Das Licht im Fenster - Dorothea Morgenroth - E-Book

Das Licht im Fenster E-Book

Dorothea Morgenroth

5,0

Beschreibung

Mitte des 19. Jahrhunderts: Die abenteuerlustige 18-jährige Charlotte aus Deutschland nimmt die Stelle als Gesellschafterin einer gelähmten Engländerin an. Schon bald ist sie nicht nur der jungen Mallory Carrington freundschaftlich zugetan, sondern auch mit deren Bruder Myles verlobt. Doch dann kommt Myles bei einem Jagdunfall ums Leben. Inmitten tiefer Verzweiflung und Trauer stößt Charlotte auf die Spur eines verheerenden Streits, der vor Jahren die Familie entzweite. Sie macht es sich zur Aufgabe, die zerstrittenen Verwandten miteinander zu versöhnen. Das gestaltet sich allerdings als ausgesprochen schwierig. Aber Charlotte lässt sich nicht beirren. Mit weitreichenden Konsequenzen ...

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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen




Über die Autorin

Dorothea Morgenroth ist gelernte Arzthelferin, hat aber schon früh ihre Liebe zum Schreiben entdeckt. Mit „Der den Himmel lenkt“ und „Die Bank unter der Linde“ hat sie sich einen Namen als einfühlsame Romanautorin gemacht. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Süddeutschland.

Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben,der folgenden Bibelübersetzung entnommen:Revidierte Elberfelder Bibel, © 1985, 1992 R.Brockhaus Verlag, Witten (RE)© 2014 Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar1. Auflage 2014ISBN 978-3-96122-135-6Umschlaggestaltung: Hanni PlatoUmschlagfoto: ShutterstockSatz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze

Prolog

Liebe Freundin, liebe Reisegefährtin,

dies ist ein bedeutsamer Tag in meinem Leben: Heute, am 25. August des Jahres 1853, verlasse ich mein Elternhaus Gut Rixtorf an der holsteinischen Ostseeküste! Lange schon habe ich diesen Tag herbeigesehnt, brenne ich doch geradezu darauf, mehr von der Welt zu sehen, die mein weit gereister Onkel Frederik so verführerisch anzupreisen versteht. Und nun ist es so weit: Der Schiffsleib unter meinen Füßen erzittert vom Ungestüm der mächtigen Wogen, die stolzen weißen Segel schwellen in der Gewalt des Windes, und jedes dieser ungezähmten und unzähmbaren Elemente bringt mich näher an mein Ziel – ein Leben in einem mir nur vom Hörensagen bekannten Land, ein Leben jenseits der Grenzen Gut Rixtorfs und der Ostseeküste!

Doch im selben Maße, da ich meinem Ziel näher komme, entferne ich mich von allem, was mir bislang lieb und teuer war. All die altbekannten, lieb gewordenen Orte meiner Kindheit lasse ich hinter mir, ganz zu schweigen von den Personen, die jene Orte bevölkern und in den vergangenen 18 Jahren meines Lebens täglich um mich gewesen waren: meine geliebte Familie. Vor wenigen Minuten noch blickte ich in ihre Gesichter, die mir fast vertrauter sind als mein eigenes; ich umarmte meine Mutter, die ihre Tränen nur mit äußerster Mühe zurückhalten konnte, und meinen Vater, der seine Sorge um mein Wohlbefinden hinter einem gequälten Lächeln verbarg, sowie meine Brüder, welche meine Umarmung in der Öffentlichkeit peinlich berührt über sich ergehen ließen.

Dann jedoch, als sie von Bord gingen und das Schiff, das mich nach England bringt, ablegte, entschwanden sie meinem Blickfeld. Kleiner und kleiner wurden ihre winkenden Gestalten am Kai, bis ich durch meinen Schleier aus Tränen nichts mehr weiter erkannte als die immer blasser werdenden Umrisse des Hafens und der Küste. Einige Zeit später zog ich mich in meine Kabine zurück, um Dir, liebe Reisegefährtin, meine Gedanken mitzuteilen. Vermutlich wirst Du in den kommenden Tagen und Wochen, zumindest aber, bis ich an meinem künftigen Aufenthaltsort eine weitere Person meines Vertrauens gefunden habe, noch öfter Zeuge meiner widerstreitenden, wechselnden Gefühle und Gedanken werden …

Ehe aber nun eine weitere Träne diesen Bogen Papier benetzt, will ich aufhören, zurückzublicken auf das, was ich hinter mir ließ und meine Augen stattdessen auf das richten, was (nicht nur geographisch betrachtet) vor mir liegt: die englische Küste und mein neues, unabhängiges, selbstständiges Dasein auf einem Landgut in Gloucestershire.

Lowerdale Manor, ich komme!!!

Kapitel 1

Wenn jemand nicht im Wort strauchelt, der ist ein vollkommener Mann, fähig, auch den ganzen Leib zu zügeln. Wenn wir aber den Pferden die Zäume in die Mäuler legen, damit sie uns gehorchen, lenken wir auch ihren ganzen Leib. Siehe, auch die Schiffe, die so groß und von heftigen Winden getrieben sind, werden durch ein sehr kleines Steuerruder gelenkt, wohin das Trachten des Steuermannes will. So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rühmt sich großer Dinge. Siehe, welch kleines Feuer, welch einen großen Wald zündet es an!

(Jakobus 3,2–5)

Gloucestershire, 1855

Worte – bis zu jenem Tag hatte Charlotte Mechthild von Rixtorf nicht bedacht, welch außerordentliche Macht sie besaßen. Niemals hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, welche Kraft einem Wort innewohnen konnte, sei dieses nun mit Bedacht niedergeschrieben oder unbedacht ausgesprochen worden. Niemals hatte sie sich bewusst gemacht, welch gewaltiges Instrument der Zerstörung ein einziges Wort darstellen konnte.

Bis zu jenem Tag waren Worte eine Selbstverständlichkeit für sie gewesen. Unaufhörlich und oftmals kaum als solche registriert, rauschte die Flut der Worte tagtäglich in ihren Ohren wie die stetige Brandung der Ostsee: unbedeutende, harmlose, leicht dahingesagte bis nichtssagende Worte in der Mehrheit, vereinzelt auch einige aussagekräftige, bedeutungsschwere Worte. Letztere waren dann auch imstande, Emotionen zu wecken, seien diese nun positiver oder negativer Art. Dass das selbstverständliche, sanfte Rauschen der Worte sich jedoch in eine Sturmflut verwandeln konnte, in eine Flutwelle voller Urgewalt, die alles mit sich riss, was man bislang für felsenfest und unverrückbar gehalten hatte, erfuhr Charlotte an dem Tag, da sie vollkommen unerwartet auf einen Brief ihres verstorbenen Verlobten stieß. „Dear Charlie“ lauteten die ersten Worte jenes Briefes …

Fassungslos starrte Charlotte „Charlie“ von Rixtorf, die eigentlich längst Charlie Carrington hätte heißen sollen, auf die auseinandergefalteten Briefbögen in ihrer Hand. „Dear Charlie“, las sie flüsternd ein zweites Mal diese beiden Worte, diesmal mit bebenden Lippen. Auch ihre Hände begannen zu zittern, sodass die Schriftzüge vor ihren Augen auf und ab tanzten, zu unleserlichen, krakeligen Schwüngen wurden und letztendlich alle drei eng beschriebenen, tintenbeklecksten Seiten des Briefes zu Boden schwebten.

Das, was Charlie derart aus der Fassung brachte, war allerdings nicht so sehr der Adressat des Briefes an sich, bei dem es sich offenbar um sie selbst handelte, sondern vielmehr das Datum, zu welchem der Brief verfasst worden war, im Zusammenhang mit seinem Verfasser! Obwohl der Brief mittlerweile mit den beschriebenen Seiten nach unten am Boden lag, sah Charlie die entsprechenden Buchstaben vor ihrem inneren Auge, so deutlich hatten sie sich ihr beim ersten kurzen Blick auf den Brief eingeprägt.

„April 3rd, in The Year of Our Lord 1843“, stand in der rechten oberen Ecke des Briefbogens, und unter dem dreiseitigen Text fanden sich die Worte „Yours affectionately, Myles“! Wie war das möglich? Wie konnte ihr Verlobter Myles Carrington von Lowerdale Manor vor so vielen Jahren, als elfjähriger Junge (wovon die ausgesprochen schuljungenhafte Handschrift und vereinzelte orthografische Fehler zeugten), einen Brief an seine zukünftige Verlobte geschrieben haben? Wie konnte er ihren Namen gekannt haben, obwohl er ihr nie zuvor begegnet war oder jemals etwas von ihr gehört hatte, ja, nicht einmal in demselben Land gelebt hatte? Geradezu unglaublich war das, wenn nicht gar unheimlich …

Es gab nur einen Weg herauszufinden, was es damit auf sich hatte: Charlie beugte sich hinunter, sammelte die Bögen des Briefes von dem abgetretenen Perserteppich des Kinderzimmers und ging mit bebenden Knien zu dem Lehnstuhl vor dem Fenster. Hier, im Schein des letzten Tageslichtes, das durch die breiten Sprossenfenster fiel, schien Charlie der geeignete Ort zu sein, um die Botschaft aus der Vergangenheit in Ruhe zu lesen. Zuerst aber drückte sie dieselbe mit beiden Händen fest an ihr pochendes Herz.

