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Miriam ist zurück! In"Frosttanz Vertraust du der Liebe?" hält das Leben weitere Herausforderungen für unsere Lieblingsprotagonistin bereit. Frosttanz, das bedeutet, ein Tanz zusammen mit Miriams emotionaler Herzseite. Wir lernen Miriams Vater kennen, der den weiten Weg aus Amerika auf sich nimmt, um seine Tochter in die Arme zu schließen. Wir treffen Miriams Bruder wieder. Michael, dessen Launen und Handlungen Miriam zur Verzweiflung bringen. Thomas, Miriams große Liebe, zittert vor einer bevorstehenden Untersuchung und nicht nur das, er wagt sich zurück ins Partyleben, was wiederum Miriam innerlich zittern lässt. Gefährdet Thomas etwa seine Abstinenz? Und zu guter Letzt treffen wir auch Miriams beste Freundin Susanna wieder. Susanna, welche mittlerweile in Berlin zurück ist und mit einer emotionalen Entscheidung hadert. Und als wäre das nicht genug Aufregung in Miriams Leben, gerät die von ihr und Thomas mühevoll erschaffene Stabilität ins Wanken, als ihr Sohn Julius plötzlich verschwindet. Miriams Leben, ein Tanz zwischen Vertrauen und Angst sowie Geduld und Zuversicht. Frosttanz. Vertraust du der Liebe? Dies ist die Fortsetzung des Romans"Frostgedanken Wie viel Kraft hat die Liebe?"
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2020
Seine strahlenden braunen Augen verzauberten Miriam seit mehr als zehn Jahren. Nur die Ränder darunter verrieten, wie sehr er vom Leben bereits in die Prüfung genommen wurde. Was hatten sie alles durchgestanden oder überstanden? Früh wurde ihre Liebe auf eine harte Probe gestellt. Thomas war es, welcher Miriam aus einem Elternhaus, bestehend aus Missbrauch und Gewalt, rettete. Er holte sie weg aus dieser Dunkelheit des Grauens. Ihr gemeinsamer Sohn Julius wurde ihr größter Schatz, ihr Lebensinhalt. Doch das Schicksal meldete sich schleichend in das gemeinsame Leben zurück. Der Missbrauch, Miriams Vergangenheit, wurde vor Gericht ausgetragen und der Täter verurteilt, doch am Ende dieses Prozesses gab es keine echten Gewinner. Miriam als Opfer, die mit Fassung und Therapien zurück ins Leben fand, zum anderen Thomas, welcher zu viele Details ihres Missbrauchs ertragen musste. Das Lachen des Täters erfüllte den Gerichtssaal und sollte noch lange in Thomas‘ Kopf nachhallen. Eine Stimme, ein schmutziges Lachen, welches Thomas vergeblich versuchte gedanklich auszuschalten. Abschalten ließen sich auch seine Schuldgefühle nicht. Thomas gab sich die Schuld, Miriam nicht früher von dieser Familie weggeholt zu haben. Von einer Mutter, die für ihre Kinder kein Interesse hatte, von einem Vater, den es nicht mehr gab und einem „Stiefvater“, welchen man nur als Täter betitelte. Er war der Teufel in Menschengestalt und sein Opfer hieß Miriam. Jahrelang war sie das Ventil dieses Teufels. Hilfe bekam sie nicht bis sie Thomas kennenlernte und sie sich ineinander verliebten, er ihre Not erkannte und sie eines Nachts aus dieser Hölle abholte und damit ihren Alltag aus Gewalt für immer beendete. Thomas vergaß sich selbst, konnte für sich schwer verarbeiten was passiert war und wählte den falschen Weg, um seine beginnende Depression zu betäuben. Alkohol war niemals ein Freund und auch kein Helfer, sondern nur ein weiterer Abgrund. Thomas wurde süchtig und war viele Jahre in dieser Abwärtsspirale gefangen. Irgendwann starb Miriams Hoffnung den Kampf gegen den Alkohol zu gewinnen. Sie liebte ihren Mann über alles, aber solange Alkohol die Strippen zog, konnten sie keine gemeinsame Zukunft mehr gestalten. Sie gab auf und verließ mit Sohn Julius das gemeinsame Leben. Doch eines konnte Miriam nicht, so sehr sie sich auch bemühte: die Liebe aufgeben. Denn so war das mit der Hoffnung, man konnte sie nicht aufgeben, sie blieb immer verlockend. Und so blieb Thomas kontinuierlich in ihren Gedanken und in ihrem Herzen verankert. Und er hatte nicht nur das Glück, dass seine Frau trotz allem zu ihm zurückfand. Thomas schaffte es, er wurde abstinent, nicht zuletzt mit Miriams Liebe, in dem er mit der Zuversicht auf ein gemeinsames Leben seine innersten Kraftreserven aktivierte. Nach einem finalen Entzug und einmaligem Fehltritt kurz nach dem Entzug ging die Sonne für beide Stück für Stück wieder auf. Miriam hatte ihre große Liebe und Vater ihres Sohnes zurück. Abstinent, das hieß ein Leben ohne Alkohol. Ein Kampf würde es bleiben, aber sie kämpften fortan gemeinsam gegen einen Gegner, welcher niemals einfach aufgeben würde. Alkohol war nicht irgendein Feind, es war Thomas‘ bizarrer Endgegner.
„Mein Vater kommt, Scott kommt!“, rief Miriam quietschvergnügt und konnte selbst kaum glauben was sie sich sagen hörte. Ihr Vater würde nach Berlin kommen, den sie doch ihr halbes Leben für tot gehalten hatte. Der, als sie und ihr Bruder Michael Kinder waren, plötzlich einfach nicht mehr da war. Mit dessen Weggang aus diesem Leben sich doch so einiges verändert hatte. Ihre Mutter Sibille war es, die damals behauptete, dass Scott verstorben sei. Sie waren noch zu jung, um das warum und weshalb zu erfahren oder nachzuforschen. Danach wurde es für die Familie nur noch finster, besonders für Miriam. Ihre Mutter Sibille traf keine richtigen Entscheidungen für die Familie und brachte stattdessen Männer heim, die nicht gut waren. Besonders einer, der letzte, den sie nur den Täter nannten, ein Name, welcher nicht von ungewiss kam. Der Täter wurde für seine Taten verurteilt. Jahrelang quälte er Miriam, bis ihre große Liebe Thomas sie aus dieser Familie befreite. Miriam nannte es Befreiung. Die Befreiung aus einem familiären Alltag aus Lügen und Hass, aus Gewalt und Missbrauch und ohne Liebe der eigenen Mutter. Nicht nur Miriam musste sich ins Leben zurückkämpfen, auch ihre große Liebe Thomas, welcher eine harte Zeit hinter sich hatte. Ein Alltag aus Depressionen und Sucht begleiteten ihn seit der Gerichtsverhandlung des Täters viele Jahre. Es war ein weiterer Schlag im Kampf Leben vs. Miriam. Ihre Liebe füreinander blieb, aber ihre Zukunft zerbrach am Alkohol und Miriam verließ das gemeinsame Leben, als Thomas zum wiederholten Mal in den Entzug ging. Das passierte zur Weihnachtszeit vor über einem Jahr. Obwohl sie beide nur schwer daran geglaubt hatten, fanden sie dennoch einen Weg in ein gemeinsames Leben zurück. Dafür benötigten sie mehr als Liebe und Versprechungen. Thomas ging nun regelmäßig in verschiedene Therapien, nahm Medikamente ein und begann eine Umschulung als Bäcker. Das alte nasse Leben ließ er hinter sich. Das neue trockene Leben verlangte alles von ihm ab, aber der Preis war unendlich kostbar: Miriam. Thomas war nun seit fast 1,5 Jahren abstinent. Zufällig in der Zeit, als sie ihren Neuanfang wagten, bekam Miriam einen Brief ihrer Mutter Sibille. Einen Brief, in dessen Inhalt sich Sibille offenbarte, dass Miriams Vater Scott gar nicht gestorben sei, wie einst von ihr behauptet. Der angebliche Tod ihres Vaters war nur eine der vielen Lügen ihrer Mutter. In diesem Leben hatte Miriam für ihre Mutter Sibille nichts mehr übrig, aber die Tatsache, dass ihr Vater doch noch existierte, war unfassbar wichtig, verwirrend und schön für sie. Ihr Vater, Scott, wollte nun wirklich kommen, um sie wiederzusehen oder besser neu kennenlernen zu können. Miriam wusste zuvor nicht wo ihr Vater in Amerika zu finden war. Erst ein weitergeleiteter Brief, den sie aus Berlin an das Deutsche Konsulat in New York schrieb, brachte die ersehnte Wendung im letzten Jahr.
