Ein Bauch spaziert durch Paris - Vincent Klink - E-Book
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Ein Bauch spaziert durch Paris E-Book

Vincent Klink

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Beschreibung

Ein einziger Genuss. Meisterkoch Vincent Klink geht gern auf kulinarische Entdeckungsreise. Nun durchstreift er mit uns die Welthauptstadt guten Essens – Paris. Dabei schildert er die Geschichte der französischen Küche von der Revolution bis heute. Er erzählt von Meisterköchen, Gourmets und der Alltagsküche und stößt dabei immer wieder auf die großen Dichter und Denker. So beobachtet er Balzacs Schlingern zwischen Fettleber und Fasten, begleitet die Brüder Goncourt bei ihren Restaurantbesuchen, sitzt mit Baudelaire und Flaubert zu Tisch. Er trifft berühmte deutsche Emigranten und erfährt etwa von Heinrich Heine, dass dieser sich von einer Art Pizza-Lieferdienst avant la lettre versorgen ließ. Doch der Connaisseur beklagt auch das Verschwinden des alten Paris. Für das «Ritz» an der Place Vendôme besaß einst Prousts Haushälterin einen Hintereingangsschlüssel, um des Nachts für den Wahnsinnigen Zungengekitzel zu holen; Hemingway soff, und Coco Chanel wohnte später hier. Mittlerweile wurde das Belle-Époque-Juwel durch eine kostspielige Modernisierung dem Geschmack der Scheichs und Oligarchen angepasst. In dem charmanten Plauderton, den seine Leser so lieben, flaniert Klink durch Gegenwart und Vergangenheit, durch Kulturgeschichte und Kulinaristik. Eine sinnenfrohe Bildungsreise für alle, die der Zauber der französischen Hauptstadt in den Bann schlägt.

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Vincent Klink

Ein Bauch spaziert durch Paris

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein einziger Genuss.

Meisterkoch Vincent Klink geht gern auf kulinarische Entdeckungsreise. Nun durchstreift er mit uns die Welthauptstadt guten Essens – Paris. Dabei schildert er die Geschichte der französischen Küche von der Revolution bis heute. Er erzählt von Meisterköchen, Gourmets und der Alltagsküche und stößt dabei immer wieder auf die großen Dichter und Denker. So beobachtet er Balzacs Schlingern zwischen Fettleber und Fasten, begleitet die Brüder Goncourt bei ihren Restaurantbesuchen, sitzt mit Baudelaire und Flaubert zu Tisch. Er trifft berühmte deutsche Emigranten und erfährt etwa von Heinrich Heine, dass dieser sich von einer Art Pizza-Lieferdienst avant la lettre versorgen ließ.

Über Vincent Klink

Inhaltsübersicht

MottoAuf der Pont de Bir-HakeimZuallererst dies, liebe LeserParis ist nicht nur «Mon Amour»Die Parks von Paris I – Square du TemplePariser ZwiebelsuppeÀ la recherche de la tarte perdueDie ersten RestaurantsDie erste Stunde der Grande CuisineDie WeltmeisterNapoleon III. und die Sichtachsen«Hotel Ritz» an der Place VendômeHotelbarsParis und seine feinen HerrenDer letzte Auftritt des Monarchen oder: Der real existierende RoyalismusDer wilde Maler Soutine und meine Sehnsuchtsstadt ParisDie Dichter und ihre KaffeehäuserDie Parks von Paris II – Jardin Musée RodinDie Gebrüder GoncourtDer Besuch auf dem FriedhofGuy Martin und das «Grand Véfour»Die Weihnacht wird zum TagDie Pariser PassagenDie Gesichter einer StadtDie Frauen und die BücherDie Parks von Paris III – Square Jean XXIII und Square René VivianiPfullingen – ParisMaigret und sein KalbsragoutFa-Raon et KléopatreKleine OuvertureGalliera Museum bei der Place d’IénaAch Stuttgart, du Wunderbare!AnhangTippsGelesenes und AnempfohlenesBildnachweis

Paris, die schöne Zauberstadt, die dem Jüngling so holdselig lächelt, den Mann so gewaltig begeistert und den Greis so sanft tröstet.

Heinrich Heine

Auf der Pont de Bir-Hakeim

Zuallererst dies, liebe Leser

Wer träumt nicht von den Zeiten, als in Paris noch Baskenmützen auf klapprigen Fahrrädern übers Kopfsteinpflaster wackelten? Die Franzosen sind längst nicht mehr so lässig wie ehedem, und die Gitane hängt ihnen nur noch selten im Mundwinkel. Doch eines ist geblieben: das Baguette. Das französische Weißbrot ist für mich ein Sinnbild der Freiheit und der verfeinerten Lebensart – eben ganz anders als der steinschwere Schwarzbrotlaib, auf dem die deutsche Kultur hockt. Leider ist die Welt überwiegend aus Schwarzbrot geschnitzt, und auch die Gesichter der Menschlein sind daraus modelliert. Man braucht die Kraft der Gedanken und zwischendurch immer wieder einen Pastis, um sich das Dasein zu verschönern, und wer tüchtig übt, sucht und trinkt, wird finden.

Ein schwäbischer Pessimist sagte mir neulich: «Das Gute geht, der Scheiß bleibt!» Bestätigung dafür kann der Flaneur zu Hause wie auch in Paris an jeder Ecke finden. Die kleinen, handwerklich versierten Bäcker, die das knusprige Baguette herstellen, werden immer weniger. Trotzdem ist hier die Leichtigkeit des Seins überall zu spüren, gibt es die Schönheit von Paris noch zuhauf. Lassen wir also lieber den monumentalen Erhabenheiten der Boulevards, der Sichtachsen und der Bauwerke den Vortritt: Dem schnellen Betrachter oder auch dem Reisenden, der zum ersten Mal ins Magnetfeld dieser Stadt gerät, wird all dies Hochstimmung verschaffen. Schaut man jedoch länger hin, fällt einem auch viel globalisierte Uniformität auf. Gerade der unverbesserliche Nostalgiker muss daher auf die Details und auf die Nebenwege blicken, um sich den Charme der französischen Lebensart vors äußere und innere Auge führen zu lassen. Ich kann also meinem schwäbischen Landsmann nur bedingt zustimmen: Das Gute geht, aber Besseres lässt sich immer noch finden, zumindest was das Essen betrifft.