Die Rüschen am Ausschnitt ihres Tageskleides knisterten unter dem Druck ihrer Hände, während Charlie versuchte, ihrer Aufregung Herr zu werden, und dabei sinnend auf die trübe graue Welt draußen vor dem Fenster starrte. Die Fenster des unter dem Dach gelegenen Kinderzimmers gingen auf das rückwärtige Gelände des Herrenhauses Lowerdale Manor hinaus. Sie offenbarten den Blick auf einen kleinen Teil des Parks mit seinen ehrwürdigen alten Bäumen, deren Kronen sich beinahe auf der Höhe der Kinderzimmerfenster befanden, dem kleinen moosgrünen Teich und dem von meterhohen Rhododendren beschatteten Pavillon, der mittlerweile erste Anzeichen des Verfalls zeigte. Der Lauf des Flüsschens Rye, das Lowerdale Manor samt dem Park, den Wirtschaftsgebäuden, Stallungen und Gewächshäusern von den „Zwillings-Ortschaften“ Upperdale und Lowerdale trennte, war in der Ferne eben noch zu erahnen.

Im Frühsommer, wenn die Bäume ihr erstes frisches Grün trugen und die Rhododendren ihr Feuerwerk aus zartrosa und burgunderroten Blüten über den Pavillon breiteten, war der Blick aus diesem Fenster eine wahre Augenweide. An diesem Vorfrühlingstag jedoch bot er nichts weiter als den deprimierenden Anblick eines verregneten, trüben Tages, der im Grunde gar nicht rasch genug zu Ende gehen konnte. Doch selbst wenn das Wetter sich von einer besseren Seite gezeigt hätte – Charlie hätte momentan kein Auge gehabt für die Schönheit ihrer Umgebung. Ihre Sinne galten allein dem Brief an ihrem Herzen. Denn ganz gleich, welches unheimliche Geheimnis sich dahinter verbarg, ganz gleich, welche Worte dieser Brief enthielt oder nicht enthielt – er war eine Hinterlassenschaft ihres Verlobten Myles E. Carrington!

Ein knappes halbes Jahr war es jetzt her, dass Myles von ihr gegangen war, nahezu sechs Monate voller Trauer, Leid und Tränen. Gut gelaunt und voller Tatendrang war er damals, im vergangenen Herbst, zur ersten Fuchsjagd der Saison aufgebrochen. Mit einem Kuss auf die Stirn und einem leicht dahingesagten „Bis später, meine Liebste!“ hatte Myles sich von Charlie verabschiedet, seine Sinne vollkommen auf das bevorstehende Vergnügen gerichtet, und war mit seinen Jagdkameraden davongaloppiert. Doch die Unternehmung, die so ausgelassen begonnen hatte, hatte als Tragödie geendet: Myles war vom Pferd gestürzt und hatte sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen, an deren Folgen er gestorben war.

In den ersten Tagen hatte der Schock über den Unfall Charlie für alle anderen Gefühle unempfänglich gemacht. Der Augenblick, in dem seine Freunde den seltsam schlaffen, bewegungslosen Körper ihres Verlobten ins Haus getragen hatten, wobei Charlie das Blut gesehen hatte, das als dünnes Rinnsal aus Ohren und Nase lief, hatte ihr Herz vollkommen betäubt. Wie ein Körperteil, das man zu lange in einer Position belastet hatte und das dadurch taub und gefühllos geworden war, so taub und unempfindlich lag Charlies Herz in ihrer Brust. Diese Taubheit ermöglichte es ihr, ruhig und gefasst Abschied von ihrem Verlobten zu nehmen, als Myles für kurze Zeit das Bewusstsein wiedererlangte, ehe er seine Augen für immer schloss.

Selbst als sie an seinem Grab stand, als der polierte und mit glänzendem Messing verzierte Eichensarg mit ihrem geliebten Myles in der dunklen, unheilvollen Tiefe des Erdbodens verschwand und sie die ersten Tränen vergoss, hatte sie den Eindruck, dass dieser ganze grausame Schlag des Schicksals sie nichts anging. Es war, als stände sie irgendwo in der Ferne und beobachtete eine andere zwanzigjährige junge Frau, die ihren Verlobten nur zwei Monate vor der Hochzeit wieder hergeben musste. Wie sonst war es möglich, dass sie nicht den bohrenden, alles verzehrenden Schmerz einer aufrichtig liebenden Hinterbliebenen spürte? Dass sie die heißen, salzigen Tränen nicht fühlen konnte, die über die Wangen dieser fremden jungen Frau strömten? Irgendwann im Lauf der folgenden Wochen jedoch hatte die Taubheit nachgelassen. Mit feinen, zunächst kaum spürbaren Stichen wie von tausend Nadeln war das Gefühl in ihr Herz und ihren Körper zurückgekehrt, und mit ihm Fassungslosigkeit, Kummer und Schmerz, die jeden Tag zuzunehmen schienen.

Bis dahin hatte Charlie nicht geahnt, wie sehr man einen anderen Menschen vermissen konnte.

Selbstverständlich hatte sie auch ihre Eltern und Geschwister vermisst, nachdem sie ihre Familie zurückgelassen hatte und nach Lowerdale Manor im fernen England gezogen war. Doch es war ein enormer Unterschied, ob man einen geliebten Menschen freiwillig verließ und dabei überzeugt war, dass man ihn nach gewisser Zeit wiedersehen würde, oder ob man mit absoluter Sicherheit wusste, dass dieser Mensch unfreiwillig und für immer von einem gegangen war! So kurz Charlie Myles bis dahin auch gekannt hatte, sie konnte es kaum ertragen, ohne ihn zu leben. Sie spürte seinen Verlust nicht nur in ihrem Innern, sondern mit ihrem ganzen Sein. Allein die Vorstellung, nie wieder in seine übermütig funkelnden Augen zu sehen, war qualvoll. Der Gedanke, nie wieder die Berührung seiner warmen, lebendigen Hände zu spüren, nie wieder wohlig zu erschauern, weil sein Mund sie am Ohr kitzelte, während er „Charlie, meine geliebte Charlie“ flüsterte, lähmte ihren ganzen Körper und bewirkte, dass sie sich mehr und mehr in sich selbst zurückzog.

Wen hatte sie denn noch in diesem luxuriösen Haus namens Lowerdale Manor? Myles war es doch gewesen, der ihr den fremden Haushalt in diesem fremden Land zur Heimat gemacht hatte! Ohne ihn und seine Liebe war Lowerdale Manor bei all seinem Luxus zu einem öden, leeren Ort voller Traurigkeit und Einsamkeit geworden; und weder die vielen Bediensteten noch Mallory Cranshaw, als deren Gesellschaftsdame sie angestellt war, oder Sir Edmund C. Carrington, der Hausherr und erhoffte Schwiegervater, waren in der Lage, diese zu mildern. Immer fremder wurde Charlie ihre Umgebung. Immer rascher zog sie sich täglich aus Mallorys Gesellschaft, die sie bis dahin sehr geschätzt hatte, zurück an einen Ort, an dem sie für sich allein sein konnte oder mit dem sie besondere Erinnerungen an Myles verband.

Meist suchte sie Trost in ihrem Schlafzimmer, dessen Tür sie mit einer hörbaren Umdrehung des Schlüssels hinter sich verschloss. An diesem speziellen Tag jedoch war sie die breite Treppe bis zum Kinderzimmer im zweiten Stock emporgestiegen. Hier war – neben dem Pavillon im Park, den die beiden Verliebten oft gemeinsam aufgesucht hatten – der Ort, an dem sie sich Myles am nächsten fühlte. Denn genau hierher hatte er sie bereits in den ersten Tagen nach ihrer offiziellen Verlobung geführt.

„Du sollst schließlich sehen, wo ich einen großen Teil meiner Kindheit verbracht habe!“, hatte er erklärt; gleich darauf hatte ein verhaltenes, aber verheißungsvolles Lächeln sein Gesicht zum Strahlen gebracht: „Zudem ist es gut, wenn du dich möglichst bald mit dieser Örtlichkeit vertraut machst, meine geliebte künftige Frau – falls du verstehst, was ich meine!“ Sein Zwinkern hatte Charlie eine tiefe Röte auf die Wangen gemalt, während Myles leise fortfuhr: „Zwei Kinder möchte ich mindestens haben, Charlie! Ich selbst fand es nämlich entsetzlich, das einzige Kind im Hause zu sein, und dieses Schicksal möchte ich meinen eigenen Kindern ersparen. Überdies“, liebevoll zeichnete er mit seinen Fingern die Konturen von Charlies erröteten Wangen nach, „überdies sollte wenigstens eines unserer Kinder so entzückend erröten können wie seine Mutter – und ich versichere dir, dass ich diese Eigenschaft nicht unbedingt einem Jungen wünsche! Deshalb bleibt uns gar nichts anderes übrig, als …“

Statt seinen Satz zu beenden, verschloss er Charlies Mund, den sie endlich zu einem höchst verlegenen Widerspruch geöffnet hatte, mit einem Kuss.

