen oder der anderer – und Sie in Ihren eigenen Beziehungen häufig die Helferrolle übernehmen und Ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen.

Wenn ein Elternteil alkoholabhängig oder chronisch krank war, so zeigt die Forschung, sind Sie möglicherweise übertrieben verantwortungsbewusst, reagieren verunsichert auf Veränderungen, nehmen alles sehr ernst und haben oft das Gefühl, anders als andere zu sein.

Auf Ihrem Lebensweg tut sich dann regelmäßig ein Loch auf, das da heißt »Andere sind wichtiger als ich.«

Auch die Scheidung der Eltern kann ein Erlebnis sein, das Ihre Kindheit überschattet und langfristige Folgen für Sie hat. Charlotte Roche, Moderatorin und Autorin des Bestsellers

Feuchtgebiete

beschrieb in einem Interview mit dem

Süddeutsche Zeitung Magazin

, wie sie die Scheidung ihrer Eltern erlebte: »Ich bin ohne Vater aufgewachsen. Ich war mein Leben lang überfordert, habe aber immer weitergemacht, immer höher. Dieser Trieb nach Anerkennung ist in mir ganz stark … Ich habe mir als Kind oft vorgestellt, dass ich mich anfahren lasse, um ins Krankenhaus zu kommen, um wieder beide Eltern um mich zu haben. Ich war fünf, als sie sich scheiden ließen. Und das haben die so schlecht gemacht, die haben überhaupt nichts getan, um mir diese Last zu erleichtern. Heute weiß ich erst, dass alle Kinder das Schlimme immer auf sich selbst beziehen. Das Kind denkt: Das ist passiert, weil ich nicht lieb genug war.«

Wenn Ihre Eltern sich scheiden ließen, dann sind Sie sicherlich früh selbstständig und möglicherweise in den Jahren nach der Scheidung in der Schule schlechter geworden. Höchstwahrscheinlich entwickelten Sie Trennungsängste, Depressionen oder Schuldgefühle, weil auch Sie glaubten, für die Trennung der Eltern verantwortlich zu sein. Weil Sie als Kind den großen Wunsch hatten, dass die Eltern wieder zueinanderfinden, bemühen Sie sich heute, als Erwachsener, um Harmonie in Ihren eigenen Beziehungen, sind eher konfliktscheu oder übernehmen gerne die Vermittlerrolle in Streitsituationen. Weil Sie als Kind die Trennung Ihrer Eltern als ernsthafte Bedrohung empfunden haben, taucht auch heute schnell die Angst vor dem Verlassenwerden auf. Diese kann so stark und belastend sein, dass Sie entweder keine Nähe zu anderen zulassen oder sich schnell trennen, um nicht verlassen zu werden. Oder Sie ordnen sich unter, um die Liebe eines wichtigen anderen Menschen nicht zu verlieren. Als Erwachsener befinden Sie sich in einem quälenden Zwiespalt zwischen Ihrer Sehnsucht nach Liebe und Bindung und Ihrer intensiven Angst, in Liebesdingen ebenso zu scheitern wie die Eltern.

Das Loch, mit dem Sie sich immer wieder auseinandersetzen müssen, könnte dann heißen »Ich kann mich auf niemanden verlassen.«

Vielleicht sind Sie mit Eltern aufgewachsen, die selbst viel zu bedürftig waren und deshalb Ihnen nicht die Liebe und Aufmerksamkeit schenken konnten, die Sie gebraucht hätten. Die Mutter oder der Vater erhofften sich von Ihnen, dem Kind, die Zuwendung, die sie selbst früher nicht bekommen hatten. Deshalb bekamen Sie nur dann Aufmerksamkeit, wenn Sie die Erwartungen der Mutter oder des Vaters erfüllten. Solange Sie alles richtig machten, war alles in Ordnung. Wollten Sie jedoch etwas anderes als die Eltern, wurden Sie mit Liebesentzug bestraft. Sie lernten früh, wie Sie sich verhalten mussten, damit Sie die Liebe der Eltern nicht verloren. Und Sie lernten früh, Ihre eigenen Bedürfnisse zu verleugnen. Sie lernten diese Lektion so gut, dass Sie heute Ihre eigenen Wünsche nicht mehr kennen und regelmäßig in dieses Loch plumpsen: »Ich bin nichts wert.«

