Ein begehrenswerter Mann? - Heinz-Ewo von Brand - E-Book

Ein begehrenswerter Mann? E-Book

Heinz-Ewo von Brand

0,0

Beschreibung

Dieser Biografische Roman steckt voller verworrener, abenteuerlicher Geschehnisse und ebenso zweifelhafter wie menschlicher Größe. Spannend wird das Leben des Dr. Carl Victor von Chasseur, der ein äußerst charmanter, überdurchschnittlich intelligenter und auffallend gut aussehender Mann war, beschrieben. Als Jurist begann er bei der deutschen Kriegsmarine seine Kariere. Da ihm die Damenwelt zu Füßen lag, konnte er diesen oft nicht widerstehen, woraus sich entsprechende Komplikationen ergaben, die ihn sogar zum Bigamist werden ließen. Gleichzeitig setzte er sich im Krieg oft über Vorgaben des Nazi- Regimes geschickt hinweg, um dadurch Menschen vor der sicheren Todesstrafe zu bewahren. Von seinen drei Frauen wurde er vier mal Vater von Söhnen. 1945 flüchtete er als Mönch verkleidet recht abenteuerlich durch halb Europa, wurde verhaftet und gefoltert, aber ebenso unverhofft von 2 Frauen vernascht. In Madrid heiratete er seine dritte Frau, eine etwa zwanzig Jahre jüngere Spanierin. Erst nach seinem Tod mit 93 Jahren erfuhren alle seine vier Söhne aus seinen drei Ehen voneinander und lernten sich persönlich kennen. Gleichzeitig werden Fragen zu den Entscheidungen der Alliierten nach den beiden Kriegen gestellt, auf die es bis heute keine wirklichen Antworten gibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 251

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Marc und Andrea

INHALT

Vorwort

JUGENDZEIT

Eine schöne Zeit in Schlesien

Krieg (Erster Weltkrieg)

Chaos, Schwarzmarkt und Währungsreform

Abitur, Kajütboot und dann?

AUSBILDUNG UND BERUF

Berufsentscheidung des Carl Victor von Chasseur

Beginn der Karriere des Dr. Carl Victor von Chasseur in der Deutschen Kriegsmarine

Dienstgrade

Kriegsschiffe

Bürgerkrieg in Spanien sowie Beginn des Naziterrors und der Judenverfolgung im Deutschen Reich

DAS SCHÖNE KOMPLIZIERTE LEBEN

Erneut Krieg (II. Weltkrieg)

Die Zeit in Oslo und Brit

Versetzt nach Kopenhagen – Dörte

Die neue Dienststelle in Aix-en-Provence - Geneviève

FLUCHT AUS DEM CHAOS

Kriegsende, Vertreibung und die eigene Flucht als verkleideter Mönch

Die Überquerung der dänischen Grenze nach Deutschland

Der Grenzübertritt von Deutschland nach Belgien

Der folgenschwere Grenzübertritt nach Frankreich

Als ich, der Pater von zwei selbstbewussten Freundinnen vernascht wurde

Die erstaunlich leicht zu überwindende Grenze von Frankreich nach Spanien

EIN NEUER START INS LEBEN

Angekommen

Leben in Madrid

Endlich - Christina Elena

Nachwort

Auflagen nach dem I. Weltkrieg (der Versailler Vertrags)

Auflagen nach dem II. Weltkrieg

Die politischen Veränderungen nach dem II. Weltkrieg

Textquellenverzeichnis

Vorwort

Nachdem der fürchterliche, zweite Weltkrieg vorbei war und ich in meinem Leben endlich glaube angekommen zu sein, habe ich mich entschlossen, mein bisheriges Leben in einem Tagebuch festzuhalten. Dies denke ich ist eine gewisse Notwendigkeit, da meine bisherige Biografie, mehr als verworren verlief. Ebenso verstehe ich, dass einige Vorgänge darin berechtigt kritisiert werden können. Obendrein kann ich nicht ausschließen, dass mich meine Vergangenheit, in welcher Form auch immer, irgendwann doch noch einholt. Letztlich gebe ich zu, dass ich in meinem bisherigen Leben nicht immer der Mutigste war und ebenso einiges getan habe, was ich besser gelassen hätte, wodurch ich mich selber in so manche, letztlich eher unschöne Situation hinein manövrierte. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen und fasse den Mut, bevor ich womöglich völlig missverstanden, oder gar verurteilt und gemieden werde, meine Sicht zu alledem darzulegen und den Verlauf meines Lebens aufzuschreiben. Ebenso werde ich versuchen einzelne Schritte etwas genauer zu erklären. So hoffe ich auch, dass manche Vorgänge durch meine hier gezeigte Offenheit etwas verständlicher werden. Dennoch, so denke ich, wird nicht jeder alle meine Handlungen verstehen. Hier kann ich nur sagen, dass in extremen Situationen, menschliches Verhalten oft mehr als unverständlich erscheint.

Darüber hinaus habe ich mich entschlossen, meine Gedanken und Gefühle zu den Geschehnissen in jener Zeit, auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte, mich allerdings dennoch bewegten, festzuhalten. Selbst heute sind zum Teil viele dieser Fragen von damals nach wie vor nicht geklärt und unbeantwortet.