So werden in der Touristenzone um den Louvre und die Île de la Cité die Sehnsüchte der Frankophilen schlampig als Klischee in Szene gesetzt, doch im Verborgenen gibt es noch das Originale. Von einem Einmaltouristen lässt es sich nur mit sehr viel Glück finden. Je weiter man sich aber von den Menschenmassen entfernt, desto höher ist die Chance, eine wirklich hausgemachte Paté zwischen die Zähne zu kriegen.

Unzählige Male habe ich Paris besucht und mit den Jahren die französische Küche fest verinnerlicht. Die Grande Cuisine dieser Stadt empfand ich schon immer als ein Wunder, auch heute noch. In Deutschland kann man bestimmt genauso gut essen, es fehlt bei uns an gar nichts – außer am Laisser-faire, der stilvollen Hochachtung vor dem Handwerklichen und vor allem auch an der französischen Unbekümmertheit. In Deutschland empfinde ich die Spitzengastronomie oft als Examen, für den Koch ebenso wie für den Gast. Von solcher Befangenheit ist in Paris nichts zu spüren, dort bieten die Restaurants ein Flair, das nicht zu kopieren ist. Aber: In der Spitzengastronomie werden auch dort die echten Kenner rar. Touristen aus aller Welt, seien sie noch so exotisch, können die Atmosphäre eines genüsslichen Summens über den Tischen längst nicht so erzeugen wie die Fresssäcke, denen es in früheren Zeiten die Knöpfe vom Gilet sprengte.

Die Grande Cuisine de France hat Federn, um nicht zu sagen: Kalorien gelassen, die klassischen Restaurants sind weniger geworden. Gutes französisches Essen gibt es immer noch, nur schmeckt es heute anders und sieht auch anders aus. Der kulinarische Umbruch in Paris ist in vollem Gange. Es wäre auch schlimm, würde die Stadt sich nicht weiterentwickeln, obwohl – Attention! – der Normalfranzos’ um einiges konservativer ist als der tiefste deutsche Hinterwäldler. Die Bistros, Ladestationen des seligen Miteinanders der jeweiligen quartiers, haben sich verändert. Jeden Monat eröffnen junge, gut ausgebildete Köche ihre kleinen Etablissements, die sich nun Neo-Bistros nennen. Im Grunde ist das eine wunderbare Entwicklung, die von der französischen Malerei bereits vor hundert Jahren eingeläutet wurde: die Kunst des Weglassens. Wozu braucht ein Genießer einen Teppichboden, in dem er zu versinken droht, ehe er den Tisch erreicht hat? Das Tischtuch weicht nun einer polierten Holzplatte, und die Stühle sind hart und klein wie eh und je. Die Bedienung hat meist den Beruf nicht gelernt, ist jung, manchmal frech und meist von entwaffnender Freundlichkeit. Junge, wilde Kochkünstler sind am Werk, und man kann froh darüber sein.

Die Drehtüre, in der neu eröffnete Bistros herumwirbeln, um auf der anderen Seite bereits den Laden wieder dichtzumachen, rotiert allerdings rasant, und deshalb erspare ich es mir auch, diese gastronomische Entwicklung in diesem Buch zu besingen. Es ist bedauerlich, aber es war zu allen Zeiten so, dass man im Voraus nicht wissen kann, was dereinst wirklich Bestand haben wird.

Paris ist nicht nur «Mon Amour»

«Zwei Buchstaben zu Paris dazufügen, und es ist: le paradis, das Paradies.»

Jules Renard

Stuttgart, 19. August 2012: Es ist Sonntag früh, fünf nach acht – halt, sechs nach acht zeigt die Uhr. Einsam hocke ich am Bahnsteig des Stuttgarter Hauptbahnhofs und brüte vor mich hin. In einer Stunde, wenn der TGV keine Verspätung hat, müsste der Schnelltransport nach Paris beginnen. Eine meiner unzähligen Neurosen dürfte meine Überpünktlichkeit sein. Reisen, das ist mir ziemlich ungewohnt, sodass ich schon die Nacht zuvor wegen kommender Unwägbarkeiten vor Unruhe nicht die Augen zukriege. Unter den dreckigen Drahtglasdächern wabert schon um diese Zeit eine unglaubliche Hitze, die mich jedoch nicht stört. Eine Taube fällt besinnungslos auf den Bahnsteig. In mir kommt Mitleid hoch, zugleich wundere ich mich, dass meine Kondition robuster ist als die der dafür so gerühmten Bahnhofstauben.

Langeweile macht Hunger, und der ist bei mir völlig temperaturunabhängig. Die Vesperbrote werden schon mal ausgepackt. Meine Köchinnen haben sie abends zuvor superb mit Schinken, Salat und Käse zusammengebaut. Proviant dabeizuhaben, noch dazu selbst gebastelten, das hört sich sehr altmodisch an. Aber auf meinen ohnehin seltenen Reisen überlasse ich die Wegzehrung auf keinen Fall den ambulanten Verpflegungsverbrechern, schon gar nicht der Servicehölle der Bahn. Das, was sich im Zug so schön «Bistro» nennt, empfinde ich als eine Art Fegefeuer – um dort anzudocken, müsste die Not schon sehr groß sein.

Seit Jahren schwillt der Chor der Werbemarktschreier an, wir lebten in der wunderbaren Welt einer Dienstleistungsgesellschaft. Lug und Trug – Dienstleistung gab es, als niemand davon sprach. Ich erinnere mich: Mit dem Entstehen der Europäischen Union kam die staatliche französische Eisenbahngesellschaft SNCF 1986 auf die Idee, Europa-Parlamentariern und sonstigem gut zahlenden Volk das Pendeln zwischen Straßburg und Paris zu versüßen. «Nouvelle Première» nannte sich der Zug. Ich ließ es mir damals nicht nehmen, ihn auszuprobieren. Feine Herren in Schiffskapitänsuniform entwanden mir schon auf dem Bahnsteig den Koffer, und ich befürchtete zuerst einmal das Schlimmste: War das die neue Masche einer unverfrorenen Koffer-Entwendungsmafia? Sahen vielleicht irgendwelche Rosstäuscher in mir das leicht zu überwältigende Landei? Stattdessen geleitete man mich wie einen Potentaten an meinen Sitzplatz. Eine Speisekarte wurde gereicht, damit ich das Menü für später ordern konnte. Aus den Lautsprechern klang Keith Jarretts «Spain».

