Ein Beitrag zur Geschichte der Freude - Radka Denemarková - E-Book

Ein Beitrag zur Geschichte der Freude E-Book

Radka Denemarková

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Beschreibung

Drei ältere Frauen unterhalten in Prag ein geheimes Archiv, das Gewalt gegen Frauen dokumentiert. In einer Luxusvilla wird die Leiche eines reichen Geschäftsmannes gefunden. Was verbindet den Toten mit den drei Frauen und ihrem Archiv? Radka Denemarková, die wichtigste tschechische Autorin der Gegenwart, schildert in ihrem sprachgewaltigen Roman, wie trotzige Frauen sich dranmachen, das "vergewaltigte Jahrhundert" geradezubiegen, geschundene Körper zu heilen und für ungesühnte Verbrechen Rache zu üben.

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Radka Denemarková

Ein Beitrag zur Geschichte der Freude

Roman

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová

Hoffmann und Campe

Für Ester. Für Honza.

Und die Schwalben von Amrum.

Schwalbenpiepmatze

im Nest wenden die Augen nicht ab

vom dunkel werdenden Himmel.

Issa Kobayashi

Ein Notschrei kann nicht größer sein,

als der eines Menschen.

Oder auch keine Not kann größer sein,

als die, in der ein einzelner Mensch sein kann. […]

Der ganze Erdball kann nicht in größerer Not sein

als eine Seele.

Ludwig Wittgenstein

Es gibt kein Gesetz, das alten Frauen verbietet, auf Bäume zu klettern.

Astrid Lindgren

Einen Menschen erkennst du nicht am Gefieder. Mein Körper ist vom Wind zerstochen.

Prolog

Mit dem Kopf gegen die Wand. Mit dem Körper unter die Pferdehufe. Was sich doch alles hinter Routine und Ritual verbirgt. Schon oft saßen sie zusammen im Café. Spazierten am trüben Fluss entlang. Verschlangen sich auf einer Parkbank mit den Augen. Sie waren essen. Im Konzert. Hielten sich an den Händen. Er legte ihr schüchtern den Arm um die Schulter. Beherzt um die Taille. Sie küssten sich. Kosteten den Geschmack des anderen. Waren zum ersten Mal zusammen im Kino. Haben den britischen Filmklassiker Begegnung gesehen. Jetzt sitzen sie im Teehaus und tun so, als sprächen sie über einen alten Film. Sie reden über sich selbst, versteckt hinter den Filmfiguren. Das Männliche und das Weibliche vermischen sich; Frühling, der keinem Jahreszeitenwechsel unterliegt. Der heilige Teekessel blubbert gedämpft. Ihre Herzen füllen sich. Sie berühren den tiefsten Punkt ihrer Seelen. Vergessen die Zeit, und die Zeit vergisst sie. Der letzte Bus fährt ab.

Es ist Nacht. Keine Rikscha weit und breit. Ein halbleerer Bus hält an. Bereitwillig. Randvolle Herzen steigen ein. Dankbar zahlen sie beim Fahrer, er lächelt. Sie bemerken die dunkel getönten Fensterscheiben nicht. Die Zukunft liegt im Dämmerlicht. Sie laufen durch den Gang nach hinten. Der Bus rollt vom Randstreifen weg. Der Fahrer tritt aufs Gas.

Sie halten sich an den Händen und reden über den Film. Ein stilles Gespräch mit Pausen zwischen den Wörtern und mit Pausen innerhalb der Wörter. Auf dem Sitz hinter dem Fahrer richtet sich ein junger Mann auf. Mit einer Eisenstange in der Hand. Er geht auf sie zu. Die beiden, die das erste Mal zusammen im Kino waren und sich fest an den Händen halten, ahnen nicht, dass ihre Körper sich nie berühren werden, dass sie sich weder mit den Augen berühren noch mit Worten verbinden werden. Im Bus richten sich zwei weitere junge und feste Männerkörper auf. Sie versperren den Gang. Alle lächeln. Was für ein süßes und heißes Lächeln. Der Fadenwurm. Lass uns seinem Ton lauschen.

Von oben gesehen ist alles brutal einfach. Die Erinnerung der Körper täuscht nicht. Seit Jahrhunderten fliegen Schwalben hin und her und erzählen einander von den menschlichen Körpern da unten. Ihr Vertrauen schwindet mehr und mehr. Nur im Flug blüht das »Ich« wie eine gelbe Tulpe auf, im Blütenkelch geht es seinen Spuren nach wie im Spiegellabyrinth. Brauchen Schwalben Mut? Sie leben auf ihre Weise, anders können sie es nicht.

Gegabelte Vogelschwänze kreisen über einem Berg. Man nennt ihn Petřín. Sanft gewölbt und mit Liebespaaren übersät, erhebt er sich im Zentrum einer alten Stadt. Ein romantischer Ort. Was sich doch alles hinter Routine und Ritual verbirgt, Liebling.

Beim Abstieg müssen die Verliebten an einem orangefarbenen Haus mit weißen Fenstern und roten Dachziegeln vorbei. Es duckt sich am Fuß des Petřín, aus dem Schornstein steigt kein Rauch. Ein Nichtraucher. Die Stirn in den Berg gepresst, demütig kniend im Gebet. Nachts leuchtet eine schlanke Straßenlaterne vor dem Haus. Sie wächst durchs Haus, streckt lustvoll den Kopf hinaus. Das Haus sieht wie eine zweite Laterne aus, von einem trotzigen Glühwürmchen vom Himmel heruntergeschleudert.

In Wohnungen mit Blick ins Grüne hören Menschen bei offenem Fenster Musik. Liebespaare verlangsamen ihre Schritte und spitzen die Ohren.

Keine Gardinen verhängen die blankgeputzten Fenster. Auf dem Katzenkopfpflaster bleibt ein ausgemergelter, schwarzer, geiler Streunerhund stehen; ein ausgemergelter Hund ist die Schande seines Herrchens. Die Puppenmädchen und der Puppenjunge zwischen den Hausmauern sehen einander ähnlich und bewegen sich gleich, sie wurden ja auch abgepaust: zwei Augen haben sie und zwei Ohren, zwei Beine, zwei Arme, einen Mund, einen Kopf und einen Torso, sie laufen auf den Hinterbeinen. Das verwirrt den Hund.

Zum Glück sind die verschrammten Gesichter der vier Puppenmädchen gelb angemalt und das Gesicht des Puppenjungen blau.

Die Farbe bröckelt von den Gesichtern ab.

Die Morgendämmerung quietscht am Gartentor. Der Hund setzt sich.

Die orangefarbenen Wände treten auseinander. Die Komödie fängt an. Der Hund guckt Marionettentheater. Er sieht das kleine Haus der vier gelben Puppen und den Schatten eines blauen Puppenjungen. Der Hund lässt die Zunge hängen. Schluckt herunterfallendes Laub. Er wartet, welches der Fenster ihm einen angeknabberten Knochen zuwerfen wird. Er bellt nicht, er beißt nicht. Die Zeit auch nicht, hmm.

Die Schwalben fliegen und zwitschern. Sie erzählen sich Witze über Männer und Frauen. Sex ist Freude. Die Witze wiederholen sich über die Jahrhunderte, die Schwalben sammeln Beiträge für die Geschichte der Freude. Dabei sind sie auf ein Schlachtfeld gestoßen, das keine Friedenszeiten kennt. Ein stilles Abkommen, ein Gebiet, das nicht frei ist und es nie sein wird, das von jedermann erobert werden darf, wo bis heute jedem alles erlaubt ist. Durchpflügtes Feld. Ein Feld mit schwarzem, fruchtbarem Boden. Es trägt den Namen der Körper der Schwächeren. Gegen den Sieger Anzeige zu erstatten, bringt nichts.

Schwalben fliegen, ihre Weisheit nährt sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.

Zerbrechlicher Herbst und die Unruhe der Kolibris

Der Mann sitzt mit dem Rücken an einen wuchtigen, heilen Holzbalken gelehnt. Der gesenkte Kopf studiert den Bauch, dem Bauch ist das Geschehen drum herum egal. Der Körper steckt in einem engen schwarzen Unterhemd und modischen Boxershorts. Das karierte Seidenjäckchen steht offen. Es wurde in Schottland gekauft, auf der Brust ist ein Clanzeichen. Der Kilt fehlt. Rinke, ranke Rosen, alles ohne Hosen, auch der Mann. Wie eine Marionette streckt er die Beine aus. Seine Zehen sind rund und weich. Berührte man die zerfurchte rosa Fußsohle mit einer Vogelfeder, bögen die Zehen sich zurück, bis die Gelenke knackten. Der Mann geniert sich; so unvollständig bekleidet. Er blickt zu Boden.

Der Raum, in dem er sich ausgestreckt hat, ist blankgescheuert, überschaubar und halbleer. Der Dachboden, den man hier Loft nennt, gehört zu einem neugebauten Einfamilienhaus; die Metalltreppe eine lange Zunge, über die das Unglück steigt, in den Regalen fläzen sich reihenweise teure Koffer, Reisetaschen und Skistiefel. In schmalen weißen Fächern recken sich Skier und Skistöcke in die Höhe. Gefolgt von Golfschlägern, Sporttaschen und entsprechendem Schuhwerk. Metallene, im Boden verankerte Wäscheständer strecken ihre zackigen Arme vor. Auf ihnen trocknet keine Wäsche; die Familie schaltet im Keller den Trockner an. Der Kopf des Mannes ist grau, mit dichtem Haar. Ein akkurater Bürstenschnitt. Seine Marionettenbeine sind muskulös, die Bizepse gestählt, ein breiter und männlicher Rücken.