Carl Victor von Chasseur

****

Eher zufällig wurde folgende recht bemerkenswerte Lebensgeschichte des Dr. Carl Victor von Chasseur, der Hauptperson dieses biografischen Romans, bekannt.

Carl Victor von Chasseur, ein äußerst charmanter, überdurch-schnittlich intelligenter und auffallend gut aussehender Mann mit einer hervorragenden Erziehung, genoss es, dass ihm die Damenwelt zu Füßen lag.

Der Vater von Carl Victor von Chasseur entdeckte während des Ersten Weltkriegs als Major an der Front seine homosexuelle Neigung, was in der Folge zu dessen Scheidung führte. Aus diesem Grund musste Carl Victor weitestgehend ohne Vater aufwachsen.

Anders als heute in der modernen vernetzten Welt mit ihren normalerweise genau arbeitenden Behörden, sind die teilweise doch mehr als fragwürdigen Vorgänge im Leben des Dr. Carl Victor von Chasseur offiziell nie bekannt geworden.

Auf seinen Wunsch hin wurde ihm bis zu seinem Ableben Stillschweigen über sein Leben, seine Handlungen und Erlebnisse zugesichert.

Menschliches Verhalten ist, insbesondere in außergewöhnlichen Situationen, wie sie beispielsweise im Krieg vorkommen, oft kaum zu verstehen und kann demzufolge nur selten mit logischen Argumenten nachvollzogen werden. Aus diesem Grunde werden solche Handlungen im Allgemeinen schlicht als regelwidrig oder mitunter als nicht gesetzeskonform bezeichnet. Es gibt allerdings ebenso Situationen, bei denen menschliches Verhalten, obwohl nicht gesetzeskonform, dennoch nachvollziehbar ist. Beides kam in der Biografie des Dr. Carl Victor von Chasseur vor.

Eine mehr als beispiellose Lebensgeschichte, die in der deutschen Kaiserzeit begann und nur in solch extremen Zeiten, wie in den beiden Weltkriegen und deren Folgezeit, sich ereignen konnte. Die Wünsche und Gelüste des Dr. Carl Victor von Chasseur wurden bewusst nicht übergangen, denn sie tragen zur Vervollständigung und zum Verständnis seiner Biografie bei. Es wird darüber hinaus der Karriereverlauf des Dr. Carl Victor von Chasseur und wichtige Ereignisse des Kriegsverlaufs in seinem Umfeld beschrieben. Letztlich wird aufgezeigt, welche zum Teil extremen Wege er beschritt, um nach dem fürchterlichen Zweiten Weltkrieg ein neues Leben beginnen zu können. Sie führten ihn als Mönch verkleidet durch halb Europa.

Die von ihm erwähnten Ansichten, die ihn in jener schlimmen Zeit beschäftigten und mit denen er sich auseinander zu setzen versuchte, sind selbst heute noch höchst interessant und relevant. So zeigen diese spezielle Einblicke in das Zeitgeschehen jener Zeit inmitten Europas, stellen jedoch ebenso Fragen zu den Folgen der damaligen chaotischen Zeit, auf die es bis heute keine wirklichen Antworten gibt.

Die Geschehnisse dieser Lebensgeschichte wurden bewusst in Form eines Romans erzählt, haben jedoch tatsächlich stattgefunden. Fast alle Ereignisse konnten detailliert, nachgewiesen werden. Um den Lesefluss zu erhalten, wurden nur einzelne Vorgänge und Abläufe leicht verändert oder ergänzt. Aus Rücksicht zu seiner Familie wurden allerdings die Namen sämtlicher Personen in dieser Biografie verändert.

Mit diesem biografischen Roman sollte beispielhaft gezeigt werden, welche verworrenen Einzelschicksale trotz ursprünglich idealer Voraussetzungen durch die beiden Weltkriege, sowie in den Zeiten danach, entstehen konnten, wie Familien auseinander gerissen wurden und wie selbst Kinder der damaligen Zeit noch heute unter den Folgen zu leiden haben.

Für die Unterstützung und die diversen Informationen geht mein Dank an folgende Behörden und Archive: Deutsches Archiv der Offiziersschule der Marine Flensburg; WASt (Wehrmacht Auskunft Stelle) in Berlin; Bundesarchiv bzw. Militärarchiv Wehrmacht; Wehrgeschichtliche Ausbildungszentrum der Marineschule Mürwik.

Weiterhin bedanke ich mich bei Frau Claudine Brohon-Cahour, Conservatrice des Archives, Aix-en-Provence, Frankreich, bei Frau Nele Mengler, Herrn Dr. Thomas Pohl und Frau Gabriele Scherrer für deren freundliche Hilfe und Unterstützung.

JUGENDZEIT

Eine schöne Zeit in Schlesien

Aus der Erinnerung weiß ich, was mir meine liebe Mutter, Frau Luise Emanuele von Chasseur, ich nannte sie jedoch stets nur Mami, aus der Zeit vor und nach meiner Geburt erzählt hatte.