Als ich mich zur Toilette aufmachte, tat sich der übernächste Waggon als Salonwagen auf. An einer Bar kam ich vorbei, silberne Champagnerkübel standen herum. Mein Kiefer klappte herunter: Da saß doch tatsächlich ein echter Jazzer am Klavier! Man vergaß, dass man im Zug fuhr, stattdessen wähnte man sich in einem Drei-Sterne-Restaurant. Die SNCF nannte diese Unternehmung in Werbeannoncen den «Gipfel des savoir-vivre auf Schienen». Klar, billig war die Chose nicht, und so wurde der feudale Parlamentariertransport wegen des Neids der immobilen Beamtenschaft alsbald wieder abgeschafft.

Das ist jetzt über fünfundzwanzig Jahre her, und seitdem besingt man gebetsmühlenhaft den sogenannten «Service». Eingelullt durch verlogene Versprechungen merkt der deutsche Michel gar nicht, dass es wirkliche Dienstleistung, wie zum Beispiel einen Gepäckträger, mittlerweile immer weniger gibt. Stattdessen verwirren uns Automaten. Do-it-yourself-Ratschläge werden reichlich geboten, insbesondere der, wie man sich selbst vor den Karren seiner Wünsche zu spannen hat. Darin sind sich Demokratien und Diktaturen einig: Richtig gut darf es eigentlich niemandem gehen. Andererseits: Man kann ja froh sein, überhaupt heil durch den Tag zu kommen. Kürzlich erklärte mir ein Gast aus dem Libanon, wie wunderbar es hier in Deutschland sei: «Hier kann ich mich in ein Straßencafé setzen, ohne dass auf mich geschossen wird!» Seitdem halte ich mich mit dem Gejammere über die schlimmen Zustände in Deutschland etwas zurück. Reisen ins Ausland sind schon deshalb zu empfehlen, weil man oft bei der Rückkehr wieder froh ist, daheim zu sein. Paris bildet jedoch hoffentlich die Ausnahme. Als ich einem Schulkameraden einmal sagte, ich würde mit meiner Frau nach Paris fahren, konnte der es gar nicht fassen: «Nach Paris und dann die Frau mitnehmen? Das ist ja, als würde man Holz in den Wald tragen!» Jaja, Paris, die Stadt der Liebe – wer daran glaubt, ist reichlich hinterm Mond.

Aus meinen weitschweifenden Gedanken werde ich durch den Anblick der toten Taube gerissen. Könnte das ein Menetekel sein? Egal, ich sitze hier mit meinem Schinken-Käse-Brot und wundere mich über meinen Appetit. Vor mir, auch ohne Brille zu erkennen, jubelt ein Model auf einer Plakatwand irgendetwas Wundervolles über Ültje-Erdnusskerne. Das löst in mir augenblicklich nicht etwa Sehnsucht nach Knabberzeug, sondern nach einem kühlen Hefeweizen aus. Doch dafür ist es entschieden zu früh. Nach Minuten des Dahindämmerns werde ich jäh aus meiner Träumerei gekickt, als sich ein «echter Deutscher» in die Bahnhofsidylle schiebt. Der Mann in seiner halblangen Mimikrykampfhose wirft einen Schatten auf mich, in dem ich noch alle meine Verwandten unterbringen könnte. Früher nannte man einen rasierten Schädel mit den Ausmaßen eines Medizinballs schlichtweg «Mostkopf», heute muss man der politischen Korrektheit wegen das Maul halten und auch noch nett die Hand heben. Der archaische Flaneur, womöglich ein Hobbykoch, hat nämlich artig gegrüßt und mich offensichtlich als Kollegen erkannt.

Ich kriege die Augen von dem Mann nicht los: Die Waden der wandelnden Kampfmaschine sind rundum mit Totenköpfen ziseliert. Ich möchte mich nicht als Tattoo-Experte ausgeben, aber diese Art von Tintenstichelei nennt sich, glaube ich, «Gothic Tattoo». Puh, wie aggressiv es aus den Kampfstiefeln grüßt, und die strammen Waden erinnern an vertikal aufgestellte Zeppeline. Und da fällt es mir wieder ein, das Wörtchen «Toleranz». In Paris würde sich nach dem Typen überhaupt keiner umdrehen, aber wir Deutschen, besonders wir Schwaben, sind andauernd von Optimierungswünschen an die Adresse anderer Leute getrieben, dabei hätte man doch an sich selbst genügend zu reparieren. Bevor jedoch mein Sinnieren ins Unergründliche absackt, sehe ich erst ganz winzig, dann immer größer werdend, den blau gestreiften TGV leise wie eine Riesenschlange herangleiten.

Pünktlich hält der französische Superzug, der «Train Grande Vitesse», und ich steige in den kühl klimatisierten Wagen ein. Der Zug fährt hurtig an, doch das war’s dann auch schon – von «Grande Vitesse» ist nicht mehr viel zu spüren, denn das Geschoss kriecht nur noch dahin auf deutschen Gleisen, die bereits im «Tausendjährigen Reich» verlegt wurden. Dann aber, nach dem Halt in Straßburg, zieht die Kiste ab, und der anschwellende Fahrtlärm mildert das Kindergeschrei, das mich umgibt.

Verdammt, Ohrenstöpsel vergessen – ich hätte doch an meinem freien Tag wirklich ein Anrecht auf eine erholsame Fahrt! Aber Aufregen hilft nicht, die Mütter sind schlimmer dran als ich, die müssen das schließlich täglich ertragen. Ich muss an den Dalai Lama denken. Wie würde sich der famose Buddhist in dieser Situation wohl verhalten? Er würde natürlich sein berühmtes Lächeln einschalten, und so verordne auch ich mir hartnäckigen Altruismus. Und siehe da, es funktioniert: Man gewöhnt sich an alles, auch an Kinder, und die sich womöglich sogar an mich – sie hören jedenfalls auf zu brüllen.