Der gepflegte Körper betrügt sich selbst.

Der Mann ist nicht mehr jung. Obwohl er jedes Wochenende schwimmen geht, um die Sünden der Arbeitswoche abzuwaschen. Schwungvoll die Arme ausholen, einatmen, untertauchen. Er spült den Stress ab, löst die zudringlichen Jahre auf. Er muss nicht arbeiten, aber er arbeitet. Er arbeitet gern, weil er nicht muss.

Auf dem Dachboden herrscht reges Treiben. Ein Polizeiermittler hockt sich neben den Mann, als wollte er die nackten Fußsohlen mit einer Vogelfeder oder einem Grashalm kitzeln. Oder dem Körper leise die Leviten lesen.

Der Mann reagiert nicht. Er schweigt, sagt keinen Ton. Durch den einsamen Herbstabend fliegt eine Schwalbe, mit regengetrübten Augen verirrt sie sich auf den Dachboden. Die Männer freuen sich über die Zerstreuung; ihr dunkles Gelächter erschreckt die Schwalbe. Sie stößt mit dem Kopf gegen die Wände, kreist panisch unter der Decke, bis sie es durch die Dachluke endlich in die Freiheit nach draußen schafft. Im Schnabel eine blassviolette Kirschblüte. Doch zu dieser Jahreszeit macht eine Schwalbe garantiert noch keinen Frühling, und der Fadenwurm hat seinen Platz nur in den Kirschblüten.

Der Ermittler watschelt im Entengang zur linken Schläfe des Mannes. Dabei beult sich die Hose an seinen Knien aus. Der Sitzende hat die Augen niedergeschlagen, beobachtet die eigene Brust, der Ermittler konzentriert sich dagegen auf den Hals des Mannes. Gespannt sieht er einem jungen Gerichtsmediziner bei der Arbeit zu. Der Gerichtsmediziner legt den Körper in Boxershorts und Seidenjäckchen vorsichtig auf den Boden und tastet ihn erneut ab. Der Mann lässt es zu. Um seinen Hals liegt eine weiße Schlinge. Jemand hat seinen Körper abgesetzt und mit weißem Strick festgebunden, damit er nicht wegrennt. Wie einen Hund an seine Hütte. Neben dem Balken streckt ein umgestürzter Teakholzstuhl mit gebogenem Ziergitter alle viere von sich. Stellt die provokativ gespreizten Beine zur Schau. Drei weitere Stühle mit hoher, vergitterter Lehne halten Wache an der Wand. In Erwartung von Zuschauern und ihren Hintern, die sich auf sie plumpsen lassen, um das Marionettentheater anzuschauen. Acht haargenau gleiche Teakstühle werfen sich im Erdgeschoss am ausziehbaren Küchentisch in die Brust. Keiner der Stühle hegt den geringsten Zweifel, dass es Selbstmord war.

Es war Selbstmord.

Die Männer packen ihr Zeug zusammen.

Im Vergleich zu dem Körper auf dem Boden ist der Ermittler jung; siebenunddreißig Jahre alt. Seine Arbeit macht ihm Spaß, obwohl er arbeiten muss. Er ist eifrig und hat einen wachen Verstand; obwohl er gerne wüsste, wo dessen Grenzen sind. Sein Körper schwankt, der Ermittler watschelt um die Leiche, umrundet den Kopf. Zögerlich, wie ein Blinder, tastet er das Gesicht ab, prägt sich die Haut ein, die Falten. Unentschlossenheit frisst Zeit; die zwei Kerben am Hals des Mannes verwirren ihn, das Gedächtnis gräbt nach Details aus dem Fachseminar über Selbstmord und Mord durch Strangulation. Eine Rille verläuft schräg. Die ist in Ordnung. Daneben aber, kaum sichtbar, noch eine andere. Und die verläuft gerade. Er zeigt sie dem Gerichtsmediziner. Der winkt ab, ganz sicher Selbstmord, Mann, was soll der Unsinn, hör schon auf.

Der Ermittler steht auf. In seinen Knien knackt es. Er wirbelt Staub auf und eine Schwalbenfeder. Sie legt sich auf die vollen Lippen des Toten. Der Ermittler blickt durch das offene Dachfenster in den Regen. Auf den Telegraphendrähten hinter dem Garten rotten sich Noten zusammen, Schwalbenkörper. Mehr als einen Steinwurf entfernt. Aber ist jetzt die Zeit, Steine zu werfen?

Ja.

Der Ermittler steigt die Metalltreppe in den ersten Stock hinunter. Eine breite, verglaste Terrasse mit Blick über die Stadt. Auf einem flauschigen Teppich mit Spielzeugmotiven sitzt ein Dreikäsehoch. Fährt mit seiner kleinen Lok die in den Teppich eingewebten Gleise nach. Die junge Frau auf dem schwarzen Ledersofa mit Metallarmlehnen hat aufgehört zu weinen. Die Wand ihr gegenüber ein Kunstwerk aus Hunderten von ovalen Tränen, sie wirft tausendfach ihr Spiegelbild zurück, das goldene, hochgesteckte Haar, die niedliche gerümpfte Nase. Leise antwortet sie auf die Fragen der erfahrenen Polizistin, die mit einer Hand die Worte der Frau notiert, mit der anderen am schmalen Handgelenk den rasenden Puls fühlt. Den tränendurchweichten Körper und den am Balken festgezurrten trennen mehr als dreißig Jahre Altersunterschied. Sie sei gerade vom herbstlichen Meer zurückgekehrt. Ja, heute, am Samstagnachmittag. Sie habe die leeren Koffer auf den Boden gebracht, ihrem Mann sei Ordnung wichtig. Routine und Ritual, Liebling, sage er immer … habe er immer gesagt, das sei die Losung des Tages, sonst zerbröckele das Leben, werde leer.

Er sollte gar nicht hier sein, krächzt die verweinte Stimme. Am Freitagabend habe er in die Berge fahren wollen, er klettere zwar nicht mehr so leidenschaftlich wie früher, aber er fahre immer noch Ski und gehe im Sommer und im Herbst mit Freunden wandern. Nein, krank war er nicht … er habe eine ausgezeichnete Kondition … gehabt, trotz seiner fast siebzig Jahre. Der Witwe schießen neue Tränen in die Augen.

Der Ermittler unterbricht die beiden Frauen. Reicht der weinenden ein Taschentuch. Der Witwe sind die Papiertaschentücher ausgegangen. Das Taschentuch des Ermittlers ist aus Stoff mit einem altmodisch gestickten Monogramm. Die Polizistin geht weg. Der Ermittler feuert eine neue Fragensalve ab. Über das Antlitz der Witwe huscht beleidigte Verwunderung. Das habe sie doch bereits erklärt, sie habe die leeren Koffer auf den Dachboden gebracht. Nein, sie wisse nicht, warum er es gemacht habe. Nein, gestritten hätten sie sich nicht. Es sei ihm sogar besonders gut gegangen, nachdem alle Anklagepunkte gegen ihn fallengelassen wurden.

Die Witwe packt den Ermittler an der Hand. Wie eine ungeduldige Kurtisane zieht sie ihn hinter sich her ins Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch liegt ein Blatt Papier. Der Ermittler sammelt die hingekritzelten Worte mit den Augen ein: Kontaktlinsen, Sonnenbrille, Sonnencreme, Lippenpflege, elastische Bandage, Notizen Kap. 88, Medikamente. Die Witwe wippt triumphierend auf den Fußballen vor und zurück. Der Ermittler nimmt das Wippen wahr. Die Umrisse des Busens, die erahnte Erhebung der Brustwarzen, die schmale Taille, die runden Hüften. Ein großzügiges Doppelbett mit weißen, pausbackigen Satinkissen zwinkert ihm zu. Der lange, pfirsichfarben lackierte Fingernagel der Frau tippt aufs Papier, hackt nach Wörtern, pickt sie auf. Er habe immer Listen gemacht, bevor er wegfuhr, wenn er sich auf etwas freute. Wenn ihm etwas wichtig gewesen sei und er es eilig hatte, habe er mit der Hand geschrieben, das sei nicht häufig vorgekommen. Warum hätte er eine Liste für die Letzte Reise machen sollen, wozu wäre die denn gut gewesen? Ich kann nicht wissen, wo der Verstorbene hinwollte und warum, und ich weiß auch nicht, welche Listen für die Letzte Reise geschrieben werden und wozu die gut sind, erwidert der Ermittler kühl. Die Frau gibt nicht nach. Warum habe er dann nicht wenigstens ein paar Zeilen für sie geschrieben? Die jungen Witwenaugen füllen sich mit Glanz. Das Wasser läuft über. Zu ihren Füßen ein dreijähriger Knirps mit Dampflok in der Hand. Er weint nicht, sondern starrt nur vor sich hin. Nein, Feinde habe er keine gehabt. Vor einiger Zeit habe ihn diese Lappalie mit den ehemaligen Sekretärinnen verstört. Aber das sei doch alles nur Unsinn gewesen. Sie hätten ihn angeschwärzt, weil er sie angeblich in der Firma belästigt habe, eine habe ihn sogar wegen Vergewaltigung angezeigt.

