Ein Drehbuch für Götz - Kersten Flenter - E-Book

Ein Drehbuch für Götz E-Book

Kersten Flenter

4,6

Beschreibung

Eine sardische Aussteigerkomödie - Urlaubslektüre. Das Glück kann so einfach sein: ein Wohnwagen, freies Essen und ein bisschen Taschengeld, dazu Sonne und Meer gratis - mehr braucht Zipp nicht, der studierte Aussteiger mit Vorliebe für Rotwein und Machiavelli. Sogar eine Traumfrau hält die Insel für ihn bereit. Dumm nur, dass ihr sein Lebenswandel nicht reicht, sie will einen Mann mit Ambitionen...

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Kersten Flenter & Thorsten Nesch

Ein Drehbuch für Götz

KERSTEN FLENTER & THORSTEN NESCH

EIN DREHBUCH FÜR GÖTZ

Ein Sardinien–Roman

Kersten FlenterJahrgang 1966, veröffentlichte bislang neunzehn Bücher in Groß- und Kleinverlagen. Wenn er nicht gerade auf Lese- oder Kleinkunstbühnen steht, reist er bevorzugt nach Sardinien. Mehr auf www.flenter.de

Thorsten NeschJahrgang 1968, veröffentlichte zwei Jugendromane bei Rowohlt. Weitere Roman- und Sachbuchveröffentlichungen bei Epubli. Ein Roman wird verfilmt, ein anderer ein WDR-Hörspiel. Außerdem erhält er den »Hans-im-Glück«-Literaturpreis 2012. www.thorsten-nesch.com

Flenter & Neschkennen sich seit 1993. Schnell stießen die beiden auf ihre Schnittmengen in Literatur, Film und Humor. Seitdem kollaborieren sie in den Medien und auf der Bühne. »Ein Drehbuch für Götz« ist ihr erster gemeinsamer Roman.

1. Auflage Juli 2012

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2012www.satyr-verlag.de

Cover: Steffen Heinecke (www.perfect-tree.de)Lektorat: Volker Surmann, Assistenz: Julia Keil, Jan Freunscht

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

ISBN: 978-3-944035-00-0

»Unsere Sehnsucht wird immer größer, je weniger wir sie befriedigen.«

– Machiavelli (Philosoph, 15. Jahrhundert)

»Ich möchte nie mehr arbeiten.«

– Erwin Kostedde (15 Tore für Hertha BSC Berlin)

ERSTER TAG

Siesta im Paradies

Das Glitzern der Sonne auf dem Meer, blauer Himmel, klare, warme Luft und der Geruch nach Eukalyptusbäumen im Sommer. Kein Wunder, dass die kulturelle Wiege Europas im Süden stand, dachte sich Zipp.

In diesen Breitengraden konnten Philosophen gedeihen und ihren Gedanken nachgehen. Hier konnten die Denker jene Fässer leer trinken, in denen sie später glücklich und erfüllt lebten, nur unterbrochen von lästigen Zeitgenossen, die durch ihre bloße Anwesenheit die Sonne verdeckten und die Sinne trübten.

Selbst bei geschlossenen Augen blieb das Bild der Sonne im Meer für eine Weile erhalten, bevor das samtene Orange der dünnen Augenlider die Oberhand gewann. Einige Haarsträhnen wehten im Wind über sein Gesicht und kitzelten auf seinen Lidern.

Seit einem halben Jahr war er bei keinem Friseur gewesen, und das Meerwasser und die salzige Luft hatten die Spitzen blond gefärbt. Beinahe schwarz waren seine Handrücken, auf denen gerade sein Kinn mit den Bartstoppeln ruhte. Die Hände hatte er auf dem breiten Griff des langen Spatens gefaltet, der in der kargen Erde steckte.

Ein Fuß ruhte auf dem Spatenblatt, er trug sein einziges Paar Sandalen: Flipflops. Über seinen Fuß lief eine Ameise. Er hatte die schlichten Gummilappen bei seiner Anreise in dem kleinen Kiosk auf der Fähre gekauft, nachdem er die schwarzen Strümpfe in die Lackschuhe gestopft und diese, einen nach dem anderen, in weitem Bogen über Bord geworfen hatte.

Im Schatten des Eukalyptusbaumes kaute eine Schildkröte auf einem Grashalm. Zipp lächelte das Gesicht mit den Knopfaugen und dem zahnlosen Mund an. Mit ihrer Behäbigkeit unterstrich sie seine innere Ausgeglichenheit.

Er spürte, wie sich sein Puls verlangsamte. So ähnlich musste Meditation sein. Nur brauchte er dazu keinen Guru, keinen Lotussitz, keine Kopfstandpositionen, keine Räucherstäbchen, kein Monatsabo von Schneller Entschleunigen und keinen Mitgliedsbeitrag zum Mantrabrummen. Sein Mantra war das Meer, sein Guru die Natur. Die Natur, wie er sie hier auf Sardinien gefunden hatte. Eigentlich schon vor Jahren in den Semesterferien, aber er hatte es sich beharrlich ausgeredet. Er musste doch ein anständiges Leben führen, sein Studium beenden, eine Karriere starten und eine Familie gründen. Nachdem er Punkt Eins mit dem Abschluss in Philosophie erfüllt hatte, die Doktorandenstelle sicher und er verlobt war, entschloss er sich dazu, aus der brennenden Propellermaschine der Not-my-life-Airline zu springen und die Reißleine zu ziehen.

Den Entschluss fasste er, als er an einer Fußgängerampel wartete und sich fragte, wie sich das wohl anfühlen würde, sich vor den vorbeifahrenden Bofrost-Laster zu werfen.

Die erschreckende Antwort für ihn: Es gab Schlimmeres. Und so überquerte er die Ampel nicht, er ging nicht zum Monatstreffen der Gesellschaft zur Erforschung Kantscher Strukturen im Beamtentum, er kehrte an jenem Tag nicht zurück nach Hause, um eine Hochzeit zu planen, die sich anfühlte wie ein einziger großer Sargnagel, obwohl seine Braut, gelinde gesagt, wohlhabend und nach gängigem Geschmack auch äußerlich attraktiv war.