Drei Sitze weiter vorn hebelt der Freizeitledernacken mit obszön appetitlichem Zischen eine Bierdose auf. Ich denke: Wirklich dumm, dass ich Bier vergessen habe, ob ich wohl eine Büchse gegen ein Sandwich tauschen soll? Es fehlt mir aber der Mut, so einen selbstsicheren Mann anzusprechen, und wenig später sacke ich weg und träume von Paris.

«Der heißeste Tag des Jahres», hat der Schaffner gesagt, aber erfreulicherweise ist davon nichts zu spüren. Es gibt nämlich Züge, da funktioniert sogar im Sommer die Klimaanlage. Als ich aufwache, zieht eine gewisse Vorort-Bahnhofstristesse an mir vorüber, Paris kommt näher. Der Zug wird immer langsamer und hält schließlich mit einem kleinen Ruck im herrlichen Gründerzeit-Bahnhof Gare de l’Est. Ich schnappe mir mein Rucksäcklein, und schon bin ich draußen. Heißer Dampf trifft mich wie ein Keulenschlag, aber ich sage mir: Wenn das Wochenende und mein Kurzurlaub vorbei sind, wird es am Dienstag in der Küche auch nicht viel anders sein. Als Nachkriegskind bin ich mit vielerlei fragwürdigen Tröstungen bei Laune gehalten worden: Hatte ich mir auf Rollsplitt die Knie aufgeschlagen, sagte Mama: «Hab dich nicht so, dem Onkel Robert hat der ‹Russ› ein Bein abgeschossen.» Also bete ich mir auch hier vor: Der Schutzpatron der Köche, der heilige Laurentius, hatte es schwerer; weil er an seinem Glauben festhielt, rösteten ihn die Römer gleich komplett auf Buchenholz. Seitdem führt er auf Heiligenbildchen immer einen Grillrost mit sich.

Die Bahnhofshalle erhebt sich wie eine Kathedrale. Der Gare de l’Est unterscheidet sich von den deutschen Abfertigungs- und Ramschhallen geradezu durch Eleganz. Nicht jeder Quadratmeter ist für Frittenbuden kommerziell ausgemostet. Rechts komme ich an einem Bistro vorbei, das ein Mobiliar präsentiert, als würde es sich um zwei Michelin-Sterne bemühen. Nirgendwo sehe ich Schmutz, ich glaube, die schwäbischen Dampfstrahler der Firma Kärcher haben Frankreich mehr verändert als die Französische Revolution. Wie sagte doch Sarkozy 2010 anlässlich der Banlieue-Krawalle: Wir kärchern diese Typen weg. Die Franzosen kaufen uns eben alles ab, und wir in Stuttgart müssen uns mit Secondhand-Schrubbern begnügen.

Soll ich mich vielleicht gleich ins seitlich gelegene «Café Flo» verpflanzen? Dort gäbe es Aircondition, obwohl ich auch hier, in dieser lichten hohen Halle, trotz der Hitze einigermaßen atmen kann. Die Schönheit dieses Bahnhofs hat etwas Befreiendes. Trotzdem frage ich zaghaft in mich hinein: Musste diese Reise wirklich heute sein, ausgerechnet am heißesten Tag des Jahres, nur weil das einmal so geplant war? Bin ich vielleicht ein Spießer, ein Zwangscharakter, der seine Vorsätze rigoros gegen besseres Wissen durchsetzt? Bin ich also ein echter deutscher Stutzer, der treu bis in den Tod Befehle befolgt, Regeln, die er sich wie einen schweren Stein unters Herz gepflanzt hat? Vielleicht wäre es schlauer gewesen, die Welt, und in diesem Fall Paris, mit Büchern von zu Hause aus zu erkunden?

Fünfzehn balkenbiegende Regale mit Frankreichliteratur stünden dort parat, gut die Hälfte davon beschäftigt sich ausschließlich mit Paris, seinen Bewohnern, Geistesgrößen und Exzentrikern. Ich denke an Literatur-Heroinnen wie Gertrude Stein und Simone de Beauvoir oder die Bildhauerin Camille Claudel. Was habe ich nicht alles in mein Hirn gepackt, angefangen mit schreibenden Aperitiftrinkern wie den Brüdern Goncourt über den Koffein-Junkie Balzac bis hin zu dem Philosophen Sartre oder zu guter Letzt dem stets von zartem Teeduft umwehten Marcel Proust. Apropos Proust, in einem Punkt sind wir uns sehr ähnlich: Auch er trank mit Leidenschaft kühles Bier.

Das verkneife ich mir aber jetzt, denn es hätte sturzbachähnliche Schweißausbrüche zur Folge. Also stehe ich da und weiß eigentlich gar nicht, wohin, warum und wieso, es gibt einfach zu viele Möglichkeiten. Zu Hause habe ich mir natürlich einen Plan zurechtgelegt – das Marais soll diesmal erwandert werden. Dennoch fühle ich mich wie damals als Kind, als mir der Onkel Julius zwanzig Mark geschenkt hat und ich vor lauter Überfluss gar nicht wusste, welchen meiner vielen Wünsche ich mir zuerst erfüllen sollte. In Paris gibt es bekanntlich von allem sehr viel, sowohl Geschmacklosigkeiten wie auch hochfeinen Stil. Mit derlei Gedanken verziehe ich mich dann doch ins «Café Flo», um einen Campari Soda mit viel Eis zu nehmen. Schon der erste Schluck bringt meinen Hirnkasten in Schwung und weckt endlich meinen Unternehmungsgeist. Ich gerate wieder in die Spur.