Der Ermittler fühlt sich im Schlafzimmer nicht wohl. Er geht in den Nebenraum, ins Arbeitszimmer des Mannes. Die Witwe und der Junge trippeln brav hinterher. Auch im Arbeitszimmer eine Glaswand. Regentropfen laufen daran hinunter. Ein Leben im Aquarium, denkt der Ermittler. Auf den Telegraphendrähten gruppieren sich Schwalbenkörper um, im Rhythmus der Regentropfen entsteht ein neues Musikstück.

In der Ecke der dunkelbraunen Schreibtischplatte aus Massivholz schimmert eine schlanke Wasserkaraffe mit einem Kristall auf dem Boden. Ein ähnlicher Kristall, klein und zu einer Raute geschliffen, funkelt im Fenster. Die zurechtgestutzte Träne blitzt blau in der doppelten Fensterscheibe auf. Gespiegelt werden zwei Tränen. Die restlichen Wände sind mit eingerahmten Fotos behängt, dicht nebeneinander; eine schwarzweiße Tapete. Die Wand gegenüber dem Fenster ist von Metallschienen umrahmt, ihre Farbe ist auf die der Bilderrahmen abgestimmt. Der Ermittler legt seinen Zeigefinger auf den runden Knopf neben der Wasserkaraffe, blickt die Frau an. Sie zieht den Rotz hoch, die Nasenflügel weiten sich: ein Zeichen von Sicherheit und Vertrauen. Zustimmendes Kopfnicken. Der Zeigefinger presst den Knopf.

Die Fotos rasseln die Wand herunter, sie rollen und rollen. Der Ermittler drückt wieder auf den Knopf. Die beweglichen Bilder zucken zusammen, bleiben stehen und weichen schwungvoll zur Seite, als hätte sie einer angehaucht. Der Ermittler betrachtet prüfend die Fotos. Er dreht sich um und streckt erneut den Finger nach dem Knopf. Die Frauenstimme hinter ihm erklärt geduldig, es handele sich um ein Patent ihres Mannes. So habe er die Fotos seiner Besucher austauschen können, ohne lange suchen zu müssen. Auf den Bildern steht der Mann Seite an Seite mit Präsidenten. Alle Männer verbindet ihre graue Mähne. Im Anzug lachen sie im Theaterparkett. In Sportkleidung sitzen sie bei einem Tennisspiel, die Augen folgen dem Ball, sie starren in dieselbe Richtung. Hocken über einem Schachbrett. Stehen in schwere Pelzmäntel gehüllt am Nordpol. Spielen mit Filmstars Golf. Sind Juroren beim Schönheitswettbewerb. Trinken Becherovka an einem Tisch inmitten der Menge. Alle Fotos sind nach 1989 entstanden.

Der Ermittler bedeutet dem Jungen, auch er solle auf den Knopf drücken, den missratenen Käfer zerdrücken, na mach schon. Der Junge versteckt sich hinter Mamas Rücken. Sein Papa hat es ihm strengstens verboten, sagt die Witwe verlegen. Und wo sind die Bilder von ihr? Der Ermittler sieht sich um. Das Gesicht der Witwe spiegelt sich schweigend in den Fensterscheiben. Der Ermittler stellt Fragen, klebt den Fall mit Speichel zusammen wie ein Schwalbennest. Die unausgesprochene Antwort verdickt die Luft, beide denken dasselbe. Die unausgesprochene Antwort klebt sie zusammen.

Und sonst?

Sonst nichts Besonderes, seine Firma habe er schon vor Jahren dem ältesten Sohn aus zweiter Ehe überschrieben und sich hier zu Hause ein Arbeitszimmer eingerichtet; ab und an besuche er die Firma, um die wichtigeren Bauprojekte selbst im Auge zu behalten. Der Ermittler stöbert in den Schubladen des massiven Tischs, klappt den Terminkalender auf. Er fragt nach den übrigen Kindern, den aus den Ehen davor. Die Witwe seufzt, verstanden habe er sich nur mit dem ältesten Sohn, und, wenn sie ehrlich sein solle, der Sohn habe ihn selbst nach Jahren aufgesucht, mit den anderen Kinder und Exfrauen habe er nicht verkehrt, mit ihr habe er nicht darüber sprechen wollen, das seien alles abgeschlossene Projekte, habe er gesagt.

Abgeschlossene Projekte?

Abgeschlossene Projekte.

Der Ermittler blättert im Terminkalender. Zwei lose Blätter fallen heraus. Und ein ausgeschnittener, zusammengefalteter Zeitungsartikel. Der Ermittler breitet die Blätter nebeneinander aus. Sie haben gesagt, erkundigt er sich, Ihr Mann hat kaum mit der Hand geschrieben? Die Witwe stellt sich neben ihn, Körper an Körper. Unwillkürlich schließt der Ermittler die Augen und zieht den Bauch ein, sein Atem beschleunigt sich, tiefer Atem und geweitete Nasenflügel, ein Signal von Sicherheit und Vertrauen, sein Körper hat reagiert, er mag den Geruch der Frau. Ja, er habe wirklich ungern mit der Hand geschrieben, das seien nur Notizen für sein Buch, mit Bleistift skizziert, seltsam, warum manche Wörter mit violetter Tinte unterstrichen seien. Ein Buch? Ja, er habe an seiner Autobiographie geschrieben, anfangs ganz allein, ohne großen Erfolg allerdings, bis ihm jemand einen Kurs für kreatives Schreiben empfohlen habe, bei Birgit Stadtherrová, dieser seltsamen Schriftstellerin, die nach England emigriert sei, dann in Amerika oder sonst wo gelebt habe, bis sie wieder zurück nach Prag gekommen sei und auf Englisch Bücher über Männer schreibe, also über Könige und Staatsmänner; gerade solle sie an einem Buch über den Präsidenten Beneš schreiben. Im Frühling habe Frau Stadtherrová einen Schreibkurs gegeben, einen limitierten Kurs nur für exotische Persönlichkeiten, für die Elite sozusagen, sonst wäre ihr Gatte, so die Witwe, auch gar nicht hingegangen, einen sehr teuren Kurs, der Ermittler solle lieber nicht nach dem Preis fragen, er könne sich das aber vielleicht selbst ausrechnen, eine Amerikanerin und noch dazu tschechischer Abstammung; darüber hinaus habe sie ihm noch einen Entspannungskurs bei einer gewissen Diana Adler aufgeschwatzt, der sei noch teurer gewesen. Aber ihr Mann habe gesagt, fährt die Witwe fort, ohne den Kurs werde er sein Projekt nie zu Ende bringen, vor jeder Sitzung müsse er sich aber zwingen, weiter zu machen. Die Frau habe einen großen Einfluss auf ihn gehabt. Beide Frauen hätten einen großen Einfluss gehabt. Der ausgeschnittene Zeitungsartikel sei von ihr, den solle der Ermittler ruhig mitnehmen. Ihr Mann habe außerdem einen Roman über gepeinigte Männer schreiben wollen. Es habe ihn aufgeregt, was heutzutage alles so vor sich gehe. Was geht denn heutzutage vor sich?, fragt der Ermittler, während er den scharfzüngigen Artikel überfliegt. Die Sätze stechen ihn in die Leisten. Eigentlich wisse sie gar nicht, was er damit gemeint habe, sagt die Frau, zieht sich zurück und lächelt. Das Lächeln ihres eigenen braungebrannten Gesichts lässt sie zusammenzucken.

Der Ermittler bedauert, dass sich ihr Körper von seinem entfernt hat. Er sehnt sich nach Berührung, würde gerne am Haar der Frau riechen. Die Augen der Frau bleiben an seinem Ringfinger hängen, am Verlobungsring. Von seinem Großvater geerbt, beeilt sich seine Stimme den Mandelaugen zu sagen. Dürfe er zu lesen bekommen, was ihr Mann geschrieben habe? Ja, natürlich, aber … Das feine Gesicht der Frau wird blass. Was aber? Na … sie möchte ihn bitten, falls sie überhaupt in dieser Situation ein Recht darauf habe, falls also überhaupt möglich … Der Ermittler räuspert sich, muntert sie auf. Sie meine … ob er es vielleicht direkt hier, im Haus, in seinem Arbeitszimmer lesen könne? Sie möchte den Computer nicht verlieren, in ihm befinde sich ihr ganzes gemeinsames Leben, auch Verträge und Geschäftsabschlüsse und die ersten und letzten Mails, die sie und ihr Mann ausgetauscht haben, Familienfotos, Kontoführung und Ähnliches. Natürlich nur wenn man den Computer und sonstige Dinge nicht als Beweismittel mitnehmen müsse, wenn auch … das sei doch alles lächerlich. Sie meine es gar nicht gegen ihn persönlich oder gegen die Polizei, keinesfalls, Gott behüte, also wenn es ihm nichts ausmache, hierher zu kommen, wäre sie beruhigt und würde sich auch in diesem großen Haus nicht so fürchten, allein … vielleicht … wahrscheinlich.

