Eigenwillige Subjekte - Sara Ahmed - E-Book

Eigenwillige Subjekte E-Book

Sara Ahmed

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In ›Eigenwillige Subjekte‹ analysiert die feministische Kulturwissenschaftlerin Sara Ahmed das Motiv der ›Eigenwilligkeit‹ und arbeitet dessen Ambivalenz von Dissens, Anklage und Widerständigkeit, Fremdzuschreibung und Emanzipation heraus. Ahmed untersucht die Beziehung zwischen dem Willen und der Eigenwilligkeit, zwischen ›schlechtem‹ und ›gutem‹ Willen sowie zwischen dem Willen der Einzelnen und dem Gemeinwillen, indem sie tief in philosophische und literarische Texte eintaucht und diese untersucht. Ihre Überlegungen geben Aufschluss darüber, inwiefern der Wille in eine politische und kulturelle Landschaft eingebettet ist, wie er verkörpert wird und wie Wille und Eigenwilligkeit gesellschaftlich vermittelt werden. Mit ihrem Fokus auf Eigensinnige, Umherirrende und Abweichler*innen weist Ahmed auf das widerständige Potenzial hin, das der Eigenwilligkeit inhärent ist. Gestützt auf Ansätze feministischer, queerer und antirassistischer Politiken bestärkt sie in ihrer einzigartigen Analyse des eigenwilligen Subjekts die Figur, die auf falsche Weise ihren gesellschaftlichen Platz fordert oder einfach nur zu viel will, darin, dass Eigenwilligkeit erforderlich ist, um Dissens zu artikulieren und widerständig handeln zu können. In diesem Sinne ist die ›feministische Spaßverderber*in‹ eine enge Verwandte des ›eigenwilligen Subjekts‹.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 674

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sara Ahmed

Eigenwillige Subjekte

Eigenwilligkeit als Politik des Ungehorsams

aus dem Englischenvon Emilia Gagalski

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Sara Ahmed:

Eigenwillige Subjekte

1. Auflage, Mai 2021

eBook UNRAST Verlag, März 2022

ISBN 978-3-95405-108-3

Copyright der Originalausgabe

© 2014 Duke University Press, Durham & London

Aus dem Englischen: The Promise of Happiness

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag

unter Verwendung eines Gemäldes von

Carrie Moyer: Emma Goldman 1.2, 2003

© Carrie Moyer. Courtesy of DC Moore Gallery, New York.

Übersetzung: Emilia Gagalski, Düsseldorf

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

EinleitungEin Eigenwilligkeitsarchiv

Eine Geschichte des Willens | Eine queere Geschichte des Willens | Eine eigenwillige Methode

Erstes KapitelGlückliche Objekte

An den Willen appelliere | Der Wille als Projekt | Die Willenssphäre | Gemeinsames Wollen | Schlussfolgerung: Sozialer Wille und Wucht

Zweites KapitelDer gute Wille

Schwarze Pädagogik | Wille und Charakter | Den Willen stärken | Das Richtige wollen | Schlussfolgerung: Sittengesetz und soziale Priorität

Drittes KapitelDer Gemeinwille

Wollende Teile | Der Wille und der produktive Körper | Der reproduktive Wille | Wollende Fremde | Schlussfolgerung: Die nationale Rute

Viertes KapitelEigenwilligkeit als Politik

Eigenwilligkeit und Ungehorsam | Diversity-Arbeit als eigenwillige Arbeit | Feministische Spaßverderber*innen (und andere eigenwillige Subjekte) | Auffällige Körper | Schlussfolgerung: Fühle dich wie ein Arm, verhalte dich wie eine Rute

SchlussfolgerungDie Arme zum Kampf aufrufen

Trennungsgeschenke | Steine sind von Bedeutung | Arme, die zu einer Armee werden

Danksagungen

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Ich widme dieses Buch

den vielen eigenwilligen Frauen,

die dafür kämpfen,

feministische Hoffnungen

am Leben zu erhalten.

Einleitung

Ein Eigenwilligkeitsarchiv

Es gibt ein Märchen mit dem Titel Das eigensinnige Kind:

»Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.«[1]

Was für ein Märchen. Das eigensinnige Mädchen hat eine Geschichte zu erzählen. In diesem Grimm’schen Märchen, das sicherlich eine grimmige Geschichte ist, ist das Mädchen ungehorsam und tut nicht, was seine Mutter ihm befiehlt. Wenn die Autorität das Recht beansprucht, einen Wunsch in einen Befehl zu wandeln, dann ist Eigenwilligkeit eine Diagnose des Scheiterns, denjenigen zu gehorchen, deren Autorität vorgegeben ist. Der Preis einer solchen Diagnose ist hoch: Durch eine Befehlskette (Mutter, Gott, Arzt) wird das Schicksal des Mädchens besiegelt. Der kranke Wille spricht auf Eigenwilligkeit an; das Mädchen darf so krank werden, dass niemand »ihm helfen« kann. Eigenwilligkeit ist demnach schädlich; sie schadet der Fähigkeit eines Subjekts zu überleben, erst recht zu gedeihen. Die Strafe für Eigenwilligkeit ist ein passives Wollen des Todes, ein Erlauben des Todes. Auch ist Eigenwilligkeit das, was selbst nach dem Tod noch fortbesteht: auf einen Arm übertragen, von einem Körper auf einen Körperteil. Der Arm erbt die Eigenwilligkeit des Kindes, insofern er nicht unter Kontrolle gehalten wird, insofern er immer wieder hochkommt und schließlich sogar nach dem Tod des Körpers, zu dem er gehört, ein eigenes Leben annimmt. Eigenwilligkeit bedeutet Hartnäckigkeit, obwohl man heruntergedrückt wurde, wo das ›Weitermachen‹ oder ›weiter nach oben Streben‹ bereits bedeutet, dickköpfig und eigensinnig zu sein. Die bloße Beharrlichkeit kann bereits eine Handlung des Ungehorsams sein.

In der Geschichte scheinen der Wille und die Eigenwilligkeit nach außen verlagert worden zu sein; sie werden lebendig, indem sie nicht im Subjekt sind oder bleiben. Sie sind Subjekten nicht eigen, insofern sie zu Eigentum werden, was wiederum in einen Teil oder eine Sache verfremdet werden kann.[2] Die unterschiedlichen Willenshandlungen werden auf einen Kampf zwischen Arm und Rute reduziert. Wenn der Arm die Eigenwilligkeit des Kindes erbt, was können wir dann über die Rute sagen? Die Rute ist eine Verdinglichung des Wunsches der Mutter, aber auch Gottes Befehls, der einen Wunsch in ein Gebot verwandelt, ein »Es soll geschehen«, und folglich bestimmt, was mit dem Kind geschieht. Die Rute kann als Verkörperung des Willens verstanden werden, eines Willens, der die Gestalt eines Befehls annimmt. Und doch erscheint die Rute nicht unter der Bezeichnung der Eigenwilligkeit; sie wird im Gegenteil zu einem Instrument für ihre Beseitigung. Es gibt eine Form des Willens, die die Darstellung von anderen Willen als eigenwillig zu beinhalten scheint; eine Form des Willens, die für sich das Recht beansprucht, die anderen zu beseitigen.

Inwiefern können wir die Gewalt in dieser Geschichte erklären? Inwiefern erklärt diese Gewalt gleichzeitig auch Eigenwilligkeit? Die Geschichte kann einer Tradition erzieherischer Diskurse zugeordnet werden, die Alice Miller in Am Anfang war Erziehung (1980) als »Schwarze Pädagogik« beschreibt, eine Tradition, die davon ausgeht, dass das Kind durch die Erbsünde befleckt ist, und auf Gewalt als moralische Züchtigung setzt, weil sie im Sinne des Kindes sei (siehe Kapitel 2). Diese Gewalt ist eine sichtbare Gewalt, eine, die man nur schwer nicht erkennen würde. Mein Ziel in diesem Buch ist es, aufzuzeigen, inwiefern das Grimm’sche Märchen in einem anderen Sinne pädagogisch ist: Es lehrt uns, die Unterscheidung zwischen dem Willen und der Eigenwilligkeit als eine Grammatik zu lesen, als eine Art, menschliche Erfahrung anzuordnen, als eine Art, Tugendhaftigkeit zu verbreiten.

Diese Geschichte vom eigensinnigen Kind ist ein Fund, den ich machte, während ich der Figur des eigenwilligen Subjekts folgte: Ich versuchte, dort hinzugehen, wo sie hinging. Ich versuchte, dort zu sein, wo sie gewesen ist. Es war eine andere Figur, artverwandt, vielleicht sogar eine Verwandte, eine Art Verwandtschaft, eine feministische Spaßverderber*in, die erst mein Interesse an diesem Vorhaben weckte. Feministische Spaßverderber*innen: diejenigen, die sich an den entscheidenden Stellen weigern zu lachen; diejenigen, die nicht gewillt sind, sich an den Tisch des Glück/lichseins zu setzen (siehe Ahmed [2010] 2018). Feministische Spaßverderber*innen: eigenwillige Frauen, die nicht gewillt sind, sich zu vertragen, nicht gewillt sind, die Idee des Glück/lichseins zu bewahren. Ich interessierte mich dafür, inwiefern diejenigen, die dem Glück/lichsein in den Weg geraten, jene, die wir Spaßverderber*innen nennen, auch und oft als eigenwillig bezeichnet werden. Während ich Zeugin des aufsässigen Ärgermachens von feministischen Spaßverderber*innen wurde, erhaschte ich einen Blick darauf, wie Eigenwilligkeit schattengleich auf die Gefallene fallen kann. Dieses Buch versucht, meinem flüchtigen Eindruck von einem eigenwilligen Subjekt eine vollständigere Form zu geben.