„Das freut mich für dich, Strudel!“, strahlte Thomas sie mit seinen funkelnden Augen an. Sie liebte diesen Mann einfach. Strudel war der etwas ungewöhnliche Kosename, den sie seit ihren ersten gemeinsamen Tagen vor über zehn Jahren bei ihm wett hatte. Sie sei so süß und so warm wie Apfelstrudel hatte er ihr damals erklärt. Ursprünglich wollte sie ihren Vater besuchen, er hatte sie sogar eingeladen. Als Scott damals aus dem Leben seiner Kinder verschwand, war er durch großes Glück an einen Job in Amerika gekommen und für immer dortgeblieben. Lange hatte er dort an der Ostküste in einem Casinohotel gearbeitet bis das Hotel bankrott ging. Nun wohnte er in Kalifornien. „Aber nicht im schicken L.A.“, hatte er ihr erklärt, als sie zu Weihnachten das erste Mal miteinander telefonierten. Er wohnte in einem kleinen Dorf am See, irgendwo in den Bergen, an der Grenze zwischen den Bundesstaaten Kalifornien und Nevada. Miriam hatte den Namen des Ortes bereits vergessen. Thomas war allerdings strikt gegen ihre Alleinreise nach Amerika gewesen. „Ich freue mich wirklich für dich, Strudel, aber du kennst den Mann doch gar nicht. Du hast ihn als 5-jährige oder so das letzte Mal gesehen. Nein, ich möchte nicht, dass du dahinfliegst. Ich bin der letzte, der mit dem Finger auf jemandes Fehler zeigen würde, aber er ist gegangen und hat sich ja auch nie gemeldet bzw. nicht einmal versucht die Lüge deiner Mutter irgendwie klarzustellen“, hatte Thomas ihr vor einigen Wochen gesagt. Er hatte recht, das wusste sie und dann bot sich ihr Vater an, selbst in den Flieger zu steigen. „Wer ist Scott noch mal?“, rief die Stimme von Julius, ihrem 6,5-jährigen Sohn aus dem Wohnzimmer. „Scott ist mein und Onkel Michaels Vater“, antwortete sie, während sie den kleinen Tisch in der noch kleineren Küche vom Abendbrotgedeck abräumte. Ihr Sohn stand mit verschränkten Armen an der Küchenschwelle. „Papa, warum hast du keinen Papa? Ist der tot?“ Miriam schloss für eine Sekunde die Augen. Ihr Sohn war erst im letzten Spätsommer eingeschult worden, aber sie hatte das Gefühl seine Reife hatte sich in nur wenigen Monaten verdoppelt. Dinosaurierbücher wurden nun seltener angeguckt, dafür blätterte er nun häufig im großen Grundschullexikon, wollte unbedingt ganz schnell lesen lernen und hatte ähnlich viele Fragen wie ein Lexikon. Thomas nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas bevor er antwortete. „Ja, mein Vater starb vor meiner Geburt. Es war ein Unfall im Betrieb, ein Autounfall. Sie waren zu einer Baustelle unterwegs. Es saßen mehrere Arbeiter in einem Wagen.“ „Oh, da war Oma Elisabeth bestimmt sehr traurig, oder?“ „Ja, das war sie.“ „Mama, und warum hast du keine Mama? Ist die auch tot?“ Miriam zuckte zusammen und stieß mit einer Tasse ungeschickt an die Arbeitsplatte, sodass ihr diese aus der Hand glitt und klirrend auf dem Boden aufschlug. Sie stöhnte auf. „Lass nur, ich feg‘ schon“, bot Thomas an und hatte im Nu die Kehrschaufel unter der Spüle hervorgezogen und am Boden kauernd begonnen, die kleinen Scherben aufzusammeln. Miriams Herz pochte. Zum ersten Mal hatte Julius direkt heraus nach ihrer Mutter gefragt. Er hatte sie niemals kennengelernt. Nach Miriams damaligen dramatischen Auszug hatte sie nie mehr mit ihr gesprochen oder zu tun haben wollen. Selbst vor Gericht log ihre Mutter Sibille weiter, behauptete von dem Missbrauch ihrer Tochter nicht gewusst zu haben. Sie sei viel arbeiten gewesen und putzte ansonsten intensiv die Wohnung, insbesondere das Bad. Miriam wusste immer, dass das eine große Lüge war. Ihre Mutter wusste alles. Sibille vergriff sich zwar nie aktiv an Miriams Körper, aber in Miriams Augen war Sibille dennoch eine Täterin, weil sie diesen Mann, der nur aus Hass und Gewalt bestand, in die Familie brachte und sie nichts unternahm, um ihrer Tochter zu helfen. Vor einem Jahr hatte ihre Mutter ihr dann diesen Brief geschrieben. Ihr Vater Scott war nicht tot, sondern lebte. Doch für Miriam kamen alle Erklärungen und Entschuldigungen zu spät. Sie hatte ihrer Mutter nichts mehr zu sagen. „Meine Mutter ist nicht wirklich tot, aber von meinem Gefühl her. Ich habe nichts mit ihr zu tun“, erklärte sie schnell und fühlte sich aufgekratzt, als würde ihr Blut jucken. Als sie mit Thomas im letzten Jahr wieder zusammenfand, hatte sie sich selbst geschworen nichts mehr zu erfinden, nicht mehr zu lügen. Keine Lügengeschichten um das Thema Alkohol oder alles andere. Lügen machten alles nur schlimmer, auch das hatte sie über die Jahre gelernt. Miriam hatte keine Angst vor der Frage „ob sie eine Mutter hatte“, sie fürchtete nur vor der darauffolgenden Frage, welche Julius just in diesem Moment stellte, als Thomas mit Schaufel und Kehrbesen wieder auftauchte: „Und warum redest du nicht mit ihr? Was ist passiert?“ „Dafür bist du noch zu jung, Julius!“, wich sie schnell aus. Die Alterskarte, ihr momentanes Ass im Ärmel, war ihre Rettung. Thomas kippte die Scherben in den Mülleimer. „Eine Tasse weniger“, lachte er, „was soll’s, wir haben ja noch genug.“ „Kommt dein Papa zu uns?“, fragte Julius weiter. „Nein, ich werde ihn wohl im Hotel treffen“, antwortete sie und kniff die Augen zusammen. „Im Hotel?“, hakte Thomas nach. „Du allein?“ „Na ja, Michael habe ich bisher noch nicht überreden können.“ Seufzend verließ sie die Küche, auch um weiteren Fragen ihres Sohnes auszuweichen. Trotz des weihnachtlichen Telefonats, welches auch zwischen Scott und Michael stattfand, hatte ihr Bruder Michael bisher noch keine große Motivation verspürt, Scott neu kennenlernen zu wollen. Enttäuschung spürte Miriam schon über seine Entscheidung. Michael und sie hatten seit Kindheitstagen ein gutes bis sehr gutes Verhältnis. Als Kinder von einem verlassenen Vater, aufgewachsen bei einer selbstsüchtigen Mutter, die ihre gewalttätige Liebschaft mit nach Hause brachte, welche dort Elend und Gewalt auslebte. Miriam und ihr Bruder waren nahezu immer ein eingespanntes Team gewesen, doch etwas änderte sich im letzten Jahr. Michael hatte einen Unfall. Er war auf dem Weg zu seiner Hausmeister-Zentrale und wurde beim Überqueren einer Straße von einem schwarzen Fahrzeug überfahren. In Lebensgefahr schwebte er kurz, es war keine leichte Zeit