Und genau hier saß sie nun, ein Jahr später – ohne Verlobten oder Ehemann und ohne die Hoffnung, jemals ein Kind zu haben, das diesem Zimmer Leben einhauchen würde. Mit wehem Herzen hatte Charlie zuerst ihren Blick durch den großen, längst unbewohnten Raum gleiten lassen. Zart war sie mit den Fingern über die verstaubten Bilderbücher im Regal gefahren, die Myles einst betrachtet hatte, über den großen Tisch in der Zimmermitte, an dem Myles gelernt hatte, ehe er mit 11 Jahren ins Internat gekommen war, und über ein fröhliches, kindliches Gemälde, das an der Wand hing. Dabei war es geschehen. Mit ihrem bis heute nicht abgelegten Verlobungsring war sie an einer Ecke des Bilderrahmens hängen geblieben, das Gemälde hatte sich von der Wand gelöst und war zu Boden gefallen – und mit ihm dieser rätselhafte Brief des verstorbenen Myles. Endlich hatte Charlie ihre Erregung darüber so weit bewältigt, dass sie die Papierbögen vor sich ausbreitete und zu lesen begann:

Dear Charlie,

falls Du Dich darüber wundern solltest, wer in aller Welt Dir einen Brief ohne Angabe des Absenders schickt: Ich bin es, Dein kleiner Bruder Myles. Und der Brief hat aus durchaus gutem Grund keinen Absender: Wenn der Postbeamte in Upperdale oder Lowerdale sehen würde, dass jemand aus der Familie Carrington Dir schreibt, würde er den Brief wahrscheinlich gar nicht weiterbefördern. Die Leute aus dem Ort sind so ängstlich darauf bedacht, es sich nicht mit unserem Vater, Sir Edmund, zu verscherzen, dass sie es nicht einmal mehr wagen, Deinen Namen auszusprechen, nach allem, was damals geschehen ist. Sie wissen zwar nicht viel über Deinen Zwist mit Vater, aber allein die Tatsache, dass Du deswegen Dein Zuhause verlassen hast, genügt ja. (Das mit den Leuten aus dem Ort habe ich von einem der Hausmädchen gehört, die es wiederum von der Köchin gehört hat, und ich denke, es soll bedeuten, dass sie einfach Angst vor Vaters zorniger Art haben.)

Weil der Postbeamte es mit Sicherheit nicht wagen würde, einen Brief an Dich weiterzubefördern, der aus Lowerdale Manor stammt, weiß ich ehrlich gesagt auch noch gar nicht, wie ich Dir diesen Brief zukommen lassen soll. Ich weiß ja nicht einmal, wo Du eigentlich bist und wohin ich den Brief schicken soll, aber wenn ich ihn erst geschrieben habe, wird mir schon irgendetwas einfallen. Denn Du sollst, nein, Du m u s s t diesen Brief unbedingt erhalten.

Ich weiß, Du hast in mir bis jetzt immer nur den kleinen Bruder gesehen, der nichts als Streiche und Unsinn im Kopf hat, aber glaube mir, in dem halben Jahr, seit Du fort bist, bin ich sehr viel vernünftiger und erwachsener geworden. Nächste Woche komme ich bereits ins Internat – und aus diesen beiden Gründen, weil ich bald fortmuss und weil ich in meiner neuen, vernünftigen Art sehe, wie sehr besonders Mutter unter Deinem Fortgehen leidet, schreibe ich Dir diesen Brief mit der Bitte: Komm zurück nach Hause, Charlie! Komm zurück zu uns, nach Lowerdale Manor, zu Deiner Familie!

Du hast ja keine Ahnung, wie schrecklich öde und unerträglich das Leben hier geworden ist, seit Du nicht mehr da bist!!! Dein leerer Platz am Esstisch ist wie ein gähnendes schwarzes Loch, Vater wirkt jetzt ständig nur noch ärgerlich und zornig (ich weiß, das war er vorher auch oft, aber in letzter Zeit wird es wahrhaftig immer schlimmer, er schreit alle Bediensteten an und schlägt sogar gelegentlich seinen Hengst A., obwohl er den doch über alles liebt), und Mutter empfängt keine Besuche mehr und geht fast gar nicht mehr aus dem Haus. Sie sitzt den ganzen Tag über ihrer Handarbeit, und ihre Augen sind dabei so rot, dass es unmöglich nur vom angestrengten Betrachten ihrer Stickerei kommen kann. Bestimmt weint sie jedes Mal, wenn gerade keiner von uns hinsieht. Außerdem zündet sie seit einigen Monaten jeden Abend, sobald es dämmert, ein helles Licht im Fenster des Empfangssalons an (der neben dem Haupteingang liegt, wie Du weißt). Als ich sie einmal gefragt habe, weshalb sie das tut, sagte sie nur: „Ich tue es für Charlie. Dieses Licht soll Charlie den Weg zurück nach Hause weisen und ein herzlicher Willkommensgruß sein.“

Nun kannst Du Dir vielleicht vorstellen, wie sehr sie Dich vermisst, Charlie, und ich denke, wenn ich erst im Internat bin, wird es wohl noch schlimmer werden. Schon jetzt sieht sie mich immer so traurig an, dass ich fürchte, sie bricht auch meinetwegen gleich in Tränen aus. Deshalb also meine Bitte: Komm so bald als möglich nach Hause, Charlie! Egal, welche schlimmen Worte Vater damals zu Dir gesagt hat, die Dich dazu gebracht haben, fortzugehen – bedenke doch, er hat sie im Zorn gesprochen und sicherlich nicht halb so schlimm gemeint, wie sie geklungen haben! Ich weiß ja nicht, welche Worte es waren, aber es waren doch tatsächlich nur Worte! Können die denn wirklich so schlimm sein, dass man deswegen alle Menschen verlassen muss, die man liebt?!? Bitte, bitte, Charlie, besinne Dich, und komm nach Hause, wenigstens Mutter zuliebe! Und vielleicht ein wenig auch mir zuliebe, nachdem ich nun einen so langen Brief geschrieben habe, dass gewiss sogar meine zukünftigen gestrengen Internatslehrer mit mir zufrieden wären!

Mit den innigsten Grüßen

Dein Myles

Charlie las den Brief in einem Zug durch. Gelegentlich hatte sie Mühe, eines der Worte zu entziffern und anschließend ins Deutsche zu übersetzen, doch am Ende war sie sicher, den Inhalt des Briefes richtig zu verstehen. Die Lösung des Rätsels um diesen Brief war demnach nicht im Geringsten unheimlich, sondern lag klar auf der Hand: Myles hatte damals nicht an sie, seine unbekannte künftige Verlobte, geschrieben, sondern an eine andere Person namens Charlie. Dennoch klopfte das Herz der jungen Frau nicht weniger als zuvor. Wenn diese Person namens Charlie, die Adressatin des Briefes, tatsächlich Myles’ ältere Schwester war (und anders konnte es nun einmal nicht sein, nachdem er sich selbst als den kleinen Bruder, der immer nur Streiche im Kopf hatte, bezeichnete), dann hatte ihr Verlobter sie belogen: Myles hatte nicht nur das eine Mal hier im Kinderzimmer, sondern des Öfteren davon gesprochen, dass er sich als Einzelkind gelangweilt hatte und dass er es vorgezogen hätte, mit mehreren Geschwistern aufzuwachsen …

Oder hatte sie seine Worte nur falsch interpretiert? Hatte Myles stets nur von der Zeit danach gesprochen – nach jenen dramatischen Worten, die die Familie Carrington ganz offensichtlich auseinandergerissen hatten? Und war das etwa der Grund gewesen, weshalb er ihren Rufnamen von Lotti, wie ihre deutsche Familie sie genannt hatte, in Charlie geändert hatte?? Als er damals gesagt hatte, dass er schon früher einmal jemanden namens Charlie sehr geschätzt hatte, war sie fast eifersüchtig auf diese Person gewesen. Doch wie es schien, hatte er damals von seiner Schwester gesprochen, deren Namen er eigentlich nicht mehr erwähnen durfte, um seinen Vater nicht zu erzürnen oder seine Mutter traurig zu machen! Aber – das war möglicherweise die wichtigste aller Überlegungen – was für Worte mussten damals gefallen sein, die in der Lage gewesen waren, eine Familie derart zu entzweien? War Sir Edmunds Temperament, das zugegebenermaßen heute noch heftig war, derart mit ihm durchgegangen, dass er seine Tochter Charlie – und mit ihr jede Erinnerung, jedes Andenken, jedes Nennen ihres Namens – für immer aus ihrem Elternhaus vertrieben hatte? Waren bloße Worte tatsächlich imstande, eine solche Tragödie auszulösen? In ihrer eigenen Familie, in der bei aller Strenge des Vaters immer auch ein Grundton beständiger Liebe spürbar gewesen war, konnte Charlie sich das kaum vorstellen – doch sagte das auch etwas darüber aus, wie es in anderen Familien zuging?

Fragen über Fragen. Seufzend massierte Charlie mit den Fingerspitzen ihren schmerzenden Kopf, als plötzlich Schritte an ihr Ohr drangen. Sie näherten sich der Tür des Kinderzimmers, die sie sorgsam hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Erschrocken fuhr Charlie auf und starrte in die Dunkelheit, die mittlerweile im Raum Einzug gehalten hatte. Der Inhalt des Briefes hatte sie derart gefesselt, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Vermutlich war es bald Zeit zum Dinner, und Mallory hatte ihre Zofe ausgeschickt, um sie davon zu unterrichten. Doch die Zofe durfte Charlie keinesfalls mit diesem Brief in der Hand vorfinden! Sie war noch so jung, ein Mädchen von etwa sechzehn, siebzehn Jahren, und wahrscheinlich wusste sie ebenso wenig von diesem Familiendrama, wie Charlie bis jetzt davon gewusst hatte.

Hastig faltete die junge Frau die Briefbögen zusammen und schob sie in den Ausschnitt ihres Kleides. Denn eines stand fest: Es war kein Zufall, dass sie diesen Brief ihres Verlobten gefunden hatte. Selbst wenn er offenbar nie die Gelegenheit gehabt hatte, ihn abzuschicken, war ihm diese Angelegenheit einmal enorm wichtig gewesen – und allein deshalb würde Charlie ihr nachgehen. Auf die eine oder andere Weise würde sie herauszufinden versuchen, was aus jener anderen Charlie, die Myles einmal geliebt hatte, geworden war. Das war sie seinem Andenken schuldig.