Stattdessen warf er seine Tasche mit den beiden Ordnern in einen Müllcontainer hinter einem Supermarkt, hob den maximalen Betrag von tausend Euro von seinem Girokonto ab, knickte die EC-Karte, bis sie brach, schmiss sie in einen Gully und marschierte zum Busbahnhof für Fernreisen. Ein Überlandbus war nicht nur günstig und unauffällig, es würde auch seine erste derartige Reise sein, ein Abenteuer.

Als er vor dem Fahrkartenschalter stand, hatte er aus fünf Abfahrten in der nächsten halben Stunde zu wählen: München, Kiew, Lyon, Bukarest oder Livorno. Die Wahl ging ihm einfach über die Lippen: Livorno. Den Ort kannte er von früher als Fährhafen für Sardinien. Mit einem Freund war er nach dem Abitur vier Wochen mit Interrail durch Frankreich und Italien gereist. Damit war das Nachdenken über sein Ziel erledigt.

Einfach über Nacht alles hinter sich zu lassen, entpuppte sich als Glücksfall. In den ersten Tagen auf Sardinien kam es ihm vor, als schwebe er ein paar Zentimeter über dem Boden.

War das wirklich schon ein halbes Jahr her?

»Alles richtig gemacht«, flüsterte er zur Schildkröte, und sie schien zu nicken. Er wandte seinen Blick ab gen Meer, wo eine Möwe schreiend einen Looping flog. Dicht über dem Sandstrand, der zwanzig Meter weiter unterhalb der hohen schroffen Felsen lag, zog sie wieder hoch.

Eine Böe rauschte in seinen Ohrmuscheln und das leise Klappern der Zweige, dazu das Gefühl im Hals, als hätte er ein Hustenbonbon gelutscht. Dafür liebte er den Eukalyptusbaum. Und er liebte Angelina. Und das Beste war: Sie liebte ihn auch.

Mit der Zunge fuhr er vorsichtig über die seit vier Wochen wunde Stelle innen an der Unterlippe, die sie mit ihren leidenschaftlichen Küssen Nacht für Nacht und Siesta für Siesta aufzurauen wusste. Er öffnete seine Augen und atmete tief ein, als würde sie in seinen Armen liegen, und für einen Augenblick glaubte er sogar, ihren Duft zwischen all den Pflanzen riechen zu können.

»Hey, beweg deinen Arsch! Soll der Spaten Wurzeln schlagen?«

Zipp hatte Nobby gar nicht bemerkt. Dabei war er eigentlich gut zu sehen, denn er trug wie immer eines seiner schrillen Fußballtrikots von Hertha BSC. Die regelmäßigen Besucher, die jedes Jahr für ein paar Wochen in einer der Hütten auf Nobbys und Caros italienischem Bauernhof Urlaub machten, wussten um sein Faible für den Verein und brachten ihm manchmal ein Geschenk mit. Die Trikots beulten sich über seinem Bauch und standen eine Hand breit ab von den Bermudashorts. Frische weiße Tennissocken in Turnschuhen rundeten das Bild des ehemaligen Frührentners ab. Über dem Ende der Socke am rechten Bein landete gerade eine Mücke.

»Das sieht aus, als wolltest du den Spaten da einpflanzen.«

»Nein.«

»Das Feld gräbt sich nicht von alleine um.«

»Ich bin doch dabei.«

»Das sehe ich, wie du dabei bist. Du bewegst dich wie Angela Merkel im Strafraum. Bei der Arbeit hat dir noch niemand die sechs Espressi angesehen, die du uns jeden Morgen wegtrinkst. Aber seit du verknallt bist, scheinst du dein bisschen Restenergie anderweitig zu vergeuden.«

In dem Moment, als die Mücke ihren Rüssel durch den dichten Haarwald in Nobbys Schienbein bohrte, wurde sie an der Spitze eines feinen Blutstrahls einen halben Meter durch die Luft zu Boden geschossen. Dieses Schauspiel demonstrierten Bluthochdrucks faszinierte Zipp jedes Mal.

»Jetzt hör auf, mir so schuldbewusst vor die Füße zu gucken. Darauf falle ich nicht mehr rein«, meinte Nobby.

Zipp richtete seinen Blick auf. »Eine Vergeudung würde ich die Liebe nicht nennen.«

»Vielleicht solltet ihr beide euch hier auf dem Feld lieben, dann hätte das auch was davon. Ich wünschte, ich könnte es selber, aber es geht nun mal nicht mehr.«

»Liebe machen?«

»Den Acker umgraben! Grab!«, und dabei griff er sich mit der linken Hand an die Bandscheibe, als würde ihm der bloße Gedanke Schmerzen bereiten.

»Apropos Liebe, kann ich den Wagen nehmen? Ich möchte gleich kurz runter ins Dorf.«

»Möchtest du nicht erst den Acker fertig umgraben?«

»In der Sonne? Da kriege ich ja einen Hitzschlag. Die Siesta hat schon ihre Berechtigung. Danach schaffe ich das auch noch.«

Nobby stemmte seine Hände in die Hüften und schaute sich über die Schulter um, als könnte er von dort Hilfe erwarten. »Danach klappt aber nicht. Danach hast du nämlich was vor, oder hast du das vergessen?«

Mit Fragen wie dieser konnte Zipp noch nie etwas anfangen. Er musste dann absolut davon ausgehen, dass er etwas vergessen hatte, denn sein Gegenüber wusste etwas, das ihm selbst verborgen blieb. Wieso sollte man sich ausgerechnet auf diese vage Frage hin an etwas erinnern können, das man offensichtlich vergessen hatte?

Zipp strengte sich dennoch an, und ihn durchströmte ein wohliges Gefühl von Stolz, als ihm die Antwort einfiel.

»Die Spitzen vom alten Olivenbaum schneiden!«

Nobbys Kopf zuckte nach vorne, und er riss seine Augen weit auf. »Das hast du auch noch nicht gemacht? Das sollte doch schon letzte Woche …«

Stimmt, dachte Zipp, das war die Kehrseite der Frage: Es bestand eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, sich bei einer Antwort tiefer reinzureiten. Eigentlich konnte man nur verlieren. Ob man antwortete oder nicht.

»Ich habe die Leiter nicht gefunden, als ich den Olivenbaum machen wollte«, entschuldigte er sich.

Nobby riss sich jetzt arg zusammen, das war ihm anzusehen. Wäre er zwanzig Jahre jünger gewesen, er wäre wohl handgreiflich geworden.

