Ein Brief für dich - Dorothea Morgenroth - E-Book

Ein Brief für dich E-Book

Dorothea Morgenroth

5,0

Beschreibung

Die alleinstehende Esther führt ein beschauliches Leben: Ihre Töchter sind erwachsen, ihr Job im Drogeriemarkt sowie Haus und Garten halten sie nur mäßig beschäftigt. In ihrem Herzen wächst die Unzufriedenheit. Soll das wirklich schon alles gewesen sein? Unvermittelt erhält die 44-Jährige einen anonymen Brief, der sie im Innersten berührt. Nahezu zeitgleich beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Plötzlich muss sie um ihr Haus fürchten, ihr Cousin Walter braucht Hilfe, und außerdem bekommt sie diesen Kunden namens Hajo mit dem strahlenden Lächeln nicht mehr aus dem Kopf. Unterdessen erhalten auch Walter und Hajo jeweils einen mysteriösen Brief ... Ein wunderbarer Roman über die Kraft der Worte und darüber, auch in schweren Zeiten die Hoffnung nicht zu verlieren.

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Das Wichtigste zuerst

Als ich begann, diesen Roman zu schreiben, verlief mein Leben und das meiner Familie in geordneten Bahnen: Zwei von vier Kindern waren bereits ganz aus dem Haus, das dritte im Abflug begriffen und auch die Jüngste breitete allmählich ihre Schwingen aus. Mein Mann ging täglich seiner Arbeit außer Haus nach und ich der meinen im Haus. Doch das Haus war halb leer und doppelt so ordentlich wie vorher, die Wäscheberge im selben Maß geschrumpft wie die Menge der einzukaufenden Lebensmittel und selbst das Schreiben war nach etlichen veröffentlichten Büchern zum Alltag geworden. Wie gesagt: Mein Leben verlief in sehr geordneten Bahnen und es fiel mir zunehmend schwer, dankbar dafür zu sein.

Dann kam der Tag, der uns alle aus diesen Bahnen hinaus katapultierte: Mein Mann erkrankte lebensgefährlich. Eine Notoperation, künstliches Koma, mehrere weitere Operationen, und all das unter der ärztlichen Prognose: „Es sieht schlecht für ihn aus“, die sich allmählich in „eine Überlebenschance von 50 : 50“ wandelte. Dinge wie das tägliche Wiedersehen, vertraute Gespräche und Berührungen und, ganz praktisch, die finanzielle Versorgung, die vorher so selbstverständlich waren, gehörten plötzlich der Vergangenheit an und es war fraglich, ob und inwieweit sie noch zu unserer Zukunft gehören würden.

Was meinen Mann, meine Kinder und mich durch diese Tage und Wochen trug, waren die Gebete unserer erweiterten Familie, unserer Freunde und unserer Gemeinde, sowie (speziell in meinem Fall) die Worte und Eindrücke, die diese an uns weitergaben. Gebete und Worte, die einen Lichtschimmer in das Haus brachten, in dem Kummer und Sorge um das Leben eines geliebten Familienmitglieds und angsterfülltes Lauschen auf jedes Klingeln des Telefons eingezogen waren; Worte und Gebete, die ein Krankenzimmer voll medizinischer Geräte und mit einer verkabelten, reglosen Gestalt im Bett mit Hoffnung und zunehmendem Vertrauen auf einen sich erbarmenden, mitfühlenden, liebenden Gott erfüllten …

Plötzlich war genau die Art ermutigender, durch schwere Zeiten tragender Worte, die ich meinen Romanfiguren zuzuschreiben gedacht hatte, für mich. Sie wurden zu meinem höchst persönlichen Trost und Halt – und sind es noch immer in Anbetracht einer ungewissen Zukunft mit den bleibenden Folgen der Krankheit.

Deshalb sind die meisten der Ermutigungs-Texte am jeweiligen Kapitelanfang Verse, die mir selbst zur Ermutigung zugesprochen und –geschrieben wurden, und deshalb will ich diesem Roman vor allem eines voranstellen: Meinen Dank!

Danke an meine Familie, Freunde und Gemeindegeschwister, die nicht nur die besten Fürbitter und Ermutiger sind, sondern gleichzeitig geniale Krankenbesucher, Handy-Guthaben-Auflader, KFZ-Instandsetzungsspezialisten und Materielle-Lücken-Füller.

Danke an meinen Verlag Gerth Medien, der es mir ermöglicht, diese mutmachenden Worte in der Art und Weise weiterzugeben, die mir die Liebste ist: schriftlich und verpackt in eine (hoffentlich) fesselnde Romanhandlung!

Und danke in allererster Linie an den, in dessen heilende, wiederherstellende, fürsorgliche Hände wir uns in jeder Situation unseres Lebens und gerade in den schweren Tagen fallen lassen dürfen: Jesus!

Prolog

Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster. Die Anzeichen des Herbsts draußen im Garten waren nicht zu übersehen: Eine Windbö ließ die rot, braun und grün gescheckten Blätter des Apfelbaumes zu Boden trudeln und brachte die Kinderschaukel spielerisch zum Schwingen, die Sonne stand in dieser nachmittäglichen Stunde schon bedenklich tief und warf lange Schatten auf den Rasen, und auf der Terrasse tat sich eine kleine Blaumeise am ersten Vogelfutter der Saison gütlich.

Auch im Inneren des Hauses erzeugten die Sonnenstrahlen nicht länger die Wärme eines Sommertages – wenngleich deren Licht hier einen ganz besonderen Reiz ausübte, fand die Beobachterin in ihrem Schreibtischsessel. Unzählige Staubteilchen flimmerten im hellen Licht, tanzten federleicht entlang der Bücherregale an den Zimmerwänden und auf der Schreibtischplatte und selbst über dem rotgetigerten Fell der Katze auf ihrem Schoß. Vor allem, wenn die Katze sich wie jetzt gerade genüsslich räkelte und träge blinzelte.

Dabei musste sie einen Blick auf die Blaumeise vor dem Fenster erhascht haben, denn plötzlich schnellte sie hoch, sprang vom Schoß der Kranken und hinüber ins angrenzende Zimmer, von dem aus sie durch die Katzenklappe ins Freie gelangte. Lächelnd erwartete die stille Zuschauerin im Haus den Moment, in dem die Katze wieder in ihrem Blickfeld auftauchen und sich in Sichtweite des Futterhäuschens auf die Lauer legen würde; hoffnungsvoll und doch vergeblich, denn die Meisen waren viel zu flink, um gefangen zu werden und das Häuschen wohlweislich außerhalb der Reichweite der Katze platziert.

Noch ehe sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, schlich der Jäger auch bereits heran und bezog Stellung. Die rechte Vorderpfote zuckte in Erwartung kommenden Jagdvergnügens. „Recht hast du, Stubentiger, wir beide haben lang genug vor uns hin geträumt!“, ermahnte sich die Beobachterin selbst. „Es wird allmählich Zeit, etwas zu unternehmen.“

Bedächtig rollte sie ihren Stuhl näher an den Schreibtisch heran und griff nach Briefbogen und Kugelschreiber.

Es war Herbst, zweifellos und unwiderruflich. Nicht gerade ihre Lieblingsjahreszeit, diese Wochen, in denen die Tage immer kürzer und die Nächte immer länger wurden. Nur allzu leicht legte sich die zunehmende Dunkelheit, jenes Fehlen des natürlichen Lichts, auch auf ihre Seele. So, wie sie es schon einmal erlebt hatte in dem Herbst, der auf die Diagnose ihrer Krankheit folgte.