Der Atem des Ermittlers wird tiefer, beschleunigter Puls gesellt sich dazu, auch Prickeln in den Leisten eilt herbei. Der Ermittler stimmt zu, obwohl er damit gegen die Vorschriften verstößt. Die technische Ausstattung des Arbeitszimmers wirft den beiden einen spöttischen Blick zu, der Drucker würde willig und schnell die beschriebenen Blätter ausspucken, der Ermittler könnte sofort alles mitnehmen, ob ausgedruckt unterm Arm oder archiviert in der Tasche. Der Körper des Ermittlers und der Körper der Witwe ignorieren jegliche Technik. Innere Standhaftigkeit; eine lobenswerte Haltung.

Die Frau bringt den Ermittlerkörper zum Auto. Als sie zurück ins Haus geht, schüttelt sie Wassertropfen vom schwarzen Regenschirm. Blickt sich nicht um.

*

Birgit Stadtherrová und ihre zwei Freundinnen flogen mit eisiger Freude aus Prag ab. Es reichten ein paar Tage, und schon hatten sie sich in England eingenistet. Der Vorwand war auf den ersten Blick schlicht. Diana leitet einen Meisterkurs in Yoga. Birgit schreibt ein Buch über Beneš und unterrichtet kreatives Schreiben, allerdings nur wenn sich eins der Mädchen anmeldet, das sie dringend brauchen. Die Texte werden mit violetter Tinte kommentiert, Stellen mit violettem Kreuz radieren Sie bitte weg, die sind tot, abgestorbenes Gewebe, psst. Erika läuft durch die Welt, beobachtet, pickt Informationen auf.

Sie unterhalten sich über den Film Begegnung. Bleiben vor einer Schule stehen. Backsteinzwillinge; mit einem Durchgang verbundene Gebäude einer Grund- und einer Mittelschule. Sie vergleichen die Adresse mit dem Kapillarenknäuel auf der Karte. Schließen sich der anschließenden Schlagader an. Tasten sie mit Schildkrötenschritten auf beiden Seiten ab. Plaudern mit Straßenverkäufern. Kaufen Trödel und Ramsch. Eine lebendige Straße, ausgeleuchtet von überraschend starken Sonnenstrahlen. Ein chinesischer Imbiss, ein vietnamesisches Lebensmittelgeschäft, ein indisches, ein thailändisches Restaurant – und auch ein italienisches, japanisches und pakistanisches, libanesisches und tschechisches und arabisches, spanisches, polnisches, afghanisches, russisches, nigerianisches und amerikanisches undundundundundund.

Sie entscheiden sich für das uxor-hiomische Restaurant.

Durch einen orangeroten Perlenvorhang tauchen ihre Körper ins Dämmerlicht. Hinter einer gemauerten Theke leuchten glänzende Augen auf, blenden grinsende Zähne. Sie setzen sich in eine Ecke, von wo aus sie das Haus gegenüber im Blick behalten können. Vier Uhr nachmittags. Der Besitzer ist zuvorkommend. Reicht ihnen die Karte mit günstigen, arg zusammengestrichenen Mittagsmenüs. Er trägt ein enganliegendes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Birgit stöhnt auf. Traut ihren Augen nicht. Zur Sicherheit setzt sie ihre Brille auf. Es ist wahr. So ein schöner Mensch und trägt den graphischen Abdruck des Körpers von Arnold Schwarzenegger auf dem Shirt, nun ja, ein Quacksalber verkauft nicht zwingend gute Medikamente. Einst war sie tief beeindruckt, richtig fasziniert, als ihr Exmann an jenem Abend, wo sie sich ihre bis dahin gelebten Leben erzählten, fallen ließ, er habe seine Abiturarbeit über Albert Schweitzer geschrieben, den deutschen Philosophen, Arzt und Humanisten, der im afrikanisches Lambarene ein Krankenhaus gründete. Die Reife des einstigen Abiturienten rührte sie zu Tränen.

Als der erste ihrer drei Söhne zur Welt kam, erzählte sie bei einem Abendessen Erika davon. Und auch Erika strahlte, Schweitzer sei doch auch Musikwissenschaftler und Organist und Theologe gewesen. Birgits Gatte starrte beide ungläubig an.

»Ich habe doch gar nicht über diesen … wie heißt er … geschrieben.«

»Du hast über Albert Schweitzer geschrieben.«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Über Arnold Schwarzenegger.«

Den Namen Albert Schweitzer hatte er noch nie gehört. Sie den Namen Arnold Schwarzenegger leider schon. Ihr wurde klar, dass in ihrem Fall die Liebe nicht nur blind gewesen war, sondern auch taub.

Erika erhebt sich vom Tisch. Keiner achtet auf sie. Birgit am allerwenigsten, sie starrt auf das T-Shirt des Restaurantbesitzers, der sie bedient. Sie wird von Arnold bedient.

Zu dieser Tageszeit hängen hier ein paar Schwarzköpfe herum, die entweder auf den Fernseher oder auf ihr Handy glotzen. Es läuft uxor-hiomische Musik, köstliche Gerüche ziehen durch das Lokal, ältere Männer rauchen. Erika sieht sich auf der Toilette um. Unter der Schüssel schlängelt sich nasses, rosafarbenes Toilettenpapier. Im Körper der Ziegelwand ein mit Heftzwecken befestigtes Plakat. Werbung für Wonderbras. Erika sieht sich um. Ein Schnappschuss nach dem anderen, ein Ausschnitt nach dem anderen, mit jedem Blinzeln schneidet sie das Gesehene in Scheiben. Fischt aus der Hosentasche Papiertaschentücher.

Zu Birgit kommt sie mit blankgescheuerten Händen zurück. Birgit versucht, das Lied zu verstehen, das gespielt wird. Eine Sprache zu verstehen, die sie nicht kennt. Erika setzt sich hin. Streckt unter dem Tisch das schmerzende Bein aus.

»Lebte ich bei denen, würden sie mir nicht einmal einen Schluck Wasser reichen.«

Erika sieht die Männer mit einem Blick, der meilenweit von jeglicher Gerechtigkeit entfernt ist. Sie sieht alle Männer an, als wären sie ein einziger. Mit ihrer rechten Hand ertastet sie das goldene, rubinbesetzte Kreuz an ihrem Hals. Zupft daran. Die Kette schneidet in die schrumpelige Haut.

Birgit schweigt; Groll steigt in ihr auf wie Bierschaum im frisch gezapften Glas. Warum muss sie immer das Geschlecht mit reinziehen, diese Rassistin? Warum immer auf dem Geschlecht herumreiten? Woher will die Heilige Erika denn wissen, dass eine Frau ihr einen Schluck Wasser reichen würde? Ihr Jesus oder Buddha oder Mohammed oder an wen sie gerade glaubt, waren doch auch alles Männer, oder? Man hat die Männer der Menschheit gleichgestellt. Wie abartig. All die erstarrten Männlichkeits- und Weiblichkeitskodizes, der weibliche Körper als Körper zweiter Klasse. Nein, eine sexuelle Revolution hat noch nicht stattgefunden. Religionen brauchen eine sexuelle Revolution. Warum ist der Papst keine Schwalbe?

Mit der Gabel machen sie sich über die dampfende scharfe Mischung her. Das Essen bringt das Blut in Wallung; die Bissen übervoll mit Chilipaprika und Currygewürzen. Der Restaurantbesitzer stellt Kaffee auf den Tisch, bestreut ihn mit Kardamompulver.

»Hoffentlich kein Arsen«, sagt Erika ruhig.

Scham leckt an Birgits Rücken. Mit Freude würde sie eigenhändig Arsen in Erikas Kaffee schütten. Sie schiebt sich die nächste scharfe Ladung in den Mund, schluckt. Vielleicht ist unser Leben zu intensiv gewesen. Liebhaber, Sex, diese hübsche Variante von Yoga, und Quartalsorgasmen. Das Wort Untreue versteht sie nicht. Mit derselben Leichtigkeit, mit der sie sich einst für einen irrwitzigen Moment von Diana und Erika abgekoppelt hatte, hat sie sich von ihrem Gatten getrennt, als sie den Eindruck gewann, dass Erika wieder auf den Beinen war, dass sie nicht mehr kopflos vom Buddhismus zum Protestantismus und vom Zen zur Orthodoxie wechselte; sie nährte die Leere in sich, anstelle von Augen eine Kamera. Auch Erika hat Männer gewechselt, es ist eine große Portion starker Wille nötig, um einem Herrn zu dienen. Der Prophet mochte die Drei der Christen nicht, die Vier ist eine göttliche Zahl, und der Islam erlaubt vier Frauen, und will man die Echtheit von etwas bestätigen, müssen vier Beweise vorgelegt werden. Diana hat ihr Leben mit nur einem Mann gelebt. Ohne ihn wäre sie verloren gewesen, und er wäre verloren gewesen ohne sie. Am Ende waren sie miteinander verwachsen, obwohl jeder im eigenen Zimmer schlief.