»Wo steht die Leiter denn immer?«, zischte er zwischen dem deutschen Kassenteilgebiss hervor.

»Neben der Scheune«, und jetzt fiel es Zipp wieder ein. »Genau! Und da war sie nicht, als ich sie brauchte. Ha!«

Das »Ätsch« verkniff Zipp sich in seinem persönlichen Triumph, seinen Kopf aus der Schlinge gezogen zu haben. Er war unschuldig, und er war froh, dass ihm dieses Detail noch eingefallen war.

Ein Knurren drang durch Nobbys halb offenen Mund. »Eine andere Frage: Womit hast du die Dachrinne am Haupthaus gestrichen?«

»Mit gelber Farbe.«

»Genau, anstatt grüner! Aber was ich meine, ist: Worauf hast du dabei gestanden?«

Auf der Leiter, dachte Zipp.

Nobby nahm ihm die Antwort vorweg. »Auf der Leiter. Und an der Dachrinne lehnt sie immer noch. Weil du sie nicht dorthin zurückgebracht hast, wo sie hingehört.«

Wütend winkte er ab und stampfte los Richtung Haupthaus. Nach fünf Metern sprang er herum wie ein Revolverheld, der ein verdächtiges Geräusch gehört hatte.

Mit dem Zeigefinger zielte er auf Zipp: »Und du … du … Jetzt hast du … auch noch ...«

»Was? Was? Was?«

»Sagt dir mein Fleisch und Blut etwas?«

Er sprach in Rätseln.

»Meinst du dein Übergewicht, Bluthochdruck?«

»Quatsch. Tabea! Du hast meine Enkelin vergessen! Du hast vergessen, dass du Tabea vom Flughafen abholen sollst.«

Zipp klatschte sich mit der Hand an die verschwitzte Stirn. »Stimmt ja! Nein, habe ich nicht, natürlich nicht. Um wie viel Uhr landet der Flieger noch mal?«

»Um drei! Zipp!« Er fasste sich an die Nasenwurzel.

»Sch... so früh ist das?«

»Ja«, seufzte Nobby und schaute zum Himmel.

»Dann nehme ich doch besser den Fiat ins Dorf. So kann ich von dort aus direkt zum Flughafen fahren.«

»Nein! Ich möchte lieber sehen, wenn du losfährst. Nimm das Fahrrad und gut. Und danach kannst du den Fiat zum Flughafen nehmen.«

»Aber das Radlager von dem alten Ding ist kaputt.«

»Nicht, wenn man anständig tritt.«

»Niemand wird ein hinkendes Pferd gerne reiten, denn es strengt zu sehr den Reiter an.«

»Bleib mir mit deinen Philosophensprüchen vom Leib.«

»Das war Machiavelli. Also? Auto? Bittebitte, Nobby! Hab ein Herz.«

Bei der Schussfahrt schepperte der gebrochene Gepäckträger an das Schutzblech wie das Rasseln einer sterbenden Klapperschlange. Lose Speichen peitschten aneinander, und der Lenker zitterte in seinen Händen, als würde eine ausgehungerte Hyäne versuchen, ihm das Vorderrad zu entreißen. Verbissen wehrte sich Zipp gegen die auf ihn einwirkenden Kräfte. Seine Fingerknöchel stachen weiß hervor, und seine Zehen krallten sich um die Pedale. So, eins mit der Maschine, schaffte er es, in einer Kurve einen Kleinlaster innen zu überholen, dessen Fahrer das gewagte Manöver mit einem Hupen belohnte. Gleich darauf musste er vor dem Laster wieder einscheren, um nicht den Schotterweg zu verpassen, der durch den Wald zum Strand am Rande des Dorfes Cala Sogno führte.

Hinter ihm radierten die abgefahrenen Reifen des Lkws bei dessen Vollbremsung über den heißen Asphalt, dazu gesellte sich abermals das Signalhorn, gerade als Zipp mit seinem Fahrrad zu weit nach außen getragen wurde und über einen großen Stein raste. Er hob ab und setzte fünf Meter weiter wieder auf. Hart stieß der alte Sattel gegen seinen Allerwertesten und brach ab. Zipp selbst landete glücklicherweise mit dem Hintern auf dem Gepäckträger, anstatt auf dem abgebrochenen Rohr, das jetzt zu einer rostigen Bedrohung für sein Rektum wurde. Seine Arme streckten sich weit zum Lenker, als säße er auf einer Harley-Davidson.

Aus den Augenwinkeln sah er eine herausgerissene Speiche durch die Luft sirren wie einen metallenen Eingeborenenpfeil, bis sie sich in die Rinde einer Kiefer bohrte.

Bei der Geschwindigkeit, die Zipp drauf hatte, schwammen die Räder förmlich über die Schotterpiste. Das Fahrrad schüttelte sich, als wäre es in einen Meteoritenhagel geraten. Vögel flogen erschrocken auf, Schlangen und Nager huschten durchs Dickicht in Sicherheit. Zu treten brauchte er nicht, es reichte der Schwung der Bergetappe.

Endlich tauchte vor ihm zwischen den Ästen das Türkis des Meeres auf und zwischen den Bäumen am Ende des Weges die grazile Silhouette Angelinas.

Der Gedanke kam Zipp plötzlich in den Sinn: Wenn andere Frauen ein Gedicht sind, dann ist sie ein Sonett. Schönheit, Ausstrahlung und Leidenschaft zeigten sich bei ihr in einzigartiger, nie zuvor gesehener Komposition der Weiblichkeit.

Er bremste und stellte das Fahrrad an einen Baum. Wie auf Kommando rieselte mehr als die Hälfte der Speichen aus dem Vorderrad.

Adrenalinangereichert rauschte das Blut durch seinen Körper, gleichzeitig musste er seine Erregung kontrollieren. Angelina hatte ihren Kopf auf die Seite gelegt, sodass ihre langen braunen Haare über ihre rechte Schulter fielen, während sie lächelnd den Kopf leicht schüttelte. Dabei spannte sich bei jeder Bewegung eine Sehne im Hals, die sich im weiten Dekolleté ihres roten Sommerkleides verlor. Eine Hand hielt sie angewinkelt an der Hüfte, in der anderen trug sie ihre Sandalen, die sie ausgezogen hatte, weil sie von der Pension ihres Onkels aus, in der sie arbeitete, den Strand entlanggegangen war.