Die Aussicht, nie mehr ein vollkommen unbelastetes, medikamentenfreies Leben führen zu können, jeden Moment auf einen neuen Schub der Erkrankung gefasst sein zu müssen, ihre Kinder möglicherweise schon bald vom Rollstuhl aus beim Heranwachsen beobachten zu müssen, hatte ihr damals jegliche Freude an ihrem Dasein geraubt. Wie ein niemals endender Herbst und Winter, ja, wie immerwährende Dunkelheit hatte ihr Leben vor ihr gelegen, und nur mit äußerster Kraftanstrengung hatte sie den Kindern und ihrem Mann zuliebe einen möglichst „normalen“ Alltag aufrechterhalten. Tag für Tag hatte sie sich durch ihre Aufgaben gequält und gleichzeitig versucht, den Schmerz so weit wie möglich zu ignorieren und jeden tiefer gehenden Gedanken abzublocken.

Bis eines Tages kurz vor Weihnachten, als die Dunkelheit am größten schien, ein Licht in ihr selbst aufgegangen war. Entzündet wurde dieses Licht von den Worten eines längst verstorbenen Geistlichen, die ihre Schwiegermutter ihr damals als Gedicht übermittelt hatte. Zuerst war es nicht mehr gewesen als ein zaghaftes Flämmchen der Zuversicht darauf, dass Gott um ein Krankenzimmer keinen Bogen machte. Doch mit der Zeit hatte dieses Flämmchen sich ausgewachsen zu einer stabilen, hellen Flamme der Gewissheit, dass der Vater im Himmel ihr schon vorausgegangen war in diesen Raum voller Schmerzen und Niedergeschlagenheit. Er war hier, vielleicht intensiver und spürbarer als an jedem anderen Ort, und er wartete nur darauf, dass sie seine Nähe suchte und seine Hilfe in Anspruch nahm. Je mehr sie dies tat, je intensiver sie sich seiner Nähe aussetzte, desto heller wurde ihre Umgebung wieder – unabhängig von allen äußeren Faktoren. Und irgendwann wuchs in ihr der Wunsch, dieses Licht der Ermutigung an andere weiterzuschenken.

Sieben Jahre lang hatte sie seitdem „ihr“ Gedicht und darüber hinaus viele andere Worte des Trostes und der Ermutigung an Menschen ihrer Umgebung weitergegeben. Meist kannte sie diese Menschen nicht, und meist übermittelte sie die Worte auch nicht persönlich, sondern in Form von absenderlosen Briefen. Aber jedes Mal schickte sie diese hinaus in der Hoffnung, dass der Empfänger durch sie ebenso gestärkt werden würde wie sie selbst damals. Und wenn sie es recht bedachte: Nicht nur damals, auch heute noch war jeder Brief, den sie in die Welt hinausschickte, ein kleiner Lichtstrahl in ihrem eigenen Leben.

Wer also diesen Brief – den ersten, den sie in diesem Herbst verfasste, empfangen würde … sie wusste es nicht. Wie stets würde sie die Augen offen halten und sich von den Umständen leiten lassen, sobald der Brief einmal geschrieben war. Und für heute war es höchste Zeit dafür, denn in einer Stunde würden ihre beiden Söhne von der Schule zurückkehren, was die Stille und Ruhe im Haus auf einen Schlag beenden würde.

Für einen Augenblick hob die Kranke ihre Augen zum Himmel und faltete ihre Hände, dann rückte sie den Briefbogen zurecht, senkte ihren Kopf und begann zu schreiben:

Denk daran,

wo immer du dich niederlässt:

Er ist schon da …

Kapitel 1

Der Herr stützt alle Fallenden,er richtet auf alle Niedergebeugten.

(Psalm 145,14)

Der erste Tag ihres neuen Lebens war ein Desaster, vom frühen Morgen bis zu der Minute, da es endlich Zeit war, zu Bett zu gehen und alle Probleme des Tages hinter sich zu lassen. Und das, obwohl sie sich felsenfest vorgenommen, ja ihren Töchtern sogar versprochen hatte, einen zuversichtlich-entspannten Neuanfang hinzulegen!

Doch wie es aussah hatte sich ihr gesamtes Umfeld gegen sie verschworen. Esther erwachte in vollkommener Dunkelheit. Die Umrisse des Fensters an der gegenüberliegenden Schlafzimmerwand waren nicht auszumachen. Sie musste den Rollladen am vergangenen Abend bis zum Anschlag heruntergelassen haben. Seufzend drehte sie sich auf die linke Seite, um an den Digitalziffern ihres Radioweckers die Zeit abzulesen. Aber nicht einmal diese waren zu erkennen. Seltsam. Hatte sie den Wecker im Schlaf mit einer ungewollten Bewegung vom Nachttisch gefegt?

Widerwillig erhob sich Esther, wankte hinüber zum Fenster und öffnete den Rollladen. Zu ihrem Erstaunen war er nur halb geschlossen gewesen.

In hartem Stakkato prasselten Regentropfen auf die äußere Fensterbank, das Rauschen des Herbstwindes in den Baumwipfeln am nahen Waldrand bildete die Hintergrundmusik und – keine einzige Straßenlampe war in Betrieb. Zusammengenommen mit dem Ausfall des Radioweckers konnte dieses Szenario nur eines bedeuten: Stromausfall, und zwar mindestens in ihrem waldnahen Wohnviertel. Vermutlich hatte, wie schon des Öfteren, ein vom Sturm umhergewirbelter Ast auf der Stromleitung die Energiezufuhr unterbrochen, ausgerechnet an ihrem ersten Morgen allein.

Schaudernd in der Kühle des (vermutlich) gerade anbrechenden Tages hüllte Esther sich in ihren warmen Morgenmantel und tastete sich am Treppengeländer entlang ins Erdgeschoss und zum Telefonschränkchen, wo sie ihr Handy abends stets deponierte. Endlich hatte sie eine Uhrzeit: 6:15 Uhr! Die Zeit, zu der sie üblicherweise aufgestanden war, um mit ihrer jüngsten Tochter Juli gemeinsam zu frühstücken; und damit höchste Zeit für die dringend benötigte erste Tasse Kaffee. Die es unter diesen Umständen allerdings nicht geben würde, genauso wenig wie eine muntermachende Beleuchtung!

Glücklicherweise entsann Esther sich der Duftkerze vom vergangenen Abend. Sie hatte sie entzündet und auf dem Wohnzimmertisch deponiert, um sich diesen ersten einer endlosen Reihe von einsamen Abenden halbwegs gemütlich zu gestalten. Wenn sie Glück hatte, lag auch die Streichholzschachtel noch irgendwo in der Nähe. Richtig, da war sie, unmittelbar neben den seltsam geformten Kleinteilen, die die ganze Tischplatte zu bedecken schienen und unter Esthers Fingern knirschend zerbröselten. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, hier gestern Abend Essensreste hinterlassen zu haben …

Endlich brannte die Kerze, eine winzige, zaghaft flackernde Insel des Lichts in dem dunklen Raum. Die Helligkeit reichte gerade aus, um die Essensreste auf der Tischplatte und dem Boden darunter zu identifizieren.

„Aber das ist … Keiner Onkel!“ Empört fuhr Esther herum.