George Eliots Die Mühle am Floss gab mir einen solchen anfänglichen flüchtigen Eindruck. In Das Glücksversprechen ([2010] 2018) bot ich eine Lesart dieses Romans als Teil eines Genres weiblicher, Ärger machender Fiktion an. In meinen Überlegungen zum Thema Ärger in Eliots Text, verfasste ich eine Fußnote zum Thema Eigenwilligkeit: »Durch das Schreiben an diesem Buch über das Glück/lichsein wurde mein Interesse daran geweckt, eine Theorie über die Sozialität des Willens und die Arten und Weisen zu formulieren, wie Menschen als eigenwillig beschrieben werden, insofern sie zu viel oder zu wenig wollen oder etwas ›auf eine falsche Art und Weise‹ wollen« ([2010] 2018: 99). Die Figur der eigenwilligen Heldin Maggie Tulliver hatte mich zu dieser Anmerkung und folglich auch zu diesem Buch Eigenwillige Subjekte inspiriert. Maggie Tulliver ist im Laufe der Zeit das Objekt bedeutender feministischer Begierde und Identifikation gewesen. Als feministische Leser*innen empfinden wir womöglich genauso eine Zuneigung für Maggie, wie wir sie auch für die vielen eigenwilligen Mädchen empfinden, die in der Literatur herumspuken. Simone de Beauvoir identifizierte sich so sehr mit Maggie, dass sie über deren Tod »stundenlang weinte« (Moi 2011: 135). So ähnlich bringt Lyndie Brimstone in ihren persönlichen Reflektionen über Literatur und Frauenforschung ihre eigene Erfahrung mit der von Maggie in Verbindung: »Maggie mit ihrem eigenwilligen Haar«, die »sich in die Leidenschaft stürzte und dann zurückkam, um es für den Rest ihres abgestumpften Lebens zu bereuen.« (2001: 73) Maggies eigenwilliges Haar steht für ihren eigenwilligen Charakter: für ihre Weigerung, durch die Mode der Weiblichkeit geglättet zu werden. Die Eigenwilligkeit, die Maggie unterstellt wird, scheint die Erklärung für ihre unglückliche Situation zu sein. Während ich mich also von der feministischen Spaßverderber*in zur Figur des eigenwilligen Subjekts bewegte, hatte ich eine Vorahnung (Wie oft gehen wir mit einer Vorahnung los? Wenn wir dazu neigen, diese Vorahnungen herauszuschreiben; während unser Selbstbewusstsein mit der Argumentation wächst, können wir sie wieder hineinschreiben), und zwar, dass Eigenwilligkeit und Unglück/lichsein eine historische Route teilen. Wir lernen von unseren Reisegefährt*innen.

Als eigenwillig identifiziert zu werden, hat zur Folge, dass man zum Problem wird. Wenn eigenwillig zu sein bedeutet, zu einem Problem zu werden, kann Eigenwilligkeit als ein Problem des Willens verstanden werden. Und der Wille weist uns zurück in Richtung des Glück/lichseins, was schon immer als Objekt des Willens begriffen worden ist. Der französische Philosoph Blaise Pascal aus dem 17. Jahrhundert argumentierte: »Alle Menschen suchen nach dem Glück. Das gilt ohne Ausnahme, wie unterschiedlich auch die Mittel sein mögen, die sie dafür benutzen. Sie streben alle diesem Ziel zu. Was bewirkt, daß die einen in den Krieg ziehen und die anderen nicht, ist dieses gleiche Verlangen, das bei allen beiden mit unterschiedlichen Auffassungen verbunden ist. Die geringste Willensregung ist immer nur auf diesen Zweck gerichtet. Das ist bei allen Menschen der Beweggrund aller Handlungen, selbst bei jenen, die sich erhängen wollen.« ([1669] 2007: 83, Hervorh. d. A.) Sogar Selbstmord ist ein Ausdruck des Willens zum Glück/lichsein. Mit dieser eher außergewöhnlichen Beschreibung wird impliziert, dass das Glück/lichsein nicht als Inhalt gedacht werden sollte, sondern als Form: Wenn wir ein Ziel vor Augen haben, dann ist es meistens das, glücklich zu sein. In dem Fall ist das Glück/lichsein eine Art Behältnis für Neigungen. Glück/lichsein muss seines Inhalts entleert werden, damit es mit ›dem Inhalt‹ gefüllt werden kann, ›auf den‹ wir abzielen.

Eine unserer Aufgaben könnte darin bestehen, zu fragen, was Glück/lichsein als Behältnis des Willens macht, selbst wenn er leer ist. Lenkt uns Glück/lichsein ›freiwillig‹ in eine bestimmte Richtung? Für den Theologen Augustinus aus dem 4. Jahrhundert, der oft als historischer Ausgangspunkt für die Betrachtung des Willens gilt, da er als erster Gelehrter dem Willen den Status einer eigenständigen Macht verliehen hat (siehe Kapitel 1), ist Glück/lichsein beziehungsweise Seligsein nicht einfach das, was den Willen motiviert, sondern, das, was für diejenigen folgt, die auf richtige Weise wollen: »Denn diejenigen, welche selig sind, und als Selige auch gut sein müssten, sind nicht deswegen selig, weil sie ein seliges Leben sich gewünscht haben, zumal ein solches auch böse Menschen sich wünschen, sondern sind deswegen selig, weil sie ein rechtschaffenes Leben führen wollen, was die Bösen gerade nicht wollen.« (1824: 1.16.65)[3] Glück/lichsein folgt für diejenigen, die auf richtige Weise wollen. Diejenigen, die die falschen Dinge wollen, wollen dennoch glücklich sein. Um noch einmal Augustinus zu zitieren: »[S]obald aber einer aus ihnen nicht den Weg einschlägt, welcher einzig zum seligen Leben führet, irret dieser, wie er immer behaupten und vorgeben möge, es leite ihn keine andere Absicht, als die – ein seliges Leben zu Erlangen: denn der Irrthum tritt ein, so oft der Weg eingeschlagen wird, welcher nicht zum gewünschten Ziele führet.« (1824: 2.9.132f.) Unglücklich sind diejenigen, die umherirren, die, weil sie den Glückspfad verlassen haben, dem falschen Weg folgen. Unglück/lichsein wird demzufolge als Irrtum des Willens verstanden; zu irren bedeutet, falsch zu wollen, auf Irrwege zu kommen. Die Nachricht von unserem Irrtum ›ist‹ demnach eine Nachricht von unserem Unglück/lichsein.

Auch Eigenwilligkeit ist als Irrtum des Willens verstanden worden. Nehmen wir mal eine typische Definition von Eigenwilligkeit: »den eigenen Willen entgegen einer Überzeugung, Anordnung oder einem Befehl durchzusetzen oder dazu geneigt zu sein; vom Willen beherrscht, ohne Rücksicht auf die Vernunft; entschlossen, den eigenen Weg zu gehen; auf hartnäckige Weise starrsinnig oder widerspenstig.«[4] Eigenwilligkeit wird dazu genutzt, um Irrtümer des Willens – eines unvernünftigen oder widerspenstigen Willens – als Charakterfehler zu erklären. Folglich kann Eigenwilligkeit zunächst als eine Zuschreibung des Subjekts über den Irrtum des Willens verstanden werden. Eigenwilligkeit und Unglück/lichsein scheinen sich an diesem verirrten Punkt zu treffen. Diese Nähe von Eigenwilligkeit und Unglück/lichsein bleibt erhalten. Und der Gedanke, dass Nähe bedeutet, den Willen zu verdrehen.

Eine Geschichte des Willens

Ich habe mich der Kategorie Wille zugewandt, weil mich die Figur des eigenwilligen Subjekts dorthin gebracht hat. Das Timing dieser Reihenfolge spielt eine Rolle. Der Figur des eigenwilligen Subjekts zu folgen, sie zu meiner Priorität zu machen, ist eine andere Möglichkeit des Vorgehens, eine andere Möglichkeit des Schreibens einer Geschichte des Willens.[5] Wenn das Problem der Eigenwilligkeit nicht vom Problem des Willens getrennt werden kann, bringt uns die Eigenwilligkeit wieder zurück zum Willen.[6] Wir sollten uns fragen: Was bedeutet es, eine Geschichte des Willens zu schreiben? Für einige Philosoph*innen bedeutet es, eine Geschichte über einen Geist zu schreiben; immerhin nennt Gilbert Ryle ([1949] 1992) den Willen bekanntermaßen »Geist in der Maschine«.[7] Es gibt diejenigen, die die Existenz einer Sache bezweifeln, die sich Wille nennt sofern er als Fähigkeit von Subjekten verstanden wird, als etwas, das du oder ich haben könnten. Selbst wenn die Debatte über den freien Willen und den Determinismus weiterhin als Entwicklung von neuen Wissenschaften des Geistes oder als Antwort darauf wiederholt wird,[8] wird das Vokabular des Willens nicht regelmäßig in einer seiner geschichtlich bevorzugten Domäne gebraucht: der Philosophie und der Psychologie. Doch selbstverständlich haben auch Geister eine Geschichte. Selbst Objekte, die als Illusionen oder Fantasien betrachtet werden, haben eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die nicht unabhängig von der Geschichte derjenigen ist, für die solche Illusionen und Fantasien verlockend real sind. Eine Geistergeschichte ist nicht mehr oder weniger real als jede andere Geschichte.

Schreiben wir, indem wir die Geschichte des Willens schreiben, die Geschichte einer Vorstellung? Peter E. Gordon stellt die Beobachtung an, dass ein Historiker der Vorstellung »dazu geneigt sein wird, das historische Narrativ um einen Hauptgedanken herum zu organisieren und dann der Entwicklung oder Metamorphose dieser Vorstellung folgen wird, während sie sich in unterschiedlichen Kontexten und Zeiten manifestiert.« (2012: 2) Können wir uns dem Willen durch seine Metamorphose als Vorstellung nähern? Doch Brad Inwood stellt fest, dass »es nur wenige Begriffe im philosophischen Wortschatz gibt, die so entgleiten wie der ›Wille‹.« (2000: 44) Der Wille entgleitet womöglich zu sehr, als dass er als eine einzige Vorstellung mit unterschiedlichen Manifestationen betrachtet werden kann. Der Wille ist in der Tat umhergewandert: Einige haben ihn mit einer Art Aktivität assoziiert, andere mit Passivität, einige mit dem Geist, andere mit dem Körper. Auch wenn der Wille meist in einer beschränkten Diskussion zum Thema Wesen und Handeln des Menschen zur Sprache kommt (für gewöhnlich mit dem Adjektiv frei und seinem Sparringspartner determiniert), ist er auch als etwas verstanden worden, das Menschen mit allen anderen Dingen verbindet, von Atomen bis zu Amöben und Steinen. Der Wille könnte sogar als einer der Begriffe der Philosophie bezeichnet werden, der am meisten Verwirrung stiftet.

