Frostgedanken - Anika Bischoff-Borrmann - E-Book

Frostgedanken E-Book

Anika Bischoff-Borrmann

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Beschreibung

Stell dir vor... Du bist mit deiner großen Liebe zusammen und ihr habt ein Kind. Doch euer Glück droht für immer zu zerbrechen. Warum? Weil das, was in der Vergangenheit mit dir passierte, einen Weg fand eure gemeinsame Zukunft zu gefährden. Eines wird dir klar, Liebe allein reicht nicht mehr aus. Machtlos siehst du zu, wie die Liebe deines Lebens daran zerbricht. Das ist Miriams Leben. Ist alles verloren oder gibt es noch einen Weg in eine gemeinsame Zukunft? Wie viel Kraft hat die Liebe? Frostgedanken. Ein Roman über den Alltag zwischen Hoffnung und Furcht, den Kampf gegen die Sucht und für die ganz große Liebe.

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Seitenzahl: 367

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Frostgedanken

PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Impressum

Prolog

Miriams Ehe war vorbei. Es hatte einst so schön angefangen, damals in der Oberstufe. Sie und Thomas waren schnell zusammengekommen. Sie wollte eigentlich keinen Jungen treffen und schon gar keinen Jungen küssen. Miriams Leben war anders verlaufen als das der meisten Menschen. Sie hatte keine liebevolle Großmutter, die mit Kakao und Kuchen am Sonntag auf sie wartete. Ihr Vater starb früh, warum, wollte ihre Mutter nie erzählen. Miriam versuchte vergebens dieses Geheimnis ihrer Mutter zu lüften, solange sie zu Hause lebte. Miriams Mutter brachte viele wechselnde Bekanntschaften mit heim. Miriam und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Michael litten unter jeder von ihnen, doch der letzte Mann war besonders brutal. Miriams Kindheit und Jugend wurde durch regelmäßigen Missbrauch jeglicher Art zum Albtraum. Sie war das Ventil für alles was in dieser Familie schieflief und sie ertrug es. Hilfe konnte sie von niemanden erwarten. Viele Leute in ihrer Umgebung ahnten etwas, unternommen hatte jedoch niemand etwas und so war sie viele Jahre dem Missbrauch ausgeliefert. Dann traf sie Thomas, der ihr half, den Schmerz zu vergessen. Er holte sie eines nachts einfach aus dieser Hölle ab. Er wollte sie in Sicherheit wissen, bei ihm. Miriam packte schnell zwei Penny-Einkaufstüten mit Klamotten, dann ließ sie den Wohnungsschlüssel liegen und verließ diese Familie. Ihr Bruder Michael war noch minderjährig und so musste sie ihn schweren Herzens zurücklassen. Sie liebte Thomas. Sie liebten sich lange und doch ging alles schief. Und doch stand sie nun hier, allein in ihrem neuen Leben.

Kapitel 1

Das wars. Der letzte Karton wurde von den Möbelpackern abgestellt. Sie gab ihnen schnell zwanzig Euro Trinkgeld, mehr hatte sie nicht, bedankte sich und wünschte ihnen frohe Weihnachtstage. Sie schloss die Tür. Sie wollte nur noch allein sein. „Mami, komm auspacken!“, rief ihr 5-jähriger Sohn Julius und riss Miriam damit aus ihren Gedanken. Der kleine zog Miriam am Arm in sein neues Kinderzimmer und strahlte über beide Backen. „Findet uns der Weihnachtsmann eigentlich, weil wir doch jetzt hier wohnen?“, fragte Julius und rannte zum Fenster, denn es hatte zu schneien begonnen. „Ja, bestimmt. Der Weihnachtsmann weiß doch alles, der findet uns sicher“, gab Miriam beruhigend zur Antwort. Miriam ging in ihre neue Küche, sie war klein und nur ein paar Küchenmöbel hatten hier Platz, doch es genügte ihr. Für sie und Julius würde es schon ausreichen. Plötzlich vibrierte ihr Mobiltelefon, sie blickte auf den Bildschirm und lächelte. Es war Susanna, Susanna Sanchez, die gute Seele, ihre beste Freundin. Nur leider leben manchmal beste Freunde weit auseinander, zu weit. Susanna war Autorin und hatte der Liebe wegen Berlin verlassen und war nach Madrid gegangen. „Hola Chica!“, tönte es fröhlich aus dem Hörer. „Ja ja holla, ich weiß“, lachte Miriam zurück. „Na, wie sieht es aus, ist der große Umzug in die neue Freiheit fertig?“ „Fix und fertig, mir tut alles weh“, stöhnte Miriam. „Ach, da waren doch bestimmt ein paar heiße Männer dabei, die deine Kartons mit Unterwäsche getragen haben“, gluckste Susanna. „Sehr witzig, nein, die Unterwäsche habe ich selbst getragen und einige andere Dinge auch.“ „Ach Miriam, du musst jetzt den Markt abchecken.“ „Ja ja, klar.“ An Männer wollte Miriam zurzeit nicht denken, eigentlich nie mehr. „Was macht das Leben an der Sonnenseite?“, fragte Miriam und reichte Julius ein Trinkpäckchen, während sie überlegte, welche Kisten sie zuerst auspacken sollte. „Sonnenseite ist gut. Ja, Sonne haben wir schon, trotzdem ist das doch nicht die Karibik hier. Wir haben auch nur zarte 3 Grad, habt ihr schon Schnee?“ „Nicht wirklich, aber es hat gerade angefangen zu schneien und Julius freut sich schon, aber ich denke nicht, dass es weiße Weihnachten werden.“ „Bei uns vielleicht, mal sehen. Und wie geht es Thomas?“ Thomas, da war sie, die Frage. „Thomas ist, wie du weißt, wieder in der Entzugsklinik, aber mehr weiß ich nicht“, seufzte Miriam. „Okay. Na, dann pack du erstmal schön aus und macht es euch gemütlich, wir hören uns, Süße, ok? Ich ruf wieder an.“ „Mach das, ja machen wir, bis dann und schönen dritten Advent, tschau.“ Schon war sie wieder allein mit Julius, ihr ganzes Glück, in ihrer neuen, kleinen Wohnung, draußen in Spandau. Spandau, der Ort wo viele Berliner heute immer noch sagen, Spandau sei nicht Berlin, aber das stimmte natürlich nicht. Es war Berlin, seit 1920 gehörte es dazu. Miriam war das egal. Die Wohnung war bezahlbar, das Amt hatte zugestimmt, sie lag nah an der U-Bahn, an Julius‘ neuer Kita und es gab nebenan sogar ein Teehaus. „Sehr gut, für zukünftige Dates“, hatte Susanna letztens gescherzt. Aber nach Verabreden war ihr nicht. Sie wollte einfach nur zur Ruhe kommen. An diesem Abend ging sie früh zu Bett.

„Ich liebe dich doch, ich liebe dich seit vielen Jahren und ich werde dich immer lieben, Miriam.“ Thomas kam mit seiner Hand immer näher und streichelte ihr über die Wange. „Thomas, lass es. Ich kann das nicht mehr, ich kann das nicht mehr ertragen und Julius auch nicht.“ Thomas nahm sie in den Arm und sie ließ es zu. Er drückte sie, dann stieß er sie plötzlich von sich. „Ich höre auf verdammt, ich tu es nie wieder, warum glaubst du mir nicht einfach? Liebst du mich denn überhaupt nicht mehr? Liebst du uns nicht mehr?“ Zornesfalten waren an seiner Stirn zu sehen. Plötzlich hatte er eine leere Whiskeyflasche in einer Hand und schleuderte sie im nächsten Augenblick gegen die Wand. Miriam war entsetzt und hörte die Rufe ihres Sohnes Julius: „Mama, Mama!“ Panik stieg in ihr hoch. Was war mit Julius, hatte er alles gesehen und gehört? Plötzlich fühlte sie sich leicht und alles schien sich aufzulösen.

