Ein französisches Abenteuer - Trevor Dolby - E-Book

Ein französisches Abenteuer E-Book

Trevor Dolby

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Trevor Dolby, ein erfolgreicher Verlagsmanager und Bücherliebhaber, lebt mit seiner Familie in London und träumt von einem zweiten Zuhause im warmen Südfrankreich. In dem kleinen Dorf Causses-et-Veyran werden sie schließlich fündig: An der Place de l’Eglise steht ein altes Haus, direkt neben der Kirche. Das Dach ist undicht, die Mauern brüchig, es gibt keinen Strom, keine Sanitäranlagen, die der Rede wert wären. Aber: Für die Londoner Familie ist es Liebe auf den ersten Blick. Mit dem Kauf stürzen sie sich in das Abenteuer ihres Lebens - ein baufälliges Haus, Renovierungsarbeiten mit Hindernissen, eine Sprache, die sie vor so manche Herausforderung stellt und die Eigenheiten des französischen Landlebens, an die man sich erst gewöhnen muss. Doch am Ende wird die britische Familie Teil des Dorfes und die einstige Bauruine Teil der Familiengeschichte.

„Diese Liebesaffäre zwischen einer englischen Familie und einem sehr alten französischen Haus ist turbulent und sentimental - und auch ein bisschen tragisch." -Michael Palin

  • Charmant erzählt und mit feinem britischen Humor
  • Für alle, die von der Sehnsucht nach Südfrankreich gepackt sind
  • Für Fans von "Ein gutes Jahr"

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 291

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© Trevor Dolby 2020

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Die englische Originalausgabe ist 2020 unter dem Titel »One Place de l’Eglise« bei Michael Joseph, Penguin Random House, London, erschienen.

 

Übersetzung: Alexandra Jordan und Anja SamstagLektorat: Regina Carstensen

Gestaltung Umschlag: Birgit Kohlhaas

 

Foto Klappe hinten: Kaz Dolby; Fotos Innenteil: Trevor Dolby

Satz: typopoint GbR, Ostfildern

 

 

eBook: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln, www.ppp.eu

ISBN 978-3-616-03250-4

 

Alle Angaben ohne Gewähr. Alle Rechte vorbehalten.

 

www.dumontreise.de

Für Kaz und Freya und George

Inhalt

Vorwort

1 Dinge, über die wir möglicherweise mehr wissen möchten

Vier Unschuldige – Eine unfreiwillige Barbesitzerin – Ein Metzger – Offenes Geheimnis – Catering für 500 Menschen – Handgreiflichkeiten an der Place du Marché

2 Ein kurzer Ausflug in die Mittelmeerregion

Was ist mit den Franzosen? – Begegnung zweier Teenager – Ein grantiger alter Mann – L’Isle-sur-la-Sorgue – Ein Ort zum Suchen

3 Un Grand Projet

Der »Ryanair-Ellenbogen« und andere Kampfsportarten – Ein Franzose namens Charles aus Lewisham – Nylonkissenwut – Hauskauf – Hausverlust – Ein Versprechen

4 Place de l’Église Nr. 1

E-Mail von Freddy – Wir wollen uns keine großen Hoffnungen machen – Kostenlos, wenn man es sich leisten kann, zu teuer, wenn man es sich nicht leisten kann – Place de l’Église Nr. 1

5 Es gehört euch … irgendwie

Ed Victor – Dörfer – Dinge, die man wissen sollte – Dinge, die man tun sollte – Bar-Etikette – Brot

6 Roadtrip

Ein Van voller Möbel – Ein eingerissenes Dach – Die Vorteile einer Klimaanlage – Hunde und andere Nationalitäten – Umzugshelfer – Stierkämpfe

7 Über Beharrlichkeit

François – Ein Badezimmer – Eine Küche – Die Männer aus Marseille – Die Bedeutung von Mittagessen – Erinnerungen für die Ewigkeit

8 Ein leerer Dachboden

Vide-grenier – Pinkie Beaumont Mercedes-Farquharson – Große und kleine Firmen – CHEZ NOUS – Die Lösung des Bettwäscheproblems – Ein Kerzenleuchter

9 Ein Sturm und der Himmel

Morgen – Ein schöner Tag – Regionale Eigenheiten von Häusern – Die Ruhe vor dem Sturm – Sonnenuntergang über den Bergen – Die Perseiden – Der Mond

10 Bienvenue

La Mouche – Cébenna, la femme allongée – Olargues – Die Pététas von Murviel – Mas des Dames – Mittagessen

11 Eine Zeit der Stille

Patrick Leigh Fermor – In den Fußstapfen eines Geistes – Der Wert der Stille – Zeit zuzuhören – Freude an Nichts

12 Die Geschichte einer Badewanne

Zufallsbegegnung – Chelsea Henry – Die Zuversicht eines Unwissenden – Handwerker – Luft transportieren – 600 in Summe