Birgits Gereiztheit steigt, verfestigt sich, wird durch die Mehlschwitze der Verstimmung immer dickflüssiger. Beklemmung peitscht sie an wie einen wildgewordenen Kreisel. Sie sollte zu Hause hocken und schreiben. Schreiben muss wie ein Schnitt mit dem Messer sein. Eine in die Hand gestochene Schere. Ein Glas, das man mit der Hand zerdrückt; die Splitter sollen sich andere aus dem Fleisch ziehen. Der Körper geschunden, der Speichel giftig. Diana hat sich den Trick mit den Kursen ausgedacht, Birgit war dagegen; Kurse mit wohlhabenden und angeödeten Schreiberlingen, die in Krisensituationen als erste wegfallen, die denken, es reiche, einen Satz zu fabrizieren, und fertig ist die Laube, all die vollgeschriebenen Seiten, die sie ihr persönlich zugeschickt haben wie Salatköpfe aus ihrem Garten, ein ganzer Koffer voll, alles Müll, taubes Gestein, Berge von Schmuddelseiten, geschändete Sprache, hungrig – nicht auf Denken und Schreiben, sondern nur auf ein veröffentlichtes Produkt, sie füllen Muster aus und töten Literatur, das tut Birgit in der Seele weh. Ins Leben eingemummelt Worte wie rohes Ei aus der Schale schlürfen.

Birgit nippt an ihrem Getränk und schluckt eine Chilischote herunter. An solchen Tagen kann sie nicht schreiben. Sie ist von Viren verseucht. Vom Schreiben Anderer kontaminiert. Sollen sie sich im Verlag doch jemand suchen, der ihre handgeschriebenen Texte abtippt. Der soll dann referieren, zerschnitten von Birgits Worten, um die sie niemanden gebeten hatte. Soll der eine verwirrte Interpretation liefern von dem, was ihr Körper verfasst hatte. Birgit ist unfassbar. Das Leben ist unfassbar. Du drehst durch, das geht ganz schnell. Ich drehe durch, das geht ganz schnell, Birgit streut noch mehr Chilipulver über ihre scharfe Mischung. So viele Themen, die ihr begegnen, und so viele Möglichkeiten, sie zu bearbeiten und zu verändern, sie abzuschmatzen und zu umwerben, zu vergewaltigen, umzuschmelzen und zur Strecke zu bringen, sie zu spalten und in ihnen herumzuwühlen wie mit dem Zeigefinger in einer Wunde. Leben in die Wunde hineinbröseln, Leben, das stockt und herumschleimt und den Schmerz für sich deklariert. Salzen, pfeffern, würzen. Den eigenen Körper in magere rosa Fleischscheiben schneiden und zwischen die Seiten kleben, was kann ich dafür, dass ich zu schnell und zu intensiv bin, dass ich so viele abstoßende und anziehende Formen besitze, von denen alle echt und wahr sind, was kann ich denn dafür, dass ich klug geboren wurde, »Ich bin klug geboren«, soll Marie Olympe de Gouges gerufen haben, als man sie 1793 zur Guillotine schleifte; sie wurde hingerichtet, weil sie gefährlich war, Bürger zweiter Klasse sollten die Klappe halten, statt zu schreiben, sie hatte die Schreckensherrschaft der Jakobiner kritisiert, ihr habt mir den Krieg erklärt und den könnt ihr haben; dieser Krieg ist nicht zu Ende, und der Teil von ihm, der zu Ende gebracht wurde, ist zum größten Teil verloren. Nachzugeben ist nicht gut. Das Leben ist bunt und wild, ausgelassen und unlesbar, die Literatur unfertig und uneindeutig.

Birgit mag Wörter wie Wurm und Faden. Das Wunder von Wörtern, die sich entpuppen. Sie stolpert über fremde Wörter und über Erika, die intuitiv handelt, zart ist und verletzlich, und die so gerne eines Tages als Erwachsene aufwachen möchte, so gerne. Sie stolpert über fremde Wörter. Sie wäscht sie ab. Sie stolpert über den eigenen Körper und über die Körper der beiden anderen. Siamesische Drillinge. Sie hätte allein bleiben, sich abkoppeln müssen; sie hätte nicht zurückkehren dürfen.

Für die Rückkehr zu Quartalsorgasmen ist es jetzt auch schon zu spät. Ihr Fleisch ist vertrocknet und geräuchert wie ein Stockfisch.

Die Stimmung an der Theke ändert sich. Die Sonne tritt einen Schritt zurück, macht Platz für einen Körper, der soeben den Raum betritt. Der Perlenvorhang wogt. Seine Fransen fingern am Körper herum, herzen ihn. Alles an diesem Körper ist lang. Die bunten Schlangenschnüre saugen sich mit Klauen und Zähnen an den Rundungen fest. Die Hüften stecken in engen Jeansröhren mit Ritzen an den Knien. Die Wunden im Denimstoff verlaufen geradlinig, die fadenförmigen Narben sind weiß zerfranst. Feste runde Brüste lugen aus dem weißen Ausschnitt hervor. Ein Spitzen-BH wirft Falten. Die offene Lederjacke ist schwarz.

»Wonderbra«, sagt Erika ruhig.

»Du bist nicht komisch.«

»Doch.«

»Bist nie komisch gewesen. Kannst dein Kreuz ruhig öffentlich streicheln.«

Erikas Hand zuckt. Die Hand hat eine Ohrfeige bekommen.

Birgit ist gereizt. Erikas gute Laune frisst die Reste ihrer guten Laune auf. Die Stimmung hat sich geändert. Verlangen und träge Spannung hängen in der Luft. Die männlichen Körper werden mit der Körperlichkeit der jungen Frau abgefüllt. Sie weiß schon, worum es geht, jetzt schon. Jedes Mädchen, das sich am Ufer des wilden Flusses zwischen Kindheit und Frausein einfindet, wird von der eigenen Körperlichkeit überrascht. Die heftig ist und heiß, verletzlich und mächtig. Verlegen blickt der Verstand auf den eigenen Körper herunter, erkennt ihn nicht wieder. Schickt die Augen auf Erkundung, gibt die Marschrichtung vor: Spiegel.

Birgits Blick springt vom Körper der jungen Frau zur molligen Erika. Als wären wir ausgemustert aus dem weiblichen Geschlecht, denkt sie. Erotik ist empfänglich für Schönheit und Frische. Liebe, die ist anders, für Liebe gilt das nicht.

Diana, die Dompteuse, wäre sicher anderer Meinung. Diana spricht nur über die Seele. Dabei hat sie ihr ganzes Leben lang ihren Körper gepflegt. Wäre Diana hier, würde sie alles vereinfachen und die Aufmerksamkeit auf die Svadhisthana, die Sakralchakra lenken, die nach ihrer Auffassung die Leidenschaft und Sexualität bestimmt, sie würde sagen, dass junge Frauen orangefarbenes Licht schluckten und es gleichzeitig ausstrahlten, entweder leuchteten sie orange oder ihre Chakra sei blockiert. Birgits Gereiztheit steigt, sie hat genug von Dianas und Erikas ganzem Unsinn und Quatsch. Und sie hat genug von den Reihen unreifer Individuen, die sich für gebildete Erwachsene halten; statt sich fünf Minuten Zeit zu nehmen, in sich zu gehen und an sich selbst zu arbeiten, was in der Tat ein harter Job wäre, erträumen sie sich einfache Verordnungen und Gebrauchsanweisungen, laufen abwechselnd zu Coachs, Göttinnen und Göttern, schwanken zwischen Sünden, Strafen und Ablässen, Fernsehquizsendungen, exotischen Ländern und teuren Sitzungen bei Beichtvätern, Hexen, Astrologen und Hellseherinnen, bis sie in Kursen wie Instantglück und Unter Aufsicht der Engel meine Wünsche zum Ausdruck bringen enden. Sobald sie ihre höllisch teuren Seminare absolviert haben, quälen sie ihre Partner, Kinder, Mitarbeiter. Wohin führt bloß der einfache, gradlinige und bedingungslose Weg der Menschenliebe, Heilige Erika? Birgit würde den Menschen Worte vom Tisch des Herrn auf die Zunge legen, Worte, die kränkeln. Und die Menschen müssten sie herunterschlucken. Worte wie Freundlichkeit, Gutherzigkeit, Respekt vor den anderen, Empathie. Zum Beispiel. Worte, die niemand haben will, die niemandem schmecken und die nichts kosten.

Die junge Frau ist wunderschön. Wie eine Statue, wie eine Puppe; wie ein Kind, ein herrliches, frühreifes Kind, sieht sie sich im Grenzgebiet um, wo mit dem aufziehenden Mittag die morgendliche Frische schwindet, schon häufen sich die Spinnweben der Weiblichkeit, es ist bereits eine Minute vor zwölf.

Honigfarbene Haut.

Aber ihre Schönheit wird von unterschwellig Primitivem geschmälert. Sie weiß viel zu gut, wie schön sie ist. Ohne dieses Wissen wäre sie eine unbezwingbare Waffe, ein ungelenktes Geschoss, unzerstörbar, weil naiv. Es ist nicht einmal ihre Unschuld, die nach Schändung ruft. Es ist ihr Wissen darum. Und ihr Kalkül. Glänzende Männeraugen im Raum starren sie an, die Körper angespannt, die Gedanken gefesselt, in ihrem Kopf eignen sie sich die Frau bereits an. Denn dieses Wesen setzt ihnen keinen Widerstand entgegen und wird sie trotzdem beherrschen.

Die junge Frau steuert auf den Restaurantbesitzer zu. Huscht an der gemauerten Theke vorbei. Beachtet die anderen Männer nicht. Aber sie weiß um ihre Blicke. Ihr Körper weiß darum. Sie tuschelt mit dem Besitzer. Zum Abschied küsst er ihr galant die Hand. Ihr Verschwinden katapultiert den Raum in graue Verzweiflung über verwirkte Lebensentwürfe und unbezahlte Rechnungen. Die zu Hause im Briefkasten lauern.