Zipp marschierte auf sie zu und breitete seine Arme aus. Das Einzige, was ihm fehlte, war ihr Duft und ihr unvergleichlicher Geschmack.

Sie rollte ihre großen dunklen Augen, und mit ihrem italienischen Akzent sagte sie auf Deutsch: »Kannst du deine Flipflops aus dem Mund nehmen, bevor du mich küsst?«

Die hatte Zipp ganz vergessen. Wegen des kaputten Gepäckträgers und weil er die Sandalen schon zweimal unterwegs verloren hatte, als er sie während der Fahrt an den Füßen trug, transportierte er seine Flipflops zwischen den Zähnen. Deren Abdrücke waren nun auf dem Gummi der Sohle zu sehen. Er warf die Sandalen zur Seite, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und umarmte die laut lachende Angelina. Der Klang ihres Gelächters lockte die Engel an.

Zum Kuss schlossen sie ihre Augen. Sie war einen guten Kopf kleiner und musste sich auf ihre Zehenspitzen stellen.

Sofort fand seine Linke ihren Nacken mit den weichen Härchen, und seine Rechte wanderte den Rücken hinab und schob sich unter ihren Rock, wo ein knapper Slip die Pobacken frei gab.

Schon bewegten sie sich vom Schotterweg und Strand weg zwischen den Bäumen hindurch, ohne einander loszulassen oder den Kuss zu lösen. Äste brachen und kratzten über ihre Arme und Beine, während sie sich beide ihr erregtes Lachen verkniffen. In seinem Kopf tanzten die Synapsen, und die Hormone feierten Silvester.

Diese Momente würden nie alltäglich werden, würden immer etwas Besonderes bleiben. Mit Angelina Liebe zu machen, unterschied sich in seiner Erfahrung zu ihren Vorgängerinnen wie Butterstulle von Bruschetta.

Als er loslachen wollte, biss sie sich in seiner Unterlippe fest, sodass er unweigerlich zum Kuss gezwungen wurde, ihre Hände abwechselnd auf seinem Po und an den Wangen und in seinen Haaren. Sie zog ihm sein T-Shirt aus, und legte es über einen niedrigen dicken Ast, auf den sie sich setzte.

Ihr Fuß kreiste langsam über den Estrich der kleinen Terrasse des Strandcafés, in dem sie auf weißen Plastikstühlen saßen. Hell hob sich der feine Sand, der bei ihrem gemeinsamen Strandspaziergang an ihren Füßen kleben geblieben war, von ihrem dunklen Teint ab. Wie zwei alberne Teenager hatten sie sich gegenseitig geschubst, sodass einer von ihnen immer wieder ins Wasser getreten war. Es störte sie nicht, sie wischte die Kristalle nicht von ihrer Haut. Angelina musste das Kribbeln an den Fußsohlen gefallen. Vollkommenes Glück konnte so einfach sein.

Trockener Sand rieselte von ihrer Haut an den Beinen auf den Boden. Ihr Kleid war etwas weiter als erotisch unbedenklich hochgerutscht, aber sie schien es nicht zu bemerken. Es war auch egal, denn außer dem Wirt waren sie alleine. Touristen verirrten sich selten bis zu diesem Strandcafé. Es lag am äußersten Ortsrand, und die Einheimischen kamen immer nur zur letzten Stunde der Siesta.

Angelinas Hintern war eigentlich zu schade zum Draufsitzen, dachte sich Zipp, sie sollte auf dem Bauch liegen, auf die Ellenbogen gestützt, den Kopf gerade, edel. So waren die Ägypter wahrscheinlich auf die Sphinx gekommen.

Edel, ohne affektiert zu sein. Natürlich, »edel«, das Wort, fand er, passte am besten zu Angelina, zu ihrem Profil, das sie ihm gerade zugewandt hatte, weil sie über den Strand hinweg auf das Meer schaute. Mit seinen Augen folgte er den Linien ihres Gesichtes, während seine Zunge über die Unterlippe fuhr.

Woran sie wohl gerade dachte? Ihre vollen Lippen geschwungen zu einem steten Lächeln, ihre Nase nicht zu groß, nicht zu klein, und ihre dunklen Augen, in denen er manchmal seine eigene Reflexion sehen konnte, wenn sie eng beieinander saßen und das Licht stimmte. Selbst die Augenbrauen fielen ihm auf, und Augenbrauen waren ihm noch nie bei Frauen aufgefallen. Strähnen ihres Haares hingen über ihre Stirn.

So sah also eine italienische Studentin der deutschen Sprache aus. Dies waren ihre letzten Semesterferien, die sie bei ihrem Onkel in der Pension Lucatoni’s verbrachte, wo sie sich im Restaurant etwas Geld verdiente. Nächstes Jahr würde sie ihren Abschluss machen, in Genua. Dort war sie geboren, dort besuchte sie die Universität.

Die Sterne hatten es gut mit ihm gemeint, richtig gut. Für ihn war das pure Magie: Da entschließt er sich dazu, alles hinter sich zu lassen, und ein paar Wochen später begegnet ihm nicht nur seine Traumfrau, sondern sie verliebt sich auch noch ebenso sehr in ihn wie er in sie.

Ohne ihren Blick vom Meer abzuwenden, griff ihre Hand nach der Flasche Cola auf dem runden Plastiktisch. Sie umfasste die Flasche mit der ganzen Hand am Hals, eine burschikose Geste, eines sardischen Maurers würdig. Sie hatte diese Gesten drauf. Er beobachtete ihren Hals beim Schlucken. Sie liebte ihn, ausgerechnet ihn. Er schüttelte den Kopf.

Angelina warf ihm einen Blick zu, der ihn traf wie eine Wasserbombe bei vierzig Grad im Schatten. »Was ist?« Sie strahlte ihn an und setzte die Cola wieder ab. »Was denkst du?«

Dass du umwerfend aussiehst, dass du bezaubernd bist, dass du mich verzaubert hast, dass du das bei jedem Mann schaffen kannst, dass ich nicht weiß, was du ausgerechnet an mir findest, dass mir das nur egal sein kann, dass ich nicht gedacht habe, dass ich so etwas jemals erleben würde, dass ich nicht weiß, ob ich das verdient habe, mir aber auch das egal ist, dass mich nur das Heute und Morgen mit dir interessiert und sonst nichts, Zipp und Angelina, und er sagte: »Zangelina.«

Sie lachte los.