Miriam saß vor Schreck im Bett, Julius war ins Schlafzimmer gepoltert. „Mama, Mama! Mein Legowecker hat geklingelt, wach auf, heute geht es in den neuen Kindergarten! Bist du wach?“ „Ja, ich bin wach“, antwortete Miriam verwirrt, müde und auch erleichtert, dass alles nur ein Traum gewesen war. Sie dachte an die Worte ihres Bruders Michael: „Denk daran, was du in der ersten Nacht im neuen Heim träumst, geht in Erfüllung.“ „Hoffentlich stimmt das nicht“, dachte Miriam und startete in den ersten Tag in ihrem neuen Leben, allein mit Julius. Der Start im neuen Kindergarten verlief überraschend einfach. Miriam und Julius wurden herzlich begrüßt und obwohl Julius sich in den ersten Minuten noch stark an seine Mama klammerte, verlor er kurz darauf seine Angst und wurde von einem neuen Spielkameraden herumgeführt. Miriam konnte ihn beruhigt dort lassen. Ihr tat es in der Seele weh, dass sie ihn für das letzte Kindergartenjahr aus seiner gewohnten Umgebung reißen musste, aber es ging nicht anders. Sie brauchte diesen radikalen Schnitt. Der alte Kindergarten, im alten Bezirk, war einfach zu weit weg. Es ließ sich nicht anders lösen. Sie hatte keine Kraft mehr. Viele Jahre versuchte sie, Thomas seinen Alkoholkonsum anfangs zu bagatellisieren, dann zu verharmlosen und dann ernst zu nehmen. Als er sich schließlich das erste Mal professionelle Hilfe suchte, glaubte sie an ein „Happy End“. Schließlich fühlte sie sich für die ganze Sache mitverantwortlich, obwohl sie wusste, dass dieser Gedanke falsch war. Aber dennoch, in einer dunklen Stunde, wenn sie ihn besonders vermisste, dachte sie daran, dass ihr Missbrauch, ihr Prozess daran schuld war, dass ein liebevoller Mann und kümmernder Vater seine Sorge um sie, seinen Kummer und sein Gewissen im Alkohol ertrug. Sie versuchte lange ihm zu helfen, ihn zu unterstützen und ihm zur Seite zu stehen. Miriam hatte Übung darin, das Kind praktisch allein großzuziehen, da Thomas viele Therapien und Ruhe benötigte, um dann im nächsten stressigen oder schwachen Moment wieder zum Alkohol griff, um sich zu betäuben. Miriam ertrug die Gerichtsverhandlung ihres Täters mit Fassung, Thomas dagegen ertrug die Details ihres jahrelangen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend nicht. Er hatte zu viele Worte im Gerichtssaal gehört, zu viele Details erfahren, das grausame Lachen des Täters während des Prozesses, konnte er nicht vergessen. Er bemühte sich den starken Mann und Vater zu spielen, aber es gelang ihm nicht und Miriam konnte irgendwann nicht mehr und zwang sich zu einer Entscheidung. Sie musste weg und eine normale Umgebung für sich und Julius schaffen und der Preis dafür war, den Mann zu verlassen den sie liebte. „Thomas kann sich nur noch selbst retten“, wie ihre beste Freundin Susanna stets sagte.