13 Das Haus meines Vaters

Der Verkauf von Place de l’Église Nr. 1 – Geschichte – Ein ungewöhnlicher Keller – Das Rätsel römischer Denkmäler – Wie der Vater, so der Sohn

14 Mittagessen mit Cat und Bernard

Jules Milhau – Mit allen Tricks vertraut – Château d’Yquem – Picpoul – Le Coin Perdu – Mehr als bloß Gemäuer

15 Eine blaue Eidechse und eine Chanteuse

Tod am Orb – Zwei Straßen weiter – Ein Gastwirt – Jean-Paul Belmondo – Liebe und Küsse

16 Ein besserer Tag

Dem Sonnenuntergang entgegen – Die Miete war günstig, der Geruch widerlich – Eine Wahnsinnsfamilie – Bücher

17 Das Geheimnis der Feigenmarmelade

Feigen – Festivals – Weinlese – Schulze und Schultze – Hundebeutel und lila Gold – Kreuzverhör – Marmelade heute

18 L’Ermitage Saint-Étienne

Westgoten – Wanderetikette – Ganz oben angekommen – Schnauzer – Incarnat rouge – Ein kurzer Gottesdienst – Camp du Drap d’Or – Katzenfänger

19 Weihnachten

Die Erde hart wie Eisen – Die Kunst des Holzofens – Gottesdienst in Murviel – Monsieur le Maire et le Conseil Municipal – La soirée

20 Thymian und Lavendel

Pachamama – Kaum ein Atemzug – Palimpsest – Abschließen und nach Hause fahren – Mit Gold repariert

Epilog

Danksagung

Lieber Leser!

In dem Buche, das ich vorlege, will ich aufrichtig sein. Ich sage dir gleich, daß die Absichten, die ich darin verfolge, nur privater und persönlicher Natur sind. Ich habe gar nicht daran gedacht, ob du es brauchen kannst und ob es mir Ruhm einbringt … So also, lieber Leser, bin ich selber der Gegenstand meines Buches: es lohnt sich nicht, dass du deine Zeit auf einen so gleichgültigen und unbedeutenden Stoff verschwendest.

Michel de Montaigne, Die Essais (1580)

Was du für dich behältst, wirst du verlieren, was du fortgibst, ist dein für immer.

Axel Munthe, Das Buch von San Michele (1929)

Niemand kann traurig sein mit einem Luftballon in der Hand.

A. A. Milne, Pu der Bär

Vorwort

Die Place de l’Église Nr. 1 liegt mitten im mittelalterlichen Dorf Causses-et-Veyran (man spricht es »Kos-e-wehr-ang« aus) im Languedoc, das jetzt offiziell Okzitanien heißt. Das Dorf befindet sich am südlichen Rand der Causses, den Kalk-Hochebenen, die sich bis zum Zentralmassiv erstrecken. Veyran leitet sich von dem Namen eines römischen Zenturios ab, dessen Villa in der Nähe stand.

Etwa dreißig Kilometer südlich, an der Mittelmeerküste, war die VII. römische Legion stationiert. Nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, erhielt ein Zenturio oft ein Stück Land in der Nähe seiner Garnison, auf dem er ein Haus bauen und sich stilvoll zurückziehen konnte. Viele Dörfer im Languedoc, deren Namen mit »an« (oder manchmal »ac«) enden, sind Orte, die um die Villa eines Zenturios im Ruhestand entstanden sind.

5769 Dörfer in Frankreich haben eine »Place de l’Église«. Es handelt sich dabei somit um den zweithäufigsten Straßennamen im Land. Den ersten Platz belegt ein naher Verwandter, die »Rue de l’Église« mit 7965 Einträgen. Eines Tages werde ich alle, die an einer Place de l’Église Nr. 1 wohnen, zu einer großen fête mit T-Shirts, traiteur und Theaterstücken einladen …

1

Dinge, über die wir möglicherweise mehr wissen möchten

Vier Unschuldige – Eine unfreiwillige Barbesitzerin – Ein Metzger – Offenes Geheimnis – Catering für 500 Menschen – Handgreiflichkeiten an der Place du Marché

Es war der Abend der fête. Ich unterhielt mich auf der Place du Marché mit der alten Dido, als der Streit ausbrach. Wie in einem Westernfilm.

Dido war froh, jemand Neuem das Ohr abkauen zu können. Sie hatte die Dorfkneipe nie übernehmen wollen. Der maire – also der Bürgermeister – und einige andere hatten sie so lange bekniet, bis sie sich auf diese Schnapsidee, die ihr Leben ruinierte, eingelassen hatte. »Ich bin Künstlerin«, verkündete sie lautstark. »Um sieben in der Früh werde ich von Leuten aus dem Schlaf gerissen, die Kaffee haben wollen. Und um Mitternacht schmeiße ich genau dieselben Leute raus, da sie nicht heimgehen wollen, und sperre zu. Die