 

Vielleicht waren Sie den Launen einer lieblosen Mutter ausgeliefert. Vielleicht erwartete man von Ihnen permanent Höchstleistungen und hatte dennoch kaum Lob für Sie übrig. Vielleicht bekamen Sie viel zu wenig Zuwendung und Aufmerksamkeit oder waren die meiste Zeit Ihrer Kindheit einsam und sich selbst überlassen. Vielleicht wurden Sie, als Sie klein waren, ständig gehänselt und fanden keine Freunde. Vielleicht glaubten Ihre Eltern, Sie mit Gewalt zu einem »guten« Menschen erziehen zu müssen. Vielleicht hatten Sie als Kind Angst im Dunkeln, aber niemand hat Ihre Tränen getrocknet. Vielleicht bestimmte der Vater autoritär über Sie … Es sind ganz viele und ganz unterschiedliche Szenarien denkbar, die Sie als Kind tief verunsicherten und die Ihnen auch heute immer mal wieder das Gefühl geben, auf schwankendem Boden zu stehen. Und wie früher greifen Sie dann möglicherweise zu Strategien, um nicht zu fallen …

Ausweichmanöver – früher nützlich, heute schädlich

Auf der Straße Ihres Lebens kann es in dem Streckenabschnitt »Kindheit« viele Schlaglöcher gegeben haben. Sie konnten ihnen meistens nicht ausweichen. Bereits als Kind spürten Sie, dass der Weg nicht sicher war, und deshalb entwickelten Sie Strategien, um nicht ständig in diese Löcher fallen zu müssen. Möglicherweise haben Sie gelernt zu kämpfen, wurden vielleicht zu einem aufsässigen, unangepassten Kind, das ständig »Ärger« machte. Vielleicht haben Sie versucht, der Gefahr aus dem Weg zu gehen, indem Sie es vermieden, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Oder Sie wählten andere Strategien: wurden zum braven Kind, das alles still erduldete und es nicht wagte, eigene Wünsche anzumelden.

Alle diese Bewältigungsmechanismen – kämpfen, fliehen, erdulden – waren in Ihrer Kindheit sicher sinnvoll, sie halfen Ihnen, wenigstens hin und wieder ein Schlagloch zu umgehen. Wirklich geändert an Ihrer Situation hat sich dadurch aber nichts. Die Löcher blieben. Niemand schüttete sie zu. Sie wussten das als Kind. Deshalb waren Sie immer auf der Hut. Ihr Instinkt sagte Ihnen damals: Vorsicht, Vorsicht, die Straße ist nicht sicher!

Auch heute noch fordert Sie dieser Instinkt zu erhöhter Wachsamkeit auf. Und weil Sie auch heute noch nicht genau wissen, an welcher Stelle welche Löcher lauern, sind Sie sicherheitshalber bei Ihren Strategien geblieben: Sie kämpfen immer noch. Sie verstecken sich immer noch. Sie erdulden immer noch.