Der Kindergarten war zum Glück nur 15 Minuten Fußweg von der neuen Wohnung entfernt. Auf dem Weg nach Hause befand sich ein kleiner Supermarkt, wo Miriam noch ein paar Kleinigkeiten einkaufte. Zuhause stellte sie gerade ihre Einkäufe ab, als ihr Mobiltelefon vibrierte. Eine unbekannte Nummer wurde angezeigt, sie hob dennoch ab. „Guten Tag, Meier-Müllerich von der Arbeitsagentur Spandau. Spreche ich mit Frau Bremer?“ „Guten Morgen. Ja, hier ist Miriam Bremer.“ Miriam zog sich den Mantel aus und bekam ein komisches Gefühl in der Magengegend. Anrufe von Ämtern mochte sie nicht, weil sie nicht genau wusste, welche Hürden als nächstes auf sie eintrafen. „Sie sind ja neu in den Bezirk gezogen, wie sie vor ein paar Tagen bereits online eingetragen haben.“ „Ja, das ist richtig, gestern war der Umzug nach Spandau.“ „Wunderbar, Sie sind doch ausgebildete Fachfrau für Medien- und Informationsdienst? Ist das korrekt?“ „Ja genau, für Archiv.“ „Sehr gut, ich hätte hier ein Jobangebot für Sie, ganz in Ihrer Nähe sogar. Ich empfehle, dass Sie dort heute noch vorsprechen.“ „Oh“, sagte Miriam überrascht. „Okay.“ „Schön. Es ist das Museum in der Zitadelle, das Museum für Stadtgeschichte. Die Ansprechpartnerin ist Frau Behrend. Ist das für Sie möglich, dort heute noch vorzusprechen?“ Miriam seufzte leise, sagte aber schnell: „Natürlich, ich mache mich gleich auf dem Weg. Vielen Dank für Ihren Anruf.“ Miriam beendete schnell das Telefonat mit der zufriedenen Sachbearbeiterin. Das letzte was sie wollte, war Stress mit dem Amt zu bekommen, gerade jetzt. Sie ging kurz ins Bad und verließ sogleich erneut die Wohnung. Von weitem konnte sie bereits die Spitze des einen Zitadellen-Turmes sehen. „Sollte das klappen, dann bin ich der Glückspilz des Jahres“, dachte sie und kämpfte sich entgegen des eisigen Dezemberwindes in Richtung der Festung. Miriam betrat die Bastion. Der Boden war komplett mit Pflastersteinen belegt, nur das letzte kleine Stück bis zum Eingang führte über eine Art Zugbrücke. Über dem Festungstor prangte ein schwarzer Adler, vermutlich das Wappen der Festung. „Dafür, dass Spandau nichts zu bieten haben soll, ist diese Festung doch verdammt schön“, dachte Miriam und ging durch das Tor zielstrebig auf den Glasempfang zu. Ein freundlich aussehender Pförtner nickte ihr zu. „Guten Morgen, mein Name ist Miriam Bremer, ich möchte gern mit Frau Behrend sprechen. Es geht um ein Vorstellungsgespräch.“ „Frau Behrend wurde zuletzt auf dem Juliusturm vermutet. Leider kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Möchten Sie es auf dem Turm einmal versuchen?“ „Ja, gern“, gab Miriam zögernd zur Antwort. „Ein Turm, welcher wie mein Sohn heißt, dass kann doch nur Glück bringen“, dachte sie. „Wo muss ich da genau lang?“ „Das ist ganz einfach, Sie gehen hier durch die Tür des Kommandantenhauses und dann immer die Treppe hoch, bis zum Museumsshop, dann rechts durch das Museum, dann immer rechts halten, da geht es dann zum Turm weiter. Ist aber alles ausgeschildert, keine Sorge. Und viel Glück.“ Der Pförtner grinste und gab Miriam eine blanko Eintrittskarte, damit sie Zugang bekam. Miriam ging den Weg, der ihr beschrieben wurde. Oben am Museumshop angekommen war niemand zu sehen und so ging sie weiter ins Museum, vorbei an einer Kanone und an einem alten Modell der Stadt Spandau. Das Modell sollte Spandau im 15. Jahrhundert darstellen, wie sie am Informationsschild ablesen konnte. Am Ende des Museums ging sie wie erklärt weiter nach rechts und befand sich erneut im kalten Wind, bevor sie offiziell den Juliusturm betrat. Holztreppen führten weit in die Höhe. „Na gut, dann werde ich mal“, seufzte Miriam und stieg insgesamt 145 Stufen in den Himmel hinauf. Sie zählte jede einzelne Stufe und glaubte, sie würde das Dach des Turmes nicht mehr erreichen. Hechelnd und leicht verschwitzt erreichte sie endlich die Aussichtsfläche. Oben blies erneut der kräftige Dezemberwind, aber Miriam hatte Glück. Eine ältere Frau befand sich tatsächlich auf der Plattform und sah mit einem Fernglas in die Weite der Stadt. Sie trug eine Lesebrille an einer Kette um den Hals. Sie hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem Dutt gesteckt und trug obendrein einen knallroten Lippenstift. „Das muss einfach Frau Behrend sein“, dachte Miriam. „Guten Tag, sind Sie Frau Behrend?“ „Wer möchte das wissen?“, antwortete die Frau und blickte unbeeindruckt weiter durch ihr Fernglas. „Mein Name ist Miriam Bremer, ich habe von der Arbeitsagentur die Information bekommen, dass hier eine Stelle zu vergeben sei, im Stadtgeschichtlichen Museum. Für diese Stelle möchte ich gern vorsprechen.“ Eisiger Wind blies Miriam um die Nase, gern hätte sie das Gespräch im warmen Museum geführt. Die Frau nahm ihr Fernglas nun herunter. „Guten Morgen, ja, ich bin Frau Behrend, die Museumsleiterin. Es gibt aber keine Stelle im Stadtgeschichtlichen Museum.“ „Verzeihung, die Arbeitsagentur hatte mir das so mitgeteilt.“ „Die irren sich. Es gibt eine Stelle hier im Kommandantenhaus, das Museum, welches Sie durchquert haben, um hierher zu kommen.“ „Oh, dann meinte vielleicht die Sachbearbeiterin diese Stelle“, sagte Miriam schnell und merkte, wie ihre Füße und Hände langsam vereisten. Sie kam sich blöd vor, mit ihrem Halbwissen um die freie Stelle, hier in der Kälte herumzustehen. „Vermutlich“, sagte Frau Behrend mit spitzen Lippen und rollte die Augen, „Waren Sie schon einmal hier oben?“ „Äh, nein.“ Frau Behrend seufzte tief. „Folgen Sie mir bitte.“ Die Museumsleiterin verließ den Turm und stieg schnell, aber gewissenhaft die 145 Stufen wieder hinab. Miriam lief ihr einfach nach. Frau Behrend lief zurück in das Museum und blieb plötzlich vor einem Glaskasten mit ausgestopften Tieren stehen und drehte sich zu Miriam um. „Hören Sie zu. Ich suche jemanden von 8 - 16 Uhr, bezahlt wird der Mindestlohn, 20 Urlaubstage. Es kann auch sein, dass ich Sie bei Special Events aus der Reihe benötige.“ Sie sprach „Special“ wie „Spezial“ aus. „Ihr Arbeitsplatz wäre hier im Kommandantenhaus, im vorderen Museum und natürlich hinten im Archiv.“ Sie sagte nichts mehr und schaute Miriam erwartungsvoll an. Miriam hatte noch nie ein so seltsames Vorstellungsgespräch erlebt. „Nach Spitzenkonditionen klingt das zwar nicht, aber was habe ich schon für eine Wahl und der Arbeitsplatz liegt so nah an der neuen Wohnung, besser geht es eigentlich nicht“, dachte Miriam. „Frau Bremer?“, riss die Museumsleiterin Miriam plötzlich aus ihren Gedanken. „Ja, ich nehme den Job.“ „Gern“, fügte sie noch schnell hinzu. „Aber leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich erst um halb 9 hier sein kann. Ich habe einen Sohn, der in den Kindergarten geht. Ich bringe ihn zu 8 Uhr in die Kita.“ Die Museumsleiterin antwortete seufzend: „Meinetwegen. Dann treffe ich Sie morgen hier oben im Museum um halb 9. Sie finden allein raus? Einen schönen Resttag“. Sie verschwand hinter einer breiten Museumstür, noch bevor Miriam antworten konnte.