Also gut, raus ins Getümmel und erst einmal ins Hotel, um das Gepäck loszuwerden. Da ich keine Metrokarten mehr habe, beschließe ich der Bequemlichkeit halber ein Taxi zu nehmen. Vor mir wartet eine Schlange von mindestens dreißig Leuten. Ich stelle mich hintan ins gleißende Sonnenlicht und beginne langsam zu schmoren. In meinen Schuhen wird es unbequem. Der sich fast verflüssigende Teer scheint die Brandsohle erobert zu haben, und um meine Halbglatze mache ich mir auch etwas Sorgen. Es geht nur ausgesprochen zäh voran. Nach einer gefühlten Stunde rastet eine Frau aus, hat sich womöglich einen Sonnenstich gefangen, oder ist es ihr Naturell? Sie fängt an, auf Französisch zu keifen und gerät immer mehr in Fahrt. Als eine Ordnungskraft sie zur Räson bringen möchte, steigert sie sich in sirenenartiges Geheul, was das für eine Scheißstadt sei, randvoll mit unfähiger Verwaltung, eine Zumutung: «Und Sie, Sie verdammter Flic, Sie Trottel, warum rufen Sie nicht mehr Autos hierher, Sie Bouffon, Sie Monsieur Incompétent!»

Ich mache mich lieber vom Acker, nicht wegen der resoluten Pariserin, sondern weil ich keine Lust habe, länger in dieser Hitze herumzustehen. Ich glaube übrigens, die Frauen in Paris sind allesamt nicht schüchtern. Soll mir recht sein, mir sind dominante Frauen ohnehin lieber als langweilige Zartwesen, die nur darauf achten, dass die aufgeklebten Wimpern nicht verrutschen. Also über den Platz und runter in den Schlund der Metrostation, wo mich ein Gedränge erwartet, als käme gleich eine Demonstration in Gang. Vor dem Automaten wieder eine Riesenschlange. An das Kartenhäuschen, das ein wackerer Beamter gegen eine Menschentraube verteidigt, komme ich nicht ran, es geht dort zu, wie vor dem Ticketschalter eines Fußballländerspiels.

Ich entschließe mich zu einem Marsch. Die Treppen wieder hoch und immer die Schattenseite ausnützend arbeite ich mich auf den Boulevard de Magenta zu. Bereits nach fünf Minuten bin ich nass geschwitzt. Mein Rucksack ist nun unversehens doppelt so schwer, und meine Frau kommt mir in den Sinn. Es gibt fast keinen Film, wo sie nicht irgendwann mal schreit: «Regiefehler! Guck mal, wie der Schauspieler die Koffer schwingt, da ist nur Luft drin!» Meine Frau ist eine scharfe Beobachterin. Ich wanke allerdings nicht durch ein Filmset, sondern kämpfe mit dem echten Leben.

Keuchend wird mir bewusst, dass ich meine Taktik ändern muss, denn wenn ich so weitermache, reicht meine Kraft womöglich nur noch zu Hasstiraden über Paris. Immer wieder verrenke ich mir den Hals und spähe wie ein Geier, ob nicht endlich ein Taxi mit grünem Licht auf dem Dach vorbeigefahren kommt. Aber nix da, unzählige Wagen sausen an mir vorbei, alle mit rotem Licht, als wollten sie mich verhöhnen. Schließlich erbarmt sich doch das Schicksal, ein freies Taxi kommt daher, und dehydriert, wie ich bin, kriege ich gerade noch den Arm hoch, um es anzuhalten. Ich steige hinten ein. Sich vorne reinzupflanzen, das macht man aus unerklärlichen Gründen nur in Stuttgart, möglicherweise, um eine gewisse Solidarität mit schlecht bezahlten Berufen zu heucheln. Kurzum: Niemals in Paris vorne einsteigen, der Platz ist meistens sowieso voll von Krempel bis hin zu Müll. Ich röchle dem Fahrer über die Kopfstütze die Adresse in der Rue des Gravilliers zu.

Das Hotel «Jules et Jim» ist mit seinem minimalistisch-eleganten Eingang kaum auszumachen, zweimal fahren wir daran vorbei. Doch dann ist auch diese Hürde genommen. Ich entlohne eilig den Chauffeur, denn hinter uns in der engen Gasse hupt es bereits aggressiv. Der Franzose ist auch nicht mehr so entspannt wie ehedem.

An der Rezeption begrüßt mich ein frohes, munteres Wesen. Eine wirklich schöne Mademoiselle, grad so, wie man sich die Pariserin immer vorgestellt hat. Später werde ich erfahren, dass die junge Lady aus dem Libanon stammt. Nach dem Empfangsbereich tut sich ein großer Innenhof auf, und an einer Hauswand zieht sich ein vertikaler Garten hoch. Noch nicht lange her und ich hatte keine Ahnung, was man darunter zu verstehen hat. Es handelt sich gewissermaßen um einen Urwald, der durch bepflanzte, erdgefüllte Aufhängungen und mit einer Berieselungsanlage versehen die Wände emporwächst. Hier ist es ein Urwald von feuchten Farnen, Moosen und seltenem Geblüm. Dieser hängende Garten der Semiramis windet sich bestimmt zwanzig Meter hoch bis zur Dachrinne. Mein Zimmer ist vom Hof aus ebenerdig zu erreichen und heruntergekühlt wie ein Schockfroster. Ich schmeiße mich aufs Bett und erfreue mich an dem klaren, hellen Raum mit seinem edlen Holzboden. Keine Spur von Franzosenkitsch, von Nippes, Moquette, Blümchentapeten und sonstigen Staubfängern. Nun bin ich angekommen, und die Erfrischung tritt augenblicklich ein.

Ich lasse mich vielleicht fünfzehn Minuten ausdampfen, dann juckt es mich wieder in den Füßen. Herumliegen hätte ich zu Hause einfacher haben können, also raus aus dem Hotel und gleich vorne rechts die Rue du Temple hinunter. Der Gehsteig ist schmal, und ich arbeite mich in Richtung Seine. Die Seine ist immer der Angelpunkt meiner Orientierung. Nach dreihundert Metern stehe ich in einem prächtigen Portaldurchlass, der sich zum Jüdischen Museum hin öffnet. Den Besuch dieses Museums hatte ich mir fest vorgenommen und deshalb auch ein Hotel im vierten Arrondissement ausgesucht.