Damals, im Jahr 1909 hatten wir in Glogau und überhaupt in ganz Schlesien einen ausgesprochen schönen Sommer. Erst unlängst setzte der Herbst ein. Er konnte jedoch beinahe als ebenso schön wie der vergangene Sommer angesehen werden. Im Herbst und insbesondere jetzt im Oktober zogen morgens dicke Nebelschwaden von der Oder herüber, so wie es heute der Fall war. Die vorbildlich geschnittenen Bäume in dem großen, fast einem Park ähnlichen Garten hinter der schönen Villa und ebenso die Obstbäume, die auf einer an den Garten angrenzenden großen Pferdekoppel standen, wurden noch von dem leuchtend bunten Herbstlaub geschmückt. So sehr lange konnte es wohl nicht mehr dauern, bis in der Frühe die Wiesen vom Raureif bedeckt und sämtliches Laub von den Bäumen herabgefallen war.

Die Villa, in der meine Eltern wohnten, stand erst seit gut zwanzig Jahren. Sie wurde ausschließlich an Offiziere der kaiserlichen Armee vermietet, denn sie bot ihren Bewohnern, selbst für kleinere Gesellschaften, ausreichenden Platz.

Eines Tages erzählte mir meine Mutter, dass zwei Jahre zuvor die kriegerischen Auseinandersetzungen im fernen Deutsch-Südwestafrika mit den Namas, Gott sei Dank beendet werden konnten. Viele Opfer – bei den deutschen Soldaten und ebenso bei den Schwarzen – hatte der Krieg gefordert.

Erstaunlicherweise waren in Deutschland einige Leute sogar regelrecht euphorisch und stolz, wenn von den angeblichen Heldentaten unter der heißen Sonne Namibias erzählt und geschwärmt wurde. Dafür hatte aber meine Mutter überhaupt kein Verständnis. Glücklicherweise, musste mein Vater, der beim Militär aktiver Offizier war, an diesen Auseinandersetzungen nicht teilnehmen.

Am Montag, dem 4. Oktober 1909, so erzählte mir meine Mutter, hatte die examinierte Säuglingsschwester Annemarie Brod ihren Dienst bei ihr begonnen, da in Kürze meine Geburt bevorstand. Später nannte ich unsere Säuglingsschwester stets nur Ami. Sie stammte aus der Kreisstadt Arnswalde, die in der brandenburgischen Neumark (östlich der Oder) lag. Ami erzählte mir eines Tages, dass Ihr Vater, ein Rechtsanwalt, darauf bestanden hatte, dass nicht nur alle seine Söhne, sondern ebenso alle seine Töchter einen anständigen Beruf erlernten. Da Ami insbesondere kleine Kinder so sehr mochte und liebte, hatte sie sich dazu entschieden Säuglingsschwester zu werden. Nun lebte sie also bei uns und kümmerte sich ausschließlich um mich.

Ami fiel äußerlich durch ihre schlanke Figur und ihre geringe Körpergröße von gerade mal 1,55 Meter auf. Außerdem hatte sie einen auffallend, recht tief im Stirnbereich, beginnenden Haaransatz. Meistens lief sie mit ihrer hellblauen Schwesterntracht und der dazugehörenden weißen Schürze, sowie der weißen Haube mit dem Rote-Kreuz- Abzeichen herum. Ami zeigte mir gegenüber und später ebenso zu meiner Schwester, nicht nur sehr große Liebe und Zuneigung, sondern gleichzeitig Strenge, was unsere Liebe zu ihr jedoch keinesfalls schmälerte.

Weiterhin arbeitete noch Hanne ständig im Haus, die sich mit großer Hingabe um den gesamten Haushalt kümmerte. Sie hieß Hannchen Leske, für mich aber stets nur Hanne. Sie war etwas größer als Ami, flink wie ein Wiesel und stets am Aufräumen oder Staubwischen, wenn sie nicht gerade kochte oder einkaufen ging. Alle ihre Aktivitäten waren natürlich mit meiner Mutter abgesprochen worden.

Endlich, ich wollte geboren werden. Dies motivierte mich anscheinend diesbezüglich entsprechend zu drängeln und mich bemerkbar zu machen. Bei meiner Mutter begannen deshalb, seit heute in der Frühe, ziemlich stark die Wehen. Sie bat Ami deshalb, Frau Kunert, die Hebamme, bald möglichst zu benachrichtigen. Diese kam alsbald und entschied, am frühen Nachmittag erneut wiederzukommen, zumal sie heute noch anderen Kindern dabei helfen sollte, das Licht der Welt zu erblicken. Für alle Fälle hatte sie Ami noch einige Instruktionen gegeben, nur für den Fall, dass ich nun doch früher als gedacht auf die Welt kommen wollte.

Genau genommen benötigte Ami überhaupt keine Hebamme, da sie, wie sie mir ein paar Jahre später erzählte, da sie selber eine Ausgebildete Geburtshelferin war. Außerdem hatte einige Tage zuvor der Arzt Dr. Simon meine Mutter untersucht und keinerlei Bedenken für meine bevorstehende Geburt diagnostiziert.