Mit einer letzten fahrigen Bewegung glättete Charlie die gefalteten Papiere in ihrem Mieder, damit sie keine verräterische Ausbuchtung verursachten, und eilte der Kammerzofe entgegen.

Es gelang Charlie eben noch rechtzeitig, ihr Tageskleid gegen ein angemessenes Kleid zum Dinner auszutauschen. Das Dinner war auf Lowerdale Manor eine höchst formelle Angelegenheit, zumindest im Vergleich zu einem gewöhnlichen, also ohne Gäste eingenommenen, Abendessen auf Gut Rixtorf. Zu Hause hatte sie als Bewohnerin eines ländlichen Rittergutes meist ein hübsches und dennoch eher durch Langlebigkeit und Robustheit als durch Eleganz hervorstechendes Kleid getragen, zum Essen ebenso wie tagsüber. Außer natürlich, Charlie hatte ihren Nachmittag am Strand oder in Gesellschaft ihrer geliebten Stute verbracht und deshalb entsprechend zweckgebundene Kleidung getragen. Hier jedoch war es üblich, sich zu jedem Dinner „in die vorzüglichsten Gewänder zu hüllen, damit auch das Auge des Dinierenden und nicht nur der Magen sein Vergnügen an der Tischgemeinschaft hat!“, wie Mallory es einmal scherzhaft ausgedrückt hatte. Aus diesem Grund war es vollkommen ausgeschlossen, in ihrem schlicht geschnittenen hellgrauen Satinkleid, das momentan deutliche Spuren des Staubes im Kinderzimmer aufwies, an der Tafel zu erscheinen. Den kritischen Augen des Hausherrn entgingen derlei Nebensächlichkeiten selten und Charlie handelte sich äußerst ungern einen Tadel des scharfzüngigen alten Herrn ein.

Doch allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz erregte ihr Eintreten Sir Edmunds Aufmerksamkeit: Sein vorwurfsvoller Blick zu der großen Standuhr in der Ecke des Speisezimmers und die Art und Weise, wie er seinen Stuhl zurechtrückte, verrieten ihr auch ohne Worte, dass sie sich seinen Unmut zugezogen hatte. Selbst wenn es sich bei ihrer Verspätung um eine Frist von nur drei Minuten handelte.

Verlegen huschte Charlie zu ihrem üblichen Stuhl an der Seite von Mallory, deren sperriger Rollstuhl fast zwei Sitzplätze an der imposanten Tafel einnahm, und setzte sich. Dabei strich sie eine dunkle, aus der hektisch aufgesteckten Frisur gelöste Locke beiseite und murmelte leise: „Bitte verzeihen Sie meine kleine Verspätung, Sir Edmund, ich …“

„Sparen Sie sich und vor allem uns Ihre wortreiche Entschuldigung, Charlotte“, unterbrach der Hausherr sie rüde. Seine ungezähmt wuchernden Augenbrauen hatten sich zu einer geraden grauschwarzen Linie verdichtet, während die Stirn darüber in tiefen Falten lag und seine Mundwinkel samt dem grauen Vollbart deutlich nach unten wiesen. „Wie allen übrigen Mitgliedern dieses Haushalts ist mir durchaus bewusst, dass Sie sich in Ihrer augenblicklichen Trauer am liebsten in Ihre Privaträume oder einen sonstigen stillen Winkel zurückziehen, doch bedenken Sie bitte, dass Sie nicht die Einzige sind, die unter Myles’ Tod leidet. Schließlich habe ich selbst nur wenige Jahre nach dem Tod meiner Frau mit Myles auch noch meinen Sohn verloren – meinen einzigen Sohn! – und meine Nichte Mallory hier, die durch ihre gelähmten Glieder eigentlich schon genügend Leid zu ertragen hat, ihren geschätzten Vetter. Und nun sehen Sie uns an: Sitzen wir deshalb den lieben langen Tag in einer Ecke und grübeln, statt unseren Pflichten nachzukommen? O nein, das tun wir ganz und gar nicht!“

Sir Edmunds volltönende Stimme schwoll in einem stetigen Crescendo, sodass Mallory sich mühsam in ihrem Rollstuhl aufrichtete und über die Tischplatte hinweg ihre Hand auf seinen Arm legte, um ihn zu besänftigen. Ohne nennenswerten Erfolg allerdings, denn Sir Edmund fuhr in unverminderter Lautstärke fort: „Deshalb sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit, Charlotte – und ich hoffe, dass Sie diese Offenheit zu schätzen wissen –: Entweder Sie besinnen sich darauf, Ihre Pflichten als Mallorys Gesellschafterin, für die ich Sie schließlich bezahle, ab sofort wieder ernsthaft wahrzunehmen, oder aber Sie verlassen mein Haus und gehen zurück zu Ihren Eltern nach Holstein oder was immer Sie sonst zu tun belieben!“

„Ich verstehe, Sir Edmund.“ Charlies Antwort war kaum mehr als ein Wispern, das von ihrem tief gesenkten Kopf aufstieg.

„Dann sehen Sie mich bitte auch an, wenn ich mit Ihnen spreche, Mädchen – ich meine es doch nur gut mit Ihnen! Sie sind ein hübsches junges Geschöpf aus guter Familie und haben Besseres verdient, als hier in einem Haus mit einem einsamen Greis und einer auf fremde Hilfe angewiesenen jungen Frau vor sich hin zu trauern, verstehen Sie?“

„Ja, Sir Edmund“, antwortete Charlie, nur wenig lauter als zuvor. Sie fühlte sich wie damals als Siebzehnjährige, als sie ohne Erlaubnis ihres Vaters seinen überaus temperamentvollen, ungebärdigen Hengst geritten und deswegen eine ebenso kräftige Standpauke erhalten hatte. Graf Philip hatte fast dieselben Worte gebraucht wie Sir Edmund, als er sie aufgefordert hatte, ihr bei seiner Strafpredigt ins Gesicht zu sehen. Bei ihrem Vater jedoch war sie, zumindest im Nachhinein, auch sicher gewesen, dass er es tatsächlich gut mit ihr meinte – bei Sir Edmund war dies nicht unbedingt der Fall.

In seinem Fall war sie nicht einmal überzeugt davon, dass er sie generell als Mensch, als Frau, akzeptierte oder leiden mochte. Nicht einmal in den Monaten vor Myles’ Unfall, in denen er sie als künftige Schwiegertochter betrachtet hatte, hatte er es fertiggebracht, sie wie alle anderen bei dem vertrauten Namen zu nennen, den Myles ihr gegeben hatte: Charlie. Dennoch hob sie jetzt gehorsam wie ein Kind ihren Kopf und blickte in Sir Edmunds Respekt gebietendes Gesicht mit den blaugrünen Augen. Sie funkelten so kalt wie die Wogen der Ostsee, wenn diese an einem stürmischen Tag von einem verirrten Sonnenstrahl getroffen wurden. Nur mit Mühe brachte Charlie die Kraft auf, ihren Blick nicht sofort wieder auf die Tischdecke zu senken.

„Gut“, konstatierte Sir Edmund ihre Anstrengung. „So gefallen Sie mir schon etwas besser. Falls Sie sich nun noch dazu entschließen würden, meinen Vorschlag in Ruhe zu überdenken, Charlotte, könnten wir endlich zu unserem Mahl übergehen!“

Eine Antwort auf diese Aufforderung schien er nicht für nötig zu halten, denn noch im selben Atemzug gebot er dem Hausmädchen: „Wir sind so weit, Dorie. Tragen Sie bitte die Vorspeise auf!“

Dienstbeflissen eilte das Mädchen zur Anrichte, nachdem es sich bislang möglichst unauffällig im Hintergrund gehalten hatte. Die meisten Dienstboten auf Lowerdale Manor besaßen jahrelange Übung darin, ihre Handreichungen nahezu unsichtbar sowie unhörbar zu verrichten, zumindest, wenn ihr Herr jene Anzeichen besonderen Unmutes zeigte, wie er es augenblicklich tat.

Auch Charlie hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, sich vor den Augen ihres Arbeitgebers unsichtbar zu machen. Doch die Höflichkeit und ihre Pflicht als Mallorys Gesellschafterin geboten ihr, an Ort und Stelle zu bleiben und das Dinner in aller Form hinter sich zu bringen. Schweigend verspeiste sie den heißen, duftenden Inhalt ihrer Suppenschale, beobachtete, wie die Schale verschwand und an ihre Stelle eine Platte mit Hirschragout trat, das im gleichmäßig flackernden Licht der Tafelleuchter rotgolden aufleuchtete, und bemühte sich, auch diese Platte so weit als möglich zu leeren.

Sir Edmund verspürte offenbar ebenso wenig Interesse an einer weiteren Unterhaltung mit Charlie oder seiner Nichte. Bis auf eine harmlose Bemerkung Mallorys über das ungemütliche, nasskalte Wetter dieses Abends war während der gesamten Mahlzeit nichts weiter zu hören als das leise Klirren von Besteck auf Porzellan und vereinzelte dezente Schluckgeräusche der Speisenden. Erleichtert atmete Charlie auf, als endlich auch der letzte Gang, eine leichte Zitronenspeise, verzehrt war und Sir Edmund das Dinner beendete, indem er sich erhob und den beiden jungen Frauen eine erholsame Nachtruhe wünschte. Der alte Herr zog sich meist schon kurz nach der Mahlzeit in sein Schlafzimmer zurück.