Die Seine beim Jardin des Plantes und Pont d’Austerlitz

Hinter Glas sitzt ein Portier, der mich höflich darauf hinweist, dass mein Rucksäckchen durch ein Röntgengerät befördert werden muss. Das dauert, doch die kühle Luft empfinde ich als willkommene Erquickung. Ich habe Zeit, darüber nachzudenken, dass solche Sicherheitsschleusen einen an den Wahnsinn dieser Welt gemahnen, in der selbst ein solch friedlicher Ort in Gefahr ist. Freundlich wird mir mein Gepäckstück zurückgegeben, und ich steige die breite, schlossartige Treppe hinauf. Durch hohe Fenster blicke ich auf einen Innenhof, der die Ausmaße eines halben Fußballplatzes hat. Mitten im eng bebauten Quartier Marais ist das besonders beeindruckend. Das Gebäude ist einer jener großzügigen Stadtpaläste, die der Adel hier im achtzehnten Jahrhundert und teilweise schon lange davor hat erbauen lassen. Von außen sind sie kaum erkennbar; wird jedoch das hohe Portal geöffnet, durch das mindestens eine Vierspänner-Kutsche passen musste, tut sich eine ungeahnte Welt voller Wunder auf.

Wer mag wohl früher in diesem klassizistischen Monument gewohnt haben? Ich lese auf einer Tafel, dass die Stadt Paris der jüdischen Gemeinde dieses aus dem Jahr 1650 stammende Palais 1998 überlassen hat, um hier die Kulturleistung des französischen Judentums zu bewahren und zu zeigen. Hätte ich mir nur unten an der Pforte einen Audioguide geliehen! Ich weiß gerade einigermaßen, was eine Thora ist, habe ansonsten jedoch von den Sitten und Gebräuchen des Judentums peinlich wenig Ahnung. Die Schätze des Museums, die Erklärungen zu Ritualen und der Lebensweise dieses Volkes kann ich so nebenbei nicht einprägsam würdigen. Ich werde wiederkommen. Übrigens: Zu meiner Schulzeit war über die Juden gar nichts zu erfahren. Als ich meinen Vater einmal fragte, ob er in seiner Klasse auch jüdische Schulkameraden gehabt hätte, druckste er nur so herum: «Ja, ein oder zwei gab es, aber die hat man kaum bemerkt. Die waren dann auch irgendwann mal weggezogen!»

Aus dem Museum wieder ans Licht getreten, biege ich um die Ecke und gelange in die Rue des Rosiers im Herzen des Marais und des jüdischen Lebens. Man könnte auch sagen: deutschen Lebens. Ich finde es hocherfreulich, dass so viele Deutsche in diese Straße hineinschnuppern. Auch wenn unglaublich viele Touristen unterwegs sind und die alten Geschäfte immer mehr verschwinden, bekommt man eine gewisse Ahnung vom Judentum. Meine Augen bleiben an einer blauen Holzfassade hängen. Eine Türe, ein Schaufenster, in dem ein siebenarmiger Leuchter steht – eine Menora, die man auch im Staatswappen Israels findet. Daneben liegt unterschiedlichstes Gebäck in der Auslage, überwiegend in Form von runden Kringeln. Ich trete näher. Von diesen legendenumwobenen Bageln, die aus Manhattan und vor allem aus Brooklyn seit Jahrzehnten nicht mehr wegzudenken sind, habe ich bislang nur gehört, aber sie noch nie gegessen. Dieser Mangel muss augenblicklich behoben werden. Die Türe wird aufgedrückt, einige Kunden treten ins Freie, ich nehme die umgekehrte Richtung.

Die «Boulangerie Murciano» ist neu renoviert, und die Regale ringsum bieten vielerlei Gebäck, das aussieht, als müsse ich den Laden leer vespern. Ich bezahle meinen Bagel, stelle mich in eine Ecke und beiße hinein. Er schmeckt frisch, fast saftig – eine Offenbarung (bei einem späteren Versuch anderenorts krümelte mir allerdings ein keksartiges Etwas dermaßen unangenehm und altbacken im Mund herum, dass mir Erstickungsanfälle drohten). Der Umtrieb und vor allem die Exotik hier faszinieren mich. Daheim sieht man ja höchst selten gläubige Juden mit schwarzen Hüten und Schläfenlocken. Diese Menschen haben interessante Gesichter, und bei den Älteren ahnt man das Leid, das sich ihnen um Augen und Mund geschrieben hat.

Kurzzeitig ist die Ladentür mal nicht verstopft, und ich verdrücke mich wieder nach draußen. Einige Schritte auf die Rue Ferdinand Duval zugelaufen – eigentlich ein kleines Plätzchen –, und ich sehe wieder diese für mich so ungewöhnlichen Wesen in schwarzen Anzügen und mit Korkenzieherlocken. Möglichst nicht auffallen, diese jungen Juden wollen offensichtlich irgendetwas verkaufen! Mit leichter Panik sortiere ich die Möglichkeiten, an ihnen vorbeizukommen. Es handelt sich jedoch um äußerst gut trainierte Verkäufer. Und kann ein Opfer sichtbarer sein als ich? Dick und gutmütigen Blicks. Nicht behände genug für eine Flucht, gerate ich genau in ihr Fadenkreuz. Ich stelle mich so blöd wie möglich, was ich eigentlich gut beherrsche, aber eben nicht gut genug für diese Profis. Ich mache auf schwerhörig und halbblind, aber es ist zwecklos. Fröhlich lächelnd halten sie mich an meinem Jackett fest und strecken mir eine Kippa entgegen. Die soll ich ihnen abkaufen, erklären sie auf Englisch. Das flache Mützchen ist nicht viel größer als ein Bierdeckel, damit ließe sich tatsächlich der Kahlfraß auf meinem Kopf verbergen. Die jungen, eigentlich sehr netten Typen strahlen mich eifrig an und treten von einem Bein aufs andere wie junge Pferde, die jeden Moment losstürmen wollen. Sie scheinen an mir einen Narren gefressen zu haben, wackeln mit den schwarzen Hüten, sodass die langen Schläfenlocken fast vor meiner Nase baumeln.