gewesen. Währenddessen, fast zeitgleich, gebar seine Freundin Tina ihren gemeinsamen Sohn Emil. Lange kannten sich die beiden noch nicht. Michael war nicht in der Lage gewesen an der Geburt teilzunehmen, er lag auf der Intensivstation und kämpfte mit den Folgen seines Schädel-Hirn-Traumas. Und nicht nur das, auch verpasste er zeitgleich die Einschulung seines Neffen Julius. Auch für Miriam war dies eine schwere Zeit gewesen, die sie nur mit Thomas‘ Unterstützung aushalten konnte. Sie war so dankbar, dass ihr Mann stark blieb und ihr zur Seite stehen konnte. Michael erholte sich von seinem Unfall, hatte aber dennoch mit Nachwirkungen zu leben, auch war er noch immer nicht voll arbeitsfähig wie er es sich wünschte. Und derselbe, so empfand Miriam, war Michael seither auch nicht mehr. Eine Folge dieses Unfalls, dieser Verletzung? Sicher war sie nicht. Miriam wusste nur, zurzeit war mit ihrem Bruder nicht gut Kirschenessen. „Aber du triffst ihn doch sicher nicht allein im Hotel?“, hörte sie Thomas neben sich weiterfragen. „Doch sieht so aus“, gab sie lapidar zur Antwort und kannte auch die Meinung ihres Mannes dazu sehr genau. „Nein, Strudel. Ich möchte nicht, dass du ihn allein triffst, du kennst ihn doch gar nicht oder kaum“, sprach Thomas und gestikulierte dabei wild mit den Händen. Miriam seufzte laut auf. „Dann komm du doch mit!“, schlug sie vor, obwohl sie auch hierauf die Antwort mittlerweile kannte. „Miriam, momentan ist mir nicht danach deinen verschollenen Vater zu treffen. Was sollte ich ihm erzählen? Soll ich ihn zwischen Arbeit und Therapien schnell kennenlernen? Hallo, ich bin’s, der Alkoholiker?“ Thomas rümpfte die Nase. „Kannst du nicht Susanna mitnehmen? Mir wäre wirklich wohler, wenn du nicht allein gehst.“ „Schon gut, Herr Bremer!“, Miriam hob die Hände. „Ich frage Susanna.“, grunzte sie augenverdrehend, als Thomas sie wie so oft sanft aber bestimmend an sich zog. Sie bekam sofort weiche Knie als sie seine Augen erblickte. „Danke schön, Frau Bremer“, neckte er zurück und sie spürte seine warmen Lippen auf ihren.
„Na klar komm ich mit, Chica! Ich bin gespannt!“, rief Susanna schrill in Miriams Ohr. Sie war erleichtert. Auf ihre gute Freundin Susanna war einfach Verlass. Es war so schön, dass sie ihre Freundin in Berlin zurück wusste. Susanna und ihr Mann José waren erst vor einigen Wochen zurück nach Berlin gezogen. Zuvor hatten sie einige Zeit in Madrid gelebt. José war als Halbspanier in der Fuhrparkbranche viel unterwegs, Susanna war Autorin und konnte von überall arbeiten. Als sie und José sich damals in Berlin kennenlernten, heirateten sie zügig und für Susanna gab es keine Zweifel nicht mit ihm nach Spanien zu gehen. Miriam freute sich für ihre Freundin, hätte sie aber gern in Berlin gehabt, gerade als sich die Probleme mit Thomas zuspitzten und Miriam quer durch die Stadt nach Spandau zog und einen Neuanfang begann. Susanna und José hatten im letzten Jahr einige Probleme, Susanna befand sich in einer Art Karrierekrise. Sie kündigte ihren Buchvertrag und zog schlussendlich mit ihrem Mann zurück in ihre Heimat nach Berlin. José verliere lieber Spanien als seine Frau, hatte dieser damals gesagt. Susanna kannte Miriam, genauso wie Thomas, seit der Zeit in der Oberstufe. Und Miriams Sorgen und Probleme kannte Susanna so gut wie kein anderer. „Danke, das freut mich. Thomas will nicht mitkommen, allein soll ich auch nicht gehen seiner Meinung nach, Julius soll ich noch nicht mitnehmen und Michael … Ich weiß nicht was er hat, aber er will auch nicht“, grunzte Miriam in ihr Mobiltelefon. „Chica, ich bin echt gespannt. Wo und wann wollt ihr euch denn treffen?“ „Nächstes Wochenende. Er wird im Ibis Hotel an der Altstadt wohnen, ich glaube er sagte, dass er zehn Tage bleiben kann.“ „Oh, nur zehn Tage?“, fragte Susanna, „Das ist ja nicht so lang.“ „Stimmt, aber du musst wissen die Amerikaner haben nur rund 14 Tage Urlaub im Jahr, für ihn ist das bestimmt eine lange, weite und teure Reise und er kennt mich ja praktisch auch nicht.“ „Stimmt, aber Miriam, ich merke du denkst schon wieder zu viel. Freue dich einfach darauf und sei froh, dass du noch einen Vater hast, nicht so wie ich. Ha ha, meiner steht bestimmt nicht einfach auf der Matte“, lachte Susanna. Der etwas schwarze Humor war typisch für ihre Freundin. Susannas Vater starb durch Suizid, als sie noch ein Kind war. Er wurde von ihrer Mutter in der Wohnung aufgefunden. Es war eine schwere Zeit für Susanna gewesen, doch irgendwann entschied sie sich bewusst dafür eine Frohnatur zu werden. Das Leben sei zu kurz für Missmut. Damit sollte sie recht behalten. Susanna war eine Freundin zum Pferdestehlen.
„Miriam, wo sollen diese Ordner hin? Hast du dir das gemerkt?“, riss Toby sie aus den Gedanken. Toby Taylor war ihr britischer Kollege, den sie hier vor über einem Jahr auf der Museumsetage des Kommandantenhauses der Zitadelle kennenlernte. Nach ein paar Wochen wechselte er seinen Arbeitsplatz und blieb einige Monate in Dresden auf der Festung Königstein, bis er Anfang des Jahres zu Miriams großer Überraschung zurück nach Berlin kam und wie sie fest angestellt wurde. Zu zweit machte die Arbeit auf der Museumsetage mit ihrer doch ganz eigenwilligen Chefin, Frau Behrend, viel mehr Spaß. Zusammen kümmerten sie sich um die Führung von Touristen und alles andere rund um die Verwaltung und Archivierung der Museumsexponate. Die Dauerausstellung auf dessen Etage sich ihr Hauptarbeitsbereich befand, zeigte die Geschichte der ehemaligen Stadt Spandau. Toby war ein lockerer Typ in Miriams Alter. Ein Typ, der gern aufs Ganze ging, sodass er an seinem ersten Arbeitstag vor über einem Jahr sofort einen Flirt mit ihr begannen hatte und sich daraus sogar ein Kuss entwickelte. Eine Geschichte, die für beide ein Geheimnis blieb und Miriam dies nicht nur sofort bereute, sondern einen Tag später gleich als unbedeutend deklarierte. Toby winkte damals ab, alles sei okay. Miriam befand sich zu dieser Zeit emotional im Ausnahmezustand, wie sie es heute für sich bezeichnen würde. Die Trennung von Thomas war erst kürzlich passiert und sie sehnte sich nach Nähe und Stabilität. Heute verband beide eine gute Freundschaft und ein gemeinsamer Arbeitsplatz.