„Ich hoffe, du nimmst dir Sir Edmunds Worte nicht zu sehr zu Herzen, Charlie“, wandte Mallory sich an ihre Gesellschafterin, sobald die Tür hinter demselben ins Schloss gefallen war. Ein mitfühlender Ausdruck lag auf ihrem Gesicht mit den von der Krankheit leicht eingefallenen Wangen. Ganz im Gegensatz zu ihrem Onkel war Mallory Cranshaw eine geduldige, sanfte Persönlichkeit und nicht wesentlich älter als Charlie selbst. Nachdem Charlie vor knapp zwei Jahren die Stelle als ihre Gesellschafterin angetreten hatte, hatte es nicht lange gedauert, bis die beiden jungen Frauen, die dunkelhaarige, blauäugige deutsche Gutsherrentochter und die blasse, zarte blonde Engländerin im Rollstuhl, Freundinnen geworden waren. „Du weißt doch: Er kann nicht anders, als bei jedem Anlass laut zu werden und zu poltern, obwohl er es im Grunde wirklich gut meint!“

„Ja gewiss, mit dir schon.“ Charlie bedeutete dem Dienstmädchen, das sich eben an Mallorys Rollstuhl zu schaffen machte, beiseitezutreten und legte ihre eigenen Hände an den Griff. Behutsam schob sie Mallory durch das geräumige Speisezimmer zur Tür. „Bei mir dagegen bin ich mir da nicht so sicher.“

„Und doch verhält es sich so, Charlie! Glaub mir, ich kenne Sir Edmund wahrscheinlich besser als alle anderen Menschen in diesem Haus: Gerade bei den Personen, die er am meisten schätzt, legt er scheinbar die rauesten Umgangsformen an den Tag. Das ist schon immer so gewesen, seit ich mich erinnern kann, und nachdem er Tante Isabella, seine Frau, schon so früh verloren hat, wurde es noch schlimmer. Du weißt doch, wie Myles ihn immer mit einem Hund verglichen hat, der zwar bellt, aber nicht beißt! Da ist es nicht mehr als eine logische Konsequenz, dass er jetzt, nachdem auch Myles von uns gegangen ist …“

Mallory schluckte schwer. Auch sie litt noch immer unter der Tatsache, dass ihr Vetter Myles nie mehr wiederkehren würde. „Er ist schlicht und einfach verbittert, verstehst du, und das ist meiner Meinung nach der Grund, warum er niemanden mehr an sich heranlässt. So, als ob er unbewusst beschlossen hätte, niemanden mehr zu lieben, aus Furcht, dass auch dieser Mensch wieder aus seinem Leben verschwindet! Und ebendas ist auch bei dir der Fall: Als künftige Schwiegertochter hatte er eben begonnen, dich zu mögen, als Myles ihm genommen wurde, und deshalb …“

„Deshalb gibt er sich jetzt alle Mühe, mich mit Knurren und Bellen aus seinem Haus zu vergraulen!“, beendete Charlie den Satz rigoros. Sie schob Mallorys Rollstuhl über die Türschwelle und steuerte auf den Gang zu, an dem die Räumlichkeiten der Gelähmten lagen.

„Ja, aber nur, um zu vermeiden, dass du ihm noch mehr ans Herz wächst. Es ist … seine Haltung ist gewissermaßen ein Schutzmechanismus. Ein Schutzwall, den er aufbaut, sowohl für sich selbst als auch für uns, die er gern hat.“

„Ich muss zugeben, das klingt einleuchtend, Mallory. Dennoch ist es nur eine mögliche Erklärung für sein Verhalten und ändert nichts an der Tatsache, dass er mir die Stellung als deine Gesellschafterin quasi gekündigt hat. Oder habe ich das falsch verstanden?!“ In ihrer Erregung schritt Charlie so rasch vorwärts und gab damit dem Rollstuhl solchen Schwung, dass Mallory erschrocken ihre Finger in die Armlehnen krallte. Doch ihre Antwort kam ohne das geringste Zögern.

„Aber nein, er hat dir nicht gekündigt, Charlie! Er wollte dich nur aufrütteln aus deiner Trauer! Dir deutlich machen, dass das Leben weitergehen muss – auf die eine oder andere Weise.“ Mallorys Stimme war leise und sanft wie immer, und doch sprach sie mit einer Eindringlichkeit, die Charlie mehr ans Herz ging als Sir Edmunds Zurechtweisung. Während dieses letzten Satzes war das Gesicht ihrer Freundin wenn möglich noch blasser geworden und in ihren klaren graugrünen Augen schimmerten mühsam zurückgehaltene Tränen.

Ihr Anblick ließ keinen Zweifel offen: Falls Charlie nach Sir Edmunds unerwünschtem Ratschlag tatsächlich erwägen sollte, ihre Stellung als Mallorys Gesellschafterin aufzugeben, wäre Mallory diejenige, die am meisten darunter leiden würde. Sie wäre diejenige, die eine Freundin hergeben und sich wieder an eine neue Gesellschafterin gewöhnen müsste – falls überhaupt so rasch eine geeignete Dame gefunden werden könnte … Nein, Charlie hatte keineswegs die Absicht, ihrer vom Schicksal benachteiligten Freundin diesen zusätzlichen Schmerz zuzufügen.

Und dennoch – dennoch hatte Sir Edmunds Vorschlag, in ihre deutsche Heimat zurückzukehren, etwas, das gewissermaßen in den Ohren juckte. Etwas, was sie noch nicht genau benennen konnte, worüber nachzudenken es sich jedoch lohnte. Tief in Gedanken versunken, erfüllte Charlie Mallorys Wunsch und brachte sie auf ihr Zimmer statt wie nach dem Dinner üblich in den kleinen Salon, ehe sie ihr eigenes Schlafzimmer aufsuchte.

Es lag im ersten Stock, unmittelbar über Mallorys Räumen, die ihres Rollstuhls wegen als einziges Familienmitglied im Erdgeschoss untergebracht war. Ein massives Bett mit gedrechselten Pfosten aus Mahagoni und einem Baldachin aus dunkelgrünem Samt nahm die Stirnseite des Zimmers ein. Der Toilettentisch, ein schwerer, mit Schnitzereien versehener Kleiderschrank, ein Mahagonisekretär mit zahlreichen kleinen Schubladen und ein Sessel mit geblümtem Brokatbezug vor dem Kamin vervollständigten die Einrichtung des Schlafraumes. Wie immer zu dieser Jahreszeit brannte ein helles Feuer im Kamin. Seine stetig wechselnden Schatten tanzten über die Seidentapete der Wände, die geschlossenen Gardinen und den mit Teppichen belegten Zimmerboden.

Dankbar stellte Charlie sich dicht davor und streckte ihre Hände den wärmenden Flammen entgegen. Der lange Aufenthalt im Kinderzimmer und die frostige Atmosphäre während des Dinners hatten sie gründlich ausgekühlt. Doch es waren nicht ihre mühsam wieder erwärmten Gliedmaßen, die Charlie nicht zur Ruhe kommen ließen, als sie bald darauf ins Bett sank. Es waren ihre Gedanken, die sie sich vorher, in Mallorys Anwesenheit, nicht hatte eingestehen wollen: Sir Edmunds Vorschlag, zu ihren Eltern zurückzukehren, klang schlicht und einfach verlockend. Wenn sie sich nur vorstellte, nach Holstein zurückzukehren, nach Hause, zu ihren Eltern – in eine vertraute Umgebung, in der nicht jeder Raum, den sie betrat, und jeder Hausbewohner, dem sie begegnete, sie an den Verlust von Myles erinnerte …

Vielleicht würde es ihr dort gelingen, ihre Trauer um den Verlobten zu überwinden; möglicherweise konnte sie dort sogar ein ähnlich unbeschwertes Leben führen wie zu der Zeit, ehe ihre Sehnsucht nach fernen Ländern sie nach England geführt hatte! Auf der anderen Seite jedoch stand die Frage: Wollte sie ihren geliebten Myles wirklich vergessen? Wollte sie ihre Freundin Mallory alleine zurücklassen? Und jenes lange vergessene Dokument aus dem Kinderzimmer – hatte sie sich nicht erst vor wenigen Stunden vorgenommen, um Myles’ willen das Geheimnis zu ergründen, das dahintersteckte?

Gequält richtete Charlie sich aus ihrer liegenden Haltung auf, ballte zwei kleine Daunenkissen zu einer Nackenstütze zusammen und starrte in die Dunkelheit, während vor ihrem inneren Auge Bilder aus der Vergangenheit erschienen.

Mit welchem Enthusiasmus hatte sie damals ihre Heimat verlassen! Nur zu gut erinnerte sie sich an jenen ersten „Brief“ an ihre Reisegefährtin, der nichts anderes war als ein Eintrag in das Tagebuch, das ihre Mutter Sophie ihr mitgegeben hatte: „… zunächst als Reisegefährtin und später als Freundin, der du all deine Gedanken anvertrauen kannst und die dir allzeit eine geduldige Zuhörerin sein wird, auch wenn du sonst niemanden hast!“, hatte sie erklärt. „Denn vermutlich wirst du gerade in der Anfangszeit, ehe du tiefere Beziehungen zu deinen Mitbewohnern geknüpft hast, manchmal einen Gesprächspartner vermissen, vor allem einen, der deine Muttersprache spricht. Natürlich würde ich mich freuen, wenn du in diesem Falle einen langen, ausführlichen Brief an deine Eltern zu Hause schreibst, damit wir auch weiterhin an deinem Leben teilhaben können – und glaube mir, ich werde jeden einzelnen dieser Briefe voller Sehnsucht erwarten und gewiss zehnmal hintereinander lesen. Doch für all jene Gedanken und Gefühle, die ein junges Mädchen lieber mit einer gleichaltrigen Freundin teilt als mit ihrer Familie, gebrauche dieses Tagebuch! Nur eines darfst du darüber nie vergessen, Liebling: nämlich all deine Sorgen und Gedanken auch vor deinem Vater im Himmel auszubreiten, der dein Leben in seiner Hand hält und nur das Beste für dich will. Nur im Vertrauen auf ihn kann ich dich überhaupt in die Fremde ziehen lassen.“

Gemäß diesen Worten hatte Charlie vom Tag des Aufbruchs an ihr Tagebuch tatsächlich in Form von Briefen an eine Freundin geschrieben. Wehmütig wanderten ihre Gedanken zurück in die Zeit vor diesem allerersten Eintrag …

Kapitel 2

Einmal entsandt, fliegt das Wort unwiderruflich dahin.