Gegen halb drei kam die Hebamme wieder, und wie es schien, genau zum richtigen Zeitpunkt. Ami durfte der Hebamme behilflich sein, und nach gut zwei Stunden plärrte ich vergnügt meine ersten Lebenszeichen von mir. Als nun kurze Zeit später mein Vater von seinem Dienst als Hauptmann der kaiserlichen Armee nach Hause kam, bewunderte er zunächst mich, seinen Sprössling. Mein Vater entschied, mir den Namen Carl Victor zu geben. Gewiss, diesen Namen hatte er zuvor mit meiner Mutter abgesprochen, nur offiziell verkündete eben der Herr des Hauses, also mein Vater, den Namen des Kindes. Genauso hatte der Hausherr meine Geburt behördlich anzuzeigen und im Geburtsregister eintragen zu lassen – dies entsprach der üblichen Vorgehensweise.

Mein Familienname „von Chasseur“ hatte ihren Ursprung in Frankreich. Unsere Familie gehörte zu den Nachkommen der Hugenotten, die in der Zeit der Französischen Revolution aus Frankreich geflohen waren und in Preußen eine neue Heimat gefunden hatten. Zu jener Zeit herrschte in Frankreich eine allgemeine und pauschale Verfolgung all derjenigen, die eine andere Meinung als die der aktuellen Machthaber äußerten. Ebenso reichte die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion als dem Katholizismus oder die Abstammung aus einer reichen oder aristokratischen Familie aus, um verfolgt werden zu können. So endete leider auch, meine direkte Urururgroßmutter unschuldig auf einer Guillotine. Im sehr toleranten Preußen hingegen konnte jeder nach seinem Geschmack glücklich werden, durfte seine eigene Religion ausüben und so leben, wie er wollte. Er hatte lediglich seinen bürgerlichen Pflichten und der bürgerlichen Ordnung nachzukommen. Jedenfalls war meine Familie aus diesem Grund ehemals nach Preußen gekommen.

****

Das Frühjahr 1910 hatte begonnen, als mein Vater Hauptmann Ferdinand Victor von Chasseur von Schlesien nach Berlin versetzt wurde. Versetzungen beim Militär waren nichts Ungewöhnliches, sondern allgemein üblich. Da mit dieser Versetzung für meinen Vater gleichzeitig eine Beförderung zum Major verbunden war, kam ihm diese Versetzung verständlicherweise sehr gelegen. Letztlich beinhaltete sie neben einem besseren Ansehen etwas mehr Verantwortung und ein höheres Gehalt, worüber wir uns natürlich besonders freuten.

Der Umzug nach Berlin wurde vorbereitet. Ich merkte davon nicht sehr viel, nur, dass deutlich mehr Unruhe herrschte und ein ziemliches durcheinander im gesamten Haus vorlag. Ami und Hanne wollten beide unbedingt bei meiner Mutter bleiben und mit nach Berlin umziehen. Ich liebte sie beide! Allerdings schien auch meine Mutter mit Ami und Hanne mehr als zufrieden zu sein, da sie, wie sich Mami damals ausdrückte, ausgesprochen fleißige und liebenswürdige Personen waren, die regelrecht zum Haus dazugehörten. Aus diesem Grund nahm meine Mutter sie beide, zu meiner großen Freude auch sehr gerne nach Berlin mit.

Wenige Tage später standen die Umzugswagen nachmittags vor der Tür. Die Wagen waren relativ schnell mit dem Mobiliar und den Umzugskästen, die eine Vorhut bereits zuvor eingepackt hatte, beladen. Hanne ließ es sich nicht nehmen, wie konnte es auch anders sein, darüber zu wachen, dass alles unter ihrer Regie ablief. Sie wusste ganz genau, in welcher Kiste sich was befand. Die Bücher von meinem Vater hatte sie ebenfalls vor einigen Tagen, nach Vatis Anweisung, in Kartons gepackt. Mein Vater hielt in den Bücherborden seiner kleinen Bibliothek nicht nur allgemein Ordnung, sondern sortierte die Bücher nach einem bestimmten, eigenen System. So wusste er stets, an welchem Platz er jedes Buch finden konnte. Wurden die Bücher durch Hanne entstaubt, so achtete Hanne peinlichst darauf, dass diese ja wieder am richtigen Platz standen, andernfalls konnte mein Vater ziemlichen ärgerlich werden.

Da es bereits dunkel wurde, stellten die Kutscher die gepackten Wagen über Nacht, mit Planen abgedeckt und bewacht, in die Hofeinfahrt der großen Villa. Die Pferde kamen in eine Pferde-Unterkunft, in der sie auch versorgt wurden. Anschließend kehrten die Kutscher und Möbelpacker im Gasthof zur Krone ein, um am nächsten Morgen frisch erholt wieder vor der Tür zu stehen und ihre Fahrt rechtzeitig nach Berlin zu beginnen.

Meine Mutter mit Ami und natürlich mit mir, dem vergnügten kleinen Jungen, wollten erst etwas später mit einer gemieteten zweispännigen Kutsche abreisen. Die letzte Nacht verbrachten wir, da ja die Möbel bereits auf den Umzugswagen verpackt waren, als Gäste bei lieben Freunden meiner Eltern.

