Ein Bestatter zum Verlieben - Anika Bischoff-Borrmann - E-Book

Ein Bestatter zum Verlieben E-Book

Anika Bischoff-Borrmann

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Beschreibung

Marina Taube ist 40 Jahre alt, arbeitet in einem Kaufhaus und ist seit ein paar Monaten wieder Single. Als sie an einem verregneten Samstag ihre beste Freundin Tammy auf eine Beerdigung begleitet, lernt sie zufällig einen Mann kennen. Gut gekleidet, charmantes Lächeln, schöne Augen und im Gesicht trägt er einen auffälligen Zwirbelbart. Erst später begreift sie, dass dies der Bestatter gewesen war. Wie sehr der Mann sie innerlich aufwühlt, merkt sie spätestens dann, als er plötzlich im Kaufhaus vor ihr steht. Finn Fliege ist 46 Jahre alt, geschieden, Vater eines 16-jährigen Sohnes, Single aus Überzeugung und obendrein Bestatter. Überraschenderweise trifft er während einer Beisetzung auf eine Frau, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Bald merkt er, sich auf Gefühle einzulassen ist gar nicht so einfach. Ausgerechnet als sein Herz sich öffnet, zeigt sich das Leben von der chaotischsten Seite.

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2023

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~ Anika Bischoff-Borrmann ~

Ein Bestatter zum Verlieben

Eine Bestatterliebesgeschichte

© 2023 Anika Bischoff-Borrmann

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 9783734717413

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt

Kapitel 1

~ Marina ~

Six feet under habe ich nie gesehen, überlegte ich, während sich mein Mund nachdenklich kräuselte. Jetzt regnet es auch noch, schoss es mir durch den Kopf, als ich die trauernde Runde, die sich rings um das Grab versammelt hatte, musterte. Regen während einer Beerdigung, wie in so einem Scheißfilm. Tammy hatte meine Hand fest umklammert und lauschte der Grabrede. Die graue, schwere Wolkendecke ließ das Wasser nur so auf uns herabprasseln. Zum Glück hatte ich einen Schirm mitgenommen, wie einige der Trauergäste. Der Himmel war bereits heute Morgen wolkenverhangen. Ich befand mich auf der Beerdigung von Elli, Tammys Großtante. Anscheinend hatte sich Ellis ganzer Bekanntenkreis dazu erwogen, ihr heute die letzte Ehre zu erweisen. Doch ich kannte niemanden hier außer Tammy, meine Schulfreundin seit der Grundschule. Sie hatte als Kind viel Zeit mit ihrer Großtante verbracht und auch ich hatte sie als Kind kennengelernt und gemocht. Doch unsere Kinderzeit war lange vorüber. Heute war ich verdammte 40 Jahre alt, seit einem halben Jahr wieder Single und hielt meiner besten Freundin die Hand auf einer Beisetzung. Scheinbar hatte ich nichts Besseres an diesem Samstagvormittag zu tun. Ausnahmsweise noch nicht einmal arbeiten. In die vielen traurigen Gesichter zu blicken, die durch den Regen, welcher hollywoodreif vom Himmel strömte, noch blasser wirkten, ließ mich über mein eigenes Ableben nachdenken. Wer würde zu meiner Beerdigung erscheinen? Zumindest wusste ich, wer nicht kommen würde. Der Grabredner erzählte Ellis Lebensgeschichte im Schnelldurchlauf und blickte dabei immer wieder in den Himmel und in viele betroffene Gesichter. Ich stellte mir die Frage, wie sich manche Jobs aushalten ließen. Redner auf Beerdigungen, Sargträger und erst recht Bestatter. Andererseits arbeitete ich in einem Kaufhaus und hatte mit Kunden zu tun, auch das ließ sich nicht immer aushalten und war gewiss nicht jedermanns Sache. Immerhin hielten die Toten die Klappe. Ich schmunzelte und ließ meinen Blick durch die Menschentraube schweifen. Da war ein Mann, der mir aus mehreren Gründen ins Auge fiel. Er trug einen schwarzen Anzug mit einer Fliege. So wie der Anzug ihm stand, nahm ich an, dass dieser extra für ihn geschneidert worden war. Des Weiteren hatte er einen leicht spitz verlaufenden Oberlippenbart. Das sah man irgendwie selten heutzutage. Seine ganze Erscheinung wirkte klassisch, retro und schick. Alles zusammen. Sein fülliges Haar war dunkel, fast schwarz, an einigen Stellen schimmerten silbergraue Härchen durch. Die Frisur erinnerte mich ein wenig an Elvis. Ich schätzte ihn auf mein Alter oder ein paar Jahre älter. Noch hatte ich keine grau melierten Stellen. Er hatte eine schlanke, muskellöse Figur, soweit ich das erkennen konnte. Der Glückliche. Ich hatte mindestens drei Kilo zu viel auf den Hüften. Doch das eigentliche Detail, welches meine Aufmerksamkeit auf sich zog, ließ mich für einen Moment den nasskalten Ort vergessen, an dem wir uns befanden. Der Mann mit dem Zwirbelbart im Gesicht und der Fliege um den Hals lächelte. Nicht zögerlich, aber auch nicht breit übers Gesicht, aber immerhin so, dass es mir auffiel. Erst recht in einer Menschengruppe von traurigen oder nachdenklichen Gesichtern. Lächelte er mir zu? An mir vorbei? Oder hatte er wie ich ebenfalls gerade einen lustigen Gedanken gehabt? Ich versuchte meine zuckenden Mundwinkel zu unterdrücken, schließlich passte das nicht hierher. Allerdings fiel mir das nicht leicht, erst recht, da ich annahm, seinen Blick spüren zu können. „Es ist so traurig“, stöhnte Tammy passenderweise genau in diesem Augenblick neben mir und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. Und holte mich damit in die Realität zurück. „Ich weiß, Süße.“ „Meinst du Tante Elli ist jetzt an einem besseren Ort?“, hörte ich sie flüstern. An einem besseren Ort? War nicht jeder Ort besser als hier?Im kalten Regen auf einem Friedhof? Unbedachtsamerweise zog nun ein breites Grinsen in mein Gesicht ein, erschrocken presste ich eine Hand auf den Mund. Mann, Marina! Reiß dich zusammen! Zum Glück hatte Tammy nichts davon bemerkt. „Bestimmt, Süße“, sprach ich mit Engelszungen und meine Augen huschten erneut zu den anderen Trauergästen und suchten Mr. Zwirbelbart, aber er war nicht mehr zu sehen.