Wenn Sie zum Beispiel als Kind durch die Verhaltensweisen Ihrer Umgebung die Überzeugung gewonnen haben »Ich kann mich auf niemanden verlassen«, dann werden Sie auch als Erwachsener wahrscheinlich grundsätzlich mit der Existenz eines Loches rechnen, das da lautet: »Auf niemanden ist Verlass!« Das prägt Ihren Umgang mit anderen Menschen. Je nachdem, welche Bewältigungsstrategie Ihnen als Kind sinnvoll erschien, werden Sie sich anderen gegenüber entsprechend verhalten. Haben Sie gelernt zu kämpfen, dann bemühen Sie sich vielleicht mit allen Mitteln um die Zuwendung anderer, indem Sie sich anklammern, den anderen kontrollieren oder ihm eifersüchtig drohen. Wenn Flucht Ihre Antwort auf die bedrohenden Umstände war, werden Sie sich gar nicht erst auf emotional tiefe Beziehungen einlassen. Und wenn Sie als Kind das Erdulden gewählt haben, verlieben Sie sich heute möglicherweise in Menschen, die nicht verlässlich sind, und nehmen die Situation als unveränderlich hin.

All das passiert mit Ihnen, ohne dass Sie sich dessen wirklich bewusst wären. Sie verhalten sich so, weil Sie früher damit gute Erfahrungen gemacht haben. Und weil Ihnen keine Alternativen zur Verfügung stehen. Sie haben Angst vor den Schlaglöchern, möchten Sie meiden – aber Sie wissen nicht, wie. Früher oder später fallen Sie doch wieder hinein. Manchmal sind Sie drauf und dran zu resignieren. Sie fürchten dann, die Existenz dieser bedrohlichen Löcher endgültig akzeptieren und sich in Ihr Schicksal fügen zu müssen.

Doch das entspricht nicht der Realität. Heute als erwachsene Frau und erwachsener Mann können Sie mit den Löchern, die in Ihrer Kindheit gegraben wurden, anders umgehen. Sie sind nicht mehr hilflos, klein und ausgeliefert. Heute können Sie lernen, die Gefahren zu sehen und sie zu meistern. Und Sie können schließlich einen neuen Weg wählen – einen, der Sie gefahrloser an Ihr Ziel bringt.

Wie Sie all das erreichen können – das ist das Thema dieses Buches:

Es beschäftigt sich mit den vielen möglichen Schlaglöchern, die Ihnen auf der Wegstrecke »Kindheit« ein gefahrloses Vorankommen bislang unmöglich machten.

Es zeigt Ihnen, welche hinderlichen Schlussfolgerungen Sie aus dieser anfänglich so beschwerlichen Reise für Ihr Leben gezogen haben.

Und es gibt Ihnen konkrete Hilfen an die Hand, wie Sie trotz der vorhandenen Löcher in Zukunft glatter vorankommen und es schaffen können, mit etwas Geduld und Ausdauer immer seltener in alte Löcher fallen.

Einleitung – Warum bin ich so, wie ich bin?

»Ich werde immer als sein kleiner Sohn leben, mit dem Gewissen eines kleinen Sohnes, so wie er immer lebendig bleiben wird, nicht nur als mein Vater, sondern als der Vater, der zu Gericht sitzt über alles, was immer ich tue.«

Philip Roth

»Wie war Ihre Kindheit?«

Wenn Sie diese Frage lesen, fällt es Ihnen dann schwer, sie zu beantworten? Müssen Sie erst lange und intensiv darüber nachdenken, wie die ersten Lebensjahre für Sie waren? Bereitet es Ihnen Schwierigkeiten, sich an die Ereignisse und die Atmosphäre Ihrer frühen Kindheit zu erinnern? Wahrscheinlich nicht. Denn wie wohl jeder Mensch haben auch Sie sich vermutlich zu irgendeinem Zeitpunkt Ihres Lebens mit Ihren Anfängen beschäftigt und sich gefragt, was Vater und Mutter für Persönlichkeiten waren und wie Sie von diesen Menschen beeinflusst und geprägt worden sind. Je nachdem, welche Antworten Sie gefunden haben, kann Ihre Reaktion auf die Frage »Wie war Ihre Kindheit?« sehr unterschiedlich ausfallen.