Kapitel 2

„Mama, es schneit schon wieder!“, rief Julius und rannte aufgeregt zum Fenster. „Ja, tatsächlich“, bemerkte Miriam. Es war Heilig Abend. Miriam und Julius hatten endlich etwas Zeit für sich und um ein paar Umzugskartons auszupacken. Die ersten Arbeitstage im Museum waren schnell vergangen. Frau Behrend, die Museumsleiterin forderte Miriam viel ab und die ganzen neuen Eindrücke, die ein neuer Arbeitsplatz so mit sich brachte, verleiteten Miriam dazu, jeden Abend todmüde ins Bett zu fallen. Sie hatte für das Weihnachtsfest nichts besorgen können, ihr letztes Geld ging für Wintersachen und ein kleines Geschenk für Julius drauf. Es war Miriam gleichgültig, ihr war sowieso nicht nach Weihnachten zumute. Überall sah sie nur stets verliebte Pärchen, welche Geschenke kauften oder händchenhaltet verliebt durch die Gegend schwebten, während sie gestresst von der Kita zur Arbeit, von der Arbeit zur Kita und von der Kita zum Supermarkt hetzte. Jetzt wo sie frei hatte, hatte sie auch genug Zeit über Thomas nachzudenken, ihn zu vermissen. Er hatte sich noch nicht bei ihr bzw. Julius seit der erneuten Klinikaufnahme gemeldet. Er würde es sicherlich jetzt an den Weihnachtstagen tun. Miriam öffnete den ersten Karton und fand sogleich ihren MP3-Player und ihr altes Telefunken-Röhrenradio, welches sie einmal auf einem Flohmarkt erwarb. Sie stellte das Radio gleich an und sofort bekam ihr Herz einen Stich. „All I want for chrismas is youuuuuu, babbbbyyyy“, tönte es und Miriam suchte reflexartig nach einem neuen Sender. „Muss denn jeder Weihnachtslieder spielen?“, ärgerte sie sich. Das Radio knackte und sie erkannte Sarah Connors Stimme: „Ich will nie wieder solche Sehnsucht spür’n, wegen dir. Ich will nie wieder alleine bleib’n, ich will nie wieder so einsam sein, nie wieder so furchtbar leiden, wegen dir.“ Sie blieb wie angewurzelt stehen, schloss die Augen und dachte: „Genauso ist es.“ Tränen rollten ihre Wangen herab und bevor Julius noch etwas bemerkte, ging sie schnell ins Bad und schloss die Tür, um hier ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Wieder sah sie Thomas vor ihrem geistigen Auge, wie sie sich kennenlernten, ihre Hochzeit, die Geburt von Julius, das schöne Leben miteinander, Thomas während ihrer Gerichtsverhandlung, wie er später immer depressiver wurde, wie er immer mehr trank und die Kontrolle über sein Leben verlor, wie er sie immer wieder anflehte, ihm zu helfen, dazubleiben, nicht zu gehen und wie sie dann schließlich nach dem letzten Rückfall endgültig ging. „Warum, warum nur?“, flüsterte Miriam weinend. Plötzlich rief Julius: „Mama, es hat geklingelt! Ist das vielleicht der Weihnachtsmann?“ Miriam erschrak, putzte sich die Nase, spritzte sich schnell kaltes Wasser ins Gesicht und verließ das Bad, um zur Sprechanlage zu hetzen: „Ja, bitte?“ „Ho, ho, ho! Hier ist der Onkel Michael im Auftrag des Weihnachtsmannes unterwegs!“, tönte eine Männerstimme. Miriam grinste und öffnete die Tür. „Es ist Onkel Michael!“, rief Julius fröhlich und rannte auf den Besuch zu. „Hey, was machst du denn hier?“, fragte Miriam lächelnd. „Na meinst du, ich lass euch hier alleine an Weihnachten Trübsal blasen?“ Miriam bat ihren Bruder herein und sah, dass er allerhand Gepäck bei sich hatte. „Ich habe etwas zu essen mitgebracht, eine Gans hast du ja sicherlich nicht vorbereitet, Schwesterlein?“, rief Michael und zog seinen Mantel aus und legte ihn über einen Umzugskarton, der im Flur herumstand. „Was hast du denn da alles mitgebracht?“ „Ich habe einen Baum mitgebracht“, sagte Michael und zog aus einem der Beutel einen 1m hohen, fertig geschmückten Weihnachtsbaum. Julius schrie vor Freude auf. „Du bist ja total verrückt“, sagte Miriam lachend. „Warum? Den gab es bei Blume 2000, hier habe ich noch Döner, Schokolade und Sekt.“ „Sekt?“, fragte Miriam erschrocken. „Keine Sorge, es ist Rotkäppchen alkoholfrei, ich möchte heute mit dir anstoßen“, beruhigte Michael sie schnell. Er wusste, dass seine Schwester keinen Alkohol trank. Niemals. Alkohol, der Stoff, der ihre große Liebe immer wieder vergiftete. „Das klingt nach einem Festmahl, vielen Dank.“ Sie nahm Michael die Lebensmittel ab und brachte sie in die Küche. Sie sah im Augenwinkel, dass Julius von ihm ein kleines Geschenk und Schokolade bekam und er damit quietschvergnügt ins Wohnzimmer düste. Michael folgte Miriam in die Küche. „Und sonst?“, fragte er und hob eine Augenbraue. „Nichts. Du weißt schon, dass eigentlich der Weihnachtsmann die Geschenke bringt?“, sagte Miriam, anspielend auf die heimliche Geschenkübergabe im Flur. Michael winkte mit einem „ach“ ab. „Miriam, lass den Kleinen doch, ich habe ihm gesagt, dass es vom Weihnachtsmann ist, er hat es nicht hinterfragt.“ „Schön, dass du da bist“, sagte Miriam plötzlich traurig und blickte zu Boden. Ehe sie noch etwas sagen konnte, nahm er sie fest in den Arm und sie ließ ihren Tränen erneut freien Lauf. Michael war immer für sie da gewesen, hatte sie immer unterstützt, aber im Gegensatz zu seiner Schwester, hatte er den Kontakt zur Mutter nie vollständig aufgegeben. Nachdem sich Miriam wieder gefangen hatte, zauberte Michael Plastiksektgläser aus seiner Tasche, goss den falschen Sekt hinein und reichte Miriam ein Glas. Sie sagte nichts und trank sofort. „Deine Trinksprüche sind immer die besten, so schön pragmatisch“, lachte Michael und nahm ebenfalls einen Schluck. Jetzt musste auch Miriam lächeln. „Du bist doof! Und lecker ist das auch nicht. Ich will Ginger-Ale!