Er mochte das. »Ich liebe dich.«

Sie lachte, eine spritzige Lache mit ihrem etwas heiseren italienischen Stimmbändern, die eine Spur zu laut und daher stets ansteckend ausfiel. Wenn ein Margarita-Cocktail lachen könnte, er würde klingen wie Angelina.

»Und?«, fragte Zipp und nippte an seinem Espresso.

»Und was?«

»Pass mal auf: Kommen zwei Menschen zusammen, sagt der eine: Ich liebe dich, sagt der andere?«

Sie lachte noch lauter.

Zipp ließ nicht locker: »Kennst du so Momente? Gut, vielleicht nicht von dir, weil du da nicht so Bescheid weißt, weil du froh sein kannst, wenn du überhaupt einen Kerl abkriegst, aber so aus Filmen oder aus Büchern, wenn ein Mann zur Frau sagt ...«

»Ja-ja-ja, ich liebe dich, ich hab’s kapiert«, unterbrach sie ihn lachend und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare.

»Genau!« Dabei zeigte er auf sie: »Dann sagt der andere ...« und er imitierte ihre Stimme übertrieben beiläufig: »Ja-ja-ja, ich liebe dich, ich hab’s kapiert, ja-ja-ja, ich liebe dich, ich hab’s kapiert.«

»Zipp, es ist Urlaub.«

Da hatte sie halb recht, für sie war es ihr Urlaub, für ihn war es sein Leben.

»Ja, genau, wie machen wir das denn in einer Woche?«, fragte er.

»In einer Woche?«

»Da wolltest du eigentlich zurück nach Genua.«

»Da muss ich zurück nach Genua!«, und sie nippte an der Cola.

Lanzen durchbohrten seinen Magen. Er fühlte sich wie der Schweizer Volksheld, der sich bei einer Schlacht ein Dutzend Lanzen des Gegners gebündelt in seinen Körper rammen ließ, um eine Schneise für seine Eidgenossen zu schlagen und dabei, nicht ganz überraschend, sein eigenes Leben verlor.

»Du willst zurück?«

»Ich muss.«

»Kannst du nicht von hier ...?«

»Ich bin an keiner ... wie sagt man auf Deutsch, wenn man studiert, aber nicht zur Universität geht, sondern zu Hause alles am Computer macht ...?«

»Fern-Uni.«

»Ich bin an keiner Fern-Uni.«

»Ich dachte, du schreibst jetzt deine Abschlussarbeit.

»Tue ich auch, aber ich muss mich regelmäßig blicken lassen.«

Er blähte seine Wangen auf und atmete geräuschvoll aus. Sie trank die Cola leer und knallte die Flasche auf den Tisch. Mit einem Fuß rieb sie über den Rücken des anderen, dann schlug sie die Beine übereinander. Sand rieselte zu Boden.

»Du hast noch mal Semesterferien im Winter, stimmt’s?«

»Ja, aber nicht so lange.«

»Dann werde ich bis dahin nach dir schmachten.«

»Schmachten?«

»Mich verzehren, dich vermissen. Und dafür über dich herfallen, sobald du wieder hier bist.«

»Nicht im Winter.«

Seine Augen schauten kurz nach oben, als ob er dort eine fremde Stimme gehört hatte.

»Warum nicht?«

»Keine Touristen.«

»Aber ich!«

»Ja, aber, … Zipp!«

Er räusperte sich: »Dann müssen wir eine Fernbeziehung führen? Bis zum nächsten Sommer?«

Sie schaute ihn lange an, den Ellbogen auf den Tisch gesetzt, und ihre Augen suchten nach Verständnis in seinem Gesicht. In Angelinas Augen las er ein Gefühl, das er bei ihr noch nicht gesehen hatte: Mitleid.

Und sie sagte: »Wenn alles gut läuft und ich den Abschluss in der Tasche habe, werde ich auch sofort anfangen zu arbeiten.«

Er konnte sie nicht länger ansehen. Sein Blick prallte selbst vom Meer ab und wanderte über die Wände des Cafés mit den schiefen Bildern eines einheimischen Landschaftsmalers. Vorgelagerte Inseln bei Sturm, der Hafen mit seinen Fischerbooten, Weinberge im Landesinneren, Esel am Wegesrand, nirgendwo ein Mensch, nirgendwo Angelina.

»Dann ...«, er räusperte sich wieder.

»Urlaub«, sagte sie, und ihre warme Hand legte sich auf seinen Unterarm. Sie trug die Fingernägel kurz.

»Ich dachte ...«, er zeigte auf sie und sich.

»Was dachtest du?«

»Wir ... du und ich, wir, du liebst mich. Du liebst mich doch.«

Das Wort »oder?« wollte nicht über seine Lippen.

Sie zögerte einen Moment: »Das tue ich auch ... für diese Zeit.«

Auch ihr war nicht wohl, das konnte er sehen.

»Welche Zeit?«, fragte er.

»Den Urlaub, diese sechs Wochen.«

»Aber warum dann nicht länger, nicht für immer?«

»Wie denn? Wie soll das denn gehen?«, fragte sie.

»Warum denn nicht? Wir haben doch alles hier.«

»Wir haben hier nichts.«

»Uns!«

Sie lächelte flüchtig. »Davon kann man aber nicht leben.«

»Du arbeitest bei deinem Onkel, und ich ...«

»Arbeitest für Essen und Trinken und um kostenlos in einem Wohnwagen zu leben, plus etwas Taschengeld, bei den beiden verrückten Tedesci da oben.«

»Und?«

»Ich möchte mal eine Familie haben.«

Er fasste sich an den Kopf. »Ich doch auch! Bambini! Zangelina-Bambini.«

»Wie stellst du dir das denn vor? Kinder großziehen in deinem kleinen Backofen? Und das Essen? Wir teilen einfach deine Mahlzeiten durch vier oder fünf?«

»Fünf? Fünf? Vielleicht ...«

»Ich stelle mir meine Zukunft anders vor. Ich brauche nicht viel, aber nichts ... ist zu wenig.«

Sie nahm ihre Hand weg.