„Hä? Die Ordner? Die sollen in den Keller ins Regal Nummer 2“, antwortete sie und ging ins Büro, um sich einen Kaffee einzuschenken. Wenig später war ihr Kollege zurück. „Only 2 hours, dann ist Feierabend!“, lachte dieser und nahm sich ebenfalls eine Tasse mit Kaffee. „Was hast du am Wochenende vor? Party?“ Miriam zischte Luft zwischen ihren Lippen aus. „Nein, ich treffe mich mit meinem Vater. Also, das ist etwas kompliziert. Ich habe ihn seit 25 Jahren nicht mehr gesehen.“ Ihr wurde bange, als sie zum ersten Mal bewusst über diese Zahl nachdachte. „Really? Das ist ja toll! Das wusste ich gar nicht. Wo kommt er her?“ „Aus Amerika, er müsste heute ankommen. Morgen treffe ich ihn dann.“ „That is so damn cool, Miriam!“, Toby blieb der Mund offenstehen. Sie lächelte etwas verlegen und stellte ihre leere Tasse in die Spüle. „Na ja, wir werden sehen. Ich bin schon ein wenig nervös“, gab sie zu, „ich treffe ihn zusammen mit meiner Freundin, mein Mann möchte erst einmal nicht mit. „Your Thomas? Miriam, was ich dich schon lange einmal fragen wollte. Ich kenne doch hier praktisch niemanden, außer dich. Meinst du, ich könnte mit deinem hubby ausgehen?“ Miriam kniff kurz die Augen zusammen, bevor sie ihre Augenbrauen hochzog. „Mit Thomas willst du ausgehen?“ „Yes, treffen. Ich könnte ihn doch einmal kennenlernen. Das wäre bestimmt gut, Miriam. I am a nice guy, oder nicht?“ Nervös vor dem Treffen ihres Vaters und angespannt von Tobys Frage biss sich Miriam auf ihre Unterlippe. Was sprach dagegen? Vielleicht war es wirklich keine schlechte Idee, dass sich die beiden einmal kennenlernten. Im letzten Sommer waren Miriam und Julius zusammen mit Toby spontan ein Eis essen gegangen, eine Geschichte die Thomas hinterher säuerlich aufstoßen ließ. Er wirkte bei Geschichten rund um Toby durchaus etwas unsicher, gar eifersüchtig, was er sogar zugab. Toby war ein netter Kerl, sie mochte ihn und wäre es für Thomas nicht auch gut Leute zu treffen? Wieder Freunde zu finden? Ein Sozialleben außerhalb Frau, Kind und seiner Therapiegruppe zu führen? Aber sollte sie wirklich für Thomas die Freundschaften aussuchen? „Ich frage Thomas, ob er Lust hat, aber ich kann dir nichts versprechen“, antwortete sie unsicher. Toby dagegen strahlte zuversichtlich über das ganze Gesicht.
Nach dem Abendessen beschloss sie Thomas zu fragen. „Vielleicht könnte er sich ja mit Toby treffen, wenn ich morgen Scott treffe“, überlegte sie. An diesem Wochenende hatte Thomas frei, was nicht häufig der Fall war. Als angehender Bäckergeselle musste er oft an den Wochenenden und grundsätzlich immer in der Nacht arbeiten. „Julius, mach‘ dich bitte langsam bettfertig, ich möchte mich obendrein mit Papa allein unterhalten“, bat sie, als sie die Teller in die Spülmaschine räumte. „Wieso? Und warum willst du reden?“, rief ihr Julius vorwurfsvoll entgegen. „Julius!“, ermahnte sie. Dieser presste die Lippen aufeinander, bevor er einen trotzigen Laut von sich stieß. „Julius, höre bitte, und zieh‘ dich schon mal um“, sprach Thomas und klopfte mit der Faust vor ihm auf den Tisch, „und eine andere Tonlage bitte.“ Trotzig erhob er sich und verließ brabbelnd die Küche. „Was möchtest du besprechen?“, fragte Thomas sogleich, faltete seine Hände ineinander und legte diese lässig auf seinen Hinterkopf. „Aber ich geh‘ noch nicht ins Bett!“, schrie Julius patzig vom Flur aus in die Küche, „es ist Wochenende, morgen hab‘ ich keine Schule!“ „Julius! Diskutiere nicht! Und ja, morgen ist keine Schule, mach‘ dich bitte trotzdem bettfertig!“, sprach Thomas nun eindringlicher. Sekunden später hörte man die Badezimmertür zuknallen. Seufzend wandte er sich wieder an Miriam. „Ich weiß“, sprach sie nickend, „wann beginnt noch einmal die Pubertät? Sind wir da korrekt informiert?“ Beide mussten lachen. „Was wolltest du mit mir denn Spannendes besprechen, Strudel?“ Unsicher überlegte sie wie sie beginnen sollte und beschloss, nicht um das Thema herum zu reden. „Mein Kollege Toby hat heute nach dir gefragt.“ Thomas‘ Augen weiteten sich, Miriam vernahm Falten auf seiner Stirn. „Ja … also … ähm … ich habe dir ja schon ein paar Dinge von ihm erzählt und er kennt auch Geschichten von dir und er hat gefragt, weil er doch in Berlin niemanden kennt, außer mich und seine Großtante, in dessen Wohnung er lebt … Er hat mich also gefragt, ob ihr beide euch nicht einmal kennenlernen wollt.“ Der Stuhl quietschte leise, während sich Thomas langsam zurücklehnte und sie neugierig ansah. „Nun ja, ich habe ihm gesagt, ich frage dich einfach mal. Ich treffe mich doch morgen mit Scott, ja und Susanna ist auch dabei. Du hast doch dieses Wochenende frei, vielleicht hast du ja Lust Toby kennenzulernen? Was denkst du?“ In diesem Moment fragte sie sich, warum sie das Thema überhaupt angesprochen hatte. War es ihr so wichtig? Sollte Toby doch allein Freunde suchen. Sie kam sich doof vor, für Toby oder gar für Thomas Freundschaften zu vermitteln. Als würde man jemanden zu verkuppeln versuchen gegen seinen Willen oder ohne dessen Wissen. Stumm strich sich Thomas ein paar Mal über sein stoppliges Kinn, bevor er die Arme vor seiner Brust verschränkte. „Du möchtest, dass ich Toby kennenlerne? So freundschaftlich? Mit ihm etwas unternehme, abhänge? Und dass vielleicht schon morgen, wenn du Scott triffst? Damit ich einen Freund finde?“ „Eher damit Toby einen Freund findet, es war seine Idee“, warf sie schnell ein, war sich ihrer Antwort aber nicht allzu sicher. „Okay“, antwortete Thomas schulterzuckend. „Wie? Okay?“ „Ich sagte okay, dann bringe ich Julius morgen zu meiner Mutter, sie haben ja auch schon lange nichts mehr miteinander unternommen und er schläft ja auch immer gern bei Elisabeth. Du kannst dann Scott treffen und ich treffe Toby. Warum nicht?“ „Ja, warum nicht? Gut …“, murmelte sie und war überrascht wie einfach das gewesen war.