In dem offenen Durchgang zwischen Wohn- und Esszimmer stand seit einigen Wochen ein stabiler Papageienkäfig samt Bewohner. Es war Julis Idee gewesen, ein neues Haustier anzuschaffen für die Zeit, wenn Esther allein zu Hause zurückbleiben würde, und Esther hatte Gefallen daran gefunden. Einen Hund oder eine verschmuste Katze zum Kuscheln auf dem Sofa oder als „Ansprechpartner“ zu haben war besser als gar keine Gesellschaft, hatte sie zugegeben, und war in Begleitung ihrer Tochter zum städtischen Tierheim aufgebrochen. Dass aus dem niedlichen Schoßhund allerdings ein geschwätziger Graupapagei werden würde, hatte weder sie selbst noch Juli erwartet. Aber Kleiner Onkel, so sagte man ihnen im Tierheim, bräuchte dringend ein neues Zuhause. Die alte Dame, bei der er die bisherigen 44 Jahre seines Lebens verbracht hatte, sei kürzlich verstorben und ganz ohne persönliche Ansprache würde er unter den vielen anderen Tieren im Heim allmählich verkümmern.

„Oh Mum, stell dir vor, er ist genauso alt wie du!“, hatte Juli ausgerufen, und damit war Esthers und auch des Papageien Schicksal besiegelt: Noch am selben Tag hatte Kleiner Onkel, der den doppelten Konsonanten am Anfang seines Namens nicht aussprechen konnte und deshalb von Juli nur noch „Keiner Onkel“ genannt wurde, im Haus Einzug gehalten. Die meiste Zeit über saß er friedlich vor sich hin schwatzend oder pfeifend auf seiner Stange, doch gelegentlich schien er Lust auf mehr Freiheit zu verspüren und öffnete trotz aller bisherigen Versuche, seinen Käfig „ausbruchssicher“ zu verschließen, mit dem Schnabel die Tür. Seine Ausflüge führten ihn, wenn niemand sie rechtzeitig bemerkte, durchs gesamte Erdgeschoss.

Die Tatsache, dass er momentan den Kopf im Gefieder versteckt hatte und scheinbar schlafend im Käfig saß, konnte Esther nicht über seine neueste Missetat hinwegtäuschen.

„Was fällt dir eigentlich ein, Keiner Onkel! Schämen solltest du dich, nachts herumzugeistern und dich einfach über meine Nüsse herzumachen, du Räuber, du!“, schalt sie angesichts der Erdnussschalenschweinerei nicht nur auf dem Tisch, sondern auch auf dem hellen, langflorigen Wohnzimmerteppich. „Nimm dich nur in Acht, mein Freund, demnächst schaffe ich ein Vorhängeschloss für deinen Käfig an!“

Keiner Onkels einzige Reaktion auf ihre Drohung bestand in einem zaghaft ins Gefieder gekrächzten und wahrhaftig verschlafen klingenden „Liiieber keiner Onkel!“

„Wenigstens ein schlechtes Gewissen könntest du haben, kleines Ungeheuer!“ Ein halbes Lächeln stahl sich auf Esthers Lippen, während sie die Käfigtür schloss und sich entschied, mit dem Saubermachen zu warten, bis es richtig hell war. Doch beim Blick zurück auf die Kerze und die im Dunkeln liegende Küchentür verwandelte sich ihr Lächeln in eine kummervolle Grimasse. Kein Kaffee, nicht ein einziger Schluck. Womit sollte sie dann diesen Tag eröffnen – mit Fruchtsaft etwa, oder mit kalter Milch?

Mit der Kerze in der Hand und deutlich fehlendem Enthusiasmus trottete sie in die Küche. Einige Schritte vor der Theke fuhr sie entsetzt zurück: Ihre Füße in den Bettsocken waren in einer erschreckend kalten, erschreckend nassen Pfütze gelandet. Natürlich, daran hätte sie auch vorher denken können: Jedes Mal bei Stromausfall lief der Wassertank der Kaffeemaschine aus. Es handelte ich um eine Padmaschine älteren Datums, deren Pumpe sich bei fehlender Energiezufuhr einfach selbst entleerte. Immerhin war Esther heute nur erschrocken und nicht in der Wasserpfütze am Boden ausgerutscht, wie es schon einmal vorgekommen war. Wochenlang hatte ihre Hüfte danach geschmerzt!

Bemüht, sich auf diesen positiven Aspekt zu konzentrieren, stellte sie die Kerze ab, goss sich eine Tasse Milch ein und setzte sich an den kleinen Küchentisch. Doch kalte Milch und nasse Füße waren eine unglückliche Kombination. Nicht einmal der Aromakerzenduft konnte die Atmosphäre ein wenig gemütlicher gestalten.

Als Esther ihre Tasse zur Hälfte geleert hatte, ging sie deshalb zurück ins Wohnzimmer und bahnte sich den Weg durch die Erdnussschalen zum Sofa, wo sie sich ihrer Socken entledigte und stattdessen in eine warme Decke kuschelte. Allmählich drang die Morgendämmerung in den Raum. Der Kerzenschein verblasste und die Konturen der Möbel zeichneten sich immer deutlicher ab: die Regalwand mit ihrer Glasvitrine, dem TV-Gerät und einer Reihe von Büchern und Fotoalben, die Birkenfeige in der Zimmerecke, das zweite Sofa vor dem großen Fenster – allesamt Zeugen ihres nicht sonderlich aufregenden, dafür aber geborgenen Familienlebens. Das in dieser gewohnten Form nun für immer der Vergangenheit angehörte.

Mit einem abgrundtiefen Seufzer ließ Esther ihre Augen über die Reihe der Fotoalben gleiten. Diejenigen links von der grünen Box mit den noch ungeordneten, losen Bildern dokumentierten die ersten, glücklichsten Jahre dieses Lebens, als die Familie noch vollständig gewesen war: das Hochzeitsalbum, Alben voller Bilder eines strahlenden Bernhard mit seiner neugeborenen ersten Tochter Emma auf dem Arm, Bernhard mit Emma im Kinderwagen, Emma in der Babywippe und auf Esthers Arm, Bernhard, der eine juchzende Emma durch die Luft fliegen ließ und sie bei ihren ersten Schritten begleitete, dann Bernhard und Emma mit Juli nur wenige Stunden nach deren Geburt und das erste im Fotostudio aufgenommene Foto der vollständigen vierköpfigen Familie … die Bilder nahmen schier kein Ende. Auf der anderen Seite der Box waren die Alben, die nach dem Bruch der Familie entstanden waren: Fotos der heranwachsenden Mädchen mit ihren Haustieren, ihren Freundinnen, Großeltern, Onkels und Tanten, aber kein einziges gemeinsam mit ihrem Vater.

Emma war neun Jahre alt gewesen und Juli sieben, als Bernhard entschieden hatte, dass er noch viel zu wenig von der Welt gesehen hatte. Als Student mit 22 Jahren bereits verheiratet und bald darauf Familienvater, hatte er nie Zeit gefunden zu reisen und die Abenteuer zu erleben, die er sich in früherer Jugend herbeigesehnt hatte, und ganz unvermittelt hatte ihn diese innere Unruhe ergriffen, die – nach seinen eigenen Worten – nur dadurch zu stillen war, dass er endlich auszog, um die Welt kennenzulernen. Fassungslos hatte Esther zusehen müssen, wie der Mann, der ihr aus tiefster Überzeugung heraus vor Gott lebenslange Treue gelobt hatte, seine Koffer packte und Deutschland samt seiner Familie verließ.