Demzufolge überrascht es nicht, dass es nur wenige Versuche einer Geschichte des Willens gibt. Hannah Arendts Vom Leben des Geistes: das Denken, das Wollen ist einzigartig in seiner klaren Absicht, solch eine Geschichte anzubieten.[9] Es ist bemerkenswert, dass Arendt ihre eigene Aufgabe darin sieht, eine Geschichte des Willens zu schreiben, die keine Geschichte über eine Vorstellung ist. Für Arendt wäre die Aufgabe, eine Geschichte des Willens als Idee zu schreiben (die sie sehr schnell, vielleicht zu schnell, in eine Geschichte der Idee der Freiheit übersetzt), »ziemlich leicht«, weil sie auf einer falschen Unterscheidung von Ideen als »geistige[n] Kunstprodukte[n]« und der Geschichte des menschlichen Subjekts als »Urhebers« beruht ([1978] 1979: 11f.). Arendt argumentiert, dass sie »im Gegensatz zu Ryle davon ausgehen [muss], daß dieses Vermögen ›entdeckt‹ wurde, und zwar zu einem angebbaren Zeitpunkt. Kurz, [sie] wird […] den Willen anhand seiner Geschichte analysieren, und dieses Unternehmen hat seine eigenen Schwierigkeiten.« (11)[10] Etwas zu entdecken, impliziert, dass diese Sache bereits existieren muss. Doch ich denke, die wichtigere Folgerung ist, dass der Wille, sobald er einmal entdeckt wurde, eine gewisse Kontrolle übernimmt. Für Arendt bedeutet die Tatsache, dass der Wille die Vorstellung eines Subjekts ist, dass die Geschichte des Willens auch die Geschichte einer Wandlung des Subjekts ist, das diese Vorstellung besitzt.

Arendts Geschichte des Willens kann folglich mit Michel Foucaults Genealogie des Subjekts in Verbindung gebracht werden. Foucault bezeichnet eine Genealogie als eine Geschichte über etwas, von dem man normalerweise meint, es habe keine Geschichte, wie beispielsweise eine Geschichte der Gefühle. Foucault sagt, dass eine Genealogie »die Einzigartigkeit von Ereignissen außerhalb jeglicher ungeheuerlichen Endgültigkeit erfassen muss: Sie muss an den aussichtslosesten Orten gesucht werden, von denen wir normalerweise annehmen, dass sie ohne Geschichte seien: in Empfindungen, in der Liebe, im Bewusstsein, in Instinkten.« (1977: 139) Für Foucault war der Wille womöglich ›zu aussichtslos‹, um zum offensichtlichen Forschungsobjekt gemacht zu werden. In dem Interview »What Is Critique?« stellt er fest, wie die Thematik der Macht ihn zur Frage des Willens hätte geführt haben müssen. Er gibt zu: »Man kann sich diesem Problem nicht stellen, indem man sich nah an das Thema der Macht klammert, ohne selbstverständlich irgendwann auf die Frage des menschlichen Willens zu stoßen. Es ist offensichtlich, dass ich es hätte früher erkennen können. Da aber dieses Problem des Willens ein Problem ist, das die westliche Philosophie schon immer mit unendlichen Vorsichtsmaßnahmen und Schwierigkeiten angegangen ist, habe ich versucht, es, sagen wir mal, so gut es geht, zu umgehen.« (1977: 74f.)[11] Vielleicht sind es die Schwierigkeiten, die Arendt erwähnt (»Ich werde den Willen anhand seiner Geschichte analysieren, und dieses Unternehmen hat seine eigenen Schwierigkeiten«), die Foucault dazu veranlassen, die Frage des Willens zu umgehen, obwohl seine genealogische Methode Nietzsches Zur Genealogie der Moral ([1887] 1964) zu Dank verpflichtet war, die als eine »Genealogie des Willens« verstanden werden könnte und auch wurde.[12]

Und es ist Nietzsche, der uns nicht nur zeigt, wie der Wille zu einer Vorstellung des Subjekts wird, sondern auch wie diese Vorstellung Dinge bewirkt. In Götzendämmerung sagt Nietzsche, dass der Irrtum des Willens Teil des allgemeinen Irrtums der Kausalität sei. So beschreibt er: »Wir glaubten uns selbst im Akt des Willens ursächlich: wir meinten da wenigstens die Ursächlichkeit auf der Tat zu ertappen.« ([1889] 1964: 109, Hervorh. i. O.) Vielleicht ertappen wir nichts, aber die Sicht auf uns selbst ist ertappt. Nietzsche bietet mehr als eine Kritik des Irrtums des Willens an. Er sagt, dass der Irrtum des Willens einen Zweck erfülle: der »freie Wille« sei »das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es gibt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne ›verantwortlich‹ zu machen« (ebd. 114f.). Ein Bericht über den Willen ist ein Bericht darüber, dass man verantwortlich, schuldig wird: »die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, das heißt des Schuldig-finden-wollens.« (ebd.) Der Wille erlaubt nicht nur, dass Handlungen sich auf ein Subjekt zurückführen lassen, durch ihn wird das Subjekt auch als Entität geeint. In Jenseits von Gut und Böse erwähnt Nietzsche: »Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei«, obwohl der Willen »nur als Wort eine Einheit« ist. ([1886] 1964: 24f.)[13]

Indem wir dem Willen als Einheit folgen, folgen wir einem Namen, der einem Subjekt gegeben wurde. Wir müssen uns nicht einfach nur für dieses Subjekt verantworten, sondern können, laut Nietzsche, zurückverfolgen, wie dieses Subjekt zur Verantwortung gezogen wird, indem ihm ein Wille gegeben wird. Dieses Modell des Willens erlaubt es, dass eine philosophische Vorstellung in eine soziale oder kulturelle Diagnose übersetzt wird. Der Wille wird in der zeitgenössischen Kultur in Willensstärke umgewandelt, in etwas, das ein verantwortungsbewusstes und moralisches Subjekt entwickeln oder stärken sollte. Wenn der Wille zur Willensstärke wird, liegt das Schicksal des Subjekts ›in seiner Macht‹. Und wenn soziale Probleme als Probleme des Willens wiedergegeben werden, werden sie als Folge des Scheiterns von Individuen gesehen, die selbst aus Situationen hinauswollen, in denen sie sich befinden. Lauren Berlant sagt dazu: »Im neuen tollen Leben, das sich der Vertragsstaat vorstellt, der kapitalistischen Anforderung, dass die Bevölkerung aus schlecht entlohnten, wartenden Arbeiter*innen oder denjenigen besteht, die sich zusammentun, ist Zeitarbeit nicht Teil eines strukturellen Problems, sondern ein Problem des Willens und des Einfallsreichtums.« (2004: 4, Hervorh. i. O.) Wenn ein strukturelles Problem in Form des Willens diagnostiziert wird, werden Individuen zum Problem: Individuen werden zur Ursache des Problems, das als ihr eigenes gilt.

Eine queere Geschichte des Willens

Was würde es bedeuten, eine queere Geschichte des Willens anzubieten? Wenn man davon ausgeht, dass der Wille zu einer Technik, einem Mittel wird, um ein Subjekt zur Verantwortung zu ziehen, könnte er als Mittel zur Begradigung verstanden werden. Wenn wir Willen so verstehen, überrascht uns sein queeres Potential nicht: Letztendlich begradigst du nur das, was bereits gebogen ist. Selbst wenn ein Irrtum als etwas behandelt wird, das korrigiert werden muss, kann er der Grund für eine queere Geschichte des Willens sein. Rufen wir uns die Etymologie von Irrtum ins Gedächtnis: von irren, was so viel bedeutet wie umherirren. Die Landschaft des Willens erscheint womöglich anders, womöglich eigenartig, wenn wir bemerken, wie sehr sie mit Heimatlosen übersät ist.

Anstatt der Geschichte des Willens als der einer Vorstellung zu folgen, die die Annahme mit einschließt, dass diese Vorstellung widerspruchsfrei sei, was stimmen oder nicht stimmen kann, biete ich eine Geschichte von gewollten Assoziationen an. Eine queere Geschichte des Willens stellt vielleicht die Verbindung zwischen dem Willen und dem Irrtum in den Vordergrund und untersucht ihre unzähligen Formen.[14] Wir haben schon festgestellt, dass bereits Augustinus diese Verbindung herstellt; und andere sind ihm darin gefolgt. René Descartes stellt beispielsweise das Objekt des Willens dem Objekt der Vorstellung gegenüber. Letzteres erscheint vor einem Subjekt: »Dieses Vorstellen des Verstandes erstreckt sich nur auf das Wenige, was sich ihm darbietet, und ist immer sehr beschränkt.« Der Horizont des Willens ist nicht durch dieses davor beschränkt. »Dagegen kann der Wille gleichsam unbeschränkt genannt werden, weil auf Alles, was Gegenstand eines anderen Willens oder des unermesslichen Willens in Gott sein kann, auch unser Wille sich erstrecken kann. So erstrecken wir denselben leicht über das klar Erkannte hinaus, und es ist nicht zu verwundern, wenn wir dann in Irrthum gerathen.« (1870: 19, Hervorh. d. A.) Descartes geht folglich davon aus, dass Subjekte angesichts des Kontrastes zwischen der endlichen Fähigkeit des Intellektuellen und der unendlichen Fähigkeit des Willens, dazu neigen, sich zu irren. Stephen Menn erklärt es folgendermaßen: »Die Gegenüberstellung dieser Fähigkeiten führt nicht an sich zu Irrtümern, aber sie gibt mir die Möglichkeit, mich zu irren, da der Wille meinen Verständnishorizont übersteigt.« (1998: 316) Wenn für Descartes etwas zu wollen, auf etwas abzielt, das außerhalb der Reichweite des Subjekts liegt, dann kann es leicht passieren, dass das Wollen scheitert. Vielleicht steckt darin ein entschiedenerer Beweis: der Wille kann sich irren.