(Horaz)

Mit einem glücklichen Seufzer zügelte Charlotte von Rixtorf ihre Stute. Vor ihr lag die unendliche Weite des Meeres. So glatt, wie es nur an einem windstillen, heißen Sommertag wie diesem möglich war, erstreckte sich die weite Wasserfläche von einer Linie direkt von den Hufen ihres Pferdes bis an den Horizont. Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser und zauberten dunkelblaue bis tiefgrüne Nuancen in das endlose Grau-Blau-Grün, das von ungewöhnlich zartem weißem Schaum gekrönt war. Von einem nahen Felsen ertönten die durchdringenden, ungeduldigen Schreie junger Seevögel, die von ihren Nestern aus ihre tägliche Futterration einforderten, und ein kaum spürbares Rollen und Ziehen des Wassers verriet die allmählich einsetzende Ebbe. Ansonsten war alles still.

Charlottes jüngere Brüder, die sich an einem solchen Tag mit Vorliebe in den verhältnismäßig warmen Wogen vergnügten, saßen unter Aufsicht ihres Hauslehrers daheim über irgendwelchen Aufgaben. Die älteren Zwillinge befanden sich seit vergangener Woche wieder an der Universität und die Eltern waren mit der Beaufsichtigung des Haushalts beziehungsweise der Landwirtschaft beschäftigt. Nur Charlotte selbst hatte einige Minuten der Muße dazu genutzt, sich leise aus dem Haus zu stehlen, ihr Pferd zu satteln und einen ausgiebigen Ritt am Strand entlang zu genießen. Mit einem breiten Lächeln betrachtete sie noch einmal die ganze Schönheit der vor ihr liegenden Szenerie, dann lenkte sie ihre Stute ein paar Schritte weit ins Meer hinein und galoppierte an.

Was gab es an einem Tag wie diesem Schöneres, als schnell wie der Wind die Flutlinie entlangzugaloppieren, sodass das salzige Wasser möglichst hoch aufspritzte? Mit einem entzückten Aufschrei begrüßte die Sechzehnjährige den ersten Schwall Meerwasser, der ihre Füße und ihr Reitkleid erreichte und einen Regen von feinen, erfrischenden Wassertropfen über Gesicht und Kopf niedergehen ließ, und trieb ihr Pferd noch einen Schritt tiefer in die See hinein. Minutenlang stob sie auf diese Weise durchs Wasser, hohe Fontänen von Gischt hinter sich herziehend. Selten hatte Charlotte sich so frei gefühlt, so berauschend lebendig!

Doch gleichzeitig spürte sie eine unterdrückte Sehnsucht in sich aufsteigen, eine Sehnsucht nach mehr: Sie wollte die See nicht nur tröpfchenweise auf ihrem Körper spüren – sie wollte die Wellen unter ihrem Körper spüren, diese gewaltige, tragende Kraft der Wogen, während sie auf einem Schiff darüber hinwegglitt, weiße Segel sich stolz in den Himmel blähten und der Fahrtwind in ihren Ohren sauste! Ihr sehnlichster Wunsch war es, übers Meer zu segeln, und zwar nicht nur nach Kopenhagen zu ihrem Onkel wie bisher, sondern weiter, viel weiter … bis nach Großbritannien oder gar Afrika, Indien und Amerika.

Dabei war es vor allem der letztgenannte Kontinent, für den Charlotte sich begeisterte, seit Onkel Frederik ihr nach seiner letzten Überseereise ein Buch mit dem Titel „The Leatherstocking Tales“ überreicht hatte. Frederik Kjeldsen war Inhaber einer Schiffswerft und seine Geschäftsreisen führten ihn oft weit über Europa hinaus. Er kannte Charlottes Vorliebe für Bücher im Allgemeinen und für spannende Geschichten über das Leben in fernen Ländern im Besonderen, deshalb waren die „Leatherstocking Tales“ nicht das erste Buch dieser Art, das sie erhielt. Und doch hatte gerade dieses es Charlotte besonders angetan – obwohl sie sich mithilfe eines Wörterbuches mühsam durch den englischen Text kämpfen musste. Stundenlang konnte sie sich verlieren in der Vorstellung, selbst einmal diese fremde, aufregende Welt der Wälder Nordamerikas zu betreten. Ihr Interesse für den Englischunterricht, den sie seit ihrem 12. Lebensjahr erhielt, stieg beträchtlich, ebenso ihr Hunger nach weiteren Büchern dieser Art.

Philip und Sophie von Rixtorf, ihre Eltern, betrachteten Charlottes Vorlieben mit Verständnis – solange ihre Tochter um deretwillen nicht ihre übrigen Schulfächer und anderen Pflichten vernachlässigte. Wenn sie allerdings, wie es gelegentlich vorkam, derart in ein Buch oder ihre Träume vertieft war, dass sie zu spät zum Essen erschien oder eine der kleinen Aufgaben vergaß, welche ihre Mutter ihr übertrug, war es mit der Nachsicht ihrer Eltern vorbei. Charlotte hatte in dieser Beziehung bereits einige tadelnde Worte einstecken müssen, die sie sich jedes Mal sehr zu Herzen nahm. Bis sie das nächste Mal in dieselbe Falle tappte, zumindest …

Heute allerdings durfte ihr das nicht passieren, ermahnte sie sich. Sie warf einen prüfenden Blick zur Sonne – und erschrak: Die Sonne stand bereits im Begriff unterzugehen. Soeben sandte sie ihre letzten Strahlen über die Felsklippen oberhalb des Strandes, Horizont und Meer trugen einen rötlichen Schein. Hektisch griff Charlotte in die Zügel und lenkte ihre Stute fort vom Wasser zu dem schmalen Pfad, der zwischen den Klippen zum Gut zurückführte. Wenn sie nur nicht ausgerechnet heute zu spät zum Essen kam – an dem Tag, da Onkel Frederik nach langer Zeit wieder einmal erwartet wurde! Noch während die Stute ihrem Stall zustrebte, schüttelte Charlotte den langen, weiten Rock ihres Reitkleides aus, dass die Wassertropfen in alle Richtungen stoben, sprang kurz darauf vom Pferderücken, so rasch der umständliche Damensattel es zuließ, rief einen der Stallknechte herbei, um ihr Pferd von ihm versorgen zu lassen – was sie sonst lieber selbst erledigte –, und eilte ins Haus. Sie konnte nur hoffen, ungesehen in ihr Zimmer zu gelangen, um ihr Kleid loszuwerden, das trotz allen Ausschüttelns noch deutlich zu nass war.

Doch es war zu spät. Auf der Dienstbotentreppe, die sie vorsichtshalber benutzt hatte, lief Charlotte ihrer Mutter in die Arme.

„Lotti, wo in aller Welt steckst du nur wieder?“, rief Sophie von Rixtorf ärgerlich aus. „Ich suche dich schon eine geraume Weile! Du solltest doch der Köchin zur Hand gehen, um das Festessen für Onkel Fred-“

Mit einem vorwurfsvollen Blick auf den durchnässten Rock ihrer Tochter unterbrach sie sich selbst. „Das ist es also – du warst am Strand und hast alles andere vollkommen vergessen, schon wieder einmal!“

Schuldbewusst senkte Charlotte den Kopf und murmelte: „Es tut mir wirklich leid, Mutter, ich …“

Doch Sophie ließ sie nicht ausreden. „Für lange Entschuldigungen ist jetzt keine Zeit, Lotti. Geh in dein Zimmer, zieh dir etwas Vernünftiges an und komm sofort in die Küche. Über alles andere sprechen wir später! In dieser Art und Weise kann es allerdings nicht länger weitergehen mit dir, das steht eindeutig fest.“ Ärgerlich wandte ihre Mutter sich um, während Charlotte bekümmert die Treppe hinaufeilte.

„Schon wieder einmal“, wie Mutter es eben ausgedrückt hatte, hatte sie es fertiggebracht, diese zu erzürnen, und zwar vollkommen ohne Absicht! Angesichts der Arbeit, die in der Küche auf sie wartete, und der Vorfreude auf ihren Onkel Frederik hielt ihr Kummer jedoch nicht lange vor.

Als Frederik Kjeldsens Landauer vor dem Gutshaus hielt, eilte sie ihm erwartungsvoll entgegen. So zurückhaltend Charlotte Fremden gegenüber war, so herzlich war sie gegenüber ihrer Familie und den Menschen, die sie kannte und mochte. Wobei Onkel Frederik unter diesen Menschen eine ganz spezielle Position einnahm …

Charlottes jüngere Brüder erreichten die Kutsche schneller als sie. „Onkel Frederik, da bist du ja endlich!“, rief der elfjährige Peter, während sein neunjähriger Bruder Gustav versuchte, ihn zu übertönen: „Wir warten schon so lange auf dich. Ich hab bestimmt schon eine ganze Stunde lang nach deinem Wagen Ausschau gehalten!“

Damit stürzten sich beide Jungen gleichzeitig auf ihren Onkel, sodass dieser, kaum der Kutsche entstiegen, gefährlich ins Schwanken geriet. „Das ist ja schön, Jungs!“, entgegnete er und umfing die beiden grinsend mit seinen Armen. „Ich freue mich ebenso, euch zu sehen!“

„Hast du uns denn auch was Schönes mitgebracht?“ Gustav war entschlossen, keine wertvolle Zeit zu vergeuden. Dafür waren ihm die Geschenke, die Onkel Frederik den Kindern mitzubringen pflegte, viel zu wichtig. Erwartungsvoll lächelnd wand er sich aus der höchst überflüssigen Umarmung.