Zwar hatte er als Barkeeper in Irland, Truckfahrer in den USA und Weinlesehelfer in Australien etwas Geld verdient und nach Deutschland gesandt, sodass Esther mithilfe eines Halbtagsjobs das Haus behalten konnte, aber die äußerliche Versorgung war eben nicht alles. Bernhard fehlte Esther und ihren Töchtern an allen Ecken und Enden, und es hatte Jahre gedauert, bis sie bereit gewesen war, ihrem Mann seine ungeheuerliche Selbstsucht zu vergeben. Im Grunde waren es die Gebete ihrer Eltern und Freunde gewesen, die diesen Schritt möglich gemacht und Esther davor bewahrt hatten, in Selbstmitleid und Bitterkeit zu versinken. Seit diesem Zeitpunkt hatten sie, Emma und Juli gelernt, auch zu dritt ein erfülltes, glückliches Familienleben zu führen, und die Jahre waren nur so verflogen. Emma hatte in dem Schweizer Freizeitheim von Esthers Eltern eine Ausbildung zur Hotelfachfrau begonnen, gestern war auch die achtzehnjährige Juli aus ihrem Elternhaus in eine Studenten-WG gezogen. Und nun war Esther also allein zurückgeblieben.

Blass, fast schon gespenstisch weiß spiegelte sich ihr schmales Gesicht unter dem morgendlich wirren, dunklen Haar in der matten Scheibe des TV-Geräts. Trotz allen Unbehagens konnte Esther ihren Blick nicht davon abwenden: War das ein Bild für ihre Zukunft – diffuses Dämmerlicht in einem kalten und plötzlich viel zu groß erscheinenden Haus, nasse Füße und ihr einsames weißes Gesicht, gespiegelt in einem öden TV-Bildschirm? Es erschien ihr wie eine Erlösung, als plötzlich das grüne Lämpchen und die Zeitanzeige des Satellitenempfängers unterhalb der Mattscheibe aufblinkten. Eilig kehrte sie in die Küche zurück, um vor der Arbeit wenigstens noch eine Tasse Kaffee zu genießen.

Jetzt, bei Licht, bemerkte sie auch den Brief, der, halb verborgen von mehreren Prospekten, auf dem Küchentisch lag. Der verschlossene Briefumschlag mit Bernhards Absender lag bereits seit mehreren Tagen so da. Esther hatte noch nicht den Mut gefunden, ihn zu öffnen: Seit Bernhard sein Globetrotterdasein vor sieben Jahren aufgegeben hatte, um in Neuseeland sesshaft zu werden, hatte er neben seinen Zahlungen zwar auch geschrieben, doch nur zu Weihnachten, Ostern und den Geburtstagen der Mädchen, und keines dieser Ereignisse stand derzeit unmittelbar bevor. Die einzige Nachricht, die Esther jemals außerplanmäßig erreicht hatte, war die von Bernhards zweiter Heirat vor fünf Jahren gewesen. Eine Neuseeländerin namens Jeanne, nur wenige Jahre jünger als Esther, hatte damals sein Herz erobert. Noch jetzt, wenn sie daran dachte, spürte sie einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen. Was konnte Bernhard also zu diesem zweiten außerplanmäßigen Brief veranlasst haben – etwa die Geburt eines Kindes!?

Nein, so etwas wollte sie gar nicht denken. Hastig nahm Esther einen Schluck Kaffee und verbrannte sich prompt die Zunge. Sie brachte es einfach nicht über sich, Bernhards Worte jetzt zu lesen – nicht ausgerechnet an diesem Morgen. Zudem war es mittlerweile höchste Zeit, sich zur Arbeit fertig zu machen. Entschlossen presste Esther ihre Lippen aufeinander und schob den Brief zurück unter die Prospekte. Heute Nachmittag, wenn sie alle übrigen unangenehmen Pflichten dieses Tages hinter sich gebracht hatte, würde sie sich auch dieser Aufgabe annehmen.

.

Schon beim Aufschließen der Tür schlug ihr der typische Drogeriemarkt-Geruch entgegen, eine Mischung aus Weichspüler-, Seifen- und Babypflegeartikelduft. Unangenehm war er nicht, er bedeutete eben lediglich Tag für Tag dieselbe monotone Arbeit: Ware bestellen, Regale auffüllen und sauber halten, Kunden beraten und selbstverständlich kassieren. All das war Esther in den vergangenen Jahren in Fleisch und Blut übergegangen und doch weit davon entfernt, ihr Erfüllung oder auch nur eine gewisse Befriedigung zu bereiten. Aber was war ihr nach Bernhards Weggang für eine Wahl geblieben? Irgendeine Beschäftigung hatte sie gebraucht, auf irgendeine Weise hatte sie zusätzliches Geld heranschaffen müssen, und da sie bald nach dem Abitur geheiratet hatte und schwanger geworden war, hatte sie weder studiert noch eine Berufsausbildung gemacht. Ein Job im Drogeriemarkt war in dieser Situation nicht das Schlechteste gewesen, und im Lauf der Zeit hatte sie sich trotz ihrer begrenzten Arbeitsstunden zur stellvertretenden Filialleiterin hochgearbeitet.

Wie üblich war sie Montagmorgens kurz vor 9:00 Uhr die Erste, die den Laden betrat, ihre übrigen Kolleginnen würden erst später in versetzten Schichten eintreffen. Eilig trabte Esther in den Personalraum (weshalb hatte sie sich nur so viel Zeit für ihren Kaffee gelassen?), warf sich einen weißen Arbeitskittel über und griff nach dem Kasseneinsatz mit dem Wechselgeld. Falls sie sich nicht getäuscht hatte, stand vor dem Kundeneingang bereits eine Dame in Leopardenfellimitatjacke, hochhackigen Overknee-Stiefeln und mit äußerst ungeduldigem Gesichtsausdruck. In der Tat platzte diese ebenso stürmisch herein wie die sie umgebende Herbstbrise, sobald Esther die Kasse in Betrieb genommen und den Kundeneingang per Fernbedienung geöffnet hatte, und steuerte zielstrebig auf das hintere Drittel des Verkaufsraums zu. Auf die Wand mit dem neuen Fototerminal.

Esther sandte einen stillen Stoßseufzer zum Himmel. Dieses neue Fototerminal mit Scanner war für sie das sprichwörtliche rote Tuch vor den Augen des Stieres. Schon allein die Erstunterweisung durch den Fachmann der Computerfirma war für sie als Technik-Legasthenikerin das reinste Fachchinesisch gewesen, und ihr graute vor dem Augenblick, in dem sie zum ersten Mal allein das Papier oder die Farbrollen des Apparats wechseln musste. Sie konnte nur hoffen, in diesem Augenblick unbeobachtet zu sein oder sich zumindest in Gegenwart eines verständnisvollen, geduldigen Kunden zu befinden.