Zuvor hatte meine Mutter, wie sie mir weiter erzählte, einige Überlegungen angestellt, auf welche Art und Weise sie selbst wohl am sichersten und einfachsten reisen sollte. Als beste Variante schien sich die Kutschfahrt anzubieten. Gewiss, sie konnten ebenso nur ein Stück mit der Kutsche in Richtung Cottbus und anschließend mit der Eisenbahn weiterfahren – nur bis Cottbus hatten sie sowieso schon ungefähr die halbe Strecke hinter sich gebracht. Jetzt alles wieder umzuladen lohnte sich ihrer Meinung nach nicht, zumal, in Berlin angekommen, erneut wieder alles auf eine Kutsche geladen werden musste. So hatte sie sich also entschieden, mit der Kutsche über Frankfurt an der Oder und Königswusterhausen nach Berlin zu reisen. Die Tour von gut zweihundertsiebzig Kilometer Entfernung wollten sie jedoch auf keinen Fall in einem Stück machen. Um die Strecke an einem Tag zu bewältigen, wäre sie doch etwas zu weit gewesen. Vor allem meinetwegen, meinte Ami, empfahl sich deshalb eine Zwischenübernachtung, entweder in Ziebingen oder Kunitz im Kreis Weststernberg in der brandenburgischen Neumark.

Am kommenden Morgen wollten die Kutscher mit ihrem Transport bereits um fünf Uhr losfahren. Hanne machte dies anscheinend nichts aus, sie meinte, dass sie ja zwischendurch, falls sie müde werde, auf dem Umzugswagen ein wenig schlafen könne. Zu essen und Getränke hatten Hanne für alle eingepackt.

Meine Mutter hingegen war froh darüber, nicht so fürchterlich früh, wie die Möbelpacker und Kutscher aufstehen zu müssen. Ami dagegen hatte mit frühem Aufstehen sowieso kein Problem, sie musste jeden Tag so früh aufstehen, um mich morgens fertig zu machen. Laut Ami schlief ich jetzt aber glücklicherweise endlich nachts durch.

Längst waren die Pferdewagen der Umzugsfirma abgefahren, als meine Mutter, die in einem der Gästezimmer der Freunde geschlafen hatte, aufstand und sich für die Reise fertig machte. Ami, sie war bereits angezogen, hatte mit mir in einem zweiten Gästezimmer übernachtet. Sie machte mich indes noch fertig. Schließlich musste ich gewickelt werden und mein Milchfläschchen bekommen. Anschließend fuhren wir, nachdem meine Mutter und Ami gemeinsamen gefrühstückt hatten sowie nach herzlicher Verabschiedung von den Freunden, am frühen Vormittag los.

Der schöne helle Morgen mit seinem gleißenden Licht versprach laut meiner Mutter ein angenehmer Reisetag zu werden, was er auch tat. Der Weg führte uns, von Glogau kommend, in Richtung Südwesten über Würchwitz, danach nördlich über Meschkau und weiter nach Grünberg. In Grünberg kamen wir, so erzählte mir meine Mutter, an den schönen dortigen Weingütern mit den riesigen Weinbergen vorbei, die hier die deutschen Weinbauern bereits vor vielen Jahrhunderten angelegt hatten. Aufgrund der günstigen Lage der Weinberge wuchs hier ein ausgesprochen guter Weißwein. Weiter ging die Fahrt in Richtung Crossen an der Oder, wo wir den großen Fluss überquerten.

Wider Erwarten verlief die Fahrt so gut und schnell, dass der Kutscher vorschlug, doch bis nach Frankfurt an der Oder die Fahrt fortzusetzen, da dies doch für die Herrschaften den Vorteil böte, ein besseres Quartier finden zu können als in Ziebingen oder Kunitz. Der Vorschlag wurde nach kurzem Überlegen angenommen und so fuhren wir also weiter bis nach Frankfurt. Hier quartierten wir uns im Hotel Prinz von Preußen ein, das meine Mutter von einer früheren Reise her kannte.

Am nächsten Morgen nahmen wir unsere Fahrt wieder auf, sodass wir im Laufe des Nachmittags an der neuen Wohnung in Berlin Dahlem ankamen. Hanne begrüßte und empfing uns herzlich. Als ich sie sah, strahlte ich ihr entgegen, als hätte ich sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Hanne erzählte, dass sie noch rechtzeitig am Vortag spät abends mit dem Mobiliar hier in Dahlem eingetroffen waren. Mittlerweile standen bereits sämtliche Möbel an den für sie vorgesehenen Plätzen. Selbst die vielen Kartons waren, bis auf die Bücherkisten meines Vaters, alle ausgepackt. Hanne oder Hannchen, wie meine Mutter sie nannte, hatte alles weitestgehend wieder so eingeräumt, wie sie es in Glogau in Schlesien hatten. Meine Mutter konnte nur noch staunen und lobte Hanne deshalb über alle Maßen.

Ein Jahr später, der Berliner Herbst hielt wieder Einzug, hatte ich längst laufen gelernt und plapperte meine ersten Worte. Ich trippelte mit meinen kleinen Füßen zur großen Freude meiner Mutter neugierig durch die schöne Wohnung in Dahlem, um alles zu entdecken. Stets machte ich anscheinend den Eindruck eines sehr aufgeweckten und interessierten kleinen Jungen. Meine dunkelbraune Haare und die großen dunkelbraune Augen, hatte ich anscheinend von meinem Vater. Mit ihnen konnte ich angeblich pure Freude ausstrahlen. Ebenso hatte ich angeblich fein geschnittene Gesichtszüge und eine schmale Kopfform. Nur war mir das zu jener Zeit völlig piep egal!