Ihm fiel eine andere Lösung ein: »Ich kann nach Genua kommen.«

»Und was willst du da machen? Was willst du arbeiten?«

Er schaute sich um, als ob sein zukünftiger Beruf irgendwo an den Wänden zu lesen wäre. Eine altmodische Uhr aus Holz zeigte halb zwei.

»Mist, ich fasse es nicht«, fluchte er und stürzte den Rest Espresso runter, während er aufstand.

»Was?«, fragte sie überrascht.

Jetzt sprach er schnell: »Ich muss los, ich muss Nobbys Enkelin vom Flughafen abholen. Mist. Scusi. Wir sehen uns heute Abend, Angelina?«

»Ich weiß nicht. Ich muss arbeiten. Und ...«

»Doch! Hey!«

»Du solltest mal über alles schlafen.«

»Ja, mit dir«, und er lächelte, aber sein Lächeln wurde nicht erwidert.

Wie schaffen das Frauen? Ein Witz ist lustig oder nicht. Er war sich sicher, er könnte auch über die Witze eines Feindes lachen, wenn sie gut wären. Frauen lachen nicht über einen, sobald man ihnen egal ist. Als könnten sie einen Schalter umlegen.

Zipp machte einen Schritt zu ihrem Stuhl, »Tut mir leid ...«

»Das ist das, was ich meine«, sagte sie und zog die Beine ein.

»Lass uns heute Abend reden«, schlug er vor und beugte sich runter, und sie beugte sich vor, aber anstatt eines Kusses auf den Mund gab sie ihm einen auf die Wange, und es war ihm, als wäre der Estrich zähflüssig und unendlich tief, und er würde stehend darin versinken.

Alles fühlte sich klebrig an. Der eben noch frisch nach Meer duftende Schweiß auf seinen Armen, die Gedanken an Angelinas Worte, die kein bisschen Traurigkeit durchschimmern ließen, und vor allem das imaginäre Betongemisch an seinen nackten Füßen.

Der Anblick des Fahrrades hob seine Stimmung nicht. Zipp fand die Überreste noch am Baum gelehnt. Kein Vehikel der Welt strahlte mehr Immobilität aus als dieses. Der Unwille zur Bewegung strömte aus jeder einzelnen Schraube. Alles schrie danach, gleich hier überwuchert zu werden. Zipp fluchte.

Warum hatte er sich nicht gegen Nobby durchgesetzt und den Fiat genommen? Jetzt war er spät dran, und ohne Fahrrad war es unmöglich, wieder schnell genug über den Berg zu kommen.

Einen Moment lang blieb er ratlos vor der Skulptur aus Kiefer und Rost stehen, kratzte sich das Kinn, als er oben an der Straße ein ungesundes Knattern vernahm. Zipp erkannte die Isetta des alten Ignazio und rannte los.

Es war schwer zu sagen, wer mehr Kilometer auf dem Buckel hatte, der Dorfälteste oder sein Gefährt, aber die Richtung, in der sich das prähistorische Gespann bewegte, stimmte: bergauf. Zipp spurtete der graublauen Abgaswolke hinterher.

»Hey, Ignazio! Stopp!«

Der Angerufene reagierte nicht. Der Lärm des Motors überlagerte jegliches Geräusch von außen, und der stotternde Zylinder versetzte das altersschwache Ensemble in zuckende Vibrationen, bei der ein Blick in den Rückspiegel lediglich Flimmern und Flirren erkennen ließ. Nur ein alter Mann wie Ignazio, dessen Sinne der Zeit ihren Tribut gezollt hatten, konnte halb blind und taub das Stakkato des Einzylinders milde lächelnd aushalten.

»Hey! Halt doch mal an!«

Zipp spürte bereits die ersten Seitenstiche, holte aber trotzdem auf, weil die Isetta gerade Anstalten machte, vor den letzten Metern der Steigung zu kapitulieren. Noch vier Meter. Zwei. Zipp schlug mit der Faust aufs Dach.

»Kannst du mich mitnehmen?«, hechelte er. Sein Italienisch war passabel. Als Machiavelli-Experte hatte er den Philosophen im Original gelesen.

Ignazio zuckte mit den Schultern, spitzte drei Finger der linken Hand zusammen und machte Zipp klar, dass ein Anhalten überhaupt nicht in Frage käme.

»Kann nicht anhalten, musst aufspringen!«, verstand Zipp, und noch ehe er abwägen konnte, ob das eine gute Idee war, landeten seine Füße auf der Heckstoßstange der Isetta, und die nahm hinter dem Berggipfel erstaunlich Fahrt auf. Mangels Haltegriffen schmiegte sich Zipp an das rollende Ei wie ein Klammeraffe, seine Wange am vibrierenden Glas der gesprungenen Heckscheibe. Aber dann, ganz plötzlich, selbst aus dieser würdelosen Position heraus, spürte er, wie sich ein Lächeln in sein Gesicht mogelte, als ihm hinter der nächsten Kurve wieder das Meer zublinzelte.

Caro saß im Schatten der Veranda und breitete frischen Pastateig zum Trocknen aus. Wie immer trug Nobbys Frau eines ihrer selbstgebatikten Kleider, eine Mode, die sie bereits in den Siebzigern für sich entdeckt hatte. Sie schaute auf, als sie das Klatschen der Flipflops in der Einfahrt hörte.

»Wo ist das Fahrrad?«, fragte sie.

Zipp zog sich das durchschwitzte T-Shirt über den Kopf. »Wenn du das Folterinstrument meinst, mit dem ihr mich bergab umbringen wolltet, dann kannst du es dir unten am Strand abholen. Bin froh, dass ich noch am Leben bin. Sattel, Speichen, Rad, Kette, alles hin.«

»Es war alt. Was hast du denn da für eine rote Wange?«

Er überging diese Frage großzügig. »Wo sind die Schlüssel für den Fiat?«

»Willst du so los?«

»Nein, aber mein T-Shirt steht vor Schweiß.«

»Kauf dir doch mal ein zweites.«

»Ich nehm eins von denen hier«, entschied Zipp und ging schnurstracks hinüber zur Wäscheleine, auf der Nobbys gewaschene Sammlung von Hertha-BSC-Trikots aller Dekaden hing. Ohne zu zögern griff er nach der Nummer 10.