Nein, sie kommt zurück.

Der Raum atmet erleichtert aus. Der Honigkörper rauscht federnd auf die Toilette. Ihr Blick streift zwei alte Tanten am runden Tisch in der Ecke. Unverhohlen und mit Genuss starrt die eine sie durch ihre Gleitsichtbrille an. Die andere nippt am Kaffee und hält sich am Anhänger ihrer Halskette fest; die Kette schneidet ihr ins Fleisch, versinkt in der Teigmasse des Doppelkinns. Die großen Augen der jungen Frau behalten die beiden älteren Frauen kurz im Blick, um sie gleich wieder loszulassen, wie ein Geiger, wenn er pizzicato spielt, eine Sekunde lang, nicht länger. Eine Sekunde Staunen. Eine Sekunde Ewigkeit. Ein Bild nach dem anderen, eine Scheibe Fleisch nach der anderen, Blinzeln für Blinzeln. Staunen lässt ihren Blick stolpern. Zwischen ihren Mundwinkeln nistet sich eine Prise Spott ein, unbewusste Verachtung darüber, dass die zwei nicht geschafft haben, was sie bombensicher schaffen würde, sie wird ihren Körper mit seiner ganzen Schönheit, Jugend und Strahlkraft behalten. Sie schiebt sich die Strähnen ihrer langen, durch einen Mittelscheitel geteilten Haare hinter die Ohren; ein Theatervorhang hebt sich. In ihren Ohrläppchen blinzeln Ringe auf.

Ein Aufleuchten, dem Birgit in derselben Sekunde folgt. Winzige, aus bunten Gläsern zusammengesteckte Stiere, ein Mosaik von Gaudí. Ein Stück Spanien im Ohr einer Jugendlichen, eines Mädchens, einer Frau.

Warum sagst du nicht im Ohr eines Menschen. Darum, antwortet Birgit barsch Dianas unhörbarer Stimme. Darum, Mutter.

Das blonde Trugbild lässt sich nicht einmal durch den verzückten Starrsinn des Perlenvorhangs aufhalten, der sich um ihre Schultern windet; er folgt ihr auf die Straße, fällt erschrocken rasselnd zurück. Im Raum wird es laut wie in einem Bienenstock. Auch die bis dato Schweigsamen wenden sich an den Besitzer, vibrieren, plappern in ihrer Muttersprache, feilschen wie auf dem Markt, drücken ihm Banknoten in die Hand. Das Blut wallt. Der Besitzer sammelt Geld ein. Er ist entschlossen, ein sympathischer Mann, der weiß, was er will. Nur Birgit und Erika bedient er jetzt lau. Nicht einmal das fette Trinkgeld entlockt ihm ein Lächeln. Er ist mit den Gedanken woanders.

»Das Essen war ausgezeichnet.«

Erika will sich mit Birgit versöhnen. Die schweigt. Erika steht auf. Humpelnden Schrittes will sie beim Besitzer das Rezept erfragen. Birgit tritt rasch durch den Perlenvorhang auf die Straße. Die roten und orangefarbenen Fransen werfen sich ihr gehässig um den Hals. Sie lassen sie durch, an ihrem Körper sind sie nicht interessiert.

Birgit beobachtet die Straße. Durch die Reihen von anderen Körpern schiebt sich gutgelaunt eine hochgewachsene, schlanke Blondine. Sie elektrisiert die Umgebung. Schönheit, denkt Birgit. Honigfarbene Schönheit. Jetzt in diesem Moment. Sie weiß das. Sie weiß, worauf die Welt anspringt. Was nicht in der Schule unterrichtet wird, worüber man in der Schule nichts erfährt. Sie hat einen Liebhaber, sie hat schon Liebhaber. Wenn Schönheit erhalten bleiben soll, muss sie täglich zertrümmert werden, kaputt gemacht und gleichzeitig durch die Zerstörung genährt werden. Damit sie lebendig bleibt. Schön.

Birgits Eingeweide verklumpen sich. Als hätte jemand in sie reingespuckt. Hinter ihr setzen sich Perlen in Bewegung.

»Das Haus gegenüber ist es, es gehört ihm, die unteren Wohnungen vermietet er, das obere Stockwerk hat er für sich allein. Nicht schlecht ausgedacht, das Ganze.«

»Ich dachte, du wolltest nach dem Rezept fragen.«

»Habe ich auch. Ich wollte nach hinten ins Büro.«

Erika reicht Birgit das hingeschmierte Rezept. Darunter hält sie in ihren krummen Fingern den Reisepass des Restaurantbesitzers.

»Diana wird sich freuen.«

Birgit schiebt das Dokument in ihre Handtasche. Zu dem weißen Brillenetui aus Leder. Bevor sie die Handtasche verschließt, öffnet sie den Pass, labt sich am Foto. Ein hübscher Mann. In den besten Jahren. Der Mann, der sie bedient hat.

»Ein Mann in den besten Jahren«, sagt Birgit.

»Für das Mädchen sind es sicher nicht die besten.«

Wer weiß, schießt es Birgit durch den Kopf. Mit dem Zeigefinger tippt sie auf den Namen des Mannes. Yusuf. Ein ansehnliches Gesicht mit festem Kinn. Die Augen eines Habichts, zwitschernde Wachtelstimmen. Sie alle führen ihr eigenes, unabhängiges Leben. Vielleicht kommt es davon, dass er weiß, dass dies die besten Jahre seines Lebens sind. Aber er hat sich das Leben anders vorgestellt.

Birgit klappt die Handtasche zu und reibt sich vergnügt die Hände.

»Die Bachstelze ist im Sack.«

»Und nun?«

»Erst Diana fragen. Sie müsste schon zu Hause sein.«

*

Hinter dem Rücken eines älteren Professors tritt der Ermittler von einem Bein aufs andere. Der Arzt mit dem Falkenblick beschäftigt sich sein Leben lang mit Erhängten, die er liebevoll meine Hängepuppen nennt. Der Arztrücken beugt sich über die Fotos des sympathischen, athletischen Mannes. Mit gewandten Fingern mischt er die Karten, schiebt die Ganzkörperaufnahmen zur Seite. In Reichweite der Augen, der Lupe und des Mikroskops behält er lediglich die Vergrößerung der zwei Rillen am Hals. Die eine ähnelt einem Gartenschlauch, die zweite ist auch in Nahaufnahme und unter der Lupe kaum zu sehen. Eine dünne Geigensaite. Der Rücken sagt, die pfeilgerade Furche sei in der Tat ungewöhnlich, sie könne ein Hinweis darauf sein, dass der Mann noch vor der Erhängung erdrosselt wurde. Mit Sicherheit lasse sich das aber nicht sagen. Jedenfalls liege keine Brutalität darin, sondern eine Art dekadente Sanftheit, und wäre es kein Widerspruch, könnte man sagen, der Mann sei mit extravaganter Liebe umgebracht worden. Erneut mischen die Finger den Kartenstapel durch. Der Rücken fragt, mit welchen Beweisen der Ermittler seine Hypothese stützen könne, dass dem Körper bei der Erhängung jemand behilflich gewesen sei.

Der Ermittler sagt die Wahrheit. Beweise habe er keine. Nur Intuition. Die halte ihn bei dem Fall. Es liege nichts Genaues vor, nur ein Ziehen im Unterleib, das reiche natürlich nicht. Am Körper des Mannes habe man keine Anzeichen von Gewalt gefunden, er sei nicht angegriffen worden, er habe nicht kämpfen müssen. Und seine hübsche Frau sei …

Der Rücken zügelt das eifrige Mundwerk. Keine Details über den Toten. Diesen Fehler habe er am Anfang seiner Karriere gemacht, sagt er, als er die Leichen fachmännisch untersuchte und danach überflüssige Einzelheiten einsaugte. Manchmal tat ihm der Körper leid, manchmal ergötzte er sich daran, dass dem Körper ein gerechter Tod zuteil geworden war. Mit derartigem Emotionsmüll wolle er sich nicht mehr belasten. Er interessiere sich für den Wald, nicht für das Holz und die Späne.

Der Ermittler lenkt das Gespräch vom Toten auf sich. Sein Vorgesetzter möchte den Fall ad acta legen, aber er habe Bedenken, der Kollege kenne ja sicher den unter den Polizisten so beliebten Spruch: Wenn man für jeden unentdeckt gebliebenen Mord nur eine einzige kleine Friedhofskerze anzündete, entflammten binnen einer Sekunde alle Gottesäcker der Welt wie eine einzige riesige Feuerwerkrakete. Er brauche Zeit. Und die könne er nur dann gewinnen, wenn der Kollege ihm helfe, eine Erlaubnis für die detaillierte Untersuchung des Tatorts und eine weitere Obduktion zu beantragen …

Der Ermittler spricht die ganze Zeit zum über die Fotos gebeugten Rücken. Die Vorbeuge wird tiefer, die Hand tastet nach der Lupe. Die Augen wenden sich einem dünnen Haar zu, das sich auf Höhe des Adamsapfels um den Hals schlängelt.