„Ich bringe Julius jetzt zu Elisabeth und gehe dann von dort aus zur Billardhalle“, erklärte Thomas an der Schlafzimmerschwelle. „Was? Ja! Billardhalle?“, rief Miriam beinah aus ihrem Kleiderschrank heraus und war einem Nervenzusammenbruch nahe. Frustriert blies sie Luft aus ihren Backen. „Ihr geht schon? Ich raste hier gleich aus, ich habe nichts zum Anziehen! Nichts!“ Grinsend kam Thomas auf sie zu, warf einen Blick in ihren zerwühlten Kleiderschrank, griff nach einem Bügel und reichte ihr diesen. „Zieh‘ das an, dazu deine blaue Jeans und deinen Mantel und du bist perfekt.“ Es war ihre violette Bluse, welche mit beigen Blüten verziert war. Sie liebte diese Bluse, sie sah zu allem perfekt aus. „Die hatte ich an, als …“ „Ich weiß“, hauchte er anmutig in ihr Ohr. Sie liebte dieses Gefühl. „Am Tag des Frühlingsfestes, der Tag als wir wieder zusammenkamen“, sagte er. „Das weißt du?“, fragte sie verwundert, denn damals hatte sie ihren zugeknöpften Mantel darüber getragen. „Strudel, ich weiß alles, ich bin so weise, ich …“ „Alles klar, genug!“, lachte sie. „Okay, dann zieh‘ ich meine Lieblingsbluse an und hoffe …“ „Du wirst wunderschön aussehen und es ist ja auch nur dein Vater, kein Date“, neckte er sie und drückte seine Lippen auf ihre. „Ja“, presste sie hervor. „Von Dates habe ich die Nase voll.“ Lachend und immer noch küssend drückte er sie an die geöffnete Kleiderschranktür, bis die ungeduldige Stimme von Julius zu hören war. „Los jetzt, Papa! Tschüss, Mama!“ „Tschüss, Schatz, viel Spaß bei Oma Elisabeth, bis morgen! Bekomme ich keinen Kuss?“ „Jetzt nicht, Mama! Morgen wieder“, antwortete er und schien die Wohnungstür bereits zu öffnen. „Oooh!“, neckte Thomas sie. „Ich küsse dich dafür.“ Grinsend blickten sie sich an, als sich Miriam von ihm lossandte. „Okay, tschüss! Bis heute Abend und grüß‘ Toby von mir. Und Thomas?“ Er drehte seinen Kopf noch einmal in ihre Richtung. „Billardhalle?“, etwas Flehendes lag in ihrer Stimme. „Ja, Billardhalle.“ „Zum Billardspielen?“ „Genau. Da spielt man Billard“, antwortete er mit einer Entschlossenheit in der Stimme, bevor Miriam die Tür schließen hörte. Sie atmete tief in den Bauch. „Ich treffe meinen Vater und Thomas geht Billardspielen. Ein ganz normaler Tag“, sprach sie zu sich selbst.
Das Herz in seiner Brust hämmerte, als er die Wohnung seiner Mutter verließ. Er würde sich jetzt mit Miriams Arbeitskollegen Toby treffen, dem rothaarigen, charmanten Briten, jedenfalls war es das, was er aus früheren Erzählungen aufgeschnappt hatte. Und er würde Billardspielen gehen. Zwei Absurditäten, welche zusammentrafen. Sich zum Billardspielen verabreden, für viele Leute Normalität, für ihn, den trockenen Alkoholiker, Neuland. Ein Jahr war er nun abstinent. Zwar hatte er täglich mit Saufdruck zu kämpfen, man konnte es nicht anders sagen, aber er wollte das hier, er wollte raus, er wollte sich treffen, draußen. Bisher wurde ihm viel abgenommen. Das Einkaufen übernahm häufig Miriam. Seine Woche war meist bis oben hin vollgepackt. Nachts arbeiten, dann nach Hause kommen, schlafen, regelmäßig zur Gruppen- sowie Einzeltherapie und dazwischen seine kleine Familie. Hatte er Zeit außerhalb von Familie, Arbeit, Therapie, Leute zu treffen? Gar neue Leute kennenzulernen? Mit seiner Vorgeschichte gar nicht so einfach. Gut, er war kein ehemaliger Straftäter und er stand auch dazu alkoholkrank zu sein, aber dennoch fiel es ihm nicht besonders leicht rauszugehen und neue Leute kennenzulernen. Leute, welche mit Sicherheit Alkohol tranken. Taten das nicht alle? Sei es an den Wochenenden, zu Geburtstagen oder just for fun? „Ausgerechnet Miriams Kollegen Toby treffen?“, hatte er kurz gedacht und sich dann für ein „Warum nicht?“ entschieden.
Er erblickte den Eingang der Billardhalle bereits von Weitem. Es war nur eine normale Billardhalle, wo Leute hingingen, um ein bisschen abzuschalten, um ein wenig Spaß zu haben. „Spaß haben“, überlegte er, das hatte er außerhalb der Familie, außerhalb seiner Therapiegruppe im letzten Jahr versucht. Ein Bäckergeselle hatte Geburtstag und die Frau vom Chef hatte nach der Schicht noch für alle belegte Brötchen für ein gemeinsames Frühstück bereitgestellt. Natürlich tranken die anderen Sekt. Er hatte Druck, ja, aber er trank nichts bis auf literweise Wasser. Er kam nur später nach Hause, zu seiner Mutter, Elisabeth, wo er zu dieser Zeit lebte. Diese empfand sein zu spätes Nachhausekommen seltsam, auch dass er keine Lust darauf hatte noch mit ihr zu sprechen und sofort ins Bett ging. Sie rief Miriam an und insbesondere Miriam verfiel in eine Art Panik, er könnte erneut rückfällig geworden sein und machte ihm wenige Stunden später in Elisabeths Küche eine Szene. Szenen einer Ehe, aber lustig waren diese nicht. Miriam hatte ihm unterstellt getrunken zu haben und ein großer Streit begann. Thomas schüttelte den Kopf. Das war letztes Jahr und das wichtigste der unangenehmen Geschichte war, dass er nicht getrunken hatte und er würde auch heute nicht trinken. Er würde nur mit einem neuen Kumpel in einer Lokalität Billardspielen, in dem man mehr Alkoholvarianten als Speisen bestellen konnte. Sie hätten sich auch woanders treffen können. Nur wo? In einem Café wie Frauen? Gab es nicht auch dort Alkohol, wenn man es wollte? Liköre im Kaffee? Gab es überhaupt eine Lokalität, wo es garantiert keinen Alkohol gab? Diesen Ort gab es nur in den eigenen vier Wänden. Draußen, so wusste er, würde Alkohol schon immer vor ihm da sein. „Hey, du musst Thomas sein, ich bin Toby, schön dass es geklappt hat, ich kenne noch keine richtigen Leute in Berlin, na ja, bis auf your wife Miriam“, plapperte der rothaarige Typ sofort los. Er sprach Thomas wie Tommäs aus, das gefiel ihm. „Hey jo, ähm … ja, ich bin Thomas, dann lass uns mal reingehen und Billardspielen“, antwortete er etwas unsicher und hielt die Glastür zur Halle auf. „Danke. Let’s go! Kannst du Billard? Hast du es schon oft gespielt?“, quasselte Toby fröhlich weiter, während er das Gebäude betrat. „Nur im Suff“, dachte Thomas, sagte dies aber nicht. Reflexartig schloss er für einen Moment die Augen, als er beim Betreten des Gebäudes wie gegen eine stickige Wand lief, dessen Geruch er nur zu gut kannte. Eine Mischung aus unbelüftetem Raum, Schweiß und ein Geruch, der ihm besonders intensiv in der Nase brannte: Alkohol. Schweißperlen liefen ihm kalt den Rücken herunter. Aus der Halle dröhnte der Bass. Die Partyversion von „Die immer lacht“ von der Schlagerperle Kerstin Ott schien voll aufgedreht zu sein. „Yeah! Tommäs! It’s Schlagernight! Magst du Schlager? Ich liebe deutsche Musik!“ Toby war bereits sichtbar in Partystimmung, als sie sich an einem Bistrotisch neben einen der Pooltische niederließen. Toby warf im Nu seine Sportjacke über einen Barhocker und pfiff in Richtung Theke. Eine junge blonde Bedienung im Schulmädchenstil kam mit einem sichtbaren Kaugummi im Mund schmatzend auf sie zu. Thomas stand unbeholfen da, noch immer im Mantel und fühlte sich uralt. „Hi, ihr Süßen! Die Happy Hour beginnt gleich, heute gibt es die Best-Friends Cocktails. Zwei zum Preis von einem.“ Toby schüttelte mit dem Kopf, was Thomas zunächst überraschte. „Ich will keinen Cocktail, ich möchte Bier“, erklärte dieser. „Okay, aber die Happy Hour gilt nur für Cocktails. Unser Premiumpartner ist Warsteiner.“ „Bring mir zwei“, sagte Toby und unterstützte diesen Wunsch mit der Darstellung des Peacezeichens. Die Schulmädchenbedienung nickte und wandte sich an Thomas. „Für dich auch etwas oder gehst du gleich wieder?“ Thomas schüttelte den Kopf und knöpfte hastig seinen Mantel auf. „Ja, ich nehme auch etwas“, antwortete er kopflos, verschluckte sich an seinen Speichel und hustete los, sodass die Schulmädchenbedienung einen Meter zurückwich. „Möchtest du auch ein Bier?“ Immer noch hustend schüttelte Thomas energisch den Kopf und röchelte nach Luft. „Ich … nehme … Wasser …“, versuchte er zu sagen, aber das Kribbeln im Hals hatte noch nicht nachgelassen und Kerstin Otts Stimme erfüllte basslastig den Raum.