Wir sollten womöglich den örtlichen und zeitlichen Aspekt des Arguments zur Kenntnis nehmen: Wir neigen dazu, zu wollen, was nicht da ist, im räumlichen wie auch zeitlichen Sinne. Die Zukünftigkeit und räumliche Distanz des Willens scheint diesen fehlerhaft wiederzugeben. Wir geraten auf Abwege, wenn wir versuchen, zu erfassen, was sich außerhalb unserer Reichweite befindet. Es wäre sinnvoll, Descartes Darstellung des Willens und des Irrtums mit John Lockes empirischer Psychologie zu vergleichen. Für Locke ist es der Wille, der das Subjekt davon wegbringen kann, was es will. Selbst wenn wir wissen, was wir wollen – Glück/lichsein – streben wir diese Dinge nicht immer so klug an: »[O]bgleich Alle nach dem Glück verlangen, [führt] ihr Wollen sie doch so entgegengesetzt und [bringt] Manchen in das Uebel […].« ([1690] 1871: 2.21.54, Hervorh. d. A.) Die Widersprüchlichkeit des Willens besteht für Locke darin, dass er uns von einer ersehnten Zukunft abbringen kann. Auf entgegengesetzte Weise vom Willen weggeführt zu werden, bedeutet, vom Glück/lichsein entfernt zu werden. Und erneut können wir das Echo von Augustinus hören: Den Glücks-Pfad zu verlassen, heißt, auf falsche Weise zu wollen oder den falschen Weg zu gehen. Unser Wille bringt uns dazu, vom richtigen Pfad abzukommen, aber stellt uns auch die Mittel zur Verfügung, uns auf dem Pfad zu bewegen. Doch wenn wir dem Willen folgen, kann es wiederum sein, dass wir diesen Pfad verlassen, uns vielleicht sogar vom Pfad eines solchen bereitwilligen Subjekts entfernen. Eine queere Geschichte des Willens lässt womöglich zu, dass sich der Wille von einem solchen Subjekt entfernt.

Um uns zu entfernen, müssen wir zunächst den Pfad erkennen, dem wir folgen sollen. Arendt bezeichnet Augustinus als den ersten Philosophen des Willens.[15] Sie nimmt nicht an, dass Konzepte wie Absicht oder Vorliebe mit Augustinus ihren Anfang genommen haben (letztendlich sind es entscheidende ethische Themen in der klassischen griechischen Philosophie), sondern geht eher davon aus, dass der Wille bis zu Zeiten von Augustinus und der Entwicklung »einer christlichen Ethik der Innerlichkeit« (Ferrarin 1991: 339) nicht als eigenständige menschliche Fähigkeit verstanden wurde. Man könnte hier innehalten und anmerken, dass eine queere Geschichte der Sexualität teilweise dieselbe Grundlage haben könnte wie die Geschichte der Fähigkeit des Willens. Augustinus hat eine wichtige Rolle in der queeren Geschichte gespielt, zum Beispiel in Jonathan Dollimores SexualDissidence: Augustine to Wilde, Freud to Foucault (1991) (Sexuelle Abweichung: von Augustinus bis Wilde, von Freud bis Foucault). In seinen Bekenntnissen appelliert Augustinus an den Willen der Sehnsucht und gibt uns so die Möglichkeit, darüber nachzudenken, ob der Wille und die Sehnsucht eine gemeinsame historische Route teilen. In der Tat zeigt Dollimore, inwiefern bei Augustinus eine intime Beziehung zwischen dem freien Willen und der Entbehrung und Umkehrung der Sehnsucht besteht. Eine queere Geschichte des Willens könnte weitergehen, indem wir uns mit der verschränkten Entstehung von Wille und Begehren beschäftigen.

Ich habe keinen Zweifel am queeren Potential von Augustinus’ Arbeit und er bleibt eine Schlüsselfigur in meiner eigenen eigenwilligen Geschichte des Willens. Doch wenn wir das Subjekt des Willens nicht als den einzigen Weg betrachten, auf dem der Wille thematisiert wird, könnten wir auch woanders ansetzen. Wir könnten mit Lukrez anfangen, dem römischen Dichter und Philosophen, dessen Gedicht Über die Natur der Dinge wir aufgrund der queeren Verkettung der Geschichte erben, wie Stephen Greenblatt in seinem Buch Die Wende: Wie die Renaissance begann ([2011] 2012) gezeigt hat. Über die Natur der Dinge ist ein queeres Gedicht, keine Frage, queer, nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch in puncto Überleben. Ein Gedicht, das jahrzehntelang als verschwunden galt, nur um aufgrund des hingebungsvollen Umherwanderns eines mittelalterlichen Humanisten wieder entdeckt zu werden. Ein Gedicht, das auf Pergament überlebt hat, ein Material, das aus der Haut von Schafen und Ziegen hergestellt wird, da Pergament ein Stoff ist, der »de[n] Zahn der Zeit« (ebd.91)[16] überleben kann; ein Gedicht, das in einem Kloster versteckt war, verborgen unter einer falschen Signatur.[17] Greenblatt stellt fest: »[Das] Wiederauftauchen seines Gedichts war eine solche Irritation, ein plötzliches Aus-der-Richtung-geraten, eine unvorhersehbare Abweichung vom eingeschlagenen Weg, der dem Gedicht und der es begründenden Philosophie bestimmt schien.« (ebd. 15) Damit das Gedicht für uns existieren konnte, musste es bestehen bleiben. Wir erinnern uns an die Grimm’sche Geschichte: Bloße Beharrlichkeit kann ein Akt des Ungehorsams sein. Vielleicht gibt es nichts reineres als Beharrlichkeit. Beharrlichkeit kann in einer Abweichung von einem Kurs liegen, das, was das Vorwärtsrasen des Schicksals stoppt und so einen verhängnisvollen Verlauf verhindert.

Die Abweichung der Geschichte hilft uns dabei, die Abweichung in der Geschichte zu finden. Wir können uns fragen: Wie kann es sein, dass die Geschichte eine Wendung nimmt, indem Lukrez zu einem Wendepunkt in der Geschichte des Willens erklärt wird? Jane Bennett schreibt in Vibrant Matter (2009) über Lukrez und obwohl ihr Buch einen Abschnitt über das eigenwillige Subjekt hat, wird Lukrez nicht als Philosoph des Willens dargestellt. Wenn wir aber Lukrez als solchen sehen, können wir die Widernatürlichkeit des Willens in den Vordergrund stellen. In Über die Natur der Dinge legt Lukrez dar, dass der Wille gerade nicht als eine Eigenschaft des menschlichen Subjekts zu sehen ist, eines Subjekts, das von der Welt abgegrenzt ist und dessen Aufgabe darin besteht, die Welt zu bearbeiten. Lukrez versteht den Willen als Abweichung, die er auch als Clinamen definiert (das Wort ist eine Erfindung von Lukrez, aber stammt ursprünglich aus dem Lateinischen clīnāre, neigen), um eine philosophische Verteidigung der epikureischen Atomlehre zu initiieren. Der Wille macht die Menschen zu einer Kontinuität der Atome, aus demselben Zeug gemacht; Zeug, das seine Form weder durch ein vorherbestimmtes Ziel noch einen göttlichen Plan erhält, oder als leblos und unbeweglich verstanden werden kann, sehr wohl aber als Bewegung und Abweichung. In dieser Beschreibung des physikalischen Universums, bietet Lukrez eine Darstellung des Willens in Gestalt abweichender Atome an: »Wenn sich die Körper im Leeren mit senkrechtem Falle bewegen/ Durch ihr eigen Gewicht, so werden sie wohl in der Regel/ Irgendwo und wann ein wenig zur Seite getrieben/ Doch nur so, daß man sprechen kann von geänderter Richtung. Wichen sie nicht so ab, dann würden sie wie Tropfen des Regens/ Gradeaus alle hinab in die Tiefen des Leeren versinken.« ([1957] 2013: 67) Abzutreiben bedeutet abzuweichen: Es bedeutet, nicht von der Kraft seines eigenen Gewichts getragen zu werden. Wie könnte man besser etwas über das Potential der Abweichung lernen als von der Gegebenheit der Abweichung an sich? Die Abweichung ist gerade genug, um nicht auf direktem Wege zu reisen; um nicht auf Kurs zu bleiben. Oh, welches Potential dieses Nicht hat!

Die Schönheit der lukretischen Darstellung des Universums besteht darin, dass abweichende Atome ein Ort der Kontinuität mit allen lebenden Kreaturen darstellen, was die Kontinuität zur Diskontinuität macht: »Wenn die Atome nicht weichen vom Lote und dadurch bewirken/ Jener Bewegung Beginn, die des Schicksals Bande zertrümmert/ Das sonst lückenlos schließt die unendliche Ursachenkette: Woher, frag ich dich, stammt die Freiheit der Willensbestimmung/ Die uns lebenden Wesen auf Erden hier überall zusteht […] ?« (ebd. 68) Auszuweichen oder abzuweichen kann des Schicksals Bande zertrümmern, die als vorwärtsgerichtete Flugbahn in gerader Linie verstanden werden. Der Wille ermöglicht es Menschen, nicht in eine bestimmte Richtung gedrückt zu werden, durch ihr Eigengewicht nicht auf gradlinige Weise zu reisen. Der Wille wird hier als Eigenschaft oder Potential verstanden, ein ›Nein‹ auszuüben, das Potential, damit man nicht von außen, durch eine äußere Kraft, bestimmt wird. Das ›Nein‹ bringt Menschen auf eine abweichende Linie mit Atomen: »Siehst du nunmehr, daß, […] in unserem Busen/ Etwas bleibt, was dagegen sich sträubt und das Fremde zurückweist?«, fragt Lukrez und fügt hinzu: »Ebenso mußt du daher auch bei den Atomen gestehen […].«([1957] 2013: 45) Teresa Brennans Beschreibung des freien Willens als »die Fähigkeit, nicht mit dem Strom zu schwimmen« (2004: 56) erinnert an die Poesie von Lukrez’ abweichenden Atomen.