Doch ihre Hoffnung sollte unerfüllt bleiben. Kaum hatte Esther das Display ihrer Kasse gereinigt, sodass die Datumsanzeige des 14. 10. 2015 in gestochener Deutlichkeit vor ihren Augen aufblinkte, ertönte die ungnädige Stimme der Dame im Leopardenmuster quer durch den Verkaufsraum: „Besäßen Sie wohl die Güte, mir mit diesem Apparat hier zu helfen, oder erwarten Sie von Ihren Kunden, dass die plötzlich Ihre Arbeit tun?!“

„Nein, selbstverständlich nicht! Ich komme schon.“ Esther bemühte sich, gleichzeitig mit ihrem Ärger über die arrogante Kundin auch ihre Angst vor den Tücken des Fototerminals hinunterzuschlucken. Betont ruhig überprüfte sie die Anzeige, die tatsächlich ein Auffüllen des Materials forderte, zückte den Schlüssel für den Schrank und öffnete die entsprechende Klappe am Terminal zum Auswechseln. Soweit hatte sie den Anweisungen des Fachmannes letzte Woche noch folgen können. Jetzt galt es, die leeren Rollen für Papier und Farbe zu entfernen, und obwohl die Kundin in ihrem Rücken ungeduldig auf ihren hohen Absätzen zu wippen begann, erinnerte Esther sich noch an die richtigen Handgriffe. Erleichtert atmete sie auf, während sie die frische Rolle mit den verschiedenen Farbbehältnissen wieder einlegte. Darüber musste sie nur noch das frische Papier einspannen, einen Schalter irgendwo im Inneren des Gehäuses drücken, die Klappe schließen – und der Sofortdrucker wäre wieder funktionsfähig. Gedacht, getan.

Doch statt gehorsam seinen Dienst zu versehen, beharrte das Terminal weiterhin auf der Materialanzeige. Esther stutzte. Hatte sie irgendeinen Zwischenschritt vergessen, die Farben verkehrt herum eingelegt oder …? Prüfend blickte sie auf die verbrauchte Farbpalette, die sie zuvor achtlos neben sich abgelegt hatte. Wie genau hatte sie die aus dem Fach entnommen – hatte sich der Behälter mit der roten Farbe rechts befunden oder links – konnte das überhaupt eine Rolle spielen dafür, dass der Drucker funktionierte – und falls nicht, was genau war dann der Fehler?

Mit fahrigen Bewegungen öffnete sie noch einmal das bereits geschlossene Fach. Die Leopardendame hinter ihr räusperte sich ungeduldig und Esther wünschte sich sehnlichst, sie hätte vorhin trotz aller Eile ihren eigenen Kittel angezogen statt den ihrer Kollegin, der gerade griffbereit gelegen hatte. In der Tasche ihrer eigenen Kleidung nämlich befand sich das Schriftstück, das der Techniker als „idiotensichere Gebrauchsanweisung“ bezeichnet und das sie aus genau diesem Grund sicherheitshalber eingesteckt hatte. Wenn es auch äußerst peinlich gewesen wäre, die Anleitung unter den kritischen Blicken der Kundin hervorzuholen und das Verfahren nachzuprüfen – die jetzige Situation war entschieden noch peinlicher!

Unsicher tastete Esther sich durch das Innenleben des Druckers, um die Rollen noch einmal zu entnehmen und erneut einzulegen, und prompt entglitt ihr das neue Papier, fiel zu Boden und begann sich dort in voller Länge zu entrollen. Eine schmale weiße Straße bildete sich auf dem schwarz-weiß gemusterten Fliesenboden zwischen den Regalreihen.

„Ich fasse es nicht!“ Die Kundin rollte genervt ihre Augen gen Himmel und griff sich theatralisch aufseufzend an die Stirn. „Man sollte doch vermuten, dass eine große Drogeriemarktkette es sich leisten kann, zumindest halbwegs fähiges Personal einzustellen!“

Esther vernahm die zynische Bemerkung nur mit halbem Ohr, während sie sich bückte und versuchte, der Papierrolle wieder habhaft zu werden. Ein brauner verlourslederner Männerschuh hielt sie auf.

„Erlauben Sie, dass ich Ihnen helfe?“, fragte der Inhaber des Schuhs, als Esther sich aufrichtete und ihn erstaunt anblickte. In ihrer Verzweiflung hatte sie nicht einmal bemerkt, dass ein weiterer Kunde den Markt betreten hatte.

Behutsam und ohne weitere Erklärung nahm der Kunde ihr die Rolle aus der Hand, war mit zwei großen Schritten beim Fototerminal, legte Papier und Farbbehältnisse ein, schloss den Deckel des Gehäuses und betätigte einen Schalter.

„So, nun dürfte das Gerät wieder arbeiten! Sie können Ihre Bilder jetzt ausdrucken!“, wandte er sich an die Dame in Leopard.

Ihre himbeerroteren Lippen, eben noch zu einem schmalen Strich zusammengekniffen, verzogen sich zu einem zuckersüßen Lächeln. „Danke, sehr liebenswürdig von Ihnen! Vielleicht sollte man dem Drogeriemarktvorstand einmal nahelegen, mehr technisch versierte Männer wie Sie anzustellen!“ Ein verächtlicher Seitenblick streifte Esther, die noch immer mit hochrotem Gesicht dastand. Der Eingriff des „technisch versierten“ Mannes war so rasch vor sich gegangen, dass sie nicht einmal registriert hatte, was genau er nun anderes gemacht hatte als sie selbst.

Anstelle einer Antwort lächelte der Kunde gelassen vor sich hin, sodass die Dame ermutigt fortfuhr: „Vielleicht wären Sie so freundlich und würden mir auch noch beim Ausdrucken meiner Bilder beistehen?“

„Wenn Sie das wünschen, sicherlich!“ Sein Lächeln blieb unverändert, während er seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm und die Auswahl der Fotos richtete. Mit hängenden Schultern zog Esther sich zurück. Ihre weitere Anwesenheit war hier weder erforderlich noch erwünscht.

Kurz darauf, noch ehe ihr Gesicht wieder seine gewohnte blasse Farbe angenommen hatte, näherten die beiden Kunden sich ihrer Kasse. Ohne ein weiteres Wort an Esther zu richten bezahlte die Dame ihren Einkauf, bedachte ihren Helfer mit einem letzten geflöteten „Herzlichen Dank“ und verließ den Markt.

„Machen Sie sich nichts draus!“, durchbrach die Stimme des Kunden die entstandene Stille. „Ich glaube nicht, dass diese Dame besser mit dem Drucker zurechtgekommen wäre als Sie, jedenfalls rührte sie nicht einen Finger, während ich den ganzen Vorgang für sie erledigte!“

„Möglich, aber sie muss auch nicht damit klarkommen! Ich dagegen schon, es ist mein Job. Wissen Sie, dieses Terminal ist ganz neu – das Alte, mit dem ich sehr gut zurechtkam, war defekt – und bis jetzt konnte ich mir partout nicht merken, wie …“ Mit einem hilflosen Schulterzucken brach Esther ab. Langwierige Erklärungen und Entschuldigungen machten die peinliche Szene auch nicht ungeschehen. „Vielen Dank jedenfalls, dass Sie mir beigesprungen sind!“

„Ich bin mir sicher, Sie werden all das schnell lernen, wenn Sie mit dem anderen Drucker so gut klarkamen!“

Seine Stimme klang dermaßen aufmunternd, dass Esther es wagte, ihrem Retter in der Not zum ersten Mal richtig ins Gesicht zu blicken. Mit seinem dunkelblonden Haar, dem ebenso dunkelblonden Vollbart und der dunkel umrandeten Brille mit den großen Gläsern dachte sie einen Moment lang beinahe, den bekannten Fußballtrainer vor sich zu haben, den ihre sportbegeisterte Tochter Emma so bewunderte. Es geschah nicht jeden Tag, dass ein derart gut aussehender Kunde bei ihr einkaufte. Allerdings waren seine kräftigen, leicht gebräunten Hände leer – ebenso wie das Band ihrer Kasse. Nicht das geringste Indiz für einen möglichen Einkauf.