»Finger weg von Marcelinho!«, mischte Nobby sich ein, der gerade aus dem Schuppen hinter dem Haus geschlurft kam, in seinem Mundwinkel eine seiner selbstgedrehten Zigaretten, die stets aussahen, als hätte er gerade erst das Rauchen angefangen.

Zipp stutzte. »Was?«

»Zu dir passt eher …«, und er ging die Reihe ab, als müsste er bei einer Gegenüberstellung den Täter identifizieren, »… der hier: Erwin Kostedde. Nimm die Nummer 9.«

»Hör mal Nobby, ich bin spät dran«, protestierte Zipp.

»Zu spät dran«, nörgelte Nobby. »Und jetzt nicht mehr nur bei der Arbeit. Wenn du bloß mal beim Buddeln so ins Schwitzen geraten würdest.«

»Wer seine Bequemlichkeit für die anderer aufgibt, verliert die seinige, ohne dass man ihm dafür dankt«, seufzte Zipp im Geiste Machiavellis.

»Meine Fresse!«, stöhnte Nobby.

»Genau das meine ich«, raunzte Zipp.

»Ich weiß nicht, wer bescheuerter ist, du oder dein Philosoph!«

Er warf Zipp den Autoschlüssel zu.

»Fahr ja vorsichtig!«

Zipp trabte zu dem beige-rostigen Fiat 500, gefühltes Baujahr 1899. Er stand neben einem Frankenstein-Trecker, der aus mindestens drei alten Traktoren zusammengebaut war. »Wenn ich zu spät komme, liegt es nicht an mir, sondern an deinem Museums-fuhrpark.«

Bevor er die Fahrertür schließen konnte, rief Caro: »Hast du nichts vergessen? Ich will nicht, dass meine Enkelin als erstes einen halbnackten Wilden antrifft.«

»Ach Himmel, ja«, er schälte sich noch einmal aus dem Fiat und fing das Trikot mit der Nummer 9, das Nobby ihm zuwarf.

Als er den Flughafen in Olbia erreichte, hatte er die Gedanken an Angelina auf einer der Raststätten seines Gewissens geparkt. Während der anderthalb Stunden Fahrt an der Ostküste nach Norden trug der warme Fahrtwind den Duft von Macchia ins Auto und mit ihm Erinnerungen an kalte Winter und die mit Maggi gewürzten Eintöpfe seiner Mutter.

Er brachte den Fiat vor der Ankunftshalle zum Stehen.

Vier Taxifahrer umringten eine junge Frau, die von einer orangefarbenen Baseballkappe beschirmt mit einem Arm auf ihrem schrankhohen Lederkoffer lehnte und genervt den Kopf schüttelte.

»Tabea?«, rief er durch das geöffnete Beifahrerfenster.

Die junge Frau schob ihr Handy zu, hob den Kopf und ließ unter dem Schirm ihrer Baseballkappe eine extragroße Sonnenbrille zum Vorschein kommen.

»Boah, endlich!«, sagte sie.

Zipp schwang sich aus seinem Sitz, ging um den Wagen herum und mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Die Taxifahrer gaben ihm mürrisch den Weg frei und wendeten sich ab.

Tabea ließ Zipps Hand in der Luft schweben und nahm die Sonnenbrille ab.

»Wer sind Sie denn?«

»Zipp. Du kannst mich duzen.«

»Zipp, du bist scheiße spät.«

Er deutete auf ihren Koffer. »Ich hab noch versucht, einen Tieflader für dein Ungetüm zu organisieren.«

»Glückwunsch. Den Tieflader kenne ich noch von damals«, sagte sie mit einer für ihr Alter sanften und zugleich vollen Stimme. Ihre Augen glänzten, selbst im Schatten des Flughafenterminals blitzten sie blau.

»Bist du ein Nachbar von Opa?«

»So ungefähr. Ich lebe auf seinem Hof.«

»Einfach so? Oder ist es ein Sanatorium für alternde Hertha-Fans?«

Er zupfte am Trikot. »Ist nur ausgeliehen. Ich kann dort umsonst wohnen und gehe deinen Großeltern dafür ein bisschen zur Hand. Sie sind ja schon alt. Was wären die beiden ohne mich?«

Zipp griff nach dem Lederkoffer und wollte ihn mit lässigem Schwung Richtung Auto bewegen, wurde aber von einer unsichtbaren Macht jäh zurückgerissen. Der Koffer blieb wie festgeklebt auf dem Betonboden haften.

»Ah, verdammt, wie lange bleibst du denn? Hast du da deinen ganzen Hausrat drin? Ging der noch mit Übergepäckgebühren durch, oder hast du für den ’n eigenes Ticket gelöst?« Zipp stöhnte: »Kofferraum brauchen wir gar nicht erst zu versuchen.«

»Wir?«

Sich einen Spruch verkneifend wuchtete er den Koffer zum Dachgepäckträger. Obwohl sein Körper durch die tägliche Gartenarbeit gestählt und so durchtrainiert wie nie war, entdeckte er Muskeln, Sehnen und Gelenke, die ihm noch gar nicht bewusst gewesen waren. Die Adern an seinem Hals traten hervor, und er wusste, trotz seiner gesunden Bräune glühte sein Kopf schillernd rot. Abseits standen die Taxifahrer mit ihren Händen in den Taschen und belachten ihre Kommentare.

Tabea las hochkonzentriert mathematische Formeln auf ihren lackierten Fingernägeln, zumindest sah es so aus. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Nach allerlei vergeblichen Verrenkungen drückte Zipp den Koffer aus den Beinen am Wagen hoch, bis er auf dem Dach lag. Zipp bekam Nasenbluten vor Anstrengung.

»So, lose? Oder was?«, fragte sie.

Er stopfte sich ein Stück Tempotaschentuch ins rechte Nasenloch. »Nee, du hältst ihn fest, wenn du gleich hinten auf der Stoßstange mitfährst.«

»Wer ist denn so bekloppt?«

»War ein Witz.«

Zipp öffnete den Kofferraum und zog ein Seil heraus. »Beruhig dich. Ich regele das.«

Die Hälfte der Strecke hatten sie hinter sich, als unmittelbar hinter einer Rechtskurve ein Motorradpolizist stand. Er stand dort einfach auf der schönen Küstenstraße, beide Stiefel links und rechts neben seiner Maschine auf dem Asphalt, »Polizia« quer über den Rücken seiner schwarzen Lederjacke geschrieben und mit einem weißen Helm auf dem Kopf.