Möglicherweise erzählen Sie, ohne groß nachzudenken, dass Ihre ersten Jahre schon ganz in Ordnung waren. Na klar, Eltern machen Fehler, aber das ist doch normal. Alles in allem war die Kindheit sogar glücklich. Auf jeden Fall war sie »ganz normal«. Aus heutiger Sicht, so sagen Sie – und mit Ihnen viele Erwachsene –, könnte man die Eltern natürlich schon kritisch sehen, aber früher wusste man doch noch gar nicht, was ein Kind eigentlich braucht. Das Wissen über Kindererziehung und Pädagogik war doch allgemein ziemlich dürftig.

Denkbar ist aber auch, dass Sie auf die Frage »Wie war Ihre Kindheit?« von vornherein mit der klaren, eindeutigen Antwort »schlecht« reagieren. Vielleicht aktiviert diese Frage einen mühsam unterdrückten Groll, und Sie erinnern sich sofort und schmerzlich, was in den ersten Jahren Ihres Lebens alles falsch gelaufen ist, wie ungerecht man Sie behandelt, eventuell sogar misshandelt hat. Die Erinnerungen daran sind so klar und deutlich, als wäre es gestern geschehen. Und Sie sind überzeugt davon, dass Sie heute ein anderer Mensch wären, wenn Sie andere Eltern und damit bessere Startchancen gehabt hätten. Möglicherweise wären Sie dann unabhängiger, selbstständiger, hätten weniger Probleme, kämen mit anderen Menschen besser zurecht, hätten glücklichere Liebesbeziehungen, ein positiveres Selbstbild, wären optimistischer … kurz, Sie wären ein ganz anderer Mensch, wenn Ihre Kindheit besser gewesen wäre.

Aber vielleicht haben Sie gar keine konkrete Erinnerung an früher. Ihre Kinderjahre liegen in einem Nebelfeld, und da sollen sie Ihrer Ansicht nach auch bleiben. Was früher war, wen interessiert das schon? Wozu soll es gut sein, in der Vergangenheit herumzustochern? Sie wissen nicht, ob Sie eine gute oder eine schlechte Kindheit hatten, und Sie glauben, dass es Ihnen nicht viel helfen würde, falls Sie die Antwort wüssten. Was vorbei ist, ist vorbei, winken Sie ab, wenn jemand etwas von früher wissen will. Möglicherweise reagieren Sie auch abwehrend und genervt, wenn andere Menschen ihre aktuellen Probleme mit einer schlechten Kindheit erklären oder gar rechtfertigen wollen. Sie glauben an die Eigenverantwortung und daran, dass jeder seines Glückes Schmied und damit auch selbst verantwortlich dafür ist, ob es ihm gut oder schlecht geht.

Wenn Sie so über Ihre eigene Vergangenheit denken, wenn Sie sich an gar nichts oder wenig aus der frühen Kindheit erinnern, wenn Sie sich nicht als Vierjährige sehen und nicht wissen, was Sie als Sechsjähriger erlebt haben, dann könnte das ein Hinweis darauf sein, dass ein klarer Blick auf das Früher für Sie zu schmerzhaft wäre und Sie deshalb bestimmte Abwehrmechanismen entwickelt haben, um sich nicht erinnern zu müssen. Sie haben dann scheinbar vergessen, was geschehen ist – und das war früher, als Sie klein waren, die beste Lösung. Denn diese Mechanismen schützten Sie davor, die Wahrheit über das Geschehen in vollem Ausmaß zu begreifen. Sie halfen Ihnen, in einer unwirtlichen Umgebung, mit ablehnenden, strafenden, überbehütenden, gleichgültigen Eltern zu überleben. Und sie helfen Ihnen noch heute, weil Sie sich mithilfe dieser Abwehrmechanismen die Illusion erhalten können, dass Vater und Mutter gute Eltern gewesen sind, dass diese Sie geliebt und nichts falsch gemacht haben.