~ Finn ~

„Finn? Jemand vom Catering ist dran.“ Mein Kollege reichte mir ein Mobiltelefon. Stirnrunzelnd nahm ich das Telefon entgegen, wartete aber bis ich unter dem Vordach der kleinen Kapelle vor dem Regen Schutz fand. Weg von den Trauergästen und damit leider auch weg von der grinsenden Frau, die mit ihrem Lächeln wie ein bunter Punkt auf einer schwarz bemalten Leinwand wirkte. Woran sie wohl gedacht hatte? Kurz kniff ich die Augen zusammen, als könnte ich meine Gedanken damit wegwischen. Den Regenschirm schüttelte ich mit gestrecktem Arm so gut es ging aus und lehnte diesen gegen die Fassade. Was ein Sauwetter. „Fliege“, meldete ich mich. Der Chef vom Catering war dran. Das konnte nichts Gutes bedeuten. „Wir hatten Probleme mit einem Mitarbeiter. Der Lieferant musste unterwegs anhalten und ich musste einen anderen Mitarbeiter schicken, der übernimmt.“ „Klasse!“, fauchte ich. „Du weißt, dass die Trauerfeier in …“ Ich warf einen Blick auf meine aufziehbare Regent-Armbanduhr. „In verdammten 15 Minuten beginnen soll. Die Rede ist gleich durch.“ „Beruhige dich, Fliege. Es tut mir ja leid, aber du weißt doch, bis die Gäste eintreffen, dauert es oft noch ein Weilchen. Wir beeilen uns. Mein Fahrer ist unterwegs.“ „Ja, das will ich auch hoffen“, knurrte ich und blickte hinüber zu den Gästen, die sich nun aus ihrer steifen Haltung lockerten. Es wurden Umarmungen ausgetauscht, einige Menschen nahmen am Grab still Abschied. Die Rede war offensichtlich vorbei. Verdammt! „Glückwunsch, Blume, die Rede ist um!“, sagte ich und atmete geräuschvoll aus. Peter, der Chef vom Catering Blume, kannte ich schon lange. Mit den Jahren kannte man und duzte man sich. „Kannst du sie nicht noch ein paar Minuten hinhalten?“, hörte ich ihn fragen und dabei ein Lachen unterdrücken. Mistkerl! „Das ist keine Scheißhochzeit!“, fauchte ich und hatte den Trauernden wieder den Rücken zugekehrt. „Weiß ich doch, Fliege. Wie gesagt, es tut mir leid. Mein Mitarbeiter ist unterwegs. Wir machen so schnell es geht.“ „Ja und keine Sekunde langsamer“, wetterte ich. „Finn? Habe ich dich schon einmal enttäuscht?“, hörte ich ihn versöhnlich fragen. „Ja, aber ich kann die Anzahl nicht mehr zählen“, antwortete ich und unterdrückte ein Grinsen. Langsam regte ich mich ab. Es half ja nichts.Das Essen würde da sein, wenn es da war.Punkt. Wir verabschiedeten uns schnell und ich gab das Telefon zurück. Ein erneuter Blick auf die Uhr verriet mir, dass Blume und sein Team sich schleunigst beeilen sollten. Das Trauerkaffee fand in einem nahe gelegenen Veranstaltungsraum eines Hotels statt. Normalerweise würden die Trauergäste vor Ort ankommen und das Catering, bestehend aus Kaffee, Torte und belegten Brötchen, wäre vor Ort bereits aufgestellt. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Die Gäste sollten nicht live und in Farbe mitbekommen, wie Blume die Fressalien auslud. Zum Glück waren Trauergäste verständnisvoller, was Verzögerungen angingen als Hochzeitsgäste. Jedenfalls hatte mir das Peter Blume einmal gesagt. Was wusste ich schon davon? Meine eigene Hochzeit lag Ewigkeiten zurück, das Thema würde mich in diesem Leben auch nicht mehr Heimsuchen. Seufzend fuhr ich mir über die vom Regen durchfeuchteten Haare. Erneut griff ich nach dem Schirm. Als ich mich umdrehte kam eine durchnässt aussehende Frau auf mich zu, welche unter dem Vordach Schutz suchte. „Herr Fliege, bevor ich Sie nicht mehr sehe, möchte ich mich bei Ihnen bedanken.“ Es war Frau Tammy Herzog, eine der Hinterbliebenen, die die Bestattung bei uns beauftragt hatte. „Frau Herzog“, sagte ich, reichte ihr die Hand und schüttelte diese kraftvoll, doch sanft zu gleich. „Ich wünsche Ihnen viel Kraft.“ Sie nickte stumm. Augenblicklich fiel mir Blumes Verspätung wieder ein. „Frau Herzog, das Catering befindet sich gerade in der Anlieferung, leider gab es Verzögerungen.“ Wegen mir, wegen Blume, wegen des Regens. Ich hätte mir etwas ausdenken können, tat ich aber nicht. Frau Herzog, dessen blonde Haare bereits nass an ihrer Kopfhaut klebten, nickte verständnisvoll. „Kein Wunder bei diesem Wetter“, antwortete sie und blickte in die Ferne. „Nur noch das Essen und dann habe ich es hinter mir“, hörte ich sie murmeln. Meine Hände hatte ich locker vor meiner Hüfte verschränkt und nickte stumm. „Wie dem auch sei“, sprach Frau Herzog und wandte sich mir erneut zu. „Vielen Dank für alles.“ Noch einmal schüttelten wir uns die Hände. Alles Gute für Sie“, wünschte ich zum Abschied und nickte dabei.

~ Marina ~

Es befand sich keine Toilette in der Friedhofskapelle. Na großartig.Soll ich auf die Gräber pinkeln oder was? Als ich die kleine Friedhofskirche ohne Aussicht auf eine Toilette wieder verließ, konnte ich Tammy nirgends erblicken. Allerdings waren die anderen Gäste noch da und tummelten sich rund um Ellis Grab. Wenn ich Tammy richtig verstanden hatte, ging es bald in ein Hotel zum Leichenschmaus. Was für ein Wort, aber so langsam hatte ich tatsächlich Hunger. Schließlich hatte ich mein Frühstücksmüsli schon vor ein paar Stunden verzehrt. Ich spannte den Regenschirm erneut auf, da der Niederschlag nicht daran dachte, sich zu verringern, als ich Tammy entdeckte. Sie redete mit jemanden unter dem Vordach der Kirche. Es mussten mehrere Zugänge existieren, denn ich hatte durch einen seitlichen Eingang das Gebäude betreten, um im Inneren nach einer Sanitäreinrichtung zu suchen. Ich wollte Tammy nicht stören und so lief ich langsam zu den anderen Trauergästen zurück, wo einige verheult aussahen, was Beklemmungen in meiner Brust auslöste. Oh Mann.Beerdigungen waren hart. Meine Brille war durch die Feuchtigkeit wiederholt beschlagen. Innerlich seufzte ich auf. Ich sehnte mich nicht nur nach der Benutzung einer Toilette, sondern auch nach Trockenheit und Wärme. Tammy erspähte mich und ich sah sie auf mich zukommen. Sie war klatschnass. Kopfschüttelnd lief ich ihr entgegen und hielt den Regenschirm über sie. „Mensch Tammy, du bist nass.“ „Egal“, hörte ich sie leise sagen. „Weißt du zufällig, ob die Kapelle ein Klo hat?“, fragte ich sie. „Müsste doch. Oder?“, rätselte Tammy und drängte sich zu mir unter den Schirm. „Hast du den Pfarrer gefragt?“ „Den habe ich nicht mehr gesehen. Vielleicht ist der schon zu Hause.“ Im Trocknen, schob ich in Gedanken nach. Tammy nahm den Regenschirm an sich und deutete auf einen Mann, der unter dem Vordach verweilte. „Frag doch mal Herrn Fliege, der weiß das bestimmt.“ „Herrn Fliege?“ Ich erkannte Mr. Zwirbelbart und wunderte mich, dass Tammy ihn lustigerweise als Herrn Fliege betitelte. Machte meine Freundin Scherze? Auf der Beerdigung ihrer geliebten Tante? Und warum sollte Mr. Zwirbelbart das wissen? Hatte er eine chronische Blasenschwäche und kannte alle Toiletten Berlins? Ohne weiter darauf einzugehen, nickte ich, verließ den trockenen Spot unterm Schirm und ging auf den besagten Mann zu, welcher sich just in diesem Moment umdrehte und ein Handy ans Ohr hielt. Fantastisch. Ich zwängte mich unters Vordach und hielt einen gewissen Abstand, um das Gespräch nicht zu belauschen. In den Regenguss wollte ich mich nicht stellen. Hoffentlich lohnte sich die Warterei und der Typ wusste wirklich, wo das Klo war. Wenn es denn existierte.