Zipp latschte auf die Bremse, und es war ein Wunder, dass das Pedal nicht durchbrach. Tabea schrie auf. Zunächst spürte er keine Bremswirkung, obwohl die Bremsen im Vergleich zum restlichen Wagen in einem relativ guten Zustand waren. Erst als das Seil auf dem Dach mit einem Knall riss und der Lederkoffer vom Fiat startete, als handele es sich um einen Katapultstart auf einem Flugzeugträger, wurden sie spürbar langsamer.

Natürlich versuchte sich der Polizist nach dem quietschenden Geräusch umzuschauen, da traf ihn auch schon der Koffer mit der Wucht eines frühmittelalterlichen Rammbocks im Rücken.

Wie eine Stoffpuppe schmiegte sich die Wirbelsäule des Beamten um das Geschoss, bevor er samt Koffer im Gebüsch neben der Straße verschwand.

Im gleichen Moment kam der Fiat einen Fußbreit hinter dem Motorrad zum Stehen.

Der Helm des Polizisten titschte auf dem Sattel der Moto Guzzi auf, die bis zu diesem Zeitpunkt die Schwerkraft vergessen hatte und erst jetzt umfiel.

»Nein!«, kreischte Tabea.

Zipp stand immer noch auf der Bremse und starrte nach vorne. Die ausgefransten Enden des Seils hingen von der Windschutzscheibe herunter bis auf die Motorhaube.

Stille.

Der von ihrem Bremsmanöver aufgewirbelte Staub überholte sie und zog ebenfalls ins Gebüsch, dessen Äste aufgehört hatten zu wippen.

Zipp sprang aus dem Fiat.

Als erstes sah er den Koffer im Gebüsch, nicht einmal die Schlösser waren aufgesprungen.

Grillen zirpten.

»Ist ihm was passiert?«, fragte Tabea, die versuchte, über seine Schulter zu schauen.

»Sieht okay aus.«

»Gott sei Dank.«

»Ist sogar zugeblieben.«

»Ich rede nicht vom Koffer! Ich meine den Polizisten!«

»Den sehe ich noch nicht, nur seine Stiefel.«

»Hallo!«, rief sie.

»Komm«, sagte Zipp, und gemeinsam hievten sie den Koffer auf die Straße, sodass sie sich zum Polizisten durchschlagen konnten.

»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte Tabea.

Zipp schluckte. »Lass uns doch erst mal sehen, ob er verletzt ist.«

»Ob er verletzt ist?«

Zipp beugte sich weit in das Buschwerk und zog an dem schlaffen Oberkörper. Der Beamte war bewusstlos, aber er atmete.

Er drehte sich um zu Tabea: »Lass uns als erstes den Koffer wieder auf das Dach heben.«

»Und so tun, als wäre nichts geschehen?«, fragte sie.

Zipp schaute nach links und rechts die Straße runter. »Noch hat uns niemand gesehen, ebenso wenig er, und wenn er gesund ist, warum Stress machen?«

»Also ich habe jetzt schon Stress, viel Stress.« Sie hielt sich den Magen, als sei ihr schlecht.

Aber als Zipp sich dem Koffer widmete, half Tabea ihm. Sie trug ihn zwar nicht, aber sie hielt das Biest im Gleichgewicht, was alleine schwierig war. Zusammen bugsierten sie das Ungetüm wieder auf das Dach des Kleinwagens.

»Diesmal knote ich«, sagte sie.

Er antwortete über die Kühlerhaube hinweg: »Weißt du, versteh mich nicht falsch, ich zweifle nicht an deinen Knoten, aber ehrlich gesagt finde ich es taktisch besser, wenn der Mann dich zuerst sieht, wenn er aufwacht, und nicht mich.«

»Und was sage ich, wenn er aufwacht? Ich spreche nämlich kein Italienisch.«

»Dann lächle ihn einfach an, er ist ein Italiener und du … und ruf mich, wenn er aufwacht. Er muss aufwachen!«

»Was bin ich?«, fragte Tabea.

»Mach langsam, gib mir eine Minute für die Knoten.«

»Besser zwei.«

Das Seil reichte für einen Doppelknoten, und der Polizist wachte auf. Rasch war Zipp bei ihm.

Die Augäpfel des benommenen Mannes rollten wie in einem Zeichentrickfilm. »Wo … was?«

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Zipp auf Italienisch.

Der Blick des Polizisten wurde klarer, sein Körper straffte sich, er setzte sich auf. Tabea beobachtete das Schauspiel, als wäre er aus einem Rollstuhl in den Spagat gesprungen.

»Was ist passiert?«, fragte der Beamte.

»Wir kamen die Straße runter, da lag Ihr Motorrad auf der Seite, und wir haben Sie im Gebüsch gefunden.«

Die Augen des Mannes wurden schmal, er war auf einmal wieder ganz der Polizist: »Haben Sie etwas gesehen? Haben Sie jemanden hier gesehen?«

Er stand auf und verzog das Gesicht, wobei er sich mit beiden Händen so weit in den Rücken griff, wie es möglich war. Dann tastete er nach seiner Waffe und blickte sich zu seinem Motorrad um: »Was ist denn passiert?«

»Wir haben nichts gesehen. Geht es Ihnen gut?«

»Ja, nur mein Rücken, als hätte mir jemand eine Bowlingkugel in den Rücken geschmissen.«

Er machte einen Katzenbuckel, richtete sich aber in Anwesenheit von Tabea direkt wieder auf und drückte die Brust durch.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Gern geschehen.«

»Touristen?«

»Ja«, antwortete Tabea und atmete tief aus.

Wie eine überladene Ameise arbeitete sich der Fiat die Strada 125 Orientale Sarda die Galluraküste entlang, durch Felder und kleine Dörfer. Langsamer jetzt, vorsichtig.

»So fährst du gut.«

»Ich bin vorher auch gut gefahren.«

»Dann wäre nichts passiert.«

»Ist ja nichts passiert.«

»Glück. Das war Glück. Ob der sich noch mal meldet?«

»Nein, der und seine Kollegen suchen wen anders. Den sehen wir nie wieder.«