Plötzlich geht mir auf, dass diese ambulanten Seelsorger mich für einen Juden halten könnten. Mitreißend, geradezu mit bebendem Schwung fragen sie mich, woher ich denn käme. Das trifft mich wie ein Schlag. Normalerweise freue ich mich, wenn man mich nicht aus hundert Metern Entfernung als Teutonen einschätzt. Jetzt aber? Was sage ich denen? Sicher haben sie allen Grund, zu Deutschen unfreundlich zu sein. Eine ebenso vibrierende wie atemlose Panik steigt in mir auf. Für Überlegungen ist keine Zeit und so rutscht mir ein befreiendes «Switzerland» über die Lippen. Dass ich kein Jude bin, traue ich mich nicht zu sagen. Ich krame in meinem Geldbeutel, erstochere fünfzehn Euro, übergebe sie und setze eine befreiend frohe Miene auf.

Das Mützchen behalte ich erst mal auf dem Kopf, bis ich außer Sichtweite bin. Ich schäme mich meiner Feigheit und laufe planlos durch die Gassen. Schließlich habe ich mir immer viel darauf eingebildet, die Gräuel der Väter nicht zu verdrängen, sondern bewusst mit ihnen zu leben. Und nun gebe ich mich hier als Schweizer aus!

Rue des Rosiers im Marais

Ich gelange zu einer sehr belebten Straße, und an einer Hausecke finde ich ein blaues Schild mit der Aufschrift «Rue de Rivoli». Fünf Minuten laufe ich hier die Busspur entlang, dann halte ich den Verkehrslärm nicht mehr aus, schlage einen Haken in die Rue des Écouffs und komme an einer koscheren Metzgerei vorbei. Das Schaufenster sieht einladend aus, und mich überfällt prompt der Hunger. Es geht nun schon auf halb sechs zu, und wenn ich jetzt nicht einen Zahn zulege, werde ich wohl ein Gelübde brechen, das ich mir bereits vor Jahren auferlegt habe, nämlich niemals eine Fastendiät zu machen.

Also weiter, irgendwann wird ja eine Futterstelle kommen. Rechts grüßt mich ein Schaufenster aus Mattglas, auf dem «Schwartz’s Fabrique» steht. In meinem Hinterstübchen fängt es zu rumoren an: Irgendwo müsste hier doch auch der «Schwartz’s Imbiss» zu finden sein, an dem ich schon mal vorbeigedackelt bin. Als ich zum jüdischen Buchladen komme, finde ich mich wieder zurecht. Geradeaus sehe ich den grünen Falafel-Shop mit dem schlagwetternden Werbespruch Toujours imité, jamais egalé, was so viel heißt wie «Oft kopiert und nie erreicht!». Ich beschleunige meine Schritte und gerate ins Magnetfeld von «Schwartz’s Deli». Breite, dunkel gestrichene Holzrahmen umgeben die Schaufenster, und was ich im Inneren erspähen kann, zieht mich magisch an. Ums Versehen bin ich drin. Eine junge Frau begrüßt mich und führt mich an meinen Platz. Jeder Gast hat hier sein eigenes kleines Tischchen mit rot karierter Decke. Die Tischchen sind eng aneinandergereiht, sodass quasi alle an einer langen Tafel sitzen. Rings um mich trinken und essen jede Menge junger Leute, vermutlich alles Juden, notabene schöne Frauen. Der einzig unkoschere Typ in dem Laden bin offensichtlich ich. Es ist schwer was los, pralles Leben, lautes Lachen, und der Lärmpegel ist beträchtlich. Unzählige Bistros habe ich in Paris schon besucht, richtig gut war es selten, und lustig war es nie.

Die gute Stimmung springt auf mich über. Nebenan unterhält sich ein Ehepaar, offensichtlich Amerikaner. Entgegen meinem Prinzip, niemals fremde Leute anzuquatschen, frage ich sie, woher sie kommen, und es entspinnt sich ein reges Gespräch. Dabei stellt sich heraus, dass das Paar schon einmal Stuttgart besucht hat, oder genauer gesagt: den Ortsteil Zuffenhausen. Sie gestehen mir, dass sie gern öfters mit einem alten Porsche durch ihr heimatliches Connecticut düsen, deshalb wollten sie endlich mal sehen, wo diese Wunderautos gebaut werden. So geht es hin und her, man redet über das Porsche-Museum, und ich ernte Gelächter und Zustimmung mit dem Bekenntnis, mein Lieblingsporsche sei der «knee-high Gulf-Porschi in light blue colour», der kniehohe Gulf-Porsche.

Die junge Serviererin, die fast den ganzen Laden schmeißt, steht nun neben mir und klappert ungeduldig mit den Wimpern, als wolle sie sagen: «Dies hier ist keine Fastenklinik.» Sie nimmt die Karte vom Tisch und drückt sie mir resolut in die Hand. Jede Menge Hamburger werden ins Feld geführt, Abbildungen lassen erahnen, wie das jeweilige Gericht wohl aussehen wird. Hier geht’s zur Sache: Avocado Burger, Schwartz’s Burger, Rossini Burger – ob ich den wohl nehme? Oder lieber einen Superbeefburger mit einer dicken Scheibe Gänsestopfleber darauf? Die Kampftierschützerinnen von PETA sind schließlich außer Reichweite, außerdem esse ich ja nicht auswärts, um in den Himmel zu kommen. Trotzdem interessiert mich nicht die Gänseleber, sondern die «Matzah Ball Soup».

Es gibt für mich beim Essen in Gasthäusern eine elementare Regel. Sie stammt vom längst verstorbenen Adlerwirt, der am Gmünder Marktplatz sein Gasthaus betrieb. Auf die Frage, was man bestellen solle, kam stets die polternde Antwort: «Esse Se Hirnsupp, man soll immer des essa, was man net kennt und net hat!» Für mich bedeutet dieser handfeste Ernährungstipp, möglichst nicht nur zu essen, um satt zu werden, sondern auch, um einen beruflichen Erkenntnisgewinn zu erzielen.