~ Finn ~

„Ja?“ Schon wieder das verdammte Telefon. Diesmal mein Persönliches. Und schon wieder Blume. „Ich hoffe, du hast gute Nachrichten.“ „Ja doch! Mein Mitarbeiter ist vor Ort und beeilt sich nun mit dem Ausladen.“ „Mein Gott“, stieß ich erleichtert hervor. „Nenn mich doch Peter“, witzelte Blume. „Sehr lustig“, knurrte ich. „Und alles ist so weit vollständig?“ „Ja, Finn. Alles ist in Ordnung. Tut mir noch mal leid wegen der Verzögerung. „Okay, dann hören wir uns wegen des Papierkrams.“ Ich steckte das Handy weg, griff nach dem Schirm, drehte mich um und hielt im nächsten Augenblick erschrocken die Luft an. Eine Frau hob zögerlich die Hand zum Gruß und lächelte. Es war nicht Tammy Herzog, aber das Lächeln kannte ich. Die Frau trug lange, braune Haare, die sie zu einem hohen Zopf gebunden hatte. Einige Haarsträhnen waren bereits mit Wasser durchfeuchtet. So wie ihre Brille, die von der hohen Luftfeuchtigkeit schon ganz beschlagen war und fast milchig aussah. Verlegen merkte sie es und nahm sie von der Nase. Zwei dunkle Augenpaare blickten mich an. Dunkel wie Graberde, schoss es mir durch den Kopf. „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Meine Freundin Tammy meinte, Sie könnten wissen, wo die Toiletten sind. Ich … Nun ja … müsste mal und bis wir zum Leichenschmaus fahren oder wie das heißt, dauert es noch ein paar Minuten und da wollte ich …“ „Klar, zeig ich Ihnen“, unterbrach ich sie unhöflicherweise und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Was ebenfalls unhöflich wirken musste. Ich Tölpel. Ich ließ meinen Schirm erneut stehen und hielt ihr die Haupttür zur Kirche auf. Drinnen war es weder dunkel noch besonders hell. „Kommen Sie hier entlang“, bat ich sie mit gestrecktem Arm in den hinteren Teil der Kirche. „Dieses Gemäuer ist echt verwinkelt“, stellte sie fest. „Das ist es wirklich“, lächelte ich, doch das konnte sie nicht sehen. Ich drehte mich um und riskierte einen kurzen Blick. Unsicher schaute sie mich an, ihre erdbraunen Augen musterten den schmalen Gang, den wir betraten. „Vielleicht sollten wir lieber wieder rausgehen“, hörte ich sie zögerlich sagen. Dachte sie, ich würde sie in eine schummrige Ecke lotsen, um Gott weiß was zu tun? Was konnte ich dafür, dass diese alten Friedhofskirchen immer dunkel und verwinkelt waren. „Nein nein, sehen Sie da die Türen hinten am Fenster? Dort sind die Toiletten, versprochen.“ Versprochen? Klang ich etwa wie ein Serienkiller? Die Erleichterung war in ihrem Gesicht zu sehen, als wir ankamen. Erleichtert darüber, sich endlich erleichtern zu können? Oder darüber, dass ich keine zwielichtigen Pläne mit ihr hatte? Es blieb ein Geheimnis. „Ich werde auf Sie warten“, sagte ich, als sie die Tür zur Toilette aufzog.

~ Marina ~

Unheimlich war es hier. Dieses Klo hätte ich ja nie gefunden, so weit weg wie das lag. Scheinbar sollte hier niemand auf Toilette gehen. Immerhin waren die Klos sauber und es gab Papier und Seife. Allerdings war es saukalt. Erlöst wusch ich mir die Hände und betrachtete mich im Spiegel. Immerhin sah ich nicht so nass aus wie Tammy. Ich putzte meine Brille und überlegte, in welchem Verhältnis Mr. Zwirbelbart zu Tammys Großtante stand. War er der Sohn einer Nachbarin oder so? Schulterzuckend warf ich das benutzte Papiertuch in den vorgesehenen Müllbehälter. Gut sah der Typ in seinem schicken Maßanzug aus. Vielleicht ein Hauch übertrieben mit seiner Fliege. Vorhin war es noch das Lächeln, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte, jetzt dachte ich über seine Augenfarbe nach. Smaragdgrün, schoss es mir durch den Kopf. Wie konnte er so grüne Augen haben? Trug er Kontaktlinsen? Und warum war er ständig am Handy? War er Mr. Geschäftsmann, der gerade von der Börse schnell zu einer Beerdigung düste? Amüsiert feixte ich in mein Spiegelbild. Marina, du wirst irre. Als ich die Toiletten verließ, wartete der Anzugträger wie versprochen vor der Tür auf mich. „Was war so lustig?“, wollte er wissen und seine grünen Augen fixierten mich. Sein außergewöhnlicher Bart, zusammen mit dieser Augenfarbe, der Fliege und dem Anzug, ich konnte nicht sagen, wie interessant er eigentlich aussah. Wie ein Oscargewinner und eine Fantasiefigur zusammen? Oder wie ein moderner Elvis? Oder doch wie ein Musical-Sänger? „Was meinen Sie?“, fragte ich. „Ich habe Sie lachen gehört.“ „Ach, ich lache gern“, winkte ich ab. Als wenn mir das Lachen im Alltag nicht regelmäßig im Hals stecken bleiben würde. Wir machten uns auf den Rückweg durch den schmalen Gang. „Ja, das ist mir aufgefallen“, sagte er und sein Mundwinkel zuckte amüsiert. „Sie haben doch vorhin auch gelacht. Oder nicht?“, neckte ich ihn zurück. „Ja, manchmal rutscht mir das raus“, gab er neckisch zu. „Fanden Sie die Grabrede lustig?“, wollte er von mir wissen. „Nein. Oh Gott, nein. Ich hatte nur darüber nachgedacht, wie man Berufe wie Grabredner oder Bestatter aushält.“ „Und deshalb mussten Sie lachen?“ „Nicht direkt“, antwortete ich. Er öffnete die Kirchentür nach draußen und hielt sie auf, damit ich hinaustreten konnte. „Ich musste darüber schmunzeln, dass mein Beruf auch nicht jedermanns Sache ist und auch nicht immer schön und aushaltbar.“ „Ach so.“ Er lachte kehlig auf. Wir blieben unter dem Vordach stehen. „Was haben Sie denn für einen Beruf?“ „Verkäuferin im Kaufhaus. Mit Kunden“, betonte ich. Mr. Zwirbelbart grinste und nickte zustimmend, als er nach seinem zurückgelassenen Regenschirm griff. Im nächsten Augenblick tauchte Tammy vor mir auf, hakte sich bei mir ein und zog mich hastig weg. „Wiedersehen!“, konnte ich noch rufen und der nette Kerl im Anzug hob eine Hand zum Gruß. „Da bist du ja! Komm!“, sagte Tammy. „Das Taxi wartet bereits. Endlich gehts ins Trockene.“ „Ja“, antwortete ich. „Hunger habe ich auch.“