Ihr Blick wurde fragend. „Jetzt sagen Sie nur, Sie sind extra hierhergekommen, um einer technisch absolut nicht versierten Verkäuferin aus einer Notlage zu helfen?“, scherzte sie.

Er zwinkerte, grinste breit und sah besagtem Trainer dabei noch ein Stückchen ähnlicher. „Sehen Sie, jetzt können Sie schon einen Scherz machen! Doch leider muss ich Sie enttäuschen: Ursprünglich kam ich nicht hierher, um Lorbeeren als Retter in der Not zu ernten, sondern um einen Rasierer samt Klingen zu kaufen, und wie ich gesehen habe, bekomme ich den nur hier an der Kasse!“

„Richtig!“, bestätigte Esther. Die fragliche Ware hing in einer speziellen Vorrichtung an der Wand hinter der Kasse. „Aber wollen Sie wirklich … ich meine, ihr Bart ist doch ganz nett …“ Zum zweiten Mal an diesem Morgen verstummte sie abrupt. Offenbar gelang es ihr heute hervorragend, von einer Peinlichkeit direkt in die nächste hineinzustolpern!

Doch ihr Gegenüber lachte frei heraus. „Sie dachten – oh nein, ich brauche das Gerät nicht für mich selbst!“ Fast liebkosend strich er sich mit seiner Rechten durch den dichten Vollbart. „Dafür hänge ich viel zu sehr an meinem Bart – oder er an mir, wenn man es genau nimmt! Nein, ich bin nur der Bote und besorge den Rasierer im Auftrag meines Mitarbeiters, der bei der Arbeit gerade unabkömmlich ist! Welchen würden Sie mir denn empfehlen?“

„Nun, diese Marke hier ist bei unseren Kunden zurzeit sehr beliebt!“ Mit einem raschen Griff nahm Esther einen Rasierer von der Wand. Anders als am Fototerminal befand sie sich hier wieder auf sicherem Terrain, und wenn sie jetzt keine unbedachte Bemerkung mehr machte, würde sie die denkwürdige Begegnung mit diesem Kunden in Kürze hinter sich haben. „Und falls er Ihrem Mitarbeiter doch nicht zusagen sollte, kann er ihn jederzeit umtauschen!“

„Schön, dann machen wir es genau so!“ Der Bärtige zückte seine Geldbörse. „Danke für Ihre kompetente Beratung!“ Die blaugrauen Augen hinter den Brillengläsern blitzten spitzbübisch.

„Nein, ich danke Ihnen für Ihre Sofortrettungsmaßnahme!“, wehrte Esther ab, ehe sie erneut in die Gefahr geriet zu erröten. „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch!“

„Den wünsche ich Ihnen auch!“ Mit diesen Worten öffnete der Bärtige zuvorkommend die Tür für den nächsten Kunden.

Das Letzte, was Esther von ihrem Retter sah, waren die braunen Verlourslederschuhe und die Hosenbeine, als er draußen vor dem Schaufenster sein Fahrrad bestieg.

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Der Rest dieses Arbeitstages verging in gewohnter Eintönigkeit, und dennoch war Esther nicht besonders froh, als sich die Tür des Drogeriemarkts hinter ihr schloss. Daheim wartete nichts weiter auf sie als ein leeres Haus und ein Papagei, der sich – zugegebenermaßen – freuen würde, sie zu sehen, da er sich allein gelangweilt hatte. Lustlos stieg sie in ihren Wagen, um die Heimfahrt anzutreten. Das Dorf, in dem sie nun bereits seit den ersten Tagen ihrer Ehe lebte, lag etwa 13 Kilometer von dem Stadtteil mit ihrer Arbeitsstelle entfernt, was zumindest für Esthers Ansicht zu weit entfernt war, um die Strecke mit dem Fahrrad zurückzulegen. Und die Busse fuhren nicht unbedingt zu den Zeiten, zu denen Esther sie benötigt hätte. Aus diesem Grunde war es der alte, grüne Opel Corsa, der sie täglich zu ihrem Drogeriemarkt beförderte. Esther hatte ihn vor nunmehr zehn Jahren gebraucht gekauft, und allmählich bemerkte man sein Alter nicht nur an der unmodernen Karosserie und den zunehmenden Rostflecken, sondern auch an den immer lauteren Motorengeräuschen. Wie ein Bekannter neulich festgestellt hatte, würde das Auto demnächst einen neuen Auspuff benötigen.

Mit einem leichten Stottern sprang der Motor an und Esther rangierte unter lautem Röhren rückwärts aus der Parklücke. Über die mittäglich belebten Straßen der Vorstadt und die Landstraße, vorbei an herbstlich kahlen Feldern und Wäldern näherte sie sich ihrem Zuhause. Der Sturm, der für den nächtlichen Stromausfall gesorgt hatte, hatte sich weitgehend gelegt, der Regen jedoch hielt sich hartnäckig. Auf dem kurzen Stück Weg zwischen Garage und Haustür prasselte er unangenehm kalt auf Esthers unbedecktes Haar und ihren Rücken unter dem viel zu dünnen Übergangsmantel.

Trotzdem machte sie, sobald sie die Haustür aufgeschlossen und den Briefkastenschlüssel vom Schlüsselbrett geholt hatte, noch einmal kehrt, um am Gartentor die Post zu holen. Obwohl es eher unwahrscheinlich war – mit ihren Töchtern und Eltern verkehrte sie meist per Skype und Telefon – bestand doch die vage Möglichkeit, unter den Rechnungen und Prospekten etwas zu finden, das sie ein wenig aufheitern würde. An den Brief, der nach wie vor ungeöffnet in ihrer Küche wartete, mochte sie noch immer nicht denken.

Mit klammen Fingern sortierte sie die Umschläge auf dem Rückweg ins Hausinnere: ein Modekatalog, aus dem Juli gelegentlich etwas bestellte, eine Erinnerung an Julis nächsten Zahnarzttermin (sie musste sie bei Gelegenheit dazu ermahnen, ihre Adressänderung weiterzugeben), Werbung für ein Autohaus, ein Brief ihrer Versicherung und der möglicherweise etwas verfrühte Weihnachtsprospekt ihres christlichen Lieblings-Verlagshauses. Na bitte, hier war ja die erhoffte Aufmunterung: In einem Bücherkatalog zu blättern war beinahe so schön wie das leibhaftige Stöbern in einer Buchhandlung. Sie würde den Prospekt in aller Ruhe während des Essens genießen – das allerdings erst zubereitet werden musste. Kurzerhand beschloss Esther, an diesem ersten Tag alleine keinen großen Aufwand damit zu betreiben. Fertig-Rösti mit einer Scheibe Schinken auf Toast, dazu ein paar frische Tomaten und eine Tasse Kaffee genügten vollauf.

Den warmen Toast und die duftende Tasse Kaffee vor sich ließ sie sich am Esszimmertisch nieder, schlug den Bücherprospekt auf, überflog kauend das Vorwort des Verlagsleiters und blätterte weiter zu den ersten Buchtiteln. Aber heute fand sie nicht dieselbe Freude an den Büchern wie sonst üblich: Immer wieder drängte sich der bunte, von Bernhards Hand adressierte Umschlag auf dem Küchentisch in ihre Gedanken. Schließlich gab Esther den Widerstand auf: Sie holte den Brief und schlitzte ihn mit dem Zeigefinger der Länge nach auf.