Er wisse, sagt der Ermittler, dass seine Annahmen auf tönernen Füßen stehen, es sei mehr eine Ahnung als Gewissheit, vielleicht sei es Selbstmord, vielleicht aber auch eben nicht … Der gekrümmte Rücken antwortet nicht. Die Hand greift nach einem Formular, in glatten blassen Fingern quietscht ein Stift, füllt sorgfältig schwarze Spalten aus, fügt eine unleserliche Unterschrift mit Spinnenfüßen hinzu.

Der Ermittler unterdrückt den Wunsch, die Arme um den Falkenrücken zu schlingen.

Pilger, Nacht für Nacht. Der Ermittler tritt in die Nacht wie Humphrey Bogart in den Film noir. An der Haltestelle klingelt eine Straßenbahn. Aus der offenen Tür purzelt ein Körper auf das Kopfsteinpflaster, zwei Securitymänner mit Armbinden verpassen ihm einen Fußtritt, sprühen ein grünes Kreuz auf seinen Rücken. Erneutes Klingeln. Flott springen die Sicherheitsleute in das startbereite Gefährt und reden fröhlich auf das lächelnde Gesicht der Tramfahrerin ein. Die Straßenbahn zuckelt los. Den grünbekreuzten Körper räumt die Arbeitskolonne eines vorbeifahrenden Lastwagens weg. Von der Ladefläche fährt eine riesige Schaufel aus.

Der Ermittler läuft der Straßenbahn und dem Lastwagen davon. Die Stadt hat verfügt, dass Obdachlose in keiner Straßenbahn, keinem Bus oder Zug, keinem Taxi, keinem Krankenwagen und keinem Polizeiauto sitzen dürfen, damit sie die Fahrgäste nicht mit ihrem höllischen Gestank belästigen. Die Stadt hat verfügt, dass Zugereiste und Asylbewerber sich so lange nicht frei bewegen dürfen, bis sie die Namen aller Bewohner der Republik seit ihrer Gründung 1918 auswendig gelernt haben. Der Ermittler hat einen Brief geschrieben, ehrgeizige Anzugträger, mit teuren Cremes beschmiert und mit Billigparfüms begossen, stänken ebenfalls, auch ihnen müsse daher der Zutritt verboten werden. Und Schwarzen und Juden auch, das habe sich doch schon mal prima bewährt.

Der Brief blieb unbeantwortet. Der Ermittler wurde von seinem Vorgesetzten vorgeladen, im Gespräch ging es so vorsichtig zu, als schnitte man Honig. Der Ermittler wurde versetzt.

Der Ermittler legt einen Schritt zu. Er trabt, den Geruch der Stute in den Nüstern, ihre helle Mähne vor den Augen. Der Körper freut sich über das brodelnde Blut, pumpt es in die Wangen. In Gedanken an die erahnte Lauren Bacall am Stadtrand. Er läuft an Nachtvögeln, Stadtstreichern, seltsamen Käuzen vorbei. Keine gute Adresse. Die Stadt ist klein, sie hat weder gute noch schlechte Adressen. Metallener Himmel und industrielle Schönheit. Er lehnt sich an die Wand des Mietshauses, in dem er wohnt. Steckt sich eine Zigarette an. Aus dem Schatten der Mülltonnen schält sich ein humpelnder Obdachloser heraus. Der Ermittler gibt ihm Feuer. Und schenkt ihm seine Jacke. Der Obdachlose zieht sich um, stopft den Mantel mit dem grünen Kreuz auf dem Rücken in die Tonne, verneigt sich und kriecht in seinen Unterschlupf zurück.

Zuhause legt der Ermittler Bob Dylan auf. Die kratzige Stimme seiner späteren Jahre erinnert ihn an Tom Waits. Den mag er. Die Wohnung passt nicht zum Ermittler. Sie passt nicht zu dem Wort Ermittler. Sie passt zu Wörtern wie wilder Junge oder geradliniger Mann oder Mensch, der nicht aus dem Staunen über die Welt herauskommt. Mit welchen Wörtern stimmen wir eigentlich überein? Welche Wörter kleben wir uns selbst an und welche schmiegen sich im Laufe des Lebens ganz von alleine an uns, obwohl wir sie hassen, sie wegscheuchen, mit ihnen Blindekuh spielen und sie von unserer Haut pulen? Mit spöttischem Gelächter holen sie uns ein. Der Ermittler putzt sich im Badezimmer die Zähne. Im Spiegel huscht ein durch Hunderte ovaler Tränen vervielfachtes Bild vorbei, Abglanz goldener, zu einem Dutt hochgesteckter Haare und einer kleinen, sich rümpfenden Nase. Im Waschbecken seift er den Ringfinger an seiner linken Hand ein, streift den Verlobungsring seines Großvaters samt Seifenblasen ab, spült ihn mit warmem Wasser sauber und deponiert ihn im Schränkchen über dem Waschbecken.

Er kann nicht schlafen.

Er schenkt sich ein Gläschen eisgekühlten Wodka ein. Zwei Gläschen. Drei. Breitet seine Notizen auf dem Tisch aus. Und einen Artikel, unterschrieben mit den kratzigen Silben Bir-git Stadt-herr-ová.

*

Yusufs Reisepass wandert von einer Hand zur anderen. Seine schwarzen, gütigen Augen gefallen ihnen. Das jugendliche Antlitz. Die vollen Lippen und das rabenschwarze, kurzgeschorene Haar.

In groben Zügen legen sie das Mosaik des Tages zusammen. Soweit es ihre Zungen erlauben. Die Zunge hindert einen daran, die Wahrheit auszusprechen, obwohl sie nicht lügt. Worte taugen nur bis zu einem bestimmten Punkt, Worte dienen dem Intellekt. Wie übersetzt man eine gelebte Sekunde? Für Gefühle, Spiegelungen des Unterbewussten, Intuition und Körpersprache sind Wörter nicht gemacht. Dem Aufleuchten in den Augen, wenn sich Erfahrungen voriger Jahrhunderte mit just diesem Moment verbinden, dem kommen sie nicht bei; das kann nur eine Schwalbe.

Brustkörbe und Bäuche weiten sich. Schultern recken sich. Die Luft rasselt, durch einen Tunnel zwischen Schultern und Nabel rast eine Flutwelle. Das Zwerchfell arbeitet.

Diana hat ihnen das Alphabet der Situationen beigebracht, die ihnen das Leben in den Weg legt. Diana hat kein Vertrauen zur Sprache, sie lenke die Aufmerksamkeit von der Sprache des Körpers ab, der nicht lügen kann. Für die Lüge ist die Zunge nur ein Mittel.

»Was, wenn herauskommt, dass das Mädchen, diese Julie, lügt? Das hier ist anders. Die gehen freiwillig hin.«

»Ich glaube ihr. Ihre Worte lügen nicht.«

»Aber Zeitungen lügen. Und du weißt sehr gut, wer den Daumen auf die Medien hält.«

»Man hat ihre Aussage zitiert.«

»Sie gehört einer anderen Generation an, die ich nicht beschützen kann. Das muss sie selber tun. Die jungen Leute werden von aggressiven Körpern aus Filmen attackiert. Die aus dem Internet schwappen, auf sie zurollen, jeder kann dort hin, jeder hat Zugang zu Pornos und zu der Vorstellung, aggressiver Sex oder Erniedrigung seien eine adäquate Form des Liebemachens. Vielleicht finden sie es schön. Vielleicht sind sie nur neugierig. Und finden es reizvoll. Das ist kein Fall für uns. Lasst uns aufhören.«

»Nein.«

»Wir lassen uns nieder. Am Meer. Im Norden. Auf einer Insel.«

»Nein.«

»Ich will kein Yoga mehr mit anderen machen. Mein Körper braucht mich.«

»Nein.«

»Erika, warum hast du dich so versteift auf diese Honigfarbene, auf Honey?«

Erika antwortet nicht. Sie legt Musik auf, die mit Regentropfen verschmilzt. Svalernes flugt, Flug der Schwalben, der norwegischen Komponistin Agathe Backer-Grøndahl, ein Werk aus nur zwanzig Takten, auch diese Schwalbe macht noch keinen Frühling. Diana spießt Erika mit dem Blick auf, brät sie im verbrannten Öl der zusammengekniffenen Augen kross. Erika zuckt zusammen. Rasch wählt sie eine andere Musik aus, Les Hirondelles, die Schwalben, von Benjamin Godard, charmante Schwalben, lebenstüchtig, heißblütig, oj oj. Auf der Fensterscheibe hüpfen Wassertropfen. Die Töne lassen sich auf ihrem Rücken nieder. Sie waschen einander rein.

Diana blickt in den Himmel.

In der Nacht deckt sie die zwei schlafenden Körper zu. Beobachtet ihre Gesichter. Die Vergangenheit kommt vor Tagesanbruch zu Besuch. Kickt die Tür auf, schleudert den schweren Mantel zur Seite. Darunter ist sie nackt. Den Morgen können sie überlisten, indem sie aufstehen, noch bevor es tagt.

Körper zerbrechlicher als Vogelkörper. Zerbrechlicher als der Herbst. Staub im Gesicht.

Es wird nie aufhören.

Denn Birgit ist keine Schwalbe mehr. Birgit ist ein Eisvogel, alcedo atthis, allein und leise hockt sie im Wind über dem Wasser; wenn sie Vertretern ihrer Gattung begegnet, fühlt sie sich bedroht, will den anderen verscheuchen, in den Rücken picken, bis der Verletzte endlich wegfliegt, aber auch dann folgt sie ihm eine Weile, bevor sie zu ihrem Platz zurückkehrt.