Kapitel 2

~ Marina ~

„Ich verstehe das nicht!“, plärrte die erboste Kundin und wedelte mit einem Strickpullover vor meinem Gesicht herum. „Letzte Woche waren bestimmt noch zehn Stück in XXL da und jetzt nur noch in verdammten XS! Wer trägt so was? Magermodelle?“ Innerlich seufzte ich auf. „Tja, auch Magermodelle brauchen Pullover im Winter“, dachte ich laut und brachte ein Lächeln hervor. Ein Unehrliches, aber immerhin ein Lächeln. Etwas, was so einige meiner Mitkollegen kaum mehr auf die Lippen bekamen. Die Kundin stöhnte auf. „Extra! Extra bin ich heute hierhergekommen, um mir den Pullover zu kaufen und dann ist er nicht mehr da!“ „Er ist schon noch da“, korrigierte ich sie. „Aber bedauerlicherweise nicht mehr in Ihrer gewünschten Größe. Das ist ärgerlich, ich verstehe Sie, aber ich kann da nichts machen. Aber in vier Wochen kommen neue Schnitte rein“, versuchte ich die Dame zu besänftigen. Doch sie wetterte mir ein „Ich will aber diesen“ entgegen. Wie ein Kleinkind. „Sie könnten im Internet schauen, ob die gewünschte Größe noch verfügbar ist und dort bestellen“, schlug ich vor. „Papperlapapp, Internet! Wenn es im Internet wäre, dann müsste es doch auch hier liegen“, schlussfolgerte sie. Nun hörte ich mich ausatmen. „Nein, der Internetshop hat ein zentrales Lager und ist unabhängig vom Kaufhaus“, versuchte ich ihr zu erklären. Mürrisch schüttelte Sie den Kopf, warf den Pullover auf einen Stapel mit frisch gefalteten T-Shirts und stiefelte wütend von dannen. Tief atmete ich ein und aus, griff nach dem Minipullover, faltete diesen und legte ihn ordentlich zurück. Ein Mann sprach mich währenddessen von der Seite an. Meine Augen blinzelten hektisch. Er trug einen Anzug. Nicht am Körper, aber auf einem Bügel und zog hastig die darauf befundende, durchsichtige Schutzfolie ein Stück weg. „Entschuldigen Sie, ich suche eine Krawatte zu diesem Anzug. Sie können mir sicherlich etwas empfehlen.“ Ein schöner Anzug war das. „Sicher“, nickte ich und fokussierte meine Gedanken wieder. „Ähm. Dürfte ich den Anlass erfahren?“ „Hochzeit“, sagte er knapp und folgte mir. „Ihre?“, hakte ich nach. „Ja!“ Jetzt strahlte er und wirkte ein wenig verlegen. „Glückwunsch. Sie haben sich einen schönen Anzug ausgesucht. Muss es eine Krawatte sein? Für eine Hochzeit empfehle ich auch gern eine …“ Ich stockte mitten im Satz, als ich vor dem passenden Regal Halt machte. „Ähm … Fliege. Für eine Hochzeit empfehle ich auch gern eine Fliege.“ Meine Hand zeigte auf ein paar Modelle, welche gut zum Anzug passten. „Mmh“, grübelte der zukünftige Bräutigam und nahm eine der Fliegen in die Hand. „Gar keine schlechte Idee.“ „Nicht? Und ein Tipp von mir. Krawatten werden gern mal bekleckert. Da ist eine Fliege doch praktischer.“ „Und günstiger“, vervollständigte er, als er auf das Preisschild schaute und nickte zufrieden. „Wissen Sie was? Die nehme ich. Vielen Dank!“ „Gern und alles Gute für Sie.“

Müde nahm ich wenig später die Rolltreppe zur Kantine nach oben. Meine Freundin Tammy arbeitete dort, aber sie hatte schon Feierabend und so entschied ich mich für einen schnellen Espresso, den ich zwei Sekunden nachdem ich bezahlt hatte, hinunterschluckte. Der Anzugkunde war freundlich gewesen, die Pullovertante dagegen nicht. Aber so war das in einem Kaufhaus. Und ich hatte neulich über Jobs wie den des Grabredners philosophiert. Machten wir uns nichts vor, seine Kunden waren still. Ich tröstete meine Seele damit, dass ich bald Feierabend hatte. Hochzeit, dachte ich, als ich zurück in meine Etage fuhr. Ein Thema, welches bei mir auch mal auf der Agenda stand. Doch dann landeten die Einladungskarten im Müll und damit auch alles andere.

Daheim empfing mich meine Wohnung dunkel und kühl. Sodass ich nach einer Lüftung meiner Räumlichkeiten die Heizung aufdrehte und mir selbst einen Strickpullover überwarf, der allerdings nicht aus den Verkaufsräumen meines Arbeitgebers stammte. Mir fiel ein, dass ich die Rechnung des Pullovers noch überweisen musste. Und anderen Kram. Wenig später saß ich teeschlürfend an meinem Schreibtisch, hatte den Laptop aufgeklappt und arbeitete mich durch den kleinen Papierstapel, welcher sich angehäuft hatte. Den Pullover hatte ich bezahlt, ebenso wie die Stiefel und den Mantel, beides hatte ich mir gegönnt und im Internet bestellt. Mein Handy, was neben mir lag, piepte. „Feierabend? Hast du den Tag gut überstanden?“, hatte Tammy geschrieben. „Überstanden ja. Ob gut, ist eine andere Sache“, schickte ich zusammen mit einem Kaffeetassen- und einem Zwinker-Emoji zurück. Mein Blick durchforstete den Stapel an Unterlagen, nicht dass ich etwas übersah, bevor ich mein Onlinebanking beendete. Ein weißer, fest anfühlender Briefumschlag fiel mir ins Auge. Darin befand sich die Einladungskarte zu Ellis Beerdigung. Erneut las ich die Daten der Bestattung und den letzten Gruß an Tante Elli und überlegte, was ich nun damit anfangen sollte. Wegschmeißen? Behalten? Als Erinnerung an eine Beerdigung? Ich gab einen nachdenklichen Laut von mir. Plötzlich stach mir der Absender ins Auge. Und nicht nur das. Mein Herz fing - warum auch immer - kräftig in meiner Brust an zu hämmern. Fliege Bestattungen, las ich murmelnd. Moment mal. Fliege? Mr. Zwirbelbart kam mir in den Sinn, der Mann mit der Fliege. Der freundlich grinsende Anzugträger, der mich zum Klo geleitete, den Tammy Herrn Fliege genannt hatte. Ich nahm an, dass sie scherzte, und Mr. Geschäftsmann war irgendwie ein Bekannter über mehreren Ecken von Elli gewesen. Mr. Meine-Augen-sind-smaragdgrün. Kopflos griff ich nach meinem Mobiltelefon und rief Tammy an. „Hey Sonnenschein!“, begrüßte sie mich. „War es so schlimm heute in der Textilhölle?“ „Das Übliche“, winkte ich zügig ab. Und bemerkte, dass meine Zunge plötzlich am Gaumen klebte. Schnell nahm ich einen Schluck Tee, ohne zu schlürfen. „Sag mal, der Typ mit dem Zwirbelbart auf Ellis Beerdigung.“ „Zwirbelbart?“, wiederholte Tammy und kicherte. „Der Typ, der mir die Toilette gezeigt hat. Du hattest ihn Herrn Fliege genannt.“ „Ja. Das war Finn Fliege, bei ihm hatte ich Ellis Beerdigung abgewickelt.“ Ich zog mir die Brille von der Nase und wischte mir gedankenverloren übers Gesicht. In meinem Kopf ging ich die Dinge durch, die ich in seinem Beisein von mir gegeben hatte. Wie man Berufe wie Grabredner oder Bestatter aushielt.Na Klasse. Immerhin hatte er darüber gelacht. „Ist irgendwas passiert?“, hörte ich Tammy fragen. Außer, dass mein Herz hin und her sprang, seit ich wusste, wer er war? „Weißt du zufällig, ob er verheiratet ist?“, fragte ich kopflos und biss mir beinah zeitgleich auf die Zunge. Was interessierte mich das eigentlich? Doch Tammy reagierte belustigt. „Das weiß ich nicht, Mari. Ich glaube, er trug keinen Ring. Ich kann mich zumindest nicht erinnern. Aber was heißt das schon?“ Ja, was hieß das schon? Männer konnten Frauen treffen und Männer konnten Männer treffen, alles mit und ohne Trauschein. Heutzutage gab es doch obendrein kaum noch Singles. Oder? Erst recht nicht in unserem Alter. Mit Ausnahme von mir. Und selbst Tammy war nach einer Weile des Alleinseins so gut wie vergeben. Sie stand schon immer auf Frauen und datete kürzlich wieder, doch ich kannte die Herzdame bisher noch nicht, so frisch war das Ganze. Und ich? Meine vormals große Liebe David hatte mich erst heiraten wollen, hatte sich, nachdem die Hochzeitseinladungen gedruckt waren, dazu entschieden, eine andere Frau zu vögeln. Und auch bei dieser zu bleiben. Das Ganze mit uns war vor einem halben Jahr zu Ende gegangen. Ich stellte mir die Frage, ob ich wieder bereit war. Bereit für was? Mich zu verlieben? Sex zu haben? Beides? Warum dachte ich überhaupt darüber nach, nur weil mir ein freundlicher Mann im Anzug mit Zwirbelbart, Fliege und smaragdgrünen Augen sein Lächeln geschenkt und mir den Weg zum Klo gezeigt hatte? „Ich habe den über Insta gefunden“, warf Tammy plötzlich ein und unterbrach den Niagarafall meiner Gedanken. „Was?“ „Insta! Du weißt doch, soziale Medien, die Fotoapp.“ „Ach ja“, gestand ich. „Da, wo sich alle selbst darstellen und man als normale Frau um die vierzig Komplexe bekommt.“ „Aber du doch nicht, Sonnenschein. Du bist doch noch knackig.“ „Ja, die Betonung liegt auf noch, was?“ Wir kicherten beide. Wir waren so blöde. „Ich schicke dir gleich mal das Profil“, trällerte sie fröhlich in die Leitung. Als ich den Link öffnete, der mich zum Bestattungsunternehmen auf Insta führte, lächelte mir sogleich Mr. Zwirbelbart ins Gesicht. Er hat wirklich Haare wie Elvis, dachte ich. Eine ganze Weile starrte ich auf das Foto.