Ein 60-jähriger Mann, der nach dem Scheitern einer dritten Ehe psychologische Beratung aufsucht und sein Leben ordnen will, erinnert sich in der Therapie an seine Mutter. Sie war eine sehr schöne Frau, die sehr wohl wusste, wie sie auf Männer wirkte. Und ganz offensichtlich erprobte sie diese Wirkung auch an ihrem Sohn. Er erinnert sich, dass er sie als Junge oft beim Ankleiden beobachtet hat, dass er ihr beim Baden den Rücken einseifen durfte, dass sie sich des Öfteren auch nackt vor ihm zeigte. Er war unendlich stolz auf diese wunderschöne Mutter, die so ganz anders war als andere Mütter. Als die Therapeutin behutsam thematisiert, dass er möglicherweise gar keine richtige Mutter gehabt hatte, dass er nicht wirklich Sohn sein durfte, sondern nur der Mutter als Spiegel, als Partnerersatz dienen sollte, und dass dies möglicherweise etwas mit seinen Problemen mit Frauen zu tun haben könnte, reagiert er heftig ablehnend. Seine Mutter war die beste Mutter, die er sich nur denken konnte. Sie habe nichts, aber auch gar nichts mit seinen Beziehungsschwierigkeiten zu tun.

Eine junge Frau meint, eine »ganz normale« Kindheit gehabt zu haben, »mit beiden Eltern, würde ich sagen«. Ihre Mutter beschreibt sie als »fürsorglich, liebevoll und unterstützend«. Gefragt, was sie unter »fürsorglich« versteht, meint sie unter anderem: Die Mutter »war immer da und hat auf mich aufgepasst, um sicherzugehen, dass ich mich richtig verhielt und dass ich nichts anstellte.« Auf die Nachfrage, wie die Mutter sich verhielt, wenn es ihr schlecht ging, erinnert sie dann aber Folgendes. Sie habe sich mal beim Spielen den Arm gebrochen. »So was in der Art hat meine Mutter wütend gemacht, sie hasste solche Sachen … Sie mochte keine Heulsusen. Ich habe immer versucht, nicht zu weinen, weil sie so ein starker Mensch war.« Der Widerspruch zu ihrer Beschreibung, dass die Mutter »fürsorglich« war, fällt dieser Frau nicht auf. Im Gegenteil: Sie bleibt bei ihrer Aussage »Ich hatte eine schöne Kindheit.«

 

Für den Psychiater und Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch sind Beispiele wie diese (Letzteres stammt aus seinem Buch Bindung und seelische Entwicklungswege) Belege dafür, dass Menschen mit frühen negativen Erfahrungen nicht an ihrem Kindheitsbild »Alles in Ordnung« rütteln wollen. Die Angst vor dem Verdrängten ist so groß, dass der Schutz vor der Wahrheit unbedingt aufrechterhalten werden muss. Aus eigener Kraft können nur wenige diesen Mechanismus durchschauen. Erst wenn sie zum Nachdenken angeregt werden, wenn ihre positiven Aussagen hinterfragt werden oder sie nach konkreten Beispielen und Erinnerungen gefragt werden, beginnt sich der Nebel, der über ihrer Kindheit liegt, zu lichten. Die Pianistin Hélène Grimaud schreibt in ihrer Biografie: »Es ist merkwürdig: Wenn ich gefragt werde, ob ich ein glückliches Kind gewesen sei, antworte ich ganz spontan ›Ja‹, aber wenn ich wirklich über diese Frage nachdenke, wenn ich mich zurückerinnere, was ich damals gewesen bin, dann lautet die Antwort Nein, entschieden Nein.«