“ Michael verdrehte die Augen. „Genug von mir“, sagte Miriam und stellte ihr Glas ab. „Wie geht es dir? Wie läuft das Leben?“ „Mein Überfall heute hat mehrere Gründe“, sagte Michael nachdenklich und stellte ebenfalls sein Glas ab. „Ich wusste es“, bemerkte Miriam. „Was ist los?“ Michael schwieg einen kurzen Augenblick, dann sagte er: „Ich werde Vater.“ Miriam sagte nichts, schaute leicht verwundert. „Ja, ich habe da so eine Frau kennengelernt auf der Arbeit. Sie ist neu.“ „Auf der Arbeit? Ist sie auch Haus-“, Miriam machte eine kurze Pause, „Meisterin?“ „Ja, genau, ich sollte ihr alles zeigen.“ „Und da hast du ihr alles gezeigt?“, vervollständigte Miriam den Satz und lachte dabei laut. „Ha ha, aber stimmt schon“, grinste Michael und beide begannen zu lachen. „Na dann herzlichen Glückwunsch“, sagte Miriam und meinte es ehrlich. „Danke, wir werden sehen, wir freuen uns und wir wollen es auch, na ja, als Paar versuchen. Ich finde sie toll.“ Miriam lächelte, sah aber, dass das noch nicht alles war. „Gibt es ein Problem?“ „Miriam“, begann Michael, „ich werde ja nun Vater, du bist schon Mutter, schon eine Weile. Du weißt, ich habe mit unserer Mutter immer mal sporadisch Kontakt. Ich weiß wo sie lebt und wie es ihr geht. Es ging ihr nie gut. Ich sage es gerade heraus und frage dich: Kannst du Mutter nicht verzeihen?“ Miriam glaubte sich verhört zu haben. „Wie bitte? Wie stellst du dir das vor? Wollen wir alle gemeinsam Weihnachtslieder unter dem Tannenbaum singen? Sie hat mich im Stich gelassen! Sie hat mir, uns, nie geholfen! Sie hat nichts unternommen! Sie hat diesen Tyrannen in unser Leben geholt!“ Miriam nahm richtig Fahrt auf. „Und unser Vater.“ „Was ist mit unserem Vater?“, fragte Michael irritiert. „Woran starb Vater denn? Weißt du das?“ Michael zuckte mit den Schultern. „Genau, keiner weiß es. Hat sie ihn vielleicht umgebracht oder was? Ich habe sie damals so oft danach gefragt. Warum hat sie nie gesagt, woran Vater starb? Dieser Frau kann man doch null vertrauen! Für mich ist sie nicht meine Mutter. Sie ist Sibille Schuster, die Frau, die mich oder uns auf die Welt brachte, mehr nicht!“ Miriam schlug die Hände vor das Gesicht, atmete schwer und schüttelte den Kopf. Michael nahm ihre Hände herunter und blickte sie an. „Ich weiß, dass ich da viel von dir verlange. Und ich weiß nicht, warum sie nie gesagt hat, woran unser Vater starb, warum sie diese vielen Tyrannen in unser Leben ließ und warum sie uns, besonders dich, nicht beschütze. Aber es ist unsere Mutter. Ich werde nun selbst Vater, ich wünsche mir, dass unsere Familie Frieden findet.“ Bevor Miriam wiedersprechen konnte, vibrierte ihr Mobiltelefon auf der Küchenzeile. Die Nummer begann mit 03831. Miriam kannte diese Vorwahl, sie stammte aus Stralsund. „Die Entzugsklinik. Es ist Thomas“, dachte Miriam und glaubte jeden Moment, ihr Herz würde stillstehen. „Bremer“, antwortete Miriam gefasst. „Hallo Strudel.“ Ein Ziehen in der Magengegend durchfuhr sie. So hatte er sie immer genannt. Damals als sie frisch verliebt waren. Als ihnen die schöne Welt noch zu Füßen lag, ernannten sie während eines Dates im Café, den Apfelstrudel zum besten Kuchen der Welt. „Du bist wie Apfelstrudel“, hatte er lachend behauptet. Auf die Nachfrage Miriams antwortete er, während er mit seinen Lippen immer näher an ihrem Hals und ihrem Ohr kam: „Du bist so süß und so warm, du bist wie Apfelstrudel.“ Als Antwort gab es nur verliebtes Kichern, unzählige Küsse und seine flüsternden Worte: „Strudel, dich gebe ich nicht mehr her.“ Es war eine liebevolle Erinnerung. Er nannte sie seither immer Strudel, immer wenn alles in Ordnung war, immer wenn er trocken war und er wieder Herr war, über Körper und Gedanken. „Du möchtest bestimmt Julius sprechen, ich gebe ihn dir“, sagte Miriam schnell und zog das Telefon vom Ohr. „Moment“, hörte sie Thomas noch rufen, aber da hatte sie das Telefon schon an Julius weitergereicht, der fröhlich auf dem Sofa herumsprang. Sie verließ sogleich das Wohnzimmer, zurück zu Michael, der sie erwartungsvoll ansah: „Willst du nicht einmal mit ihm sprechen?“ Miriam sagte nichts und starrte aus dem Küchenfenster in die Dunkelheit. Sie schwiegen einige Minuten, bis Julius mit dem Telefon in die Küche flitzte. „Mama, für dich, Papa“, sagte er und gab ihr das Telefon. Miriam seufzte tief. „Hallo Thomas.“ Sie traute sich nicht mehr zu sagen. Sollte sie ihm „Frohe Weihnachten“ wünschen? Macht man so etwas, in einer Entzugsklinik? In der jetzigen Situation? Sie wusste es nicht. „Strudel, wie geht es dir?“, fragte Thomas. „Ich komm klar und du?“ Thomas seufzte hörbar: „Ich habe jetzt die 2 Wochen Entgiftung hinter mir. Nächste Woche geht es also auf Station 58.“ Nach einer kurzen Pause sagte er leise: „Ich denke immerzu an dich und Julius. Ich vermisse euch.“ Miriam musste schlucken, die zwei Wochen Entgiftung waren also schon vorüber. Es kam ihr wie gestern vor, als seine Mutter Elisabeth ihn zur Entzugsklinik fuhr, um ihn als akuten Notfall aufnehmen zu lassen, erneut. „Thomas, ich muss Schluss machen, Michael ist hier und ich muss noch einige Kartons auspacken, bevor der Weihnachtsmann kommt. Ich wünsche dir erfolgreiche Tage.“ Sie wusste nichts Tiefgründigeres zu sagen. „Danke. Gib bitte Julius einen Kuss von mir. Ich liebe dich über alles.“ Thomas hatte aufgelegt und Miriam starrte wieder in die Dunkelheit.