~ Finn ~

„Na Robbi, du Pirat. Was machen die Weltmeere?“ Ich saß ausgiebig geduscht mit nacktem Oberkörper vorm Laptop und genoss den Feierabend ohne Anzug und überhaupt ohne viele Schichten Kleidung an meinem Körper. Auf dem Monitor grinste mir mein bester Freund Robert Meuer ins Gesicht. Kurze Haare, sonnengebräunt, frisch rasiert. Er war mein Mitbewohner, obwohl er die meiste Zeit des Jahres nicht hier war. Robbi hatte in meiner Wohnung ein Zimmer für sich und war auch hier gemeldet. Allerdings war er rund 300 Tage im Jahr nicht in Deutschland, aufgrund dessen ich ihm freundlicherweise meine Wohnung als Bleibe angeboten hatte. Damit er keine über die meiste Zeit leer stehende Wohnung unterhalten musste. Eine Geste, die er dankbar angenommen hatte. Er war Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff und schipperte über die Weltmeere. Meistens dort, wo es warm war. Indien, Karibik und solche Sachen. In letzter Zeit war er viel in der Karibik. Wir sahen uns nicht oft, aber chatteten und videotelefonierten, sofern es unsere Zeit zuließ. „Bist du gerade fertig geworden oder warum sitzt du so da?“, neckte er mich und deutete mit dem Zeigefinger auf meinen nackten Oberkörper. Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Meinst du, dann würde ich mit dir sprechen, oder was?“ „Wer weiß. Nicht, dass du gleich komplett blankziehst.“ „Fühlst du dich dann in deiner Männlichkeit bedroht, oder was?“, gab ich keck zurück. „Du bist so blöde, Fliege.“ Robbi lachte und neigte den Laptop so, dass ich das Meer hinter ihm erkennen konnte. „Sieht gut aus“, sagte ich. „Meinst du mich oder das Karibische Meer?“ „Beides.“ „So, aber mal im Ernst. Was macht Berlin? Das Wetter ist hoffentlich scheiße.“ Ich lachte auf. „So kennt man dich. Das Wetter hier könnte Tote aufwecken.“ „Wenn du das sagst, Finn.“ Robbi grunzte. „Ansonsten ist alles beim Alten und bei dir? Bist du schon seekrank?“ „Nee, zum Glück nicht. Wetter ist geil. Job ist geil, nicht jeden Tag, aber oft genug. Frauen sind geil, nicht immer auf mich, aber immer öfter.“ Kopfschüttelnd wischte ich mir mit der flachen Hand übers Gesicht. „Und bei dir?“, fuhr er fort. „Hast du in letzter Zeit mal jemanden nackt gesehen?“, fragte er und nahm einen Schluck aus einer Tasse. „Nur Verstorbene“, gab ich süffisant zur Antwort und genoss Robbis entsetzten Blick. „Du bist so makaber, Fliege“, sagte er und verschluckte sich fast an seinem Getränk. „Komm schon, Finn, auf deinen Beerdigungspartys sind doch bestimmt mal hübsche, alleinstehende Frauen dabei, die du aufreißen, trösten und vernaschen kannst oder sind da nur alte Witwen?“ „Du klingst wie ein 20-Jähriger, Robbi.“ „Vielleicht, aber die Seefahrt hält mich jung“, grinste er über den ganzen Monitor und ließ seine Augenbrauen tanzen. „Komm, wenn alte Leute sterben, dann sind doch die Hinterbliebenen jung oder nicht?“ „Ja, meinst du denn, die sind jung, was auch immer das bei dir heißt und Single?“ „Komm schon. Ich erzähle dir ständig was von der wilden See und bei dir ist tote Hose?“ „Ja, im wahrsten Sinne“, grinste ich. Aber seine Worte brachten mich erstaunlicherweise zum Innehalten. „Komm schon Totengräber, irgendwas musst du doch für mich haben.“ „Schon gut, du Draufgänger“, feixte ich. „Ähm, vielleicht neulich. Da war eine Frau, die hat ihre Freundin zur Beerdigung der Großtante begleitet. Die war ganz sympathisch.“ „Sympathisch? Ich schlaf gleich ein, Finn.“ Nachdenklich strich ich mir mit den Händen durchs noch feuchte Haar. „Also gut, die war ganz süß.“ „Schon besser, ich will mehr Details.“ Meine Backen stießen Luft aus. „Na ja, sie hat während der Trauerrede nicht geweint, sondern gelächelt und mich dann zufällig angesehen, ich hatte auch gelächelt.“ „Seit wann lächelst du auf Beerdigungen?“ „Eigentlich nie, keine Ahnung.“ „Okay, sympathisch, süß, hat nicht geflennt, hat gelächelt und weiter“, forderte Robbi weitere Informationen. „So viel gab es da nicht mehr. Wir hatten uns kurz unterhalten, ich hatte ihr das Klo gezeigt.“ Robbi hob eine Augenbraue. „Und ich hatte sie gefragt, warum sie gelächelt hat, das hat mich irgendwie interessiert.“ „Und?“ „Sie sagte, sie hat darüber nachgedacht, wie schwierig manche Jobs sind, wie Bestatter und Trauerredner und so weiter und musste darüber lachen, weil auch ihr Job nicht für jedermann geschaffen ist. Sagt sie.“ „Hat sie gesagt, was sie arbeitet?“ „Ähm ja, in einem Kaufhaus mit Kunden. Das hat sie betont. Es war irgendwie lustig.“ „So so, lustig“, musterte Robbi mich. „Noch was?“ „Sie hatte schöne braune Augen, dunkel wie Graberde.“ „Wie Graberde?“, wiederholte Robbi entsetzt und verdrehte die Augen. „Du Romantiker. Das hast du ihr hoffentlich nicht gesagt.“ „Natürlich nicht“, knurrte ich. „Und weiter?“ „Nichts weiter.“ Robbi seufzte hörbar. „Und, in welchem Kaufhaus arbeitet sie?“ „Keine Ahnung.“ „Vielleicht in Spandau, in dem Großen in der Altstadt?“, rätselte Robbi. Meine Hand wedelte vor dem Monitor. „Keine Ahnung. Wie gesagt, sie war ganz sympathisch.“ „Aber?“ „Nichts weiter.“ „Mensch, Fliege. Meinst du, du bekommst keine mehr ab oder was?“ Jetzt war ich derjenige, der die Augen verdrehte. Abbekommen? Seit meine Ex-Frau Eva mich vor sechs Jahren beschissen und keinen Bock mehr auf den Vater ihres Kindes hatte, war ich überwiegend allein geblieben. Wenn mir der Sinn nach Nähe war, suchte ich online nach Frauen, die eine Runde Spaß wollten und nichts weiter. Doch selbst das hatte ich lange nicht mehr gemacht. Sobald man den Sex fertig hatte und ein reales Gespräch suchte oder umgekehrt, stellte sich immer heraus, dass mein Job abschreckte. Und dass ich nach Tod riechen würde, fiel den Frauen paradoxerweise dann auch gleich auf. Was Humbug war, denn ich war immer frisch geduscht, bevor ich mich überhaupt mit einer Menschenseele verabredete. Meine Gedanken gingen zurück zu der Frau, der ich auf der Beerdigung die Toilette gezeigt hatte. Sie war von mir scheinbar nicht abgeschreckt. Oder wusste sie gar nicht, dass ich Bestatter war? Was eigentlich nicht möglich war, schließlich hatte ihre Freundin bei mir die Beisetzung in Auftrag gegeben. Eigentlich war das auch alles egal. Mein Leben war gut, so wie es war. „Erde an Finn!“, hörte ich Robbi rufen. „Ja doch!“ „Ich dachte schon, das Bild sei eingefroren.“ „Geh doch mal in das Kaufhaus und gucke, ob sie da arbeitet.“ „Scherzkeks.“ „Warum nicht?“ „Was soll das bringen?“ „Mal schauen. Ein bisschen Knickknack, ein bisschen Abenteuer. Oder stehst du darauf, die Schlange allein zu würgen?“ Meine Augen gingen zur Decke und ich stieß ein Brummen hervor. Doch auch innerlich seufzte ich. Was Robbi an Abenteuern womöglich zu viel hatte, hatte ich definitiv zu wenig. „Mensch, Fliege. Du musst mal wieder raus, ein bisschen Spaß haben. Raus ins Abenteuer. Mal wieder weg aus deiner Toten-Blase.“ Ich schnaubte. Doch ich musste mir eingestehen, dass Robbi nicht ganz unrecht hatte.