Was ihr entgegenfiel war jedoch kein Briefbogen, sondern eine Karte. Eine Fotokarte mit dem Bild einer frischgebackenen kleinen Familie: Glückstrahlend lächelten Bernhard und seine Jeanne in die Kamera, in ihren Armen lag ein sieben Pfund schwerer und 54 Zentimeter langer Säugling namens Andrew Simon, wie die aufgedruckte Geburtsanzeige verkündete.

Esther fuhr zurück, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Die Karte landete ebenso am Boden wie die Kaffeetasse, die Esther bei ihrer heftigen Bewegung angestoßen hatte. Als kleiner brauner See ergoss sich die heiße Flüssigkeit über das Foto.

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Esther wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als sie schließlich die Karte mit den drei hellen, mittlerweile leicht verschwommenen Gesichtern von Eltern und Neugeborenem wieder aufhob. Ihr Körper war wie betäubt, das einzig Spürbare war ihr Herz, das so heftig gegen ihre Rippen pochte wie nach einem Tausendmeterlauf. Es war tatsächlich wahr: Was ihr heute Morgen schon als schlimmste aller möglichen Nachrichten in den Kopf geschossen war, war eingetroffen! Nicht genug, dass Bernhard wieder geheiratet hatte – ihr ehemaliger Mann hatte einen entzückenden, neugeborenen Sohn! Er hatte einen Sohn, eine komplette neue Familie – und ausgerechnet in den Tagen, die das Ende ihres gemeinsamen Lebens mit ihren heranwachsenden Töchtern darstellten, teilte er ihr das mit!

Esther stützte die Arme auf die Tischplatte, legte ihren Kopf darauf und weinte, bis Rösti und Toast so kalt waren wie die Kaffeepfütze am Boden und ihre Tränen endlich versiegten.

Kapitel 2

Der Herr, dein Gott, ist in deiner Mitte,ein Held, der rettet.

(Zephanja 3,17)

„Hi Mama, wie geht’s dir? Aber was – was ist denn mit dir passiert!? Was hast du mit deinem Haar angestellt?“

In aller Deutlichkeit übertrug der Bildschirm das Entsetzen auf Emmas Gesicht. Wie jeden Dienstagabend, seit sie in die Schweiz gezogen war, meldete sich ihre älteste Tochter per Skype bei Esther. Sie hatten sich angewöhnt, auf diese Weise alles Wichtige, das sich in ihrem jeweiligen Leben ereignete, miteinander zu teilen. Heute jedoch entlockte der Anblick ihrer Mutter Emma diesen entsetzten Ausruf. „Wo um alles in der Welt hast du nur dein schönes, langes Haar gelassen?“

„In irgendeinem Mülleimer, vermute ich mal, oder wo auch immer Friseure ihren Abfall entsorgen“, entgegnete Esther betont gleichmütig.

Nach einem Augenblick konsternierten Schweigens stammelte Emma: „Aber weshalb – ich meine, ich weiß, Juli ist gestern ausgezogen und du lebst jetzt zum ersten Mal allein, aber ist das etwa ein Grund … du warst doch immer so stolz auf dein langes schwarzes Haar …“ Verwirrt brach Emma ab.

„Gefällt es dir nicht?“ Esther fuhr sich mit einer Hand durch den dichten dunklen Pony, der ihr in die Stirn fiel, dann wandte sie den Kopf zu beiden Seiten, damit Emma ihren knapp nackenlangen Bob in ganzer Pracht begutachten konnte. „So sehe ich doch viel lässiger aus … jünger, oder etwa nicht?“

„Na ja, vielleicht“, Emmas Blick blieb skeptisch. „Aber war wirklich gleich so ein Radikalschnitt nötig? Wäre es nicht genug gewesen, dein Haar ein Stückchen zu kürzen und leicht zu färben, wenn du schon unbedingt etwas verändern wolltest – was ich übrigens nicht einmal wusste!?!“

„Möglich. Doch was, wenn ich mir einfach mehr wünschte als so eine kleine Veränderung? Was, wenn …“ Esther brach ab. Entgegen ihrem festen Vorsatz, zumindest vor den Mädchen gefasst zu wirken, schossen ihr erneut die Tränen in die Augen. Schnell schaute sie weg, doch es war bereits zu spät.

„Da steckt doch mehr dahinter, Mama, nicht wahr?“ Weich und beruhigend klang Emmas Stimme, wie sie es immer getan hatte, wenn sie als älteste Tochter ihrer Mutter in irgendeinem Kummer beistehen wollte. „Willst du’s mir nicht erzählen?“

„Ich“, entschlossen fuhr Esther mit einem Tempotaschentuch über ihre Augen und schnäuzte sich kurz die Nase, „habe heute einen Brief deines Vaters erhalten!“

„Aha“, bemerkte Emma, nachdem ihre Mutter nicht fortfuhr. „So außergewöhnlich ist das allerdings nicht, oder? Er schreibt uns doch des Öfteren! Und ich kann mir ehrlich gesagt kaum vorstellen, dass er etwas schreibt, was dich zu einer solchen Tat veranlassen könnte.“

„Dann warte, bis du den Brief gesehen hast, Emma. Er und Jeanne haben … Pass auf, hier ist die Karte!“ Mit bebender Hand hielt Esther die verschwommene, aber noch immer als solche erkennbare Geburtsanzeige vor die Laptopkamera.

„Aber das ist ja – Papa hat einen Sohn bekommen?“ Hatte Emma beim ersten Anblick ihrer Mutter vorhin schockiert gewirkt, so hatte es ihr nun offenbar die Sprache verschlagen. Wie gebannt starrte sie auf das Bild des Säuglings und seines sichtlich stolzen Vaters. „Wie kann er nur?“, war alles, was nach einer Minute des Schweigens über ihre Lippen kam.

„Genau das fragte ich mich heute Mittag auch, Emma. Wie kann er nur?“ Esthers Unterlippe zitterte. „Wie konnte er uns verlassen, weil er sich in der Familie mit all der Verantwortung eingeengt fühlte, wie konnte er deshalb alles, was ihm vorher wertvoll war, einschließlich seines Glaubens an Gott, zurücklassen und selbstsüchtig hinausziehen, um die Welt zu erobern, und nun bringt er sich wieder in genau dieselbe Situation, aus der er damals ausbrechen musste!? Und bringt es obendrein fertig, mir das zu einer Zeit mitzuteilen, in der ich ohnehin schon mit genug zu kämpfen habe! Ich sage dir, Emma, nachdem ich meinen ersten Schock überwunden hatte, wurde ich wütend, so furchtbar wütend. Das Einzige, woran ich denken konnte, war, ihm weh zu tun – ihm irgendwie Schmerz zuzufügen. Deshalb ging ich zum Friseur und trennte mich von dem langen Haar, das Bernhard früher so bewunderte. Als ob ihm das nach all den Jahren noch etwas ausmachen würde … Oh, Emma, wie konnte ich nur so kindisch handeln?“ Mit dem Taschentuch vor der Nase unterdrückte Esther ein Schniefen. „Wie ein Teenager, der seinen Eltern eins auswischen will, und das, nachdem ich Bernhard doch eigentlich längst verziehen hatte!“