So gilt es hier im «Schwartz’s», einige neue Erfahrungen zu bunkern. Ich befinde mich in einer völlig fremden Welt, muss mich erst einmal umschauen. Klar, Hamburger sind für mich vertrautes Terrain, ich bin ja sozusagen ein Spezialist für «Doppelwhopper» der Schnellgrillerei «Burger King». Deshalb auch ein kleiner Tipp am Rande aus der Profikiste: Lagern, sozusagen auf Standby, viele abgepackte Hamburger hinter dem Verkaufstresen, läuft man Gefahr, dass einem ein Burger aus der Antike-Abteilung zugeteilt wird. Also was tun? Ganz einfach: Bestellen Sie einen «Doppelwhopper» oder bei der Konkurrenz einen «Big Mac» ohne Zwiebel, der wird dann frisch gebraten und ebenso jungfräulich zusammengebaut.

Die Mehrzahl meiner Mitgäste trinkt Coca-Cola, aber ich entdecke auch jede Menge koscherer Milchshakes. War mir der amerikanische Dünnkaffee zum Sirloin-Steak schon immer reichlich suspekt, so wundere ich mich nun, dass der tolle Hamburger nicht aufschreit, als die nette Porschefahrerin neben mir einen Milchshake hinunterkippt. Das «Schwartz’s» entwickelt sich in jeder Hinsicht als Reise in ferne Länder.

Ich recke den Hals und erspähe bei anderen Gästen immer wieder ein turmartiges Gebilde aus unzähligen Schichten, die verdächtig nach Schinken aussehen. Ich gucke in die Karte und stelle anhand der Fotos für Analphabeten fest, dass das Wunderwerk «Pastrami» heißt. Der weltläufige Leser wird mir mein Unwissen verzeihen, ich bin Spezialist für französische, italienische und deutsche Küche, darüber hinaus kann man mich gerne mit freundlicher Verachtung als Landei einordnen.

Eine andere Servicedame kommt, und ich folge der Regel des Gmünder Adlerwirts, die er auch so formulierte: «Vincent iss, was de net kennsch!» Trotz trübem Blick durch die Lesebrille erscheint mir die Serviertochter, wie der Schweizer so nett sagt, als unglaubliche Schönheit – mir entfällt ad hoc, was ich eigentlich bestellen wollte. Doch als die Dame mit den Fingernägeln wie beiläufig auf dem Tisch trommelt, was ein Gastronomieprofi unbedingt als Alarmzeichen einstufen muss, bricht es aus mir heraus: «Coke, Matzah Ball Soup und Pastrami de Veau.» Die Cola kommt blitzartig, und ich merke erst jetzt, was für einen Durst ich hatte.

Auch meinen Hunger hatte ich wegen der überwältigenden internationalen Atmosphäre fast vergessen. Er kehrt schlagartig zurück, als die Suppe vor mir dampft. Auf den anderen Tischen habe ich nirgends einen Suppenteller entdeckt, und ich muss in mich hineingrinsen, als ich bemerke, dass mich einige Leute hier wie einen Exoten mustern. Die haben sicher längst herausgefunden, dass ich ein Sauerkraut-Teutone bin, rumort es in mir. Wer isst schon in den Hitzehundstagen eine heiße Suppe? Aber was soll’s, das «Schwartz’s» ist durch Aircondition heruntergekühlt wie ein Fleischtransporter.

Die Suppe reißt mich nicht vom Hocker, schmeckt aber gut und ist schnell verdrückt. Auf meinem Handy google ich nach dieser Kreation, und schon schiebt sich ein Rezept auf das Display. Ich lese, dass Hühnersuppe in den USA auch als «Jewish penicillin» gelobt wird, das angeblich gegen vielerlei Gebrechen helfen soll.

Hier nun das Rezept in optimierter Version:

Jüdische Hühnersuppe à la Vincent

1 Bio-Gockel

2 Bund Suppengrün (Karotten, Sellerie, gelbe Rüben, Petersilienwurzel usw.)

2–3 Lorbeerblätter

2 Stängel glatte Petersilie

1 Zwiebel

Meersalz, grober schwarzer Pfeffer

 

Das Huhn gründlich innen und außen mit kaltem Wasser spülen und den Bürzel entfernen, er enthält nur traniges Fett. Anschließend ins kochende Wasser legen. Den Schaum, der anfangs an der Oberfläche entsteht, von Zeit zu Zeit abschöpfen, damit die Suppe nachher einigermaßen klar wird.

Das geputzte Suppengrün, die abgespülten Petersilienstängel, die Zwiebel mit Schale, Lorbeerblätter, Salz und Pfeffer in den Topf geben und bei kleiner Hitze etwa 2 Stunden köcheln lassen. Das Gemüse bereits nach 20 Minuten herausnehmen und klein schneiden.

Sobald die Suppe fertig ist, kommt das Huhn aus dem Topf und wird von Haut und Knochen befreit. Das Fleisch in mundgerechte Stücke schneiden und die restliche Suppe durch ein Sieb in einen anderen Topf gießen.

Fleisch und kleingeschnittenes Gemüse wieder in die Suppe geben und ggf. mit Salz und Pfeffer abschmecken. Vor dem Servieren mit frisch geschnittenem Schnittlauch verfeinern.

Matze-Knödel

4 Eier etwas schaumig schlagen

4 EL Hühnerfett (von der Suppe abschöpfen)

1 Tasse Matzemehl

Salz

 

Man vermengt Eier, Matzemehl und Salz zu einem Knödelteig. So viel Brühe dazugeben, dass man feste Knödel drehen kann. Die Knödelchen, nicht größer als ein Tischtennisball, lässt man in der fertigen Brühe 15 Minuten ziehen.

Die Klößchen von «Schwartz’s» haben es mir angetan, wahrscheinlich enthalten sie so viel abgeschöpftes Hühner-fett, dass eine deutsche Ernährungsberaterin den Löffel abgeben würde. Obendrein macht sie irgendein rätselhafter Geschmacksverstärker zum Wunderwerk. Der Lärmpegel im Lokal ist mittlerweile derartig angestiegen, dass die beiden Amis neben mir sich anschreien müssen, um sich verständlich zu machen. Aber das echte Leben stört mich nie.

Noch gar nicht richtig mit der Suppe fertig, wird schon der Pastrami-Teller vor mir hingestellt. Er quillt über von zwei Toastscheiben, zwischen denen sich sehr dünn geschnittener Schinken auftürmt. Zehn Zentimeter hoch