Kapitel 3

~ Finn ~

„Ich bin dann für ‘ne Stunde weg!“, rief ich meinem Mitarbeiter Sven zu und warf mir die Lederjacke über mein helles Hemd. Der Mantel sah zu sehr nach Bestatter aus. „Echt? Du gehst doch mittags nie weg. Ist etwas passiert?“, hakte er nach. „Ich gehe Mittagessen“, knurrte ich durch die Zähne. „Das machst du sonst nie, Boss.“ „Ja ja! Und nenn mich ja nicht Boss, wenn Klienten da sind“, sagte ich und verließ die Geschäftsräume. Draußen zog ich eine kleine Prada-Parfümflasche aus der Jackentasche, mit der ich mich dezent eindieselte. Doch ganz schön kühl, stellte ich fest, doch ich hatte genug mit Kühlschranktemperaturen zu tun und würde das schon aushalten. Bis zum Kaufhaus waren es nur knapp 15 Minuten zu Fuß, also beschloss ich zu laufen. Die Bewegung würde mir obendrein guttun. Vielleicht würde sich auch gleich alles im Sande verlaufen. Schließlich gab es nicht nur ein Kaufhaus. Aber ich würde mein Glück bei Karstadt in der Altstadt versuchen. Dies war das größte Kaufhaus Spandaus. Dieser verflixte Robbi und seine Ideen.

Als ich das Kaufhaus betrat, war es voller als erwartet. Wer hatte denn so viel Zeit, um die Mittagszeit einzukaufen? Ewig war ich nicht mehr hier gewesen. Heutzutage konnte man alles im Internet bestellen. Erst recht, wenn man wie ich selbstständig war und obendrein oft auch an Wochen- und Feiertagen arbeitete. Sogleich stellte sich mein Hirn die Frage, wie eine Frau mit mir überhaupt eine Beziehung führen sollte. Die Arbeitszeit, der Geruch, der Tod. Bist du bekloppt, Fliege? Reiß dich zusammen!Wer hat was von einer dauerhaften Beziehung gesagt? Im obersten Stockwerk befand sich laut Plan die Kantine. An die konnte ich mich sogar erinnern. Damals war ich mit meiner Ex-Frau ein paar Mal da gewesen. Doch das war lange her. In einem anderen Leben. Ich fuhr mit der Rolltreppe nach oben, nahm mir ein Tablett und war motiviert genug, mir eine Kleinigkeit zu Essen zu holen. Wenn ich schon mal hier war, wollte ich die Mittagspause auch nutzen. Einen Kaffee und einen Salat nahm ich und eilte sogleich zu den Kassen, bevor eine Gruppe von Senioren ihre Schnitzelteller in Richtung Kasse bewegten. Während ich in meinem Salat herumstocherte, zweifelte ich die Sinnhaftigkeit meines Ausflugs bereits an. Selbst wenn sie wirklich hier arbeitete, wie sollte ich sie finden? Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Und selbst wenn ich sie fand, was wollte ich ihr eigentlich sagen? Mein Gott, ich war 46 Jahre alt und kam mir gerade so unbeholfen vor wie mein Sohn. „Herr Fliege? Sind Sie das?“, fragte eine Frauenstimme. Für den Bruchteil eines Augenblicks machte mein Herz einen Satz. Mit einem Salatblatt im Mund und obendrein Spuren von Salatsoße an meinem Bart blickte ich auf und sah in ein Gesicht, welches ich erst kürzlich gesehen hatte. Richtiger Ort, falsche Frau. Mein Herz beruhigte sich augenblicklich wieder. Ich putzte mir den Mund mit einer Serviette sauber, erhob mich und reichte Frau Herzog die Hand. „Setzen Sie sich bloß wieder Herr Fliege und essen Sie weiter. Guten Appetit.“ Sie lachte. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ „Nein nein, alles in Ordnung. Möchten Sie sich kurz setzen?“, bat ich und zeigte auf den leeren Stuhl vor mir. Mein Gott, ich verhielt mich, als wäre ich in einem Beratungsgespräch. Zum Glück nahm Frau Herzog freundlich lächelnd Platz. Es war unübersehbar, dass sie hier arbeitete. Sie trug ein Haarnetz auf dem Kopf sowie eine Schürze und war scheinbar gerade dabei, Geschirr wegzuräumen oder Tische abzuwischen. Jedenfalls waren Eimer und Lappen in der Nähe. „Das ich Sie hier wiedersehe. Die Welt ist manchmal klein, nicht wahr?“, sagte sie. Ich nickte und nahm einen Schluck Kaffee. „Ja, Spandau eben“, lächelte ich. „Frau Herzog, wie geht es Ihnen? Konnten Sie etwas zur Ruhe kommen nach dem Begräbnis? Ich weiß, es ist schwer. Und wie geht es Ihrer Freundin, die Dame, ihre Begleitung?“, fügte ich hinterher und hoffte, dass ich nicht zu forsch klang. „Nennen Sie mich ruhig Tammy. Frau Herzog klingt so streng. Danke, dass Sie fragen. Es ist nicht leicht. Aber meiner Tante Elli geht es sicherlich jetzt besser, da wo sie ist. Das tröstet mich.“ Ich nickte und wir schwiegen für einige Sekunden. „Marina war so lieb, mich zur Beerdigung zu begleiten“, erklärte sie. „Sie kannte meine Tante aus Kindertagen. Sie arbeitet auch hier im Kaufhaus.“ „Ach, das ist nett, ja“, stammelte ich und fragte mich, wo meine Selbstsicherheit geblieben war. „Auch hier im Kaufhaus?“, wiederholte ich ihre Worte und nahm den finalen Schluck meines Kaffees. Mein Gott, ich war auf der richtigen Spur. Mein Herz schlug schon wieder schneller und ich fragte mich ernsthaft, woran das lag. Am Herzen hatte ich nichts, das hatte ich vor einiger Zeit erst checken lassen. „Ich muss jetzt weitermachen, sonst meckert mein Chef.“ „Natürlich Frau Herz … Ähm, Tammy. Gern können Sie mich auch Finn nennen.“ Keine Ahnung, warum ich das anbot, vermutlich aus einer Mischung aus Freundlich-, Höflich- und Ruhelosigkeit. „Sagen Sie Marina gern Hallo, sie arbeitet im zweiten Stock.“ Tammy lächelte, ihr Blick schien mir etwas sagen zu wollen. Dann erhob sie sich, winkte zum Abschied und ging wieder an die Arbeit. Wenig später räumte ich mein Tablett weg und fuhr mit der Rolltreppe wieder nach unten. Was ist nur los mit dir, sinnierte ich und meinte damit mein stolperndes Herz. Als ich im zweiten Stock ankam, grummelte mein Bauch so entsetzlich, als hätte ich eben überhaupt nichts gegessen. Herzprobleme oder Magenverstimmung, überlegte ich. Beides konnte ich mir nicht leisten. Planlos lief ich durch die Klamottenabteilung, bis ich mich hinter einem Kleiderständer mit Morgenmänteln verbarg. Das muss sie sein, schoss es mir durch den Kopf und sah in sicherer Entfernung eine Frau. Der hohe Zopf, das Lächeln, die Brille. Marina. Sie trug einen Minirock mit Strumpfhosen, schmale Stiefel und eine farbige Bluse. Sie hatte weibliche Rundungen, die mir erst jetzt so ohne Mantel und Friedhofsstimmung auffielen. Attraktiv, dachte ich. Die Betthasen, die ich bisher getroffen hatte, waren sehr schlank gewesen. Doch die waren auch jünger. Marina schätzte ich auf 35 Jahre oder so ähnlich. Scheinbar beriet sie eine Frau in puncto Damenunterwäsche. Tja und was nun?Hingehen und Hallo sagen? Ich stand hier wie ein verdammter Stalker und wusste nicht, wie es nun weitergehen sollte. Mein Sohn Benjamin würde jetzt vermutlich sagen, dass ich einfach chillig rübergehen sollte, sie abchecken. Ich verdrehte die Augen. Meine Hände fühlten sich cremig an. Wieso eigentlich? Mein Herzkasper steigerte sich abrupt, als mein Handy klingelte. Na toll, es war Sven. „Was?“, meldete ich mich wie der letzte Arsch. „Ähm, Boss? Dauert deine Mittagspause länger? Ich frage, weil Frau Milla jetzt da ist.“ „Milla? Milla?“, rätselte ich laut und zwirbelte an meinem Bart herum. „Der Wohnungsfund, Finn.“ „Ja ja klar! Ähm. Du kannst auch schon anfangen“, winkte ich ab. „Okay, machst du dann die Beratung in einer Stunde?“ Luft entwich meinen Backen. „Ähm, Sven, hör zu. Ich würde mich freuen, wenn du das spontan übernehmen kannst. Ich komme so schnell es geht zurück.“ „Na gut Boss, wenn du das sagst.“ „Ja ja, bis später und danke!“, plapperte ich und steckte knurrend mein Handy weg.