Im November 1910 teilte meine Mutter Ami mit, dass sie wieder ein Kind erwarte und dass es im kommenden Juli geboren werden soll. Mami war darüber ausgesprochen glücklich. Auch Ami freute sich riesig darüber, denn Kinder benötigten nach ihrer Meinung unbedingt Geschwister, um ein richtiges Sozialverhalten zu lernen. Im folgenden Jahr Anfang Juli wurde meine kleine Schwester geboren. Mein Vater ließ sie auf den Namen Irmtraud Luise taufen. Meine Schwester hatte so wie ich, dunkelbraune Augen und kastanienfarbiges Haar. Sie wuchs genauso prächtig heran.

Eines Tages, als sich Ami mal wieder mit Hanne über mich unterhielt, sagte Ami zu Hanne: „Das wird mal einer, dem die Weiber nur so hinterherrennen werden“, woraufhin Hannchen sie erstaunt anblickte und antwortete: „Meinen Sie wirklich?“ „Na und ob, dafür habe ich einen Blick“, gab ihr Ami zur Antwort.

Meine Mutter konnte mitunter ziemlich direkt sein. Als sie mir später von diesem Gespräch zwischen Ami und Hanne erzählte, wurde ich schlagartig ziemlich verlegen. Verständlich, denn als Jugendlicher war das für mich kein Thema zwischen Mutter und Sohn. Meine Schwester dagegen zeigte in ihren frühen Kinderjahren laut Ami hin und wieder ein recht ausgeprägtes weibliches Verhalten. „Sie wird sich wohl zu einer kleinen Zicke entwickeln“, äußerte sie eines Tages zu Hanne, woraufhin diese nur noch den Kopf schüttelte und es nicht glauben mochte.

Krieg (Erster Weltkrieg)

Anfang Juni 1914, ich war gerade erst fünf Jahre alt, geschah plötzlich etwas völlig Unerwartetes und Schreckliches: In Sarajevo, in Serbien, wurden der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand oder, wie er genau hieß, „Franz Ferdinand Carl Ludwig Joseph Maria von Österreich-Este“ und seine Frau Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, durch einen serbischen Extremisten ermordet. Dies gab den Anlass zu einer darauf folgenden Krise, der sogenannten Julikrise. Ich merkte als Fünfjähriger nur, das etwas Schlimmes passiert sein musste, denn meine Eltern verhielten sich ziemlich ungewöhnlich.

Meine Mutter berichtete mir später, das Österreich zunächst vor lauter Unentschlossenheit, sich zu keiner Reaktion durchringen konnte und wartete deshalb ab, wie sich sein Bruderland, das Deutsche Kaiserreich, zu dieser Krise stellen würde. Der deutsche Kaiser Wilhelm der II. befand sich zu jener Zeit auf einer Urlaubsreise in Norwegen, als ihn diese schlimme Nachricht erreichte. Er besprach sich noch am selben Tag mit seinem militärischen Stab, der stets in seiner Nähe weilte. Trotz großer Bedenken des Kaisers wurde mehrheitlich entschieden, dass Deutschland umgehend, als Bruderstaat von Österreich, eine militärische Aktion gegen Serbien befürworte. Diese Entscheidung beinhaltete sogar, den Schlag selbst dann durchzuführen, wenn dadurch ernste europäische Konflikte entstehen sollten.

Deutschland sicherte daraufhin per Telegramm der Donaumonarchie Österreich-Ungarn seine volle Unterstützung beim Vorgehen gegen Serbien zu. Ebenfalls sicherten die Balkanländer Bulgarien und Rumänien und selbst die Türkei rechtzeitig zu, an der Seite der Donaumonarchie zu stehen, falls Österreich-Ungarn Serbien eine Lektion erteilen wolle.

Weiterhin stellte die Monarchie Österreich-Ungarn noch im Juli 1914 Serbien ein äußerst scharfes und sehr kurz befristetes Ultimatum, indem mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen gedroht wurde, falls nicht diverse, insbesondere rechtliche Forderungen Österreichs umgehend erfüllt würden. Gleichzeitig instruierte Österreich seinen Gesandten in Belgrad, dass dieser die Beziehungen zu Serbien sofort abbrechen und schleunigst abreisen solle, da es unweigerlich und in jedem Fall zum Krieg kommen würde. Dies sei unabhängig davon, wie die Serben auf das Ultimatum reagieren.

Allerdings hatte ich mehr als Schwierigkeiten das alles zu verstehen. Mir kam es nur vor, als sei Politik etwas ziemlich böses und schlimmes, wenn daraus ein Krieg entstehen kann.

Serbien konnte nur bedingt den österreichischen Forderungen zustimmen und versuchte deshalb, eine diplomatische Lösung zu finden. Gleichzeitig begannen jedoch die Serben mit der Mobilmachung, woraufhin Österreich-Ungarn den Serben Ende Juli 1914 den Krieg erklärte. Dies war der Beginn des Ersten Weltkriegs. Er entwickelte sich zu einem der schrecklichsten Kriege, die es bislang je gab, niemand vermochte sich zu Beginn überhaupt vorzustellen, welches Leid er verursachen und welche Folgen sich daraus noch ergeben sollten.