Einige haben die Art und Weise infrage gestellt, wie Lukrez’ Gedicht als Darstellung des Willens eines sich selbst bewussten menschlichen Subjekts interpretiert wurde, zum Beispiel Karl Marx in seiner frühen Hegel’schen Arbeit zum antiken Materialismus. Jane Bennett spricht von Marx’ »zu voreiliger Übertragung von Atomen auf Menschen« (2001: 121). Wir sollten es etwas langsamer angehen, damit wir uns von unserem Anliegen nicht verzaubern lassen. Bei Lukrez nur den Menschen zu erkennen, würde sicherlich den Sinn verfehlen. Es geht nicht darum, den Menschen gleichzeitig von der Möglichkeit auszuschließen, die durch den Willen genannt ist. Das menschliche Subjekt wird Teil der Willensgeschichte: nur ein Teil, nicht der Beginn. Und aus der Kontinuität von Menschen mit Atomen lernen wir tatsächlich, dass es eine andere Möglichkeit gibt, um über den Willen nachzudenken: Der Wille ist ein Name, der von oder in der Geschichte für den Fall einer Abweichung gegeben wurde.

Wie queer dieser Wille ist! Wie Eve Kosofsky Sedgwick herausgestellt hat, stammt das Wort queer vom indoeuropäischen Wort twerk ab, was so viel bedeutet wie sich umzudrehen oder zu verdrehen, auch verwandt mit dem Wort thwart (dt. ver-/behindern), also querliegend, widernatürlich oder schief (1994: viii). Es ist kein Zufall, dass dieses Wort irgendwann sexuelle Subjekte beschreiben sollte: diejenigen, die nicht der geraden Linie folgen, die, »des Schicksals Bande zertrümmern«, um Lukrez’ Ausdruck zu gebrauchen, sind die Perversen: ausweichen, anstatt gerade zu biegen, vom rechten Kurs abweichen. Den Willen zu unterlaufen, bedeutet zu zeigen, inwiefern der Wille bereits queeres Potential angenommen hat. Ohne Zweifel wird diese Potentialität für Lukrez aufgewertet: Doch für andere stellt dasselbe Potential ein Problem oder eine Bedrohung dar, das Problem oder die Gefahr, dass Subjekte nicht dem richtigen Pfad folgen könnten. Eigenwilligkeit könnte ein Wendepunkt sein: wie aus einem Potential eine Bedrohung wird.

Wenn wir Augustinus noch einmal aus Sicht von Lukrez lesen, stellen wir fest, dass auch für Augustinus das Wollen die Möglichkeit einer Abweichung offenlässt. Augustinus deutet in Freyheit des menschlichen Willens an, dass selbst wenn »die Bewegung der Seele von gleicher Art ist« wie »die Bewegung, nach welcher der Stein […] abwärts sich wendet«, (1824: 3.1.206) »es nicht in der Gewalt des Steines liegt, im Falle sich aufzuhalten; wogegen es von dem Willen der Seele abhängt, ob sie die niedern Güter den höhern vorziehen wolle« (ebd.208). Selbstverständlich hätte der Stein für Lukrez seine eigenen Veranlagungen: Der Stein würde nicht als etwas verstanden werden, das keine Stärke besitzt, gar eine kontrollierende Stärke, die Stärke, nicht geradewegs senkrecht hinunterbewegt zu werden. Doch wir können die Sache mit dem Stein, zumindest fürs Erste[18], zur Seite legen, und zur Kenntnis nehmen, was für eine Rolle der Wille bei Augustinus als Gedanke spielt. Er versucht, zu erklären, wie das Böse trotz der Güte und Souveränität des göttlichen Willens in der Welt existieren kann. Er beschreibt den Willen nicht einfach als das Potential, Böses zu tun: Vielmehr sagt er, dass der Wille das Potential darstellt, Gutes zu tun. Würden Menschen nicht freiwillig Gott folgen, würde sich die Güte nicht auf die Menschen, sondern auf Gott beziehen. Menschen sollten die Freiheit haben, nicht gut zu sein, um die Möglichkeit zu bekommen, gut zu sein. Menschen sollten die Freiheit haben, sich vom rechten Pfad abzuwenden, wenn dieser Pfad ihr eigener werden soll. Für Augustinus ist es besser, den rechten Pfad zu verlassen, als nur deshalb auf dem Pfad zu bleiben, weil man keinen Willen hat: »[E]in durchgehendes Pferd [ist] noch besser […], als der Stein, welcher nicht durchgeht, weil es ihm an Bewegung und Sinn gebricht; so ist auch ein Geschöpf, welches mit freiem Willen sündiget, einem andern weit vorzuziehen, welches bloß deswegen nicht sündiget, weil es keinen freien Willen hat.« (1824: 3.5.227)[19] In einigen Übersetzungen ist dieses durchgehende Pferd ein umherziehendes Pferd. Der Wille deutet an, dass es besser ist, den richtigen Ort zu verlassen, als nur deshalb dort zu bleiben, weil man unfähig ist, sich selbstständig fortzubewegen. Der Wille könnte sogar den relativen Wert dessen beschreiben, was es bedeutet, nicht am richtigen Ort zu bleiben. Augustinus sagt nicht nur, dass auf falsche Weise zu wollen, beinhaltet, vom Glücks-Pfad abzukommen. Wenn der Wille die Möglichkeit einer Abweichung benennt, wird diese Möglichkeit zum Wesen des Willens.

Somit wird an den Willen appelliert, um das Problem des Willens zu lösen: Nicht gänzlich von außen bestimmt zu sein, wird zur Bedingung, um von innen bestimmt zu werden. Der Wille könnte sogar eigenwillig sein, ›bevor‹ er zum Willen wird. Bevor er seine eigene Bedingung erfüllen kann. Hier sollte zur Kenntnis genommen werden, dass Jane Bennetts eigene wertschätzende Lesart von Lukrez die Sprache der Eigenwilligkeit nutzt: »Eine gewisse Eigenwilligkeit oder zumindest Sonderbarkeit und Beweglichkeit – das Ausweichen – befindet sich im Herzen der Materie und wurde folglich als Eigenschaft aller Dinge, menschlich oder nicht, im gesamten Universum zerstreut. Das Ausweichen erscheint nicht als moralische Schwäche oder als Zeichen der sündigen Aufsässigkeit der Menschen.« (2001: 81) Es gibt ein eindeutiges Zögern in Bennetts Gebrauch des Wortes Eigenwilligkeit, ein Zögern, das sich im gleichzeitigen Gebrauch und Austausch des Wortes (»zumindest Sonderbarkeit und Beweglichkeit«) widerspiegelt. Meine Argumente in Eigenwillige Subjekte erklären dieses Zögern. Was geschieht, wenn wir annehmen, dass das Wort Eigenwilligkeit das richtige Wort ist? Wenn Lukrez uns lehrt, dass der Wille nicht zum Subjekt gehört (wenn der Wille ein Potential bezeichnet, das für alle Belange von Belang ist), dann kann es sein, dass auch die Eigenwilligkeit nicht im Subjekt innewohnt. Eigenwilligkeit ist das Wort, das benutzt wird, um das widerspenstige Potential des Willens zu beschreiben und diese Widerspenstigkeit in einer Figur einzugrenzen. Unsere Tendenz, Eigenwilligkeit mit menschlicher Schwäche und der Sünde in Verbindung zu bringen, wäre ein Symptom nicht nur für den Wunsch, die Widerspenstigen zu bestrafen, sondern auch das Verhalten nur einiger Weniger als widerspenstig zu bezeichnen. Wenn Eigenwilligkeit ein Behältnis für Widerspenstigkeit zur Verfügung stellt, ist es mein Ziel, dieses Behältnis auszuschütten.

Eine eigenwillige Methode

Indem ich der Figur des eigenwilligen Subjekts folge, stelle ich ein Eigenwilligkeitsarchiv zusammen. Diese Zusammenstellung ist meine Methode: eine eigenwillige Methode. Was meine ich mit einem Eigenwilligkeitsarchiv? In der Sonderbarkeit dieses Ausdrucks könnten wir eine Ausdehnung der Bedeutung eines Archivs, oder sogar eine Auslagerung des Archivs erkennen. Es gibt kein Gebäude, in dem die Dokumente der Eigenwilligkeit deponiert sind. Oder doch? Vielleicht ist ein Dokument ein Gebäude, eines, das beherbergt oder Unterschlupf gewehrt. Ein Eigenwilligkeitsarchiv würde sich auf überlieferte Dokumente beziehen, in denen Eigenwilligkeit als eine Eigenschaft, eine Charaktereigenschaft vorkommt. Selbst wenn die Dokumente nicht an einem Ort erhalten sind, können sie als Behältnisse beschrieben werden. An dieser Stelle können wir an Jacques Derridas Überlegungen zu Archiven als Domizile anknüpfen, in denen Dokumente aufbewahrt, also unter »Hausarrest« gestellt werden (1996: 2). Wenn Dokumente Gebäude sein können, können sie dort sein, wo ein Arrest stattfindet. Vielleicht steht das eigenwillige Subjekt unter Arrest. Jemanden unter Arrest zu stellen, kann nicht nur heißen, denjenigen »zum Stillstand zu bringen«, sondern kann auch im übertragenen Sinne von fangen oder festhalten benutzt werden. Das eigenwillige Subjekt wird unter Arrest gestellt, wenn es vor einem wachsamen Auge, dem Auge des Gesetzes, als dasjenige erscheint, das bestimmte Eigenschaften und Merkmale ›besitzt‹.