„Deine Aktion war vielleicht nicht sehr reif, Mama“, stimmte Emma tröstend zu, „aber ich verstehe dich sehr gut. Wenn sein Verhalten schon mich als Tochter, die praktisch ihr halbes Leben ohne Vater verbracht hat, so schmerzt, wie viel mehr muss es dann dich treffen! Gerade jetzt, wo du dich daran gewöhnen musst, allein zu leben! Ach, Mama …“ Ein abgrundtiefer Seufzer kam über ihre Lippen. „Also, ehrlich gesagt, ich versteh’ das alles nicht. Und er hat wirklich gar nichts dazugeschrieben, wenigstens ein paar erklärende, persönliche Worte an dich?“

„Doch, das hat er, Emma.“ Esther drehte die Karte um und betrachtete den mit „Liebe Esther“ überschriebenen Text auf der Rückseite. „Nur habe ich es bis jetzt noch nicht über mich gebracht, es zu lesen.“

„Das solltest du aber, finde ich. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie, aber möglicherweise hilft uns das ja, sein Handeln besser zu verstehen! Wenn du magst, kannst du mir den Text gleich hier und jetzt vorlesen.“

Esther zögerte. „Ich weiß nicht recht!“ Zum wiederholten Mal fiel ihr Blick auf die einleitenden Worte: „Liebe Esther“ … Sämtliche früheren Briefe an die Familie hatte Bernhard mit „Hey Leute“ oder bestenfalls „Liebe Familie“ begonnen. „Nein, ich denke, ich lese den Brief besser zuerst allein, für heute habe ich dir schon genug vorgeweint!“, beschloss sie. „Wir sprechen dann nächstes Mal darüber, in Ordnung?“

„Na gut! Dann machen wir am besten Schluss für heute, damit du in aller Ruhe diesen Brief lesen kannst. Vielleicht siehst du die ganze Sache danach in einem anderen Licht. Und mach dir eine Tasse heiße Schokolade mit viel Sahne dazu oder ein schönes duftendes Entspannungsbad! Versprichst du mir das, Mama?“

„Ich versprech’s!“ Zum ersten Mal an diesem Abend erhellte ein zaghaftes Lächeln Esthers Gesicht. „Mir scheint, Emma, du hast mit deiner Ausbildung deine wahre Bestimmung verfehlt. Du solltest Seelsorgerin werden, Psychologin oder Ähnliches, nicht Hotelfachfrau. Danke jedenfalls für deinen Beistand, ich fühle mich schon ein wenig besser!“

„Schön! Dann also bis bald, Mama, und Kopf hoch!“ Damit legte Emma auf.

Nachdenklich klappte Esther den Laptop zu und ging ins Bad. Emma hatte recht: Ein heißes Schaumbad würde ihr helfen, sich zu entspannen, bis sie sich in der Lage dazu fühlte, Bernhards Nachricht zu lesen. Und ganz nebenbei bot es ihr die Gelegenheit, diese furchtbar unnatürlich gestylte und mit einer halben Flasche Haarspray versehene Haartolle in ihrer Stirn wieder loszuwerden, die die Friseurin ihr als ganz besonderen Schick empfohlen hatte.

Wenige Minuten später versank Esther im duftenden Schaum ihres Lavendelbades. Lavendel – seit ihrer Hochzeitsreise nach Südfrankreich, die sie aus Kostengründen als Campingurlaub gemacht hatten, verband dieser Duft sich für sie mit den angenehmsten Erinnerungen: Erinnerungen an einen samtschwarzen, sternklaren Nachthimmel über ihren Köpfen, während sie sich im Schlafsack so dicht wie möglich an Bernhard kuschelte, an das stürmische Rauschen des Flusses im Grunde der Schlucht, an einen sonnenheißen, vom unaufhörlichen Zirpen der Grillen begleiteten Nachmittag inmitten eines Lavendelfeldes … Tief inhalierte Esther den bedeutungsschweren Duft und begann zu lesen:

Liebe Esther,

ich hoffe, meine Nachricht (sprich: diese Geburtsanzeige) schockiert dich und die Mädchen nicht allzu sehr. Glaub mir, ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich euch überhaupt von Andrew Simon erzählen soll, aber schließlich kam ich zu dem Schluss, dass, würde ich es nicht tun und ihr erfahrt später oder über irgendwelche Umwege von seiner Existenz, der Schaden beziehungsweise euer Schock eventuell noch größer wäre, als nun, da ihr es von mir selbst hört.

Ich bin also Vater geworden, noch einmal. Unser Sohn ist ein süßer kleiner Kerl mit einer gewaltigen Stimme, der mir einmal sehr ähnlich sehen wird, wie sämtliche Leute in unserer Umgebung Jeanne und mir versichern, aber ich will dir hier selbstverständlich nichts vorschwärmen. Nein, der Anlass für diesen Brief ist Folgender: Ich will dich um Verzeihung bitten.

Wie ich dich kenne, vermute ich, dass du mir von deiner Seite längst verziehen hast, auch wenn ich dich niemals darum bat. Aber jetzt und hier will ich es ganz bewusst aussprechen: Es tut mir leid, Esther, dass ich dich und die Mädchen damals verlassen, nein, im Stich gelassen habe! Aus reiner Abenteuerlust und Selbstsucht habe ich meine Verantwortung als Ehemann und Vater in den Wind geschrieben und mich davongemacht – und wie groß diese väterliche Verantwortung eigentlich ist, wird mir durch Andrews Geburt erst wieder so recht bewusst. Es ist meine Verantwortung, meinen Sohn groß zu ziehen, ihn materiell zu versorgen und ideell zu einem vernünftigen, beziehungsfähigen Menschen zu erziehen, und genau diese Art von Verantwortung überließ ich im Fall unserer Töchter nur dir. Ganz plötzlich warst du allein für ihr Wohlergehen verantwortlich, während ich mir ein schönes Leben machte, und das tut mir – von meinem heutigen Standpunkt aus gesehen – unendlich leid.

Ich hoffe, Esther, mein tiefes Bedauern darüber hilft dir ein wenig über den Schock von Andrews Geburt hinweg. Ich wünsche mir, dass wir trotz allem künftig in Freundschaft und Offenheit miteinander umgehen können!

Bernhard

P. S. Emma und Juli lasse ich jeweils extra einen Brief zukommen, in dem ich sie ebenfalls um Verzeihung bitte; ich hoffe, die Briefe erreichen euch alle etwa zur selben Zeit …

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Esthers Hände zitterten, als sie den vom heißen Wasserdampf durchfeuchteten Brief auf die Ablage am Kopfende der Badewanne schob. Emma hatte recht behalten: Bernhards Brief warf in der Tat ein anderes Licht auf die Geburtsanzeige, die ihr einen solchen Schock versetzt hatte. Seine Worte, seine Bitte um Vergebung klangen ganz nach dem Bernhard, in den sie sich einst verliebt hatte, und nicht mehr nach dem Windhund, der sich quasi bei Nacht und Nebel aus ihrem Leben gestohlen hatte. Offensichtlich hatte die Geburt seines Sohnes ihn wieder zur Vernunft gebracht, sodass er sich und auch ihr sein früheres Versagen eingestehen konnte. Und die Tatsache, dass ihm Entschuldigungen oder die Bitte um Verzeihung noch niemals leicht über die Lippen gekommen waren, ließen ihr diese Worte umso wertvoller erscheinen.