~ Marina ~

„Man darf den BH nicht sehen“, beharrte die Kundin. Konzentriert sah ich sie an. „Okay.“ Gezielt griff ich nach einem beigen Schalen-BH. Die Dame nahm mir den kleinen Bügel aus der Hand und beäugte das Textil ausgiebig. „Und den sieht man wirklich nicht durch?“ „Nein, schauen Sie mal. Es ist ähnlich ihres Hauttons. Haben Sie die Bluse dabei?“ „Ja“, antwortete sie und wedelte mit einem Stoffbeutel vor meiner Nase. „Dann probieren Sie den BH am besten in der Kabine einmal an und ziehen dann Ihre Bluse drüber.“ „Ist das denn erlaubt?“, fragte sie und blinzelte. Nee, gleich rufe ich die Polizei. „Sicher. Aber lassen Sie bitte die Schilder dran, auch wenn die kratzen.“ Schlimm genug, dass ich das extra sagen musste. Ich begleitete sie zu den Umkleidekabinen. Damit sie sich bis dahin nicht noch verirrte und weil ich den Servicegedanken dahinter mochte. Als würde ich ihr die Richtung nur mit ausgestrecktem Arm weisen. In der Arschtasche meines Jeansrocks vibrierte es schlagartig. Ich wartete, bis die Kundin außer Sicht war und schaute auf mein Handy. Tammy hatte mir eine Nachricht geschickt. „Der Bestatter ist im Haus! Und hat nach dir gefragt! Ich habe ihm gesagt, wo du arbeitest!“ Dazu postete Tammy noch einen Smiley mit Herzaugen sowie einen Smiley, der den Mund vor Entsetzen aufriss. Wow, drei Sätze mit Ausrufungszeichen. Mit einem Mal fing mein Bauch an zu flattern und auch mein Herz begann hastig zu klopfen. Als ich mein Handy zurück in die Tasche schob, schien meine Hand zu zittern. Vielleicht will er mir auch nur eine Sterbeversicherung verkaufen, dachte ich und grunzte über meine Gedanken. Ich lief zurück in den Hauptgang, ganz in der Nähe der Rolltreppen und griff nach dem nächstbesten Stapel mit Klamotten, um diese sauber zusammenzulegen. Dabei sah ich mich vorsichtig um. Ob Mr. Zwirbelbart wirklich hier war?

~ Finn ~

Als ich mich umdrehte, war Marina nicht mehr zu sehen. Selbst die Kundin, die sie bedient hatte, schien verschwunden. Scheiße! Ein unbehaglicher Schauer sackte mir von Kopf bis in die Füße. Mein Herz galoppierte. Warum war die Luft hier drinnen eigentlich so verdammt dick? Suchend lief ich durch die Gänge und schob mich an diversen Kinderwägen und Senioren vorbei. Verdammt, wo bist du? Ich wechselte die Richtung, drehte mich um und erstarrte. Ein dunkelbraunes Augenpaar strahlte mich an. Dringend musste ich zum Kardiologen. So wie mein Herz gerade hämmerte, war das garantiert nicht normal. „Ich glaube, ich kenne Sie“, sagte Marina lächelnd und trat auf mich zu. Meine Hände fühlten sich feucht an. Sollte ich ihr die feuchte Hand geben? Wie unangenehm. Wenn ich sie vorher an meiner Stoffhose trocken gewischt hätte, wäre das vermutlich noch unangenehmer und würde mich obendrein als Schwein darstellen. Also entschied ich mich ihr die Hand zu reichen, die sie fröhlich entgegennahm. „Ja, richtig“, fand ich endlich meine Stimme wieder und wir schüttelten unsere Hände. Keine Ahnung, ob ihr Händedruck fest oder lockerer war. Sofort vergaß ich alles. „Sie waren so nett und haben mir die Toilette in dieser verwinkelten Friedhofskirche gezeigt“, sagte sie und lachte dabei. „Genau. Genau das war ich“, gab ich von mir und vergrub die Hände in den Taschen meiner Lederjacke. „Heute kein Anzug“, stellte sie grinsend mit erhobenen Augenbrauen fest und schien mich zu mustern. „Nein, der ist eigentlich nur für offizielle Anlässe und Termine, sozusagen.“ „Ah.“ Sie nickte. Irgendwie genoss ich dieses kleine Geplänkel zwischen uns, war mir aber immer noch unschlüssig, was ich ihr sagen wollte. Mein Gott. Sonst war ich doch auch nicht so.