Für meine Familie kamen nun, wie auf fast alle Familien in Mitteleuropa, sehr harte Zeiten zu. Es begann damit, dass es kaum noch Nahrungsmittel zu kaufen gab, diese wurden rationiert, ebenso die Heizmittel wie Kohle und Holz. Außerdem kamen Forderungen vom Deutschen Kaiserreich auf, Wertsachen wie beispielsweise Gold an den Staat abzugeben, damit dieser damit wieder Rohstoffe kaufen und Kriegsmaterialien herstellen konnte. Das betraf mich zwar nicht, denn ich hatte ja kein Gold und keine Wertsachen. Allerdings merkte ich, dass ich außerhalb unserer schönen Wohnung möglichst niemandem zu viel von meinem zuhause sagen durfte und besser zuvor meine Mutter oder meinen Vater fragen sollte. Dass zum Beispiel unser gutes Essbesteck aus Silber war, durfte ich niemandem erzählen.

Kam jemand der Aufforderung nach, Wertgegenstände abzugeben und sei es nur sein eigener, goldener Ehering, was moralisch von allen Verheirateten gefordert wurde, erhielten diese bei der Abgabe des Goldrings einen Ring aus Eisen mit der Inschrift: „Gold gab ich für Eisen“. Derjenige, der noch einen Goldring trug, wurde regelrecht diskreditiert und diskriminiert. Viele gaben Gold für Eisen, jedoch nicht alle, denn einige, so sagte mir meine Mutter, erkannten sehr schnell den Wahnsinn dieses Krieges.

****

Dieser Krieg, so erzählte sie mir mit etwas traurigem Blick weiter, brachte im Laufe der Zeit noch ganz andere Auswüchse mit sich. Es geschahen Dinge, von denen sich zuvor wohl niemand vorstellen mochte, dass solches überhaupt geschehen oder auch nur denkbar werden konnte.

Aus der Historie ist bekannt, dass sowohl die Griechen, die Phönizier und ebenso die Perser als Söldner oder Soldaten, wie sie heute heißen, sich aufgrund momentaner Ermangelung an Frauen mit jungen Männern sexuell einließen. Gewiss, ein Thema, über das meine Mutter eher selten sprach, dennoch aber, im Gegensatz zu sehr vielen anderen Frauen, ziemlich offen zu reden vermochte.

Allerdings muss ich zugeben, dass mich diese Geschichte doch ziemlich peinlich berührte, als sie mir davon erzählte. So berichtete sie mir, was im Krieg mit meinem Vater geschah und was dazu führte, weshalb er jetzt, nachdem der Krieg vorbei war, nicht mehr hier bei uns lebte.

Während einer Feuerpause an der Front beobachtete mein Vater (er war damals Major) seine Soldaten und hörte deren Gesprächen zu. Zum Teil unterhielten sich diese ziemlich vulgär über ihre momentanen körperlichen Gelüste. Da gab es einige, die es am liebsten gleich mit mehreren Frauen treiben wollten, andere überschätzten wohl völlig ihr körperliches Vermögen, so oft glaubten sie, es treiben zu können, oder wieder andere schwärmten von jungen hübschen Mädchen in einem Mädchenpensionat. Es gab allerdings ebenso Soldaten, die eine ganz bestimmte große Liebe hatten, der sie ergeben nachhingen. Ich hielt nur noch die Luft an, als mir meine Mutter solch direkte und klare Worte sagte! Mein Vater hatte ihr das wohl alles erzählt und gestanden.

Wieder andere zeigten sichtbar, allein aufgrund der lüsternen Gespräche, unter ihrer Kleidung ihre Erregung. Mitunter stöhnten sie angeblich sogar auf, fluchten und hofften, dass die Feuerpause endlich vorbei sei. Es gab jedoch überdies Soldaten, die sich an solchen, eher wollüstigen Gesprächen und Äußerungen überhaupt nicht beteiligten, dafür jedoch einiges miteinander zu tuscheln hatten.

So bemerkte mein Vater ebenfalls, dass ein relativ junger Offizier, der sich eher still verhielt, ihn ziemlich oft etwas merkwürdig ansah, oder kam es ihm nur so vor? Vielleicht lag es ja nur an der Art seiner Blicke, die fast schmachtend anmuteten. Dies alles blieb meinem Vater keineswegs verborgen. Er konnte diese Blicke allerdings nicht wirklich klar definierten, geschweige denn deuten. Allerdings reagiert erstaunlicherweise der Körper meines Vater auf diese schmachtenden Blicke. So blieb es nicht aus, dass sich die beiden näher kamen.

Sicherlich hat mein Vater in seiner Jugend, wie viele anderen Jungens auch, bevor sie sich mit Mädchen einließen, gewisse Praktiken mit anderen Jungens ausprobiert. Möglicherweise fand er solches nicht mal unbedingt abstoßend. Nur jetzt hatte er sich tatsächlich in eine Affäre mit einem anderen Mann verstricken lassen. Gewiss, dazu gehören bekanntlich stets zwei, einer, der verstrickt, und ein anderer, der sich verstricken lässt. Außerdem sei dahingestellt, wer von den beiden nun der Verstricker und wer der Verstrickte gewesen war.