„… die immer lacht … die immer lacht … die immer lacht … oh, die immer lacht und nur sie weiß es ist nicht wie es scheint, oh, sie weint, oh, sie weint, sie weint, aber nur wenn sie alleine ist …“
Die Augen der Schulmädchenbedienung fügten sich zu Schlitzen. Sichtbar bemühte sie sich aus der Musik und dem Husten einen Bestellwunsch herauszuhören. Sie zeigte in Richtung Theke. „Ich komme gleich noch einmal wieder“, sprach sie und verschwand. Toby war währenddessen zur Stelle und klopfte Thomas auf den Rücken. „Tommäs, are you alright?“ „Danke, es geht schon wieder“, antwortete dieser und zog sich endlich seinen mittlerweile schwitzigen Mantel aus. Erschöpft und peinlich berührt nahm er auf einem der hohen Barhocker am Bistrotisch Platz und verfluchte die Bedienung dafür, gegangen zu sein. Jetzt musste er noch einmal sagen, dass er nur Wasser wollte. Wasser. Wasser trinken in einer Billardhalle, wo sich jeder zur Happy Hour bei lauter Schlagermusik amüsieren wollte. „Tommäs, ist es okay, wenn ich Bier trinke?“, fragte Toby mit einem Mal und obwohl die Frage irgendwie zu spät kam und Thomas sie gleichzeitig auch überflüssig empfand, wirkte es dennoch charmant. Er wusste, dass Miriam auf der Arbeit von ihm erzählt hatte und auch von seiner Krankheit. Miriam hatte dies nicht wirklich geplant. Es rutschte aus ihr heraus. Damals war es mehr eine Art Rechtfertigung warum sie denn keinen Alkohol mit ihren Kollegen trinken wollte. Ihre Chefin hatte zuvor die klassische Sind-Sie-etwa-schwanger-Karte ausgespielt, als Miriam die Wahrheit offenbarte. Nicht nur Thomas, auch Miriam musste sich mit outen. Alkoholsucht belastete immer alle innerhalb einer Familie, auch die Nichtsüchtigen. Er war dankbar dafür, dass er sich gegenüber Toby nicht mehr erklären musste. „Ja, trink‘ was du willst“, antwortete er schnell. Was hätte er sonst erwidern sollen? Etwa: „Nein, trinke bitte nichts! Alle mal herhören! Ich bin Alkoholiker, bitte trinkt alle nichts! Wasser für alle!“ Thomas hatte sich entschieden wieder nach draußen zu gehen. Er musste damit klarkommen. Nervös trommelte er mit den Fingern auf dem Tisch herum. „Wo bleibt nur diese Bedienung?“ Toby bereitete derweil schon den Eröffnungsstoß, den Break, vor und hatte sich einen Queue geschnappt und begann damit dessen Spitze einzukreiden. „So ihr Süßen, hier sind deine zwei Bier. Und du möchtest?“ „Wasser bitte, drei Wasser!“ Thomas‘ Herz klopfte hart in seiner Brust. Die Bedienung runzelte die Stirn und kam näher zu ihm heran. Die Stimme von Mark Forster dröhnte nun in der Partyversion aus den Boxen.
„… verrückte, bunte Reise, mal Tinnitus und mal leise, der Bizeps wächst vom Steuerrad-Rumgereiße, so selten fitte Planung, bin mehr so dritte Mahnung, doch immer sicher im Gemetzel, dank der schicken Tarnung …“
„Du möchtest Wasser? Habe ich das richtig verstanden?“ „Ja, bitte drei Wasser!“, sagte er lauter als beabsichtigt. „Drei Wasser? Mehr nicht?“ „Nur Wasser! Mehr nicht!“, wiederholte er gereizt. Verdammt, war die Frau begriffsstutzig. Thomas fühlte sich unbehaglich, da er nun schon zum vierten Mal versuchte seine Scheißbestellung zu äußern, sein Scheißwasser. Obwohl die Musik eindeutig zu laut war, sodass nicht einmal Toby am Pooltisch hätte hören können was er sprach, hatte Thomas dennoch das ungute Gefühl, alle in der Billardhalle wussten nun, dass er nur Wasser bestellte. Und wer bestellte Samstagabend schon Wasser und gleich drei? „Hunde und Alkoholiker“, dachte er, als Toby wieder zu ihm herüberkam. „Wir warten noch auf deine Drinks. Schön, dich endlich kennenzulernen, really. Es war meine Idee. Cool hier, oder?“ „Ja, klar, warum nicht?“, lächelte Thomas und versuchte sich irgendwie zu entspannen, was ihm bisher nur mäßig gelang. „Hoffentlich hat sie das korrekt verstanden“, dachte er schmerzlich. Am Nebentisch war derweil eine Gruppe junger Männer zu beobachten, die nicht nur fleißig mit der Bedienung flirteten, sondern auch schon diverse leere Gläser vor sich stehen hatten. Ein Wodka-Energy Geruch lag schwer in der Luft. „Gott sei Dank“, dachte Thomas, „das Wasser kommt.“ „Hier, Schätzchen, dein Wasser, ich habe dir welches mit Sprudel mitgebracht, ist das okay?“ Sie platzierte drei kleine Gerolsteiner Mineralwasserflaschen aus Glas auf dem Tisch. „Perfekt! Danke!“ Sofort griff sich Thomas eine der Flaschen und trank diese in einem Zug aus. Toby staunte und grinste. „Spielen wir jetzt Pool?“ „Ja, jetzt können wir loslegen“, antwortete Thomas und hatte das Gefühl, dass sich sein Puls allmählich beruhigte.