Unter Arrest zu stehen, bedeutet nicht unbedingt, an einen Ort gebunden zu sein. Sie zieht umher; sie taucht auf und das an allen falschen Orten. Sie, das eigenwillige Subjekt, führte mich dorthin, wo sie schließlich auftauchte. Indem ich dieser Figur folgte, stieß ich auf Material, das mir zuvor noch nie begegnet war. Das Grimm’sche Märchen Das eigensinnige Kind ist ein solches Beispiel. Sogar als mir die Figur des eigensinnigen Mädchens vertraut wurde, war ich weiterhin überrascht davon, ›wie‹ es erschienen war. Forschung beinhaltet, offen dafür zu sein, von dem geändert zu werden, was man dabei antrifft. Dieses Märchen hat meine Denkweise in eine neue Richtung gelenkt und wurde zum Dreh- und Angelpunkt beziehungsweise zu einem Schreibtisch, der meine weitere Suche unterstützte. Meine Gedanken zu diesem Märchen ließen mich überdenken, inwiefern die Unterscheidung Teil/Ganzes mit der Unterscheidung Wille/Eigenwilligkeit zusammenhängt. Ich hatte bereits damit begonnen, an Beschreibungen über den allgemeinen Willen in Pascals Gedanken anzuknüpfen, auf die ich in Kapitel 3 eingehen werde, wo das Bild eines Körpers und seiner Teile (sowohl der Füße als auch der Hände) so eindringlich ist. Nachdem ich das Grimm’sche Märchen gefunden hatte, wurde dieses Bild von Pascal noch viel ausdrucksstärker. Ich begann, andere eigenwillige Körperteile zu entdecken. Dieses Buch ist voll von ihnen und dem Versprechen als auch Schrecken ihrer Handlungsfähigkeit.

Das Grimm’sche Märchen hat es mir erlaubt, mich mit dem Teil anderer Teile zu beschäftigen. Ich verorte das Grimm’sche Märchen innerhalb eines weiter gefassten Korpus von Arbeiten, der als Erziehung des Willens bezeichnet werden kann, in dem der Wille zum Objekt als auch zur Methode wird, um ein Kind zu unterrichten. In diesem Korpus an Arbeiten erscheint die Figur des eigenwilligen Kindes am häufigsten und es wird sich mit größter Dringlichkeit immer wieder auf es bezogen. An der Geschichte der Erziehung des Willens war das eigenwillige Kind immer sehr fleißig beteiligt.[20] Die Funktion des Willens als pädagogisches Hilfsmittel ist schwer von seiner Funktion als moralische Instanz zu trennen (siehe Kapitel 2). Alle Texte, an denen das eigenwillige Kind ›beteiligt‹ ist, können als Teil der Geschichte der Erziehung des Willens bezeichnet werden, was sowohl literarisches als auch philosophisches Material mit einschließt, das sich mit dem moralischen Charakter auseinandersetzt.

Ich bin bereits auf die Bedeutsamkeit von George Eliots Die Mühle am Floss für die Entwicklung dieses Projekts eingegangen, ein Roman, der auch als Bildungsroman deklariert werden könnte, der sich vor allem mit der moralischen und psychologischen Entwicklung seiner Protagonistin beschäftigt. Ich ging zu meinem Ausgangspunkt zurück und am Ende arbeitete ich mich durch alle Romane von Eliot durch, die schließlich zum Kern meines Eigenwilligkeitsarchivs wurden, auch wenn dieses Buch kein Buch über Eliots Werk an sich ist.[21] Ich entschied mich nicht nur dazu, mit Eliots Romanen zu arbeiten, weil sie ausschlaggebend dafür waren, dass ich mich auf die Spur der Eigenwilligkeit begeben hatte, sondern auch, weil Eliot als Romanautorin des Willens betrachtet werden kann: In ihrer Charakterbeschreibung wendet sie die Sprache des Willens an. Wie Michael Davis in George Eliot and Nineteenth Century Psychology feststellte, hatte Eliot sich an den intellektuellen Debatten der Zeit beteiligt, die »die Vorstellung des Willens als frei und spontan ablehnten« (2006: 120; siehe auch Bonaparte 1975). In ihren Romanen erscheint der Wille nicht einfach als etwas, das Charakteren innewohnt, sondern als Teil einer moralischen und gefühlsbedingten Landschaft. Davis schlussfolgert, dass Eliot »einen Sinn des Willens als psychologisch und ethisch bedeutungsvolle Kategorie aufrechterhält«, sodass »ihr Bewusstsein für die Probleme, die mit dem Konzept des Willens verbunden sind, die Grundlage einer subtilen und komplexen Neudefinition dieses Konzepts« liefert (2006: 120). Die enge Beschäftigung mit Eliots Texten hat mir dabei geholfen, mehr Stimmigkeit in mein eigenes Werk zu bringen. Vielleicht habe ich in der Rückkehr zu demselben Korpus an Arbeiten eine Auszeit vom Umherirren erhalten.

Außerdem haben mir Eliots Texte dabei geholfen, darüber nachzudenken, inwiefern der Wille als Vorstellung funktioniert, die sich in eine Erzählung wandelt, und so eine Welt erschafft, in der sowohl Wille als auch Eigenwilligkeit zu Aufgaben werden, die nicht nur Menschen sondern auch Dinge betreffen. Wie Moira Gatens anmerkt, kann George Eliot als Philosophin und Autorin bezeichnet werden, oder wir könnten ihre Romane als »neue Form des philosophischen Schreibens« betrachten (2009: 74). Meine Wahl Eliots als eigenwillige Gefährtin spiegelt mein eigenes Interesse wider, die Beziehung der Philosophie zur Literatur neu zu gestalten. Indem ich Eliot als Philosophin lese, lese ich Philosophie auch als Literatur. In diesem Buch lasse ich mich auf eine große Bandbreite an Philosophien des Willens ein und behandele diese philosophischen Werke wie Stränge eines Eigenwilligkeitsarchivs. Mit anderen Worten, ich lese Philosophien des Willens nicht einfach aufgrund der Diskussionen zum Thema Willen, sondern auch, weil ich mir darüber Gedanken mache, wie der Wille (manchmal, aber nicht immer, im Verhältnis zur Eigenwilligkeit) in den Werken Gestalt annimmt und gestaltet wird.

Ich denke, dass die Überlegungen in diesem Buch philosophischer Art sind, auch wenn das Buch nicht auf irgendeine ›gradlinige‹ Weise in der Philosophie beheimatet ist. Das philosophische Projekt dieses Buches könnte sogar als Nicht-Philosophie beschrieben werden. Was ich damit meine? Nicht-Philosophie zu betreiben, ist eine Art, seine Beziehung zur Philosophie, wenngleich in offensichtlich negativen Begrifflichkeiten, zu formulieren. Nicht-Philosophie wird von denjenigen praktiziert, die keine Philosoph*innen sind und zielt darauf ab, in der Philosophie Raum für Nicht-Philosoph*innen zu schaffen. Sich als Nicht-Philosoph*in mit Philosophie zu beschäftigen, kann als produktiv verstanden werden: die Unfähigkeit, Texte zu ihren eigentlichen Geschichten zurückzuführen, gibt uns die Möglichkeit, quer zu lesen, und so eine andere Perspektive auf das zu entwickeln, was reproduziert wird. Nicht-Philosophie zielt darauf ab, den Korpus der Philosophie nicht durch eine eigenwillige Zitierweise zu reproduzieren: Wenn Philosoph*innen zitiert werden (und in diesem Buch werden viele Philosoph*innen zitiert), werden sie nicht nur neben denen zitiert, die keine Philosoph*innen sind, sondern sie werden ihnen gegenüber auch nicht bevorzugt. Das ist der Grund, warum ich schließlich als letzte Karte eine neue Lesart von Hegels Herrscher-Sklave-Dialektik ausspiele, gewissermaßen als Begleitmärchen zum Grimm’schen Märchen.

Mit Nicht-Philosophie meine ich jedoch nicht nur die Philosophie, die von denjenigen entwickelt wird, die keine Philosoph*innen sind. Nicht-Philosophie ist auch verbunden mit ›dem nicht‹ und macht ›das nicht‹ zu einem Objekt des Denkens. Nicht-Philosophie ist auch eine Philosophie des Nicht. In diesem Buch argumentiere ich, dass der Wille unter dem Aspekt des Nicht neu artikuliert werden kann: ob er nun als Möglichkeit verstanden wird, keinen Zwang von einer externen Gewalt zu erfahren (ich habe dieses Verständnis des Willens bei Lukrez angesprochen) oder als Fähigkeit, einer Anweisung ein ›Nein‹ zu entgegnen oder danach zu handeln. Tatsächlich scheint Eigenwilligkeit als Urteil auf diejenigen zu fallen, die ›nicht‹ vom Urteil anderer abhängig sind. Eigenwilligkeit könnte das sein, was wir tun, wenn wir als ›Nicht‹ beurteilt werden, weil wir zum Beispiel nicht die Kriterien des Menschseins erfüllen. Die Kriterien des Menschseins nicht zu erfüllen, steht oftmals im Zusammenhang mit anderen Nichts, nicht menschlich zu sein im Sinne von etwas ganz Konkretes nicht zu sein: nicht weiß zu sein, nicht männlich zu sein, nicht heterosexuell zu sein, nicht körperlich gesund zu sein. Das Sein kann sich verändern, wenn das Nichtsein auf das Sein trifft. Diese Aussage kann als Bestrebung gelesen werden: Nicht-Philosophie verdreht den Körper der Philosophie, indem sie ihn wieder bewohnt. Eigenwilligkeit: verirrte Philosophie, Philosophie der Verirrten.