Es blieb allerdings nicht aus, dass dies alles meine Mutter noch während des Krieges erfuhr. Wie und woher sie es erfahren hatte, vergaß ich sie damals zu fragen. Möglicherweise stammte die Information von einem ihrer Brüder, die jedoch beide während dieses fürchterlichen Krieges ums Leben kamen. Meine Mutter stellte jedenfalls meinen Vater alsbald zur Rede, noch immer in der Hoffnung, dass diese Information nicht wahr sei. Obwohl zu jener Zeit Homosexualität strafbar war, leugnete es mein Vater ihr gegenüber keineswegs.

Meine Mutter sah sich daraufhin genötigt, unter der Vorgabe von Ehe- Zerwürfnissen die Scheidung einzureichen. Diese erfolgte im Februar 1917. Gewiss, nun hing der Makel einer geschiedenen Frau an ihr, und solches in der damaligen Zeit! Doch der Makel, sich unter den gegebenen Umständen nicht scheiden zu lassen, wäre viel schlimmer gewesen. Das gleiche Schicksal widerfuhr erstaunlicherweise zwei der Schwestern meiner Mutter, aber ebenso vielen anderen Frauen. Zwar konnte dies kein Trost für sie sein, es zeigte lediglich auf, welch seltsame Blüten dieser Krieg mitunter trieb.

Zum Zeitpunkt der Scheidung war meine Mutter im einunddreißigsten Lebensjahr und mein Vater, der Major, im achtundvierzigsten. Meine Schwester und ich waren zu jenem Zeitpunkt erst fünf und sieben Jahre alt. Die Scheidung konnte verständlicherweise für die Entwicklung von uns beiden Kindern nicht unbedingt die beste Voraussetzung sein, zumal wir nun ohne unseren Vater als Vorbild oder Leitbild aufwachsen mussten. Meine Mutter entwickelte sich jedoch zu einer ausgesprochen starken Kämpferin. Sie schaffte es, die Mutter- und die Vaterrolle gleichermaßen weitestgehend auszufüllen. Es ging allerdings vielen anderen Kindern ähnlich, deren Väter im Krieg gefallen waren. Deshalb empfanden meine Schwester und ich das Fehlen unseres Vaters nicht als sonderlich schlimm.

In dieser schlimmen Kriegszeit musste meine Mutter, jeden Pfennig zweimal umdrehen, bevor sie ihn ausgab. Ami wollte sich eine neue Anstellung suchen, da meine Mutter ihr kein Gehalt mehr bezahlen konnte und außerdem meine Schwester und ich keine Kleinkinder mehr waren. Hierüber war meine Mutter zunächst etwas Erstaunt und anderseits ebenso froh darüber, denn Amis Gehalt aufzubringen bereitete meiner Mutter großes Kopfzerbrechen. Hanne kündigte aus dem gleichen Grund ebenfalls. Sie ging zurück in ihren Heimatort Woldenberg im Kreis Friedeberg in der brandenburgischen Neumark. Beide waren meiner Mutter im Laufe der Zeit ans Herz gewachsen und der Abschied fiel allen ziemlich schwer. Ich entsinne mich, dass meine Schwester sogar weinte und mir standen ebenso Tränen in den Augen. Weiterhin zogen wir recht bald in eine deutlich preisgünstigere Wohnung am Hohenzollerndamm in Berlin um, da sich meine Mutter ihre schöne, allerdings recht teure Wohnung in Berlin Dahlem nicht mehr leisten konnte.

In einem Lazarett in Berlin nahm meine Mutter alsbald eine Anstellung als Hilfspflegekraft an und wurde nun immer häufiger zur Versorgung der vielen Verwundeten, die von der Front in einem der Lazarette in Berlin eintrafen, benötigt. Sie hatte früher, vor ihrer Ehe, unter anderem eine Ausbildung als Hilfskrankenpflegerin absolviert. Dies kam ihr jetzt zugute. Als Ausgleich für ihren Einsatz gab es neben einem kleinen Gehalt meistens Eintopf. Diesen brachte sie mit nach Hause, um uns Kinder damit versorgen zu können.

Chaos, Schwarzmarkt und Währungsreform

Die allgemeine Versorgung, so erzählte mir meine Mutter, wurde im Laufe des Krieges, insbesondere in den letzten Kriegsjahren, immer schlechter, sodass gegen Ende des Krieges, allerorts und in jeder Hinsicht nur noch ein völliges Chaos herrschte.

Anfang November 1918 wurde im Deutschen Reich die Republik ausgerufen. Nur zwei Tage später folgte ein Waffenstillstand in Compiegne in Frankreich und damit hatten gleichzeitig alle Kampfhandlungen ein Ende. Knapp zwei Wochen später unterschrieb Kaiser Wilhelm der II. in Doorn, in Holland, schweren Herzens seine Abdankungsurkunde.

Anschließend ging der jetzt ehemalige deutsche Kaiser Wilhelm II. in Doorn, einem Ortsteil der Gemeinde Utrechtse Heuvelrug, Provinz Utrecht in Holland, ins Exil. Dort kaufte sich im August 1919 innerhalb des Ortes, privat von Baronesse Heemstra de Beaufort1