„Schscht!“, raunte Peter dem Jüngeren ins Ohr. „Es ist unhöflich, sofort nach den Geschenken zu fragen. Damit musst du schon bis nach dem Essen warten!“

„Richtig erkannt, Peter! Ich sehe schon, du wirst allmählich ein vernünftiger junger Mann!“ Über den Kopf der beiden Jungen hinweg lächelte Frederik Charlotte zu, die am oberen Ende der Eingangstreppe stand. „Doch wenn ihr beiden eurem Hausknecht helfen wollt, meine schweren Koffer ins Haus zu tragen, dürft ihr euch gerne schon einmal überlegen, welche Überraschungen für euch sie wohl enthalten könnten!“

Und während Gustav und Peter sich eifrig nach den Koffern ausstreckten, die der Kutscher und der Hausknecht eben abluden, erklomm Frederik mit großen Sprüngen die Treppe. „Meine liebe Lotti!“, begrüßte er seine Nichte. „Ich muss sagen“, er griff nach ihrer Hand, „jedes Mal, wenn ich dich sehe, hast du wieder ein Stück mehr von einer schönen jungen Dame an dir und ein bisschen weniger von dem niedlichen kleinen Mädchen, das du einst gewesen bist!“ Damit hauchte er scherzhaft so etwas wie einen Kuss auf Charlottes Hand.

„Ach, Onkel Frederik!“ Verlegenheit und Freude über dieses Kompliment ihres hochgewachsenen, breitschultrigen blonden Onkels ließen Lotti sanft erröten. Sie konnte nur hoffen, dass er es nicht bemerkte oder genauso großmütig darüber hinwegsehen würde wie über die Tatsache, dass sie sich nicht nur für seine jeweiligen Mitbringsel begeisterte, sondern auch für ihn selbst. Immerhin war Onkel Frederik nur dreizehn Jahre älter als sie selbst – ein lediger, gut aussehender Mann mit Humor, Weltgewandtheit und Erfahrung und damit genau jenen Eigenschaften, die Charlotte sich für den idealen Mann erträumte. Hastig eilte sie dem Gegenstand ihrer Schwärmerei voran ins Haus.

Später, als die ganze Familie im Speisesaal beim Essen saß, hing sie mit großen Augen an Frederiks Lippen, während dieser von seinen letzten Geschäftsreisen berichtete. Wie Lotti gehofft hatte, hatte eine davon ihn tatsächlich nach Nordamerika geführt.

„Ich sage euch, meine Lieben, dieses Land besitzt ein schier unglaubliches Potenzial! Allein seine Größe, seine unendliche Weite sind überwältigend!“ Frederiks Gesicht leuchtete vor Begeisterung, seine Hand mit der Gabel blieb auf halbem Wege zum Mund in der Luft hängen. „Von New York, einer der größten Küstenstädte im Osten, aus bin ich ein Stück weit in nördliche Richtung gesegelt, fast bis nach Neuschottland, und was ich hier zu sehen bekommen habe, war unglaublich: eine Küste, die an Schönheit und ungezähmter Schroffheit ihresgleichen sucht; Flüsse und kleinere Wasserläufe ohne Ende und Wälder – oder vielleicht sollte ich besser sagen Urwälder –, so weit das Auge reicht, immer wieder unterbrochen von kleinen, aber aufstrebenden Siedlungen voller Menschen mit ehrgeizigen Plänen. Gegen diesen Anblick, meine Lieben, sind Dänemark, England oder die deutschen Lande ein – entschuldige bitte diesen Ausdruck, Sophie –“ Frederik grinste seine wesentlich ältere Adoptivschwester entschuldigend an, „ein winziger, unbedeutender Fliegendreck auf der Weltkarte! Wenn ich nur daran denke, in diesem Land der unbegrenzten Holzvorkommen Schiffe zu bauen, schlägt mein Schiffsbauerherz einen Purzelbaum!“

Jetzt endlich fand die Gabel voll Rinderbraten ihren Weg in Frederiks Mund. Charlottes Vater nutzte das dabei entstandene Schweigen. „Du denkst also ernsthaft daran, mit deinen Werften bis nach Amerika zu expandieren?“, fragte er.

Frederik nickte kauend.

„Aber“, warf Sophie ein, „fürchtest du nicht, der Siegeszug der modernen Dampfschifffahrt, der sicher auch vor Amerika nicht haltmachen wird, könnte den Segelschiffbau, wie du ihn betreibst, auf Dauer überflüssig machen?“

„Nein, niemals!“ Frederik schluckte hastig und fuhr abschließend mit der Serviette über seinen Mund. „An einer derart schroffen, zerklüfteten Küste wie dort oben in Neuengland wird der Bau von windschnittigen, wendigen und leicht manövrierbaren Segelschiffen niemals überflüssig werden – nicht einmal in hundert oder zweihundert Jahren!“

In der nun folgenden Stille klangen Charlottes Worte doppelt so laut wie gewöhnlich: „Oh, was gäbe ich darum, all dies einmal mit eigenen Augen sehen zu können!“ Erschrocken fuhr sie zusammen: Es war nicht ihre Absicht gewesen, diesen Wunsch laut zu äußern. Doch der träumerische Ausdruck, der sich während Frederiks Bericht auf ihre Züge gelegt hatte, verriet mindestens ebenso viel von ihrem Fernweh wie ihre Worte.

Frederik musterte sie verständnisvoll. „Mir scheint, Philip“, wandte er sich an seinen Cousin und Schwager, „in den Adern deiner Tochter fließt das unruhige Blut eines Seefahrers, oder zumindest einer Abenteurerin!“

„Das nicht gerade“, widersprach Charlotte. „Mir steht der Sinn nicht nach Entdeckungen oder Ähnlichem, ich möchte nur einmal etwas sehen von dieser Welt. Ich möchte fort aus unserm kleinen Dorf, in dem sich niemals etwas ändert, ich möchte fremde Länder kennenlernen, ich möchte sehen, wie die Menschen dort leben …“ Charlotte verstummte, ihr Blick verlor sich in der Ferne.

„Ich verstehe“, erklärte Frederik mit einem Zwinkern.

Ihr Vater fügte hinzu: „Das wirst du auch, Lotti! Eines Tages wirst du deine gewohnte Umgebung verlassen und in die Welt hinausziehen – und sollte es dann immer noch dein Wunsch sein, ins Ausland zu gehen, werden wir es dir auch ermöglichen. Doch vorläufig ist dein Platz hier zu Hause.“

Philip warf seiner Frau einen auffordernden Blick zu, sodass diese zögernd fortfuhr: „Vater und ich sprachen vorhin über die kleinen, nun, sagen wir einmal Versäumnisse, die du dir in letzter Zeit geleistet hast …“

Lotti errötete. Ihre Mutter würde sie doch hoffentlich nicht in Anwesenheit von Onkel Frederik für ihre Träumereien zur Rechenschaft ziehen?

Ihre Sorge war umsonst. Ohne näher auf die Einzelheiten einzugehen, erklärte Sophie: „… und dabei kamen wir zu folgendem Entschluss, Lotti: Du wirst, sobald du in wenigen Wochen deine Schulausbildung beendet hast, von mir gewissermaßen in deine künftigen Pflichten als Hausfrau eingewiesen. Wie du weißt, pflege ich nicht wie viele andere Damen und Gattinnen von Gutsherren, sämtliche Arbeiten den Hilfskräften zu überlassen. Folglich wirst du innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre selbst erlernen, wie man einem großen Haushalt vernünftig vorsteht. Ich weiß, du hast auch in den letzten Jahren gelegentlich mit Hand angelegt, doch dies hier wird etwas anderes sein, so etwas wie eine Ausbildung. Wir möchten doch, dass du später einmal aufs Beste vorbereitet in eine Ehe gehen kannst!“

„Aber ich …“, setzte Lotti an, entschloss sich jedoch gleich darauf, nicht zu widersprechen. Im Grunde war dieser oder ein ähnlicher Entschluss ihrer Eltern zu erwarten gewesen, nachdem sie ihre Schulzeit nun so gut wie hinter sich hatte, und sie würde sich wohl oder übel mit der wenig geliebten Hausarbeit vorläufig abfinden müssen. Solange sie dabei noch Zeit zum Lesen, Ausreiten und Träumen fand, gab es sicherlich ein schlimmeres Schicksal. Ergeben sah sie von ihrer Mutter zu ihrem Vater und nickte.

„In Ordnung. Ich werde mir Mühe geben, das verspreche ich euch!“

„Ja, denkt ihr denn, dass Lotti wirklich einmal heiraten und einen eigenen Haushalt haben wird? Sie kann doch nicht einfach von zu Hause fortgehen, sie ist doch unsere Schwester!“, mischte sich Gustav unvermittelt ein. Seinen weit geöffneten Kinderaugen war deutlich anzusehen, wie befremdlich ihm diese Tatsache erschien.