Ein queerer Körper kann ein queerer Körper des Denkens sein. Über die Beziehung zwischen Willen und Eigenwilligkeit nachzudenken, hat es mir ermöglicht, meine Beziehung zum Willen als philosophischen Gedanken neu auszurichten. Die Argumente, die in diesem Buch angeboten werden, können gemeinsam mit der Arbeit von Gelehrten wie John Smith (2000) und Peter Hallward (2009) gelesen werden, die beide davon ausgehen, dass die Kritik am willentlichen Subjekt in poststrukturalistischem Gedankengut nicht meint, dass die Willensäußerung als Konzept keine Anwendung mehr hat. Smith argumentiert, dass einige Leser*innen »zeitgenössischer Theorie« annehmen könnten, »der Wille [sei] ein überholtes Konzept« (2000: 12). Er behauptet, dass der Wille von feministischen Leser*innen als »maskulinistisches Konzept« verstanden werden könnte, als etwas, das zu einem Subjekt gehört, das wiederum Gegenstand feministischer Kritik gewesen ist (12).[22] Smith stellt auch fest, dass der Wille mittlerweile nur noch schwer vom Nationalsozialismus und seinem triumphalen »Triumph des Willens« zu unterscheiden ist.[23] Hallward hingegen denkt über die Tendenz in poststrukturalistischen Theorien nach, die »das Konzept des Willens als Gegenstand des Trugbildes oder der Abweichung abtun« (2009: 20).

Entgegen dieser Ablehnungen des Willens, argumentieren Smith und Hallward für ein verbessertes und dialektisches Konzept des Willens als eine Praxis oder Aktivität. Ich stimme dem zu, dass das Konzept des Willens nicht erschöpfend behandelt wurde. Dennoch bin ich nicht daran interessiert, die Willenskraft von den bestehenden Kritiken zu befreien (die ich nicht alle als Ablehnungen bezeichnen würde, wie es Hallward tut)[24], obgleich ich in Kapitel 4 über die Tragweite des politischen Willens nachdenke und am Ende meiner Forschung eine gewisse Verpflichtung gegenüber den Möglichkeiten empfand, die vom Willen offengelassen wurden. Doch selbst wenn ich auf seine Nützlichkeit zurückgreife, argumentiere ich nicht ›für‹ den Willen. Eines meiner Ziele in Eigenwillige Subjekte ist es, die Kritiken des Voluntarismus zu vertiefen, indem ich über die enge Beziehung zwischen Freiheit und Zwang nachdenke. Ich spreche von Eve Kosofsky Sedgwicks Aufruf an uns, »einfach zu widerstehen, indem wir die Propaganda eines in den Hintergrund tretenden freien Willens wieder antreiben«, indem wir uns wiederum der Eigenwilligkeit bedienen, um die Beziehung zwischen »Freiwilligkeit und Zwang« zu überdenken (1994: 138). Machtbeziehungen können ›freiwillig‹ sichergestellt werden. Wenn das Wollen sichergestellt ist, ist ein Willens-Vorhaben ein Sicherheits-Vorhaben. Sobald der Wille einmal gesichert ist, ist es nicht mehr so einfach, ihn ›als‹ Willen zu fassen. Die Phänomenologie ist eine wichtige Quelle für die Entwicklung dieser Argumentation gewesen, da sie mir dabei geholfen hat, darüber nachzudenken, wie Eigenwilligkeit, angesichts dessen, wie das, was ›bereits gewollt‹ (Kapitel 1) oder ›allgemein gewollt‹ (Kapitel 3) worden ist, dazu neigt, zurückzuweichen oder in den Hintergrund zu treten, ›auftaucht‹. Das eigenwillige Subjekt mag in seinem Erscheinungsbild auffällig sein, nicht nur, weil es dem widerspricht, was von anderen gewollt worden ist, sondern auch dem, was aus dem Blickfeld verschwunden ist.

Material zu einem Eigenwilligkeitsarchiv zusammenzutragen, könnte einen noch stärkeren Eindruck des eigenwilligen Subjekts erzeugen. Es birgt die Gefahr, einen Eindruck zu verstärken. Wir könnten annehmen, dass das Subjekt an sich der Eindruck ›ist‹, den es hinterlässt. Wir könnten denken, dass wir es ›so‹ vorgefunden haben. Es ist wichtig, nicht davon auszugehen, dass Eigenwilligkeit bloß eine Veranlagung beschreibt; wenngleich Eigenwilligkeit als Beschreibung (einer Veranlagung) auch gewisse Auswirkungen (auf die Veranlagung) haben könnte. Wir folgen eher der Veranlagung als zu suchen, was veranlagt wurde. Dieses Buch fragt folglich nicht, was Eigenwilligkeit ist, sondern was Eigenwilligkeit macht. Wenn wir fragen, was Eigenwilligkeit macht, fragen wir gleichzeitig auch, was wir machen, wenn wir eigenwillig sind: Auf diese Weise übergeht die Frage nach dem Machen nicht die Frage nach dem Sein. Mit diesen Fragen tauchen andere Fragen auf. ›Wo‹ finden wir normalerweise Eigenwilligkeit? ›Wann‹ taucht Eigenwilligkeit auf? ›Wer‹ wird als eigenwillig bezeichnet? Ein Hauptmerkmal der Argumentation ist, dass Eigenwilligkeit nicht nur an bestimmten Plätzen deponiert wird, sondern, dass der Wille durch dieses Deponieren im sozialen Bereich ungleichmäßig verteilt ist. Der umgekehrte Mechanismus ist derselbe Mechanismus: Durch die ungleichmäßige Verteilung des Willens kann eine Figur als eigenwillig erscheinen (einige Willen erscheinen als zu sehr erfüllt vom Willen, eine Fülle, die auch als Entleerung oder Diebstahl des Willens anderer beschrieben wird). Kein Wunder, dass die Figur des eigenwilligen Subjekts – oftmals, aber nicht immer ein Kind, oftmals, aber nicht immer weiblich, oftmals, aber nicht immer ein Individuum – so geläufig geworden ist. Das Eigenwilligkeit an gewissen Orten zu deponieren, erlaubt es der Figur des eigenwilligen Subjekts als jemand zu erscheinen, den wir sofort erkennen können. Diese Figur erklärt, warum wir zögern, die Sprache der Eigenwilligkeit zu gebrauchen, um das Potential von Abweichler*innen zu beschreiben. Sie ist ein machtvolles Behältnis.

Ich möchte diese geläufige Figur des eigenwilligen Subjekts zu etwas Befremdlichem machen, indem ich über die Geläufigkeit ihrer Gestalt nachsinne. Und wenn wir über den Status des eigenwilligen Subjekts als Figur nachdenken, ist es möglich, dass wir uns das Konzept des Archivs erschließen. Donna Haraway (1997) hat aufgezeigt, inwiefern Figuren semiotisch und materiell sind. Wenn Figuren etwas bedeuten, dann sind sie von Bedeutung. Wenn Figuren von Bedeutung sind, dann bedeuten sie etwas. Ein Eigenwilligkeitsarchiv, das um eine Figur herum zusammengestellt wird, schließt nicht nur Dokumente und Texte ein. Wir könnten ebenso sagen, dass, wenn wir ein Archiv zusammenstellen, (und Zusammenstellen ist eine Handlung, eine Sammlung von Material, das andernfalls auseinanderfallen oder zerstreut werden würde) wir uns diesem Material nicht nur als Texte zu nähern brauchen. Wenn Figuren bewegt werden, bewegen sie sich; und sie bewegen uns. Denken wir nur an das Grimm’sche Märchen; zwar ein geschriebener Text, jedoch einer, der nicht mehr in den offiziellen Ausgaben der Grimm’schen Märchen erscheint (vielleicht ist die Gewalt dieser Geschichte zu offensichtlich, obgleich die Gewalt in den Grimm’schen Märchen nie besonders verborgen ist); ein geschriebener Text, der nur als eine Übertragung von mündlich überlieferten Geschichten, die von den Gebrüdern Grimm gesammelt wurden, gelesen werden kann und könnte; Geschichten, in denen der Arm oder die Hand des Kindes, der oder die sich aus dem Grab reckt, ein geläufiges Motiv darstellte.[25] Aber ich denke da nicht nur an die Geschichten, die auf dem Spiel stehen, was die Ankunft und das Herumreichen eines gegebenen Textes angeht. Als was würden wir Das eigensinnige Kind sonst bezeichnen, wenn nicht als Text? Wenn wir die gefühlsmäßige Ebene mit einschließen, kommen wir mit unseren Beschreibungen weiter. Wie berühren diese Worte die Leser*innen? Wenn die Geschichte für ein Kind gedacht ist, wie würde sie das Kind erreichen? Rührt sie es, weil sie rührend ist? Die Figur des eigenwilligen Kindes ist durchtränkt mit Gefühlen. Das Wort eigenwillig ist ein Erbe ›in‹ dem Sinne, dass das gefühlsbedingt ist, was Eigenwilligkeit schließlich effektiv oder effizient macht. Worte können uns die Luft zum Atmen nehmen, uns wütend machen; sie können uns erfüllt oder leer zurücklassen. Wenn sie uns rühren, hinterlassen sie einen Abdruck.

Ich schreibe dieses Buch als jemand, der einen Eigenwilligkeits-Abdruck erhalten hat. Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst als eigenwilliges Kind bezeichnet worden bin, dass diese Figur mich fesselt. Ich habe den Tonfall dieser Zuschreibung gehört, wie harsch sie als Anschuldigung ausfallen kann. Häufig wird sie einem Kind zugerufen, jemandem, der auf diese Weise angesprochen werden ›kann‹, jemandem, von dem, zumindest zu der Zeit oder zu meiner Zeit, angenommen wurde, dass er oder sie dieser Zuschreibung nicht widersprechen darf. Das eigenwillige Kind kann Teil unserer eigenen Geschichte sein, verkörpert als Erinnerung: jemand, der wir hätten sein können oder jemand, von dem wir dachten, dass wir es sind, jemand, der oder die wir geworden sind trotz des Bildes, das andere von uns hatten, wie wir gewesen sind. Ich fing an, mich für diese Figur zu interessieren, eine geisterhafte Figur, eine Spur oder die Anmutung einer Person, irgendjemand, der ich einmal war oder irgendein Ort, an dem ich gewesen bin. Indem ich mich selbst in diesen Text mit einschließe, lege ich gewissermaßen die Karten auf den Tisch. Ich reiche euch meine Hand. Ich habe keine Zweifel daran, dass einige davon ausgehen, dass meine Hände nicht unbefangen sein können. Das sind sie nicht; und das ist auch gar nicht meine Absicht. Ich schreibe dieses Buch voller Befangenheit.[26] Unbefangene Hände würden zu vieles unberührt lassen.