„Susanna, ich muss mich gleich übergeben!“, stöhnte Miriam und verlangsamte ihre Laufgeschwindigkeit. „Chica, ganz ruhig! Du triffst doch nur nach 25 Jahren auf deinen einst für tot gehaltenen Vater, hihi.“ Miriam hätte ihrer Freundin ihr freches Grinsen am liebsten aus dem Gesicht gewischt. Ihr war überhaupt nicht zu Scherzen aufgelegt. Und es lag nicht nur daran, dass sie in wenigen Minuten auf ihren Vater treffen würde. Die Wahrheit war, sie machte sich auch unglaubliche Sorgen um Thomas. Wie immer. War das alles wirklich eine gute Idee gewesen? Natürlich wollte sie Scott treffen, ja sie hatte an Weihnachten als sie zum ersten Mal miteinander telefonierten wie ein Schlosshund geheult. Aber jetzt sah sie der nackten Wirklichkeit entgegen. Er war hier. Was wäre, wenn er doch unsympathisch wäre. Womöglich unfreundlich, launisch, unverschämt, anzüglich, dumm oder was noch schlimmer gewesen wäre, was wäre, wenn er so ein schlimmer Mensch sei, dass sie ihre Mutter Sibille und deren Lüge um Scotts Dasein verstehen könnte? Nein, Scott musste einfach ein guter Mensch sein. Und dann war da noch Thomas, der nicht mit ihr hier war. Der stattdessen in einer Billardhalle saß und einen lustigen Briten an seiner Seite hatte, welcher mit Sicherheit trank. Mit Sicherheit? Sicher war, dass nichts sicher war und nicht einmal das. Zweifel stiegen in ihr auf. Toby und Thomas hätten sich auch zu Hause im Wohnzimmer kennenlernen können. Eine Billardhalle war doch nichts anderes als eine Kneipe oder Cocktailbar mit Unterhaltungsfaktor. Miriam wurde immer unwohler. „Susanna, ich weiß nicht, ob ich das packe.“ „Das packst du, Miriam! Du kannst doch jetzt nicht abbrechen! Lern‘ ihn kennen und schaue dann wie du dich dabei fühlst!“, versuchte Susanna sie zu motivieren. Ihr Herz klopfte schneller, ihre Beine kribbelten und irgendwie war sie auch wütend. Wütend, ja auch auf Thomas, der sie hier allein ließ mit ihren Gefühlen und noch mehr wütend auf ihren Bruder Michael. Schließlich war es doch auch sein Vater, warum hatte er scheinbar null Interesse ihn einmal kennenzulernen? Und warum hatte sie den Mut dazu aufbringen können? „Wäre ich doch ohne Susanna gegangen“, überlegte sie, „dann hätte ich jetzt gehen können, ach, wäre ich doch nur allein gegangen.“ Die automatische Glastür des Ibis Hotels öffnete sich. Susanna murmelte irgendetwas in Richtung des Portiers, was Miriam weder akustisch noch inhaltlich verstand. Sie mussten nicht lange suchen. Das kleine Restaurant, welches an der Hotellobby angrenzte, war nur spärlich besetzt. In der hinteren Ecke an einem kleinen Tisch am Fenster sah sie einen blonden Mann, welcher in einem Sportpullover irgendeiner ausländischen Mannschaft gekleidet war. In der Hand hielt er eine kleine amerikanische Flagge, die er unsicher zu wedeln begann als sie auf ihn zugingen. Er wirkte rundlich und leichter Bartwuchs war zu erkennen. „Miriam? You must be Miriam, because I know that face.“ Im nächsten Augenblick spürte Miriam die intensive Umarmung ihres Vaters, roch sein würziges Aftershave, welches ihr seltsam vertraut vorkam. Erst zögerte sie, dann erwiderte sie seine Umarmung. Niemand sprach. Miriam hatte keine Ahnung, was als nächstes passieren würde, sie wusste nicht einmal was Susanna tat. Sie stand einfach da, hatte die Augen geschlossen und umarmte stumm ihren Vater, der 9.000 km Luftweg auf sich genommen hatte, um sie heute, hier zu treffen. Miriam wusste nicht wie lange sie so dastanden. Waren es Sekunden oder doch mehrere Minuten? Irgendwann mischte sich Susanna ein. „Hallo, ich bin Miriams beste Freundin und heute mitgekommen, Susanna.“ Scott löste sich von Miriam und sie konnte deutlich die Rührung in seinen braunen Augen sehen. „Hi, nett dich kennenzulernen, dich natürlich auch Miriam“, sprach er und war sichtlich bemüht Deutsch mit ihnen zu sprechen. Die drei nahmen an dem kleinen Tisch Platz. Nachdem sie ihre Getränkewünsche aufgegeben hatten, konnte Miriam zum ersten Mal an diesem Tag tief durchatmen. „Es ist lange her“, begann sie unsicher und konnte sich an Scott nicht sattsehen. Sie sah die Ähnlichkeit in seinem Gesicht mit Michael, mit ihr, ja sie meinte sogar Julius im Gesicht ihres Vaters erkennen zu können. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist, dass es geklappt hat. Der Flug war weit und ich hatte viel Zeit in mein Deutschbuch zu gucken.“ Er zog einen kleinen Sprachführer aus der Hosentasche. „Es ist so viel Zeit vergangen seit ich Berlin verlassen habe. Immer hatte ich gehofft, ihr kommt zu mir nach New Jersey“, begann er noch immer aufgeregt und gerührt zu erzählen, „Sibille hat immer nur geredet und nichts gemacht und irgendwann hat sie gesagt, sie will nichts mehr von mir hören. Sie ging einfach nicht mehr ans Telefon.“ Scott wischte sich mit einer Handfläche über die Augenlider und selbst Susanna schien gerührt zu sein. „Ich habe sie nicht mehr anrufen können und immer geschrieben, Briefe an dich und Michael, aber es gab nie eine Antwort.“ Miriam schluckte. Ihr Vater starb nicht, ihr Vater lebte und er hatte sogar Briefe an seine zurückgelassenen Kinder geschrieben und Sibille? Ihre Mutter hatte nichts Besseres zu tun, als diese Briefe abzufangen, den Täter in ihr Leben zu bringen und einfach immer weiter zu lügen. Letztes Jahr als ihr Bruder Michael von einem fahrerflüchtigen PKW angefahren wurde, traf sie ausgerechnet in der Klinik im Eingangsbereich der Intensivstation auf Sibille. Zum ersten Mal seit Jahren sah sie ihre Mutter wieder. Sie konnte dieser nur eine Ohrfeige geben, sie hatte keine Worte für diese Frau übriggehabt. In diesem Moment hatte sie ähnliche Gefühle. Wenn sie könnte würde sie Sibille jetzt liebend gern erneut eine Ohrfeige verpassen. Miriam lauschte den Erklärungen und den Geschichten ihres Vaters. Sie erfuhr, dass Scott irgendwann aufgab und sein Leben weiterlebte. Sie glaubte eher den Erklärungen von Scott, als die fiesen Lügen ihrer Mutter, aber schlussendlich war dies auch gleichgültig. Sibille hatte gelogen, hatte ihr und ihrem Bruder den Vater vorenthalten, ja hatte sogar behauptet, dass dieser nicht mehr Leben würde, nur weil sie womöglich nicht riskieren wollte, dass ihre Kinder von ihr fortgehen würden. Miriam wurde erneut übel. Sie wäre gern fortgegangen, dann wäre sie nicht vom Kerl ihrer Mutter, vom Täter, jahrelang vergewaltigt worden. „Miriam, wie geht es dir? Wie geht es deiner Mutter? Wo sind dein Sohn und dein Mann jetzt? Erzähl von dir und Michael, wie geht es ihm?“ Miriam wusste nicht, wo sie anfangen sollte und wusste ebenfalls nicht, ob und wie sie die Dinge erklären sollte. Eigentlich hätte sie gern losgeheult. Emotional war sie am Ende. Sie traf hier ihren Vater, erfuhr von Briefen, welche niemals den Weg zu ihr fanden. Thomas war in irgendeiner Billardhalle und sie hoffte, dass dort nichts passierte, was nicht passieren durfte. Michael hatte keine Lust gehabt mit hierherzukommen und Sibille? Sollte sie wirklich von Sibille erzählen oder noch schlimmer, sollte sie erzählen was damals nach Scotts Weggang passierte? „Sibille ist die furchtbarste Frau auf Erden“, platzte es mit einem Mal aus ihr heraus. „Ich habe mit ihr seit vielen Jahren keinen Kontakt. Das ganze Verhalten passt zu ihr.“ „Miriam, I am so sorry. Wäre ich nur nicht gegangen, es war mein Traum und eure Mutter sollte doch eigentlich mitkommen, mit euch. Das war mein Wunsch.“ Die Getränke wurden serviert. Miriam griff hastig nach ihrem Wasserglas, aber ihr Magen wollte sich nicht beruhigen. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Ihr Vater ging also weg, um seinen Traum zu verwirklichen und sie? Sie blieb mit ihrem Bruder bei ihrer vernichtenden Mutter zurück und war den Misshandlungen ausgesetzt. „Was für eine Scheißbiografie ich doch habe“, dachte sie frustriert. „Ich muss dich das fragen“, begann Miriam und wusste nicht recht wie sie Scott ansprechen sollte. Scott oder gar Papa? „Warum hast du keine Behörde eingeschaltet, als Sibille den Kontakt unterbrochen hat? Wir waren doch deine Kinder. Hast du nichts unternommen? Und warum bist du nicht einfach zurückgekommen?“ Anspannung konnte Miriam in Susannas Gesicht lesen. Scott nahm einen Schluck seiner bestellten Cola und nickte ein paar Mal stumm. „I know, Miriam. Aber du musst wissen, ich hatte es versucht, aber Sibille und ich, we were not married. Und die Behörden haben damals nichts unternommen. Es ist sicherlich heute anders als früher, anders als du ein Kind warst. Aber du hast recht. Ich hätte zurückkommen können. Und hätte euch aufsuchen müssen. I should did that. I must did it. I am sorry.“ Er fischte in seiner Jeanstasche nach etwas und zog eine Art Stofftaschentuch hervor, drehte seinen Kopf leicht zur Seite und schnäuzte sich leise. Susanna hatte nach Miriams Hand gegriffen und drückte diese fest. Erschöpft blickte Miriam ihre Freundin an. Auch Scott war gebrochen, das sah man deutlich. Auch er hatte Fehler gemacht, auch er hätte vielleicht mehr tun können, um seine Kinder zurückzubekommen. Im Grunde gab er den Kampf mit Sibille um seine Kinder und das Leben in Deutschland für einen Traum weit weg auf einem anderen Kontinent auf. Einer Welt, wo sie und ihr Bruder eigentlich einen Platz hätten bekommen sollen, aber das Leben schrieb verschiedene Kapitel. Sie erinnerte sich an einen Spruch aus dem Bereich der Persönlichkeitsstabilisierung. „Man soll sich immer da abholen wo man ist und nicht wo man sein sollte.“ Scott legte seine Hand auf ihre. Die warme große Hand ihres Vaters, welche ihr fremd und vertraut gleichermaßen vorkam. „Warst du denn in Atlantic City? Wann bist du nach Kalifornien gezogen?“ „Ja, ich bin damals wirklich nach Atlantic City gegangen und bekam dort einen sehr guten Job. Es war ein Casinohotel. Viele Jahre habe ich in der Stadt gelebt bis das Hotel bankrottging und viele andere der Stadt auch. Dann habe ich mich in anderen Casinohotels beworben, egal wo, überall habe ich mich beworben. Und in Lake Tahoe verläuft die Staatsgrenze zu Nevada, dort sind Casinos erlaubt. Und ich bekam eine Zusage von dort. Und so zog ich von der Ostküste rüber nach Lake Tahoe. Es ist schön dort, viel kleiner, aber sehr schön. Viel Natur.“ Miriam nickte anerkennend. „Ich hoffe, du kannst meinen Mann Thomas bald kennenlernen und natürlich Julius. Er ist letztes Jahr eingeschult worden. Ich arbeite auf der Zitadelle. Die kannst du dir gern einmal ansehen, es ist nicht weit von hier und eine sehr schöne Festung.“ „Sounds great! And I would love to meet all you lovelys. Und du musst auch in die Staaten kommen und dann zeige ich dir mein Haus und meine Frau“, antwortete er nun wieder lächelnd. „Du hast eine Frau? Hast du auch …“ Miriam schluckte und nahm einen tiefen Atemzug. Ihr kam diese Frage nicht leicht über die Lippen. „Hast du in den Staaten auch Kinder?“ Nun nahm sie den Ameisenhaufen in ihrem Magen noch intensiver wahr. Erneut griff sie zum Wasserglas. „Yes, I am married and lucky! Sie heißt Sam, eigentlich Samantha. Wir sind schon lange zusammen. Kinder haben wir nicht.“ Scott sah wieder ernst aus und blickte kurz an ihr vorbei. „Ich wollte keine Kinder mehr. It was hard for me to believe and trust in the good.“ Sie umarmten sich erneut, Miriam musste ihn einfach festhalten. Verwundert über ihr eigenes Verhalten dachte sie darüber nach, dass sie den Mut aufgebracht hatte ihrem Vater zu schreiben, zu treffen und nun hier zu sitzen und ihn zu umarmen. Auf fremde Menschen zugehen und sie zu berühren oder dessen Berührungen auszuhalten, gehörten nicht zu Miriams Stärken. Sie lösten sich wieder aus der Umarmung, hielten ihre Hände jedoch weiterhin fest. Sie hätte Scott gern alles erzählt, alles was in ihrem Leben passierte, alles was sie belastete und alles womit sie heute noch zu kämpfen hatte. Doch so einfach war es nicht. Sollte sie mit ihm etwa über Thomas‘ Erkrankung sprechen? Dass sie Thomas in ihrem Leben zurückhatte, sie jedoch manchmal von der Angst, er könnte wieder im Alkohol abstürzen, zerfressen wurde? Jetzt, hier und heute? Sie wusste es nicht. Eine Krankheit, welche viele Menschen nicht einmal als Krankheit empfanden. Häufig diese noch bagatellisierten oder was Miriam belastete, wenig bis keine Empathie für die Betroffenen und deren Angehörigen empfanden. Sollte sie über ihre Vergangenheit sprechen? Die Wunden, welche der Täter und Sibille ihr zugefügt hatten, wollte sie kein erneutes Mal aufreißen. Vielleicht würde sie diese Dinge einfach für sich behalten, sie brauchte nicht noch einen Mann in ihrem Leben, der sich schuldig fühlte, nicht früher eingegriffen zu haben. Denn sie hatte bereits diesen einen, die Liebe ihres Lebens, die seit einem Jahr keinen Alkohol mehr angerührt hatte und welcher in diesem Moment als sie ihren Vater neu kennenlernte, in einer Billardhalle saß und hoffentlich Billard spielte.
„So, und jetzt die schwarze Acht ins linke Loch“, kündigte Thomas an und wenige Sekunden später tanzte Toby aufgescheucht auf der Stelle. „Tommäs! Das gibt es doch nicht! Du gewinnst immer! Warum kannst du so gut spielen?“ Toby lachte herzlich, stellte resignierend seinen Queue zur Seite und nahm den finalen Schluck Bier aus seiner immerhin dritten Flasche. „Tja, weil ich ein alter Säufer bin“, dachte Thomas und stellte schweigend seinen Queue an die Seite. Er musste zugeben der Abend verlief nicht schlecht, auch wenn er sich für den lauten Schlager, der seit Stunden durch die Halle schallte, im Gegensatz zu Toby, weniger begeistern konnte. „Ich liebe Schlager!“, rief dieser erneut, als schon der nächste kitschige Hit angekündigt wurde. Matthias Reim in der Partyversion wurde nun durch einen ziemlich gut gelaunten DJ angekündigt. „Vielleicht bestelle ich mir noch ein Bier bei der hübschen Frau“, säuselte Toby und gaffte in Richtung Theke. „Dem Schulmädchen?“, grinste Thomas. „Yeah, Tommäs! Ich bin noch auf der Suche. Du hast es ja gut, du hast so eine lovely wife! Miriam is so hot, you are a lucky man!“ Lässig winkte Toby nach der Bedienung. Toby hatte recht, er hatte Glück, doch Moment? Hatte er Miriam gerade als hot bezeichnet? Sicher war Thomas nicht. Die Stimme von Matthias Reim und Michelle erfüllten nun den Raum und die Kerle am Nebentisch, die Wodka-Energy Jungs, waren in einer besonders angeheiterten, lauten Stimmung und grölten mit. „Yeah, du hast so ein Glück! Miriam is so cute! An meinem ersten Tag, ich schwör’s dir, Tommäs, ich wollte Miriam, aber sie hat nach unserem Kuss gleich klargestellt, dass aus uns nichts wird, dass sie …“ Kuss war alles was Thomas hörte, neben den lauten Klängen des Schlagersongs.
„Denn er hat dich nicht verdient, dich nicht! Nein, er hat dich nicht verdient, nimm mich!“
„Was für ein Kuss?“, brüllte er im nächsten Augenblick und hatte Toby am Schlafittchen gepackt, sodass seine Faust Tobys Shirt verknotete. Schnaufend wie ein Stier war er nun ganz nah an Tobys Gesicht, der ihn mit Stielaugen anblickte und ergebend die Hände hob. Zwei der Wodka-Energy Kerle am Nebentisch waren aufgesprungen und standen testosteronerfüllt, erwartungsvoll hinter Thomas. „Brauchst du Hilfe, Bro?“, riefen sie über seinen Rücken. Deren Atem, einem Mix aus kaltem Rauch sowie den süßlich beißenden Geruch von Energybrause konnte er intensiv riechen. Aber am stärksten war der Geruch des Wodkas. Hatte er früher auch so