Diana streichelt Birgits Wange. Über Erikas Stirn malt sie ein Kreuz in die Luft, einen Kreis und eine Raute.

*

Der Ermittler streitet sich mit seinem Vorgesetzten. Normalerweise kann man sich auf den Vorgesetzten verlassen. Aber sobald es brenzlig wird, macht er einen Rückzieher. Wenn alles gut ausgeht, schreibt er sich den Verdienst zu. Er wedelt dem Ermittler mit einem Stoß Papier unter der Nase herum, signiert von der ärztlichen Falkenautorität. Persönlichkeit. Solche erpresserischen Manieren halte er für eine Verschwendung von Kräften der gesamten Abteilung und für einen Verstoß gegen die Stabskultur und Disziplin. Gut, der Ermittler brauche nicht mit der Straßenbahn zu fahren, aber das hier sei das letzte Mal. Der Fall hätte jetzt schon, verdammt noch mal, ad acta gelegt werden können. Nun komme man am Dienstweg nicht mehr vorbei. Jetzt hieße es nämlich nicht mehr »wir schließen den Selbstmordfall«, Schätzchen, sondern »wir schließen einen Selbstmord aus«, daher dalli dalli. So ein ehrenhafter Idiot, entfährt dem Vorgesetzten, als der Ermittler aus der Tür schießt. Aber wie wird man so jemand los, wie scheucht man den fort?

*

Surya Namaskar, Sonnengrüße, ein Auf und Ab von Wirbelsäulen. Erika frühstückt ein Gebet.

Der Sommer neigt sich sichtbar dem Ende zu.

Diana verlässt den Übungsraum.

Im verwaisten Flur warten drei Männer. Sie sind nicht zum Yoga gekommen. Haben Kunststoffmappen mit gezackter Flügelwelle am Rand mitgebracht und ein paar Zahlen. Einer der Männer reicht Diana einen bearbeiteten Taschenspiegel. Dreht ihn um und erklärt etwas. Diana nickt. Die Männer verabschieden sich. Diana steckt den zur Kamera umfunktionierten Spiegel in die Tasche.

Sie rollt eine knallgrüne Matte zusammen, eine weiße Schnur. Eine Stunde Pause. Sie geht durch das verglaste Gebäude. Hinter den Türen erklingen Gesang, Musikinstrumente, Lachen, Stampfen, unverständliche Wörter.

In der Kantine im Erdgeschoss trinkt sie einen frisch gepressten Orangensaft. Wühlt lustlos in mit Öl und Basilikum besprenkelten Tomaten- und Mozzarellascheiben herum.

Und da kommen sie auch schon.

*

Der Ermittler springt zusammen mit anderen Männerkörpern aus dem Auto und dringt in das weitläufige gläserne Nest am Stadtrand von Prag ein. Der Regen hat aufgehört. Nicht einmal am Ende des Sommers ist der Garten fertig. Schwere Stiefel versinken im Schlamm, kleine Tümpel bleiben zurück, die sich mit trübem Wasser füllen, eine Schicht schmieriges Etwas klebt an den Schuhsohlen. In der Eingangshalle verdrecken die Männer den Boden, verlegen ziehen sie die Schuhe aus. Vorsichtig setzen sie die graubesockten Füße auf. Der Ermittler ist überrascht, wie sehr sich sein Körper freut, wieder am Tatort anzukommen. Mehr als sonst. Seine Leute purzeln durch die Räume, stoßen gegen Wände und Möbelstücke. Am längsten halten sie sich auf dem Dachboden auf, den man in diesem Haus Loft nennt. Erneut nehmen sie Fingerabdrücke, fegen unsichtbare Fäden zusammen, schaben Musterproben ab. Genauso wie sie die Leiche des Mannes abgestaubt, ihm Fäden unter den Fingernägeln weggepult haben. An der Eingangstür und an der Tür des Arbeitszimmers taucht die Kontur einer Muschel auf, derselben Muschel. Der Umriss eines menschlichen Ohrs, das sich lange an die Tür gepresst hat. Zweimal wurde dasselbe Ohr als Stethoskop an die Lunge des gläsernen Hauses gedrückt.

Vor dem Haus hält ein silbernes Auto. Die junge Witwe beobachtet muskulöse Bergsteiger, die sich vom Dach abseilen und Zentimeter für Zentimeter von außen die gläserne Fläche bestauben. Unter ihren Händen schälen sich inmitten eingetrockneter Regentropfen Einrisse hervor, zarte Konturen, blühende Blumenköpfe. Männerkörper hängen in der Luft und suchen nach Spuren, als unterstellten sie dem Haus etwas Unlauteres. Aus dem Vogelschwarm auf den Telegraphendrähten hinter dem Haus löst sich eine Schwalbe, fliegt im großen Bogen über die Ermittlerköpfe und kehrt zu ihren Freundinnen zurück, sie zwitschert, gibt den anderen eine Nachricht durch. Pfeilschnell suchen sich die kleinen schwarzen Körper auf den Notenlinien einen neuen Platz.

Die Frau steigt aus dem silbernen Auto. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet. Nach dem gestrigen Platzregen ist der Himmel über ihr blank.

Der Ermittler entschuldigt sich. Mehrmals hintereinander. Er bittet um Entschuldigung für die Entschuldigung. Sie klingt nett und entgegenkommend, sie habe ihn doch selbst eingeladen. In enger schwarzer Hose und schwarzem Pulli mit V-Ausschnitt steht sie breitbeinig auf hohen schwarzen Absätzen da. Die Augen des Ermittlers verirren sich zu den erotisch hohen Pumps. Und zum rubinroten Lack der langen Fingernägel. Rubine fliegen durch die Luft. Blutspritzer. Sie sei nur seinetwegen hergekommen und habe Verständnis, dass das Haus versiegelt worden ist, sie sei bei einem Freund untergekommen, also bei einem Kumpel, gerät sie ins Stocken. Ein guter Bekannter von ihr sei das, schwul, eigentlich kenne sie ihn nur oberflächlich vom Yoga, alle gehen zum Yoga und fahren nach Indien, viel bringe das zwar nicht, obwohl für einen Moment schon, ja, womöglich sei das nicht einmal Yoga, aber besser als nichts, jedenfalls habe ihr dieser Kumpel angeboten, bei ihm zu bleiben, das heißt sich in seiner Höhle zu verkriechen, zu Verwandten habe sie nicht gehen wollen, sie reden über nichts anderes als über das Unglück, weinen und dramatisieren alles, und dazu noch die Journalisten und die Freunde ihres Mannes und all die Exfrauen und Kinder und Kindeskinder, alle wollen wissen, wie es mit der Beerdigung und mit der Erbschaft aussehe, aber darum müsse sich ihr Anwalt kümmern, was könne sie denn dafür, dass sie Alleinerbin sei, dafür könne sie nun wirklich nichts, sie sei ganz durch den Wind.

Sie fürchtet sich und war erleichtert, mich zu sehen, denkt der Ermittler. Ich bin schwer zu greifen und außerdem nicht eifersüchtig, sagt er zu ihr, als litte er an einer ansteckenden Krankheit. Etwas Eifersucht gehört bei Liebe dazu, erwidert sie und fängt noch mitten im Lächeln an zu weinen.

Der Ermittler verhört Verwandte und Freunde des Mannes, rekonstruiert die letzten Tage eines fremden Lebens. Der Erhängte hielt die Zügel seines Lebens fest in der Hand, saß selbstbewusst im Sattel. Bis auf den kleinen Fleck auf der Weste, den die Polizei ja weggeschrubbt hat. Ein paar ehemalige Sekretärinnen zeigten ihn an. Eine von ihnen hatte sich bereits vor Jahren an die Polizei gewandt, aber damals verlief alles im Nichts, die Sache wurde vertuscht, der Mann verfügte über unerschütterliche Kontakte, jagte der Frau Angst ein. Erst als alle Betroffenen eine Sammelklage einreichten, kam der Fall vors Gericht.

Das Drehbuch war immer gleich. In der Firma fasste er die Frauen an. Protestierten sie, griff er zu Gewalt. Er behandelte sie wie Dinge. Auf Dienstreisen erwartete er Beischlaf. Lehnten sie ab, bedrohte er sie oder verpasste ihnen gleich ein paar leidenschaftliche Ohrfeigen. Seine Mäuse fing er mit Speck, danach begann die Diät. Eine vergewaltigte er direkt im Büro. Aber von der weißen Weste ist der Fleck weg, das Strafregister ist rein.

Der Ermittler will nichts übergehen, nichts ausschließen. Er lässt die Frauen vorladen. Aus der langen Jungfernprozession wird er nicht schlau. Die Frauen sind schön und schweigen eisern. Sie seien jung und dumm gewesen, sagt eine nach der anderen. Manche tragen Trauer. Manche weinen verzweifelt, fühlen sich mitverantwortlich für den Selbstmord. Manche behaupten, den Mann geliebt zu haben. Manche hätten nie wieder so guten Sex erlebt. »Sex ist Freude«, habe er gesagt, und so stellte jede von ihnen einen Beitrag zu seiner Freude dar. Ein Hengst sei er gewesen, galant und immer bereit, sagt eine dem Ermittler, solche Männer werden nicht mehr geboren.