Indem ich dieses Eigenwilligkeitsarchiv zusammenstelle, arbeite ich auch mit Konzepten und hoffe, dass ich Körpern Konzepte zurückgebe. Konzepte können schweißtreibend sein: eine Spur der Arbeit von Körpern. Eigenwilligkeit wird zu einem schweißtreibenden Konzept, wenn wir die Arbeit ihrer Erschaffung aufdecken können.[27] Wenn wir die Definition von Eigenwilligkeit als eine Zuschreibung, als Ansprache an jemanden, hören, kalt und verstaubt, weil sie die ganze Zeit in einem Lexikon verstaut war, können wir darüber nachdenken, inwieweit Worte und Konzepte in Welten hineinsickern. Zur Erinnerung: »den eigenen Willen entgegen einer Meinung, Anweisung oder einem Befehl durchzusetzen oder geneigt zu sein, ihn durchzusetzen; dem Willen unterlegen ohne Rücksicht auf den Verstand; entschlossen, den eigenen Weg einzuschlagen; auf sture Weise eigensinnig oder widerspenstig.« Als stur oder widerspenstig bezeichnet zu werden, nur weil du nicht überzeugt vom Denken anderer bist. Kommt dir das bekannt vor? Hast du das schon einmal gehört?

Wenn Eigenwilligkeit eine Zuschreibung ist, eine Methode, um Fehler zu finden, ist Eigenwilligkeit auch die Erfahrung einer Zuschreibung. Eigenwilligkeit kann in unseren Körpern deponiert werden. Und wenn Eigenwilligkeit in unseren Körpern deponiert wird, werden unsere Körper Teil eines Eigenwilligkeitsarchivs.[28]

Damit wir Eigenwilligkeit folgen können, müssen wir aus der Geschichte von Vorstellungen hinaus und in die Welt des Alltags hineinziehen. Wenn wir diese Geschichte erben, hinterlässt sie einen Abdruck auf der Haut. Alleine hätte ich mit diesen Abdrücken nicht arbeiten können, auch wenn die Erfahrung, als eigenwillig bezeichnet worden zu sein, sich anfühlen kann, als würde man vertrieben werden. Ich brauchte die Hilfe anderer, virtueller und leibhaftiger anderer, die mich bei meinem Versuch unterstützten, Eigenwilligkeit zu einem kontinuierlichen Objekt theoretischer Reflektion zu machen.

Das Buch ist strukturiert in Diskussionsstränge, die zusammengewoben und etwas lose miteinander verbunden sind. Ich habe über die Kapitel hinweg Echos und Wiederholungen benutzt (dieselben Dinge kommen an unterschiedlichen Stellen vor). Ich habe mich auf den ›Klang‹ der Verbindung verlassen, um aus einer Reihe von Eindrücken Beweismaterial zusammenzutragen und habe mir dementsprechend das Schreiben als etwas Poetisches als auch Akademisches vorgestellt. Das bedeutet nicht, dass es keine Vernunft in Reimform gäbe. Während ich versuchte, das Buch zu strukturieren, hatte ich das Ziel vor Augen, meine Darstellung der Sozialität des Willens immer weiter auszubauen. Letztendlich rührt das Urteil der Eigenwilligkeit von einem sozialen Schauplatz her: Einige haben einen eigenen Willen, der von anderen als Problem beurteilt wird. Das erste Kapitel greift auf Beispiele von Individuen zurück, die ›zusammen gewillt‹ sind, eine Möglichkeit zu verwirklichen; das Zweite sinnt darüber nach, wie das Vorhaben der Beseitigung der Eigenwilligkeit vom Willen zu einem moralischen, verbindlichen Imperativ wird; das Dritte handelt davon, wie einige Willen in einem sozialen oder institutionellen Körper verallgemeinert werden; und das Vierte untersucht, inwiefern Eigenwilligkeit erforderlich ist, wenn du dem begegnest, was als Wille verallgemeinert wurde. Eines meiner Hauptziele ist die Untersuchung des Willens und wie er zu einer Frage der Zeit wird, indem ich darüber nachdenke, wie der Wille sich zur Vergangenheit und Zukunft verhält und wie er demnach nie wirklich gegenwärtig oder in der Zeit ist, in der wir uns befinden: Die subjektive Zeit des Willens wird somit als Nicht-Spontaneität und die soziale Zeit des Willens als Nicht-Synchronität beschrieben. Die Frage des Willens wird zu einer Frage der Priorität und in dem Buch untersuche ich spezifische Figuren, einschließlich des Gastes (Kapitel 1), dem Kind (Kapitel 2) und der*dem Fremden (Kapitel 3), die alle eine Bedingung teilen: das des Danach-Kommens.

In Kapitel 1 Eigenwillige Subjekte betrachte ich das Wollen als alltägliche Erfahrung und soziale Aktivität. Ich untersuche Wollen als eine Projektform, und frage danach, wie Subjekte darauf abzielen, bestimmte Dinge herbeizuführen. Ich beginne auf diese Weise, um Eigenwilligkeit zu entpersonalisieren (da sie sich als Urteil oft zu persönlich anfühlen kann, als ginge es dabei ›um‹ einen Menschen), indem ich aufzeige, wie Eigenwilligkeit den Dingen zugeschrieben wird, die einer Absicht in den Weg geraten, Objekte sowie Subjekte eingeschlossen. In Kapitel 2 Der gute Wille komme ich zurück zur Figur des eigenwilligen Kindes und betrachte, wie sie zu einem Instrument in der Geschichte der Erziehung des Willens wird. Auch geht es in dem Kapitel darum, wie der Wille an sich zu einem Vorhaben wird, zu etwas, an dem ein Subjekt arbeiten muss, und es bietet eine Kritik des Willens als auch der Eigenwilligkeit an. In Kapitel 3 Der Gemeinwille analysiere ich den Unterschied zwischen dem Willen und der Eigenwilligkeit, wie sie mit der Unterscheidung zwischen dem allgemeinen und speziellen Willen in Beziehung stehen. Ich untersuche, wie Teile, die nicht gewillt sind, das Ganze aufrechtzuerhalten, als eigenwillig bezeichnet werden, einschließlich nicht produktiver und nicht reproduktiver Teile. Das Buch bietet außerdem eine Neuaufladung des aufgeladenen Begriffes der Eigenwilligkeit an, indem darüber nachgedacht wird, inwiefern wir uns ›in‹ dieser Aufladung befinden. In Kapitel 4 Eigenwilligkeit als Politik überlege ich, wie aktiv zur Eigenwilligkeit aufgefordert worden ist. Wenn Eigenwilligkeit eine Art Wendepunkt beinhaltet (wie ein Potential zu einer Bedrohung wird), untersucht dieses Kapitel einen weiteren Wendepunkt, den wir vielleicht eine Kehrtwende nennen können (wie eine Bedrohung zu einem Potential werden kann). Wie dem auch sei, ist die Stimmung dieses Kapitels nicht einfach oder nur feierlich. Ich denke über Erfahrungen nach, die schwierig sind, und möchte diese Schwierigkeit nicht lösen (Schwierigkeiten zu lösen, würde bedeuten, die Nähe zu dem zu verlieren, was schwierig ist). Wenn ich im Schlussteil, zumindest zum Teil, doch eigenwillige Teile feiere, (vielleicht im ursprünglichen Sinn von feiern, also zahlenmäßig frequentieren oder zusammendrängen), muss ich auch gestehen, dass uns Eigenwilligkeit für unsere Handlung keinen moralischen (Hinter-)Grund zur Verfügung stellt. Weniger unterstützt zu sein, kann auch heißen, gewillt zu sein, auf unebenem Grund zu reisen, selbst wenn (oder vielleicht weil) es unser Ziel ist, Unterstützung zu finden.

Indem ich über Eigenwilligkeit schreibe, räume ich die Möglichkeit ein, dass mein eigenes Schreiben als eigenwillig beurteilt wird: als zu bestimmt, sogar aufdringlich. Eines meiner Argumente ist, dass einige Körper viel mehr Druck ausüben müssen als andere, nur um voranzukommen; dieses Argument kann auf Argumente als auch auf Körper zutreffen. Das Oxford English Dictionary (OED) beschreibt die Bedeutung von eigenwillig als willensstark »im positiven Sinne« als veraltet wie auch selten. Die negativen Bedeutungen von Eigenwilligkeit (oder sogar Eigenwilligkeit ›als‹ negative Bedeutung schlechthin) sind so tief verwurzelt, dass man, um eine Geschichte der Eigenwilligkeit zu öffnen, auf andere positivere Bedeutungen bestehen muss. Ich bin ziemlich beharrlich geworden, was das Potential angeht, beharrlich zu sein. Manchmal musst du sogar ›über-beharren‹, um durch eine Mauer von Wahrnehmungen zu kommen; es ist eine Spiegelung dessen, über was wir hinwegkommen müssen. Gleichzeitig bin ich mir dessen bewusst, dass ein Buch über Eigenwilligkeit bereitwillige Leser*innen braucht; damit meine ich diejenigen, die gewillt sind, weiterzulesen, am Text zu bleiben, ob sie ihm zustimmen oder nicht. Deshalb habe ich mir so viel Mühe gegeben, wie möglich, wenn und wie ich eigenwillige Subjekte eingeführt habe. Und ich habe mir Zeit genommen; tatsächlich beschreibe ich erst im letzten Kapitel dieses Buches die Welt aus ›deren‹ Sichtweise, aus Sichtweise derer, die dieses Urteil erhalten haben und davon geprägt worden sind. Ich verwende hier die dritte Person Plural, auch wenn ich mich selbst innerhalb des Eigenwilligkeitsarchivs mit einschließe. Ich spreche oft auf diese Weise von diesem Buch, denke von ›ihm‹ hinsichtlich dessen, was ›sie‹ tun. Als ich mich daran machte, das Manuskript zu überarbeiten, fragte ich mich, ob ›sie‹ wohl zustimmen würden.