~ Marina ~

„Und was treibt Sie heute Mittag hierher?“, fragte ich. Mir war nicht entgangen, dass er nervös war. Er fuhr sich über seine elvisartige Frise und fummelte sich obendrein an seinem Bart herum. Klar, der lud mit seinen spitzen Enden auch dazu ein. „Mittagessen im vierten Stock“, antwortete er. Deshalb wusste Tammy also Bescheid. „Ah, dann haben Sie Tammy gesehen.“ „Ja, genau. Ihre Freundin.“ Er lächelte schüchtern. „Suchen Sie ein bestimmtes Kleidungsstück? „Nein. Ähm. Ich habe eigentlich … Sie gesucht. Ich habe kurz mit Ihrer Freundin gesprochen und wollte fragen, wie es Ihnen ergangen ist. So nach der Beisetzung.“ Er schien sich jedes Wort zu überlegen. „Ganz gut so weit. Ich kannte Tammys Tante von früher. Elli ging es eine Weile nicht so gut und na ja. Jetzt geht es ihr besser, hoffe ich. Entschuldigen Sie meine flapsige Bemerkung neulich zu den schwierigen Jobs. Ich wusste nicht, dass Sie der Bestatter waren. Ich hielt Sie für einen Bekannten von Ellis Freundeskreis oder Nachbarschaft.“ „Kein Problem“, sagte er. Seine Hand wedelte durch die Luft, bevor er sie wieder in die Tasche der Lederjacke steckte. „Sie haben ja nicht unrecht. Sie sagten, dass Ihr Job auch nicht jedermanns Sache ist, so mit Kunden.“ Wir grinsten uns an. Diese Smaragde von Augen machten mich ganz wuschig. „Tragen Sie Kontaktlinsen?“, traute ich mich zu fragen. „Nein“, grinste er neckisch. War das gerade ein Zungenschnalzen? Die Nerven in meinem Bauch flatterten. Noch immer war mir nicht klar, warum er eigentlich hier war. Wirklich bloß um Mittag zu essen? Marina, was sonst? Da ist ein Kerl mal freundlich zu dir und du bildest dir gleich sonst was darauf ein. „Sind Sie immer so zuvorkommend und suchen die Hinterbliebenen nach einer Beerdigung auf deren Arbeitsstelle auf, um sich nach dem Befinden zu erkundigen?“ Fragend hob ich eine Augenbraue. Zugegeben, meine Zunge hatte freien Lauf. Doch dieses Lächeln, diese Augen beflügelten mich innerlich. Leise schnaubte er, grinsend wackelte er mit dem Kopf. Und ich ertappte mich dabei, wie ich darüber nachdachte, wie es sich anfühlte, an seinem Zwirbelbart zu spielen. „Das mache ich sonst nicht“, antwortete er verschmitzt und hatte etwas Gemütliches in der Stimme. „Ich bin übrigens Marina.“ Keine Ahnung, ob Tammy ihm das vielleicht schon gesagt hatte. „Marina Taube.“ Er begann zu lachen, was mich irritierte. „Ich heiße Finn Fliege. Ich musste nur gerade lachen. Wegen … na ja … unseren Namen. Taube und Fliege.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Wir beide haben Flügel?“, rätselte ich sein Amüsement dahinter. „Oder Taube frisst Fliege?“, ergänzte ich. Zugegeben, das war gewagt, aber es gefiel mir Mr. Tod ein wenig aus der Reserve zu locken. Grienend blickte er mich an. „Ich denke, Tauben fressen gar keine Fliegen, nur pflanzliche Nahrung.“ „Dann haben Sie ja Glück“, setzte ich gleich noch einen drauf und genoss das Kribbeln, was mir sein Lächeln bescherte. Keine Ahnung, wie lange wir hier standen. Doch in das Grün seiner strahlenden Augen hätte ich stundenlang blicken können. Das Klingeln seines Handys unterbrach uns bei - was immer das auch war - und er warf einen gequälten Blick auf den Bildschirm. Im selben Augenblick, wo er mit einem Zeigefinger signalisierte, dass er rangehen müsste, tippte mich meine Teamleitung am Arm an. „Marina? Eine Kundin will dich in der Umkleide sprechen. Irgendwas mit einem BH. Ich wollte ihr ja helfen, aber sie will nur dich sehen.“ Ich verkniff mir ein Augenverdrehen. Ich warf einen Blick auf Finn Fliege, der jedoch telefonierte. Ich berührte ihn am Arm, teilte leise mit, dass ich leider gehen musste und ließ ihn unhöflicherweise zurück. Die Kundin und erst recht die Bitte der Teamleitung hätte ich nicht ignorieren können. Es ärgerte mich, aber ich war nun mal auf der Arbeit. Ein Wunder, dass wir uns überhaupt ohne Störung unterhalten konnten.

~ Finn ~

Nicht einmal kann man aus der Firma wegbleiben, ohne Probleme, dachte ich genervt, während Sven mich zutextete. „Ja, ich bin auf dem Weg zurück.“ Sehr wohl hatte ich wahrgenommen, dass sich Marina verabschiedet hatte. „Ich beeile mich“, versprach ich schnell und beendete unhöflicherweise das Gespräch. Ich wollte nicht, dass Marina mir entwischte. Unschlüssig, was genau ich von ihr wollte, lief ich ihr hinterher und berührte sie sanft am Arm. Mein Magen rumpelte, keine Ahnung warum. Mein verdammtes Herz hämmerte hastig in meiner Brust. Ich wollte ... Ja, was wollte ich? Ich wollte mit Marina in Kontakt bleiben. Genau. Ihre Augen schauten durch die Brillengläser direkt in meine Seele. „Falls Sie mal quatschen möchten“, stammelte ich, als hätte ich noch nie mit einer Menschenseele gesprochen und hielt ihr meine Visitenkarte hin, wo auch meine Handynummer aufgedruckt war. Fliege Bestattungen. Ich gab einer Frau, mit der ich Kontakt haben wollte, tatsächlich meine Geschäftskarte. Doch ich wusste nicht, wie ich’s sonst machen sollte. Einfach mal eine Frau schon an Ort und Stelle vergraulen, dachte ich. Das war bestimmt meine neue Challenge, wie mein Sohn es nennen würde. Allerdings wusste Marina bereits, dass ich Bestatter war. Nickend steckte sie die Karte ein und lächelte mich ein letztes Mal an. Einen letzten Blick konnte ich in ihre erdbraunen Augen werfen, bis sie mich im Getümmel des Kaufhauses zurückließ.

Kapitel 4

~ Finn ~

Eine Woche war vergangen. Eine verdammte Woche. Der Kalender in meinem Büro lachte mir abschätzig ins Gesicht. Vor einer Woche hatte ich Marina meine Visitenkarte in die Hand gedrückt, doch bisher hatte sie sich nicht gemeldet. Du Idiot hättest deutlicher sein sollen. Von wegen, wenn Sie mal quatschen möchten. „Hast du noch ‘ne Cola?“ Mein Sohn Benjamin saß heute bei mir im Büro. Seine Schule hatte irgendeinen unterrichtsfreien Tag. Kaum zu glauben, wie viele freie Tage Schüler hatten. Er war 16 Jahre alt, hatte seit kurzem eine Freundin - Melissa - und fand sich besonders cool für sein Alter. Wie alle Kids. Aber ich hatte Glück. Rauchen und trinken waren nicht sein Ding. Handy und Computerspiele hieß das heutzutage. Eva, seine Mutter und meine Ex-Frau, war der Meinung, dass Benjamin ruhig den Tag bei mir verbringen sollte, um Bewerbungen zu schreiben. Er befand sich in seinem letzten Schuljahr. Ausbildung, Praktikum oder Abitur hatten wir ihm quasi befohlen. Chillen