Die Tage zwischen den Feiertagen vergingen schnell. Miriam kam sich wie eine Untote vor. Die Arbeitsstelle und die neue Chefin verlangten viel von ihr, so dass sie in dieser Zeit, in der Nacht entweder von der Arbeit oder von Thomas träumte. Tagsüber schlich sie wie ein Zombie durch die dunkle Stadt. Kita, Arbeit und einkaufen waren ihre Hauptbeschäftigungen. Sie sehnte sich nach Wärme, Sonne und Geborgenheit. Julius musste sie erklären, warum sie dieses Mal ohne Papa erst Weihnachten und nun Silvester verbringen mussten. Julius verstand es, zumindest sagte er dies. „Papa ist wieder krank und im Krankenhaus, okay, ich hoffe, er wird endlich gesund“, sagte er und Miriam spürte, wie ihr Herz zerriss. „Julius ist für sein Alter schon verdammt stark“, dachte sie. Er kannte dies schon lange, wenn sein Papa mal wieder nicht in der Lage war aufzustehen und stundenlang im Bett lag. Er wusste, dass sein Papa anders war als andere Papas und oft krank war, wie seine Mama es nannte. Die Supermärkte waren am Freitag vor Silvester wie zu erwarten maßlos überfüllt. Miriam war komplett übermüdet und wollte nur noch mit einer Teetasse auf dem Sofa entspannen. Julius dagegen hatte jede Menge Energie und flitzte durch den Supermarkt, um so allerhand Dinge in den Einkaufswagen zu packen. „Mama, wir brauchen auf jeden Fall Luftschlangen, Konfetti und Tischfeuerwerk“, rief er laut und rannte schon los zum Regal mit den typischen Silvesterartikeln. „Von mir aus, aber jetzt schnell, ich möchte langsam hier raus und nach Hause“, stöhnte Miriam und ging bereits in Richtung Kasse, als Julius einen Arm voller Silvesterartikel in den Einkaufswagen plumpsen ließ. Miriam atmete tief aus und durchquerte die Kasse, um danach alles in drei Tüten zu stopfen. Julius bestand darauf, die Tüte mit den Silvesterartikeln selbst zu tragen, was ihr nur recht war. Sie verließen den überhitzten Supermarkt und traten hinaus in die frostige Kälte. „Huhu Julius!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um und erblickten Elisabeth, Thomas‘ Mutter oder ihre Noch-Schwiegermutter. Darauf hatte Miriam jetzt wenig Lust, aber sie zwang sich zum Lächeln. Julius stürmte auf seine Oma zu und umarmte sie fest und quasselte gleich darauf los, um von seinem Tischfeuerwerk zu erzählen. Elisabeth hörte aufmerksam zu und wandte sich dann an Miriam. „Miriam, gut, dass ich dich treffe. Du hast es also wahrgemacht?“ „Was genau bitte?“ Miriams Laune sank sekündlich. „Na, du hast also wirklich Thomas rausgeworfen?“ „Nein, ich bin ausgezogen, habe die Wohnung aufgelöst und dir Thomas seine Sachen bringen lassen. Du weißt, dass ich das vorhatte. Ich hatte keine Wahl.“ „Bloß nicht rechtfertigen“, dachte Miriam, aber da war es bereits zu spät. „Ja, aber musste das sein?“, fragte Elisabeth mit flapsigen Unterton in der Stimme. Miriam ballte die Fäuste und erhob ihre Stimme. „Was meinst du damit? Glaubst du, dass Leben war in letzter Zeit ein Spaziergang? Ich kann nicht zusehen wie Thomas sich irgendwann…“, sie stockte, Julius zu Liebe. „Du weißt schon“, krächzte Miriam. „Vielleicht war das ja auch alles nicht so schlimm“, antwortete Elisabeth, was Miriam nur noch wütender machte. Sie ging ganz nah auf Elisabeth zu, so dass sie neben ihrem Ohr stand und flüsterte: „Du weißt ganz genau, dass Thomas alkoholkrank ist und ich werde nicht weiterzusehen, wie er sich kaputt macht, ich habe Julius zu schützen und auch mich. Guten Tag.“ „Julius, sag der Oma tschüss, wir gehen weiter.“ Sie ließen Elisabeth einfach dort stehen. Als Miriam mit Julius im Treppenhaus ankam, erstarrte sie. „Hola, Chica. Cómo estás?“, ertönte eine fröhliche Stimme. „Du doofes Weibsbild!“, schrie Miriam, ließ die Tüten fallen und lief auf Susanna zu, um sie kräftig zu umarmen. Sie hielten sich in den Armen und Susanna antwortete: „Meine Güte, bist du heute wieder liebevoll, das Weibsbild ist den weiten verdammten Weg hergekommen, nur um das Neujahrsfest mit dir zu verbringen, du glaubst gar nicht, was in Tegel los war.“ „Doch, ich glaube dir alles“, lachte Miriam und löste sich aus der Umarmung. „Warum hast du nicht Bescheid gesagt?“ „Überraschung, Süße. Komme ich etwa ungelegen? Hast du eine heiße Verabredung für heute Nacht oder wie?“ Susanna stemmte die Arme an die Hüfte. „Na Julius, Kleener, lass dich drücken.“ Zu Miriams Verwunderung ließ Julius die kräftige Umarmung von Susanna geschehen und sah zufrieden aus. „Los kommt, wir gehen rein, mir ist kalt.“ Miriam nahm die Tüten und Augenblicke später waren sie zurück in der warmen Wohnung. „Was hast du denn alles dabei?“, staunte Miriam nicht schlecht, als Susanna ihre Reisetasche öffnete. „Na, so alles“, lachte sie. „Ich habe mich in TXL nochmal mit Knabberzeug eingedeckt und guck mal“, sie zog Pepsi und Ginger-Ale aus ihrer Tasche. „Hurra, Pepsi!“, schrie Julius mit erhobenen Armen. „Darf ich Mama, darf ich?“, fragte er mit bettelndem Blick. „Moment, Moment, Julius. Vielleicht später und dann auch nur ein halbes Glas, sonst bist du bis zum zweiten Januar wach.“ Susanna nahm gleich das Sofa in Beschlag und packte ihren Schlafsack aus und stellte ihren Kulturbeutel ins Bad. Sie kramte in der Küche nach Gläsern und reichte Miriam ein Glas Ginger-Ale. Miriam setzte sogleich Tee auf, denn ihr war immer noch kalt. „Wie läuft das Leben, Miriam?“, wollte Susanna wissen. „Komm, wir setzen uns erst einmal“, antwortete Miriam und wenige Minuten später lümmelten die Freundinnen auf dem Sofa und knabberten Salzstangen und tranken abwechselt die scharfe Brause und den Tee. „So, nun erzählst du mir erstmal von dir“, befahl Miriam und nahm sich eine Handvoll Knabberzeug. „Warum bist du Silvester eigentlich nicht bei deinem Mann? „Ach, der muss arbeiten, der musste gestern schon nach Norwegen, um mit irgendeinem wichtigen Zukunftsmanager über die Zukunft der Fuhrparkbranche zu philosophieren. Frag mich nicht, er wird mindestens drei Tage da oben sein. Und da dachte ich, besuche ich doch meine alte beste Freundin Miriam“. „Alte Freundin, pah!“, rief Miriam und warf ihr ein Sofakissen an den Kopf. „Und was läuft in Spanien?“ Susanna wurde ernst und trank einen Schluck Tee bevor sie antwortete. „Weißt du, Spanien ist schwierig. Die Sprache, okay, das ist so eine Sache, aber es gibt auch andere Dinge, an die man sich dort gewöhnen muss.“ „Was zum Beispiel?“ „Na ja, erst einmal muss man im Grunde jeden Bekannten usw. zur Begrüßung küssen, links und rechts auf die Wange. Das finde ich schon sehr gewöhnungsbedürftig oder küsst du deine Nachbarin, wenn du sie im Hausflur triffst?“ Miriam zog die Nase hoch und runzelte die Stirn. „Man siezt und duzt sich den ganzen Tag und muss immer gucken, wie es richtig geht.“ „Wie meinst du das?“, fragte Miriam verblüfft. „Wir siezen doch hier auch Leute.“ „Nee, in Spanien läuft das so. Bist du älter als dein Gegenüber, duzt du diesen und er siezt dich und umgekehrt. Ist man in etwa gleich alt, dann duzt man sich. Kollegen werden immer gesiezt. Wenn man Gruppen anspricht, muss man darauf achten, ob sie gemischten Geschlechts sind oder nur Frauen usw.“ „Um Himmelswillen!“, rief Miriam entsetzt. „Ja, natürlich gewöhnt man sich auch an solche Kleinigkeiten, aber es ist teilweise schon recht unterschiedlich. Fahrrad wird dort z.B. auch nicht wirklich gefahren, anders als hier in Berlin mit den Kamikaze-Radfahrern.“ „Mmh“, murmelt Miriam und nahm einen Schluck Ginger-Ale. „Es ist auch nicht auszuschließen, dass wir Spanien irgendwann den Rücken kehren, vielleicht sogar zurückkommen, mal sehen wie sich die Branche bei meinem Kerl entwickelt. Es gibt natürlich auch viele positive Dinge. Das Wetter ist ja auch um einiges besser.“ „Also, ich wäre ja froh, dich wieder hier zu haben“, grinste Miriam. „Ich auch!“, grölte Julius und kam ins Wohnzimmer geflitzt. „Du auch?“, lachte Susanna „Und warum?“ Julius wurde plötzlich ernst. „Damit Mama nicht immer so traurig ist“, sagte er schnell, griff dabei in die Knabberbox und rannte wieder ins Kinderzimmer. Susanna sah Miriam fragend an. „Frag nicht“, winkte Miriam ab. „Erzähl mir lieber was die Schreiberei macht.“ Susanna hob den Finger. „So schnell kommst du mir nicht davon. Aber wo du es ansprichst, ja, ich arbeite an einem neuen Manuskript.“ „Oh toll. Worum geht es?“ „Das kann ich doch noch nicht erzählen Miriam, es ist noch zu früh.“ „Verstehe“, seufzte Miriam. „Was war bei dir los? Wie geht es Thomas eigentlich, du schreibst kaum was?“ „Ja, sorry. Ich habe einfach die Ohren voll. Der neue Job ist gut, aber auch anstrengend, am Abend muss ich noch Julius bespaßen, was zu dieser Jahreszeit ja meistens drinnen stattfindet, ich habe einfach wenig Kraft im Augenblick.“ Susanna nickte zustimmend. „Weihnachten war soweit okay, Thomas hatte sich gemeldet, er müsste mittlerweile auf der Behandlungsstation sein, also nicht mehr in der Akutentgiftung. Michael kam Heilig Abend vorbei und stell dir vor, er wird Vater.“ Miriam grinste. „Wie süß“, bemerkte Susanna kichernd. „Ja, er hat da eine Arbeitskollegin kennengelernt und der Rest ist Geschichte“, lachte sie. „Ich freue mich für ihn, aber stell dir vor, er wünscht sich, dass unsere Familie Frieden findet.“ Susanna stellte ihr Glas neugierig ab. „Das heißt? Thomas hat sein eigenes Tempo, was die Therapie betrifft, oder nicht?“ „Nein, er meinte nicht Thomas und mich, sondern er wünsche sich, dass ich unserer Mutter verzeihe.“ Julius kam ins Zimmer gerannt und warf Konfetti um sich, aus seinem Kinderzimmer ertönte seine Vaiana CD mit dem Text: „What can I say except you‘re welcome.“ „Julius, bitte ruhiger“, tadelte Miriam ihren Sohn. Es verging eine Minute, wo niemand etwas sagte. „Und?“ begann Susanna. „Wie „und“? Ganz bestimmt nicht.“ Miriam verdrehte die Augen. „Da ist zu viel vorgefallen. Meine Vergangenheit und auch das mit meinem Vater.“ „Mmh, verstehe ich“, sagte Susanna. Sie kannte natürlich Miriams Gründe. Der eigenen Mutter zu verzeihen, dass sie einem in den schlimmsten Lebenssituationen, die man sich vorstellen kann, nie half, geschweige denn glaubte, schmerzt, tief in der Seele. Das bekommt man mit einer Entschuldigung nicht mehr so leicht ins Reine. Sie kannte auch die Gedanken zu Miriams Vater. Woran er starb, wusste niemand. Die Kinder waren zu klein. Ihr Vater war irgendwann nicht mehr da. Die Mutter erklärte den Kindern, dass der Vater verstorben sei. Den Grund haben sie auch im Erwachsenenalter nie von ihr erfahren. „Was sagt dein Herz?“, fragte Susanna nach einigen Minuten des Schweigens. „Mein Herz“, grunzte Miriam, „das ist stumm und hört nicht auf mich.“