Kindheit hat Folgen

Gute Erinnerungen, schlechte Erinnerungen, keine Erinnerungen – gleichgültig, wie präsent Ihnen Ihre Vergangenheit ist, und gleichgültig, wie sehr Sie sich bislang für Ihr eigenes Aufwachsen interessierten –, eines steht fest: Sie hatten eine Kindheit. Und diese Kindheit hat Folgen. Die Erfahrungen, die wir in unseren frühen Jahren machen, hinterlassen Spuren. Sie sind auf unserer »Lebenslandkarte« eingezeichnet. Ähnlich wie auf einer richtigen Landkarte alle Straßen, Orte und Flüsse zu sehen sind, so sind auf dieser inneren Karte alle unsere Erlebnisse mit unseren frühen Bezugspersonen vermerkt. Ihr Aussehen, ihr Lachen, ihre Art, sich zu kleiden, auch ihre Meinungen, ihre Ermahnungen, ihr Lob und ihre Kritik, ihre Zärtlichkeit und ihre Gleichgültigkeit haben dort zu Eindrücken und Abdrücken geführt. »Jeder Mensch hat einen biologischen Vater und eine biologische Mutter. Man muss sie nicht unbedingt lieben oder anerkennen, man kann ihnen misstrauen. Aber sie existieren – mit ihrem Gesicht, ihrer Haltung, ihren Manieren und Manien, ihren Illusionen, ihren Hoffnungen, der Form ihrer Hände und Zehen, der Farbe ihrer Augen und ihres Haares, ihrer Art zu reden, ihren Gedanken und vermutlich dem Alter, in dem sie sterben, all das haben wir in uns aufgenommen«, schreibt der französische Schriftsteller J. M. G. Le Clézio.

Die frühen Erfahrungen mit unseren Eltern dienen uns als Wegweiser. Wir orientieren uns daran, ganz gleichgültig, ob es sich um positive oder negative Erlebnisse handelt. So belegen diverse Studien, dass wir uns bei der Wahl unseres Liebespartners vom Aussehen der Eltern beeinflussen lassen: Männer verlieben sich eher in Frauen, die beispielsweise dieselbe Augen- und Haarfarbe der Mutter haben, Frauen wählen Männer, die ihrem Vater gleichen.

Oder wir lieben eine bestimmte Farbe, weil wir sie mit einer angenehmen kindlichen Erinnerung verknüpfen. Lavendelblau zum Beispiel. »Sie hatte ein lavendelblaues Kleid aus Viole mit einem fließenden Schal, ich erinnere mich noch so genau an dieses Kleid. Wenn sie abends ausging, kam sie mir Gute Nacht sagen in diesem Kleid. Papa rumorte schon ungeduldig im Flur. Sie roch so … so aufregend. Ich durfte mein Gesicht in den weichen Stoff reiben. Nur nichts verknittern durfte ich.« Diese Kindheitserinnerung erzählt schwärmend der Protagonist in der Erzählung Der Anruf von Keto von Waberer.

Vergangenheitsspuren wie diese sind angenehm und harmlos. Sie bereichern unser Leben. Gravierend und belastend jedoch sind andere Markierungen auf unserer Lebenslandkarte: fehlende liebevolle Zuwendung, keine oder eine unsichere Bindung an wichtige Bezugspersonen, Vernachlässigung und Misshandlung, Verwöhnung und Überbehütung. Wenn solche markanten Punkte auf unserer inneren Karte zu finden sind, stolpern wir möglicherweise orientierungslos durchs Leben und finden nicht den festen Weg, den wir suchen. Die Welt kommt uns dann nicht als sicherer Ort vor, an dem es sich gut leben lässt. Stattdessen ist Unsicherheit das Thema, das viele, wenn nicht alle Bereiche unseres Lebens dominiert: Wir sind unsicher, was uns selbst betrifft, wir kennen nicht unseren Wert und unsere Stärken. Und wir sind unsicher in Bezug auf andere Menschen. Die Erfahrungen in unseren ersten Lebensjahren bestimmen die Art und Weise, wie wir uns mit anderen Menschen fühlen und verhalten: ob wir sicher im Umgang mit ihnen sind oder ob wir ihnen misstrauisch und vorsichtig begegnen und ständig unsere Unabhängigkeit und Selbstständigkeit betonen müssen.