Sämtliche Erwachsenen am Tisch sowie Lotti und Peter brachen daraufhin in lautes Gelächter aus, und Gustav nutzte die Gunst des Augenblicks für eine weit wichtigere Feststellung: „Jetzt sind wir endlich alle fertig mit unserem Essen, Onkel Frederik – möchtest du uns da nicht unsere Geschenke übergeben?“

„Na gut, du Lausejunge, sonst lässt du mir ja doch keine Ruhe!“, erklärte Frederik sich einverstanden.

Gustav strahlte auf. Wenig später hielten er und Peter jeweils einen kleinen Eisenbahnwaggon in der Hand, den sie ihrer bereits vorhandenen Spielzeugeisenbahn hinzufügen konnten. Lottis Geschenk dagegen bestand aus „Oliver Twist“, einem englischen Gesellschaftsroman, und Frederiks spontanem Versprechen, ihr das Abonnement eines wöchentlich erscheinenden englischsprachigen Magazins zu verschaffen. Sprachlos vor Freude über diese Möglichkeit, an den wichtigsten Geschehnissen eines fremden Landes teilzuhaben, drückte Lotti ihrem Onkel die Hand, ehe sie sich mit dem neuen Buch in ihr Zimmer zurückzog.

In den folgenden beiden Jahren wurde „The Weekly Herald“ zu Lottis ständigem Begleiter. Die Ankunft der jeweils neuesten Ausgabe am Dienstag jeder Woche ließ ihr Herz schneller schlagen, und jeder Herald wurde sorgsam in der großen Tasche ihrer Kleiderschürze verstaut, die sie zur Hausarbeit trug, bis sie eine ruhige Minute zum Lesen fand. Exakt dazu nutzte Lotti jede Möglichkeit: Sie las den Herald im Wagen, wenn sie das Hausmädchen zu Besorgungen in einen weiter entfernt gelegenen Ort begleitete, sie las ihn in ihrer Freizeit am Strand oder auf einem Strohballen im Stall bei ihrer geliebten Stute, und sie las ihn abends im Bett.

Ein einziges Mal musste ihre Mutter eingreifen, um Lottis zielgerichteten Leseeifer zu dämpfen. Es ereignete sich während der Einkochzeit: Lotti stand am Herd, um die gezuckerten Gartenhimbeeren abzukochen, ehe sie als Marmelade in Gläser abgefüllt wurden. Doch während sie in dem bauchigen, fast bis zum Rand gefüllten Topf rührte, ruhten ihre Augen auf dem Text des Weekly Herald in ihrer freien Hand – mit dem Ergebnis, dass die duftende, klebrige Himbeermasse über den Topfrand und die gesamte Herdplatte hinwegsprudelte, ehe Lotti überhaupt merkte, was geschah. Die Köchin schlug die Hände über dem Kopf zusammen, und Mutter Sophie, die just in diesem Augenblick die Küche betrat, riss ihrer Tochter energisch die Zeitschrift aus der Hand, um sie ihr erst am folgenden Tag wieder auszuhändigen. Nach diesem Zwischenfall bewahrte Lotti den Herald in ihrem Schlafzimmer auf statt in der Schürzentasche, um ihn künftig tatsächlich nur noch in ihrer Freizeit zu lesen.

Auf diese Weise erweiterten sich Lottis Sprachkenntnisse und ihr Einblick in das Leben im viktorianischen England täglich, bis sie tatsächlich begann, nachts in englischer Sprache zu träumen.

Auch die Haushaltsführung erwies sich als abwechslungsreicher, als sie vermutet hatte. Seite an Seite arbeitete Lotti mit ihrer Mutter, während die Monate verstrichen und schlussendlich der zweite Sommer seit jenem denkwürdigen Besuch ihres Onkels anbrach. Zu dieser Zeit begann Lotti, ihre lang gehegten Träume vom Leben in fernen Ländern in konkrete Überlegungen bezüglich ihrer Zukunft umzugestalten. Ein Verehrer – oder vielmehr ein Verehrer, der auch nur annähernd ihren Vorstellungen von einem geeigneten Ehepartner entsprach (so, wie Onkel Frederik es noch bis vor Kurzem getan hatte) – war nicht in Sicht, sodass ihrem Wunsch, für längere Zeit ins Ausland zu gehen, im Grunde nichts entgegenstand. Die große Frage war jedoch: Was sollte sie im Ausland, ganz gleich, in welchem Land, mit sich anfangen? Für sie als alleinstehende junge Dame kam es ja keinesfalls in Betracht, auf gut Glück umherzureisen, um Land und Leute kennenzulernen!

Nächtelang grübelte Lotti über dieses Problem, beriet sich mit ihren Eltern und Onkel Frederik, doch letztendlich war es eine Anzeige im Weekly Herald, die dasselbe löste. Ein gewisser Sir Edmund auf Lowerdale Manor in Gloucestershire suchte eine Gesellschafterin für seine bedauerlicherweise im Rollstuhl sitzende Nichte. Eine gebildete junge Dame aus guter Familie sollte die Gesellschafterin sein, interessiert an Literatur und Kunst und vor allem daran, das Leben ihrer künftigen Arbeitgeberin so kurzweilig und angenehm als möglich zu gestalten.

Wie vom Blitz getroffen fuhr Lotti in ihrem Bett auf, als sie diese Anzeige las. Weshalb war sie nur nicht früher auf den Gedanken gekommen, im Ausland eine Stellung anzunehmen? Obendrein eine solche Stellung, die ihrem Stand als Gutsherrentochter durchaus gerecht wurde? Denn eines war sonnenklar: Diese Tätigkeit als Gesellschafterin passte für sie wie ein maßgeschneidertes Kleid. Lotti stammte aus guter Familie, nämlich einem alten holsteinischen Rittergeschlecht, war jung, gebildet, interessiert an Literatur – und nicht eine der genannten Voraussetzungen sprach ausdrücklich davon, dass es sich bei der Bewerberin um eine Person aus England handeln musste!

Außer sich vor Aufregung las Lotti die Anzeige ein zweites Mal, diesmal laut. Sie schauderte wohlig: Allein die Worte „Sir Edmund auf Lowerdale Manor“ und „Gloucestershire“ zergingen auf ihrer Zunge wie ein zartschmelzendes Karamellbonbon! Ohne weiter zu überlegen, sprang Lotti trotz der späten Stunde aus dem Bett und stürzte ins Schlafzimmer ihrer Eltern, um ihnen die aufregenden Neuigkeiten mitzuteilen.

Zwei Monate später passierte die englische Mietkutsche mit Lotti an Bord das Eingangstor von Lowerdale Manor, und während sie langsam durch den Park aufs Haus zufuhr, schmolz Charlottes anfängliches Selbstvertrauen merklich dahin. Wie hätte sie auch ahnen können, welch imposantes Anwesen Lowerdale Manor darstellte!

Dieser ausgedehnte, äußerst gepflegte Park überstieg die Vorstellungen, die sie sich von ihrem künftigen Arbeitsplatz und Wohnort gemacht hatte, bei Weitem, ganz zu schweigen von dem Herrenhaus selbst … Verglichen mit den klaren Proportionen ihres Elternhauses und seiner eindeutigen Gliederung in einen Haupt- und zwei Seitenflügel, bildete es einen regelrechten Gebäudekomplex, der aus zahlreichen spitzen Giebeln, halbrunden Erkern, Kaminen und zinnenbesetzten Türmchen zusammengesetzt war. Einer dieser Türme, genau in der Mitte des Gebäudekomplexes gelegen und mit dunkelgrünem Efeu bewachsen, diente als Eingangsportal. Im Schein der Morgensonne, die dem ganzen beeindruckenden Gebilde aus gelbem Stein einen honigfarbenen Glanz verlieh, wirkte es auf Charlotte wie ein romantisches Schloss, das direkt einem ihrer schönsten Träume entstiegen war! Einen Moment lang hielt sie den Atem an: Wer in einem solchen Anwesen lebte, musste um einiges bedeutender und reicher sein als ihre eigene Familie!

Eine Tatsache allerdings fügte sich nicht in das liebliche Bild: Rechts und links des Eingangsportals erhoben sich zwei hüfthohe Granitsockel, auf denen jeweils ein ebenfalls aus Granit gehauener, Furcht einflößend dreinblickender Löwe thronte. Der gleiche grimmig-abweisende Löwenkopf begrüßte Charlotte auch in Form des schweren, auf Hochglanz polierten Messingtürklopfers, als sie sich mit zögernden Schritten näher wagte.

„Falls dies eine Maßnahme der Hausbesitzer sein soll, unwillkommene Besucher abzuschrecken, könnten sie damit durchaus Erfolg haben!“, fuhr es Charlotte durch den Kopf. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in England beschlichen sie Zweifel, ob sie, die Tochter eines unbedeutenden deutschen Grafen, vor einer Familie wie derjenigen von Sir Edmund Carrington würde bestehen können. Unwillkürlich sah sie sich dabei nach der Kutsche um, ihrer letzten und einzigen Verbindung mit der Heimat.

Möglicherweise wäre es doch besser gewesen, wenn sie, wie ihre Eltern es vorgesehen hatten, an Onkel Frederiks Seite durch diese Tür in ihr künftiges Leben geschritten wäre? Doch in Anbetracht der Tatsache, dass Frederik sie bereits bis zu ihrem englischen Ankunftshafen geleitet hatte, hatte sie seine Begleitung auf diesem letzten Stück ihres Weges ausgeschlagen, und die Mietkutsche hatte bereits gewendet. Folglich gab es nun, da Lotti vor der Tür des Herrenhauses stand, kein Zurück mehr.