Die Freundinnen hatten viele Stunden quatschend und lachend auf dem Sofa verbracht, aber es dennoch nicht geschafft sich bis Mitternacht wachzuhalten. Julius schlief gegen 20 Uhr auf dem Sofa ein, so dass Miriam beschloss, dass Susanna ins Schlafzimmer ziehen und sie mit Julius auf der Couch nächtigen würde. Als um Mitternacht das neue Jahr eingeleitet wurde, erwachte Miriam vom Feuerwerk. Reflexartig schaute sie auf ihr Mobiltelefon, dass neben ihr auf dem Couchtisch lag. Keine Nachrichten. Seufzend legte sie das Telefon wieder zurück und ging zum Fenster, um das Feuerwerk der Stadt zu beobachten. Viele Leute waren vor dem Haus versammelt, hatten Sektgläser in den Händen, Pärchen küssten sich, Familien begrüßten das neue Jahr mit Freude, Luftschlangen und Feuerwerk. Sie dachte an Thomas. Wie würde es ihm ergehen, gerade heute zu Silvester, wo für viele Leute, noch mehr als üblich, Alkohol zum Feiern, zum Leben dazugehörte. Sie dachte an die Silvesterabende vor Thomas seiner Krankheit. Wie schön es war, wie glücklich sie waren. „Da waren wir wie diese Leute“, dachte Miriam, als sie die feiernden Pärchen und Familien beobachtete. Sie fragte sich unwillkürlich, wie das neue Jahr für sie werden würde. Ob Thomas es schaffen würde oder ob es sogar der letzte Neujahrswechsel wäre, an dem Thomas am Leben sei. Dieser Gedanke zerriss ihr augenblicklich das Herz und sie begann leise zu weinen. „Mami, frohes neues Jahr“, sagte Julius plötzlich, rieb sich die Augen und stand neben ihr. Miriam wischte sich schnell die Tränen weg. „Frohes neues Jahr, mein Schatz“, sagte sie, nahm ihn auf den Arm und sie sahen sich zusammen die bunten Raketen an. Julius lehnte sich an seine Mutter an und Miriam summte leise „Auld Lang Syne“, bis er wieder fest eingeschlafen war.

Kapitel 3

„Frau Bremer, Frau Bremer, ich brauche Sie hier!“, schrie ihre Chefin quer durch den Gotischen Saal der Zitadelle. Miriam seufzte laut auf, es war ihr egal, ob dies irgendjemand zu hören vermochte. Sie trug ihr übliches Jackett für die Arbeit, fühlte sich aber bereits um zehn Uhr am Morgen staubig und schmutzig, was auf aufräumen, staubwischen und möbelrücken zurückzuführen war. „Frau Bremer, diese Tische hier können so nicht stehen bleiben, bitte stellen Sie diese doch dort hinüber und hier hätte ich dann gern den Sektempfang.“ „Das hatte ich bereits vor einer Stunde vorgeschlagen“, dachte Miriam zähneknirschend. Frau Behrend, die Museumsleiterin marschierte weiterhin aufgeregt mit der Brille auf der Nasenspitze sowie mit Klemmbrett in der Hand durch den Festsaal. Miriam keuchte hinterher und sehnte sich bereits jetzt schon nach einer kurzen Pause. „Frau Bremer, es muss alles perfekt sein heute. Nachher kommen sie doch alle!“, kreischte die Chefin hysterisch. Miriam verdrehte die Augen, aber so, dass Frau Behrend dies nicht sehen konnte. „Ja, sie kommen heute alle“, dachte Miriam leicht genervt. Miriam erfuhr bereits während des seltsamen Vorstellungsgespräches vor Weihnachten von zukünftigen Sonderschichten. Den „Special Events“ oder „Spezial Events“, wie Frau Behrend es nannte. Jetzt im kalten Januar war es zum ersten Mal soweit. Alle würden heute kommen, wie ihre Chefin immer und immer wieder betonte. Alle, dass bedeutete wichtige Menschen, wichtige politische Persönlichkeiten von Berlin. Das wären der Bezirksbürgermeister von Spandau, wichtige Abgehordnete des Berliner Stadtentwicklungsausschusses, eine Frau vom Kulturwerk usw. Miriam wusste bereits jetzt die Namen nicht mehr und später durfte sie diese Menschen begrüßen und mithelfen „Honig ums Maul zu schmieren“. Die zukünftige Förderung für die Museen und die Erhaltung der Zitadelle fielen nicht einfach so vom Himmel, wie ihre Chefin stets betonte. Es gäbe schließlich genug Museen, kulturelle Projekte und Einrichtungen in Berlin, die alle nach Landesförderungen lechzten. Miriam wusste schon jetzt, dass dies ein langer Tag werden würde und hatte vorsichtshalber vereinbart, dass Elisabeth heute Julius von der Kita abholen und mit zu sich nach Hause nehmen sollte. Die viele Arbeit hatte auch ihr Gutes. Miriam würde nicht ununterbrochen an Thomas denken müssen. Miriam wusste nicht wie es ihm ging. Sein Aufenthalt in der Entzugsklinik in Stralsund müsste mittlerweile die Halbzeit erreicht haben. Seit Weihnachten gab es kein Lebenszeichen von ihm. „Er hat bestimmt genug zu tun, schließlich ist er im Krankenhaus und hat viele Therapien“, versuchte sie sich zu beruhigen. „Frau Bremer“, rief ihre Chefin plötzlich und Miriam war so in Gedanken gewesen, dass sie erschrak. „Frau Bremer, ich möchte Ihnen einen neuen Mitarbeiter vorstellen. Er wird ein paar Wochen bei uns bleiben und in verschiedenen Ausstellungen aushelfen. Gut, dass er heute beginnt. Sonst klappen Sie mir noch während des Events zusammen, Sie sehen ja jetzt schon ganz fertig aus und die Gäste sind ja noch nicht einmal hier, ganz zu schweigen vom Catering. Oh Gott, ich rufe gleich mal dort an und ich weiß jetzt schon, dass ich mich empöre. Frau Bremer, hier ist ihr neuer Kollege, Herr? Stellen Sie sich bitte selbst vor“, sagte sie und rannte aus dem Saal.  Ein rothaariger Mann ihres Alters stand vor ihr und grinste sie freundlich an. „Good day, ich bin Toby Taylor. Ich soll Ihnen helfen“, sagte er im gebrochenen Deutsch. Miriam vermutete einen englischen Akzent. „Hallo, ich bin Miriam Bremer, du kannst mich gern duzen. Toby Taylor klingt wie eine Figur aus einem Überraschungsei“, sagte Miriam und reichte ihm die Hand zur Begrüßung. „Ich versteh nicht“, gab Toby zur Antwort. „What is ein Überraschungsei?“ „Dieses Ei, die Kinderschokolade“, sagte Miriam und formte mit ihren Händen ein Ei. „Oh yes. Ich verstehe, ihr Germans seid so witzig.“ „Ja, dafür sind wir international bekannt“, antwortete Miriam. „Okay, ich soll dir helfen, what kann ich tun?“ Miriam überlegte und schaute, ob sie ihre Chefin irgendwo erblicken konnte. Sie war scheinbar immer noch am Telefon und erklärte mit Sicherheit gerade den Leuten vom Catering, zum zehnten Mal, wie wichtig das ganze Event heute sei. „Du kannst mir helfen den Sektempfang aufzubauen. Dort stehen die Kisten mit den Gläsern“, sagte Miriam und als Toby sich an die Arbeit machte, blieb sie stehen und musterte ihn von der Seite. „Frau Bremer, Herr Taylor, ist alles fertig?“, kreischte die Chefin immer noch hysterisch. Ja, es war alles fertig. Der Gotische Saal war sauber, das Catering war bereit, die Tische waren mit weißen Tischtüchern und Porzellan eingedeckt, der Sekt stand im Kühler und die Gläser standen zum Empfang bereit. Miriam wurde schon von dem Geruch übel und auch sonst fühlte sie sich nicht sonderlich wohl. Da es ihr erstes Event dieser Art war und sie nicht damit gerechnet hätte, stundenlang zu putzen, geschweige denn Möbel aus staubigen Kellerräumen zu tragen, hatte sie sich mittags bereits ihr Jackett beschmutzt. Natürlich hatte sie keine Ersatzkleidung dabei. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Jackett ihrer Chefin anzuziehen, was ihr so altbacken vorkam, dass sie auch gleich hätte Tracht anziehen können. So stand sie nun in einer Reihe mit Toby, um auf den großen Besuch zu warten. Toby konnte sein Grinsen beim Anblick über ihr geborgtes Kleidungsstück kaum verbergen. „Sie kommen!“, kreischte Frau Behrend ein letztes Mal, bevor sie im nächsten Augenblick ihr Gemüt im Griff hatte und wie auf Knopfdruck in Professionalität umschaltete. Miriam traute ihren Augen kaum. Ihre Chefin war mit einem Mal ganz ruhig, autark, begrüßte höchst professionell die wichtigen Gäste der Stadt. Ein paar Minuten später war sie mit Toby an der Reihe die Gäste zu begrüßen, während diese schon über die Sektgläser herfielen. Sie lernte Herrn Kleeblatt kennen, den Bezirksbürgermeister von Spandau, zwei Abgeordnete vom Stadtentwicklungsausschuss Frau Kalk und Herrn Paul, Frau Melzer vom Kulturwerk Spandau und einige andere wichtige Persönlichkeiten der Branche. Das Event schien kein Ende zu nehmen, der Arbeitstag zog sich wie Kaugummi und Miriam wusste, dass um 16 Uhr mit Sicherheit noch lange nicht Schluss sein würde. Mit Toby verstand sie sich gut, mit ihm konnte sie auch mal lachen und heimlich über die wichtigen Gäste lästern. Die Gäste aßen und tranken und Frau Behrend aalte sich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie befand sich in ihrem Element, dass sah Miriam genau. Sie und Toby dagegen hatten ständig damit zu tun, weiteren Sekt zu besorgen, einzugießen, Leuten die Toiletten zu zeigen und so allerhand Fragen zu beantworten. Miriam fühlte sich irgendwann nur noch unwohl und obendrein, von den älteren, männlichen Persönlichkeiten zu intensiv gemustert. Als jemand plötzlich anfing, während des Gesprächs ihren Arm zu tätscheln, ließ sie sich entschuldigen und machte sofort kehrt und trat hinaus auf dem Innenhof der Zitadelle. Sie konnte ihren Atem sehen. „Endlich Luft“, dachte sie und atmete die Januarluft tief ein. „Oh Frau Bremer, hier sind Sie also“, hörte sie im nächsten Augenblick schon ihre Chefin hinter sich rufen. Miriam drehte sich um und lächelte wie gewohnt. „Würden Sie bitte den Damen und Herren vom Stadtentwicklungsausschuss die Exerzierhalle zeigen?“ „Ähm. Gern, aber so viel weiß ich leider nicht über die Kanonen, muss ich gestehen.“ „Das macht nichts“, rief Toby plötzlich und stand neben ihnen. „Ich habe das alles gelernt, bevor ich nach Germany kam. Ich kann die Leute herumführen.“ Miriam staunte nicht schlecht. „Sehr schön, Herr Taylor. Frau Bremer, Sie gehen bitte mit“, sagte ihre Chefin, nickte zufrieden und verschwand wieder im warmen Saal. Toby führte die Abgeordneten durch die Exerzierhalle und man hatte das Gefühl, als wäre er beim Bau der Halle im 19. Jahrhundert persönlich mit dabei gewesen. Miriam trottete müde und resignierend der Gruppe hinterher. Die Gruppe schien sehr begeistert und Toby führte sie nach Beendigung seiner persönlichen Führung wieder über den Hof zurück zum Gotischen Saal. Miriam blieb in der Exerzierhalle allein zurück, was ihr nur recht war. Sie wollte zehn Minuten für sich haben, allein sein. Sie nahm ihr Mobiltelefon aus der Jacketttasche und freute sich über eine Nachricht von Susanna. Miriam antwortete nur kurz. „Ich bin immer noch arbeiten, heute ist hier ein Special Event, melde mich später, wenn ich kann, bin müde.“ Sie sah, dass es fast 20 Uhr war und gähnte daraufhin laut. „Nicht einschlafen!“, rief Toby lachend, er war wieder zurück in der Halle. „Was machst du denn schon wieder hier?“ „Ich habe die Leute nur zurückgebracht and I wanna tell you something, alone.“ Plötzlich stand Toby ganz nah bei ihr. Miriam erstarrte und wagte nicht sich zu bewegen. „Es ist 20 Uhr, so langsam könnte Frau Behrend uns gehen lassen“, eröffnete Miriam das Wort. Toby stand immer noch ganz nah bei ihr und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich möchte eigentlich nicht, dass der Tag endet. Ich fand ihn schön, because of you.“ Miriam merkte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg. Ein netter Mann fand sie, Miriam, gut. Mochte sie ihn? Sie wusste es nicht, sie fand ihn nett, aber mehr? Was war mit Thomas? Was wäre mit Julius? Sie kannten sich obendrein auch gar nicht und überhaupt war zurzeit alles misslungen in ihrem Leben. Miriam stand immer noch wie erstarrt da und als Toby mit seinem Finger ihr Kinn berührte und in Richtung seines Gesichtes wand, schloss sie einfach nur die Augen und ließ es geschehen. Sie sehnte sich so nach Nähe und Geborgenheit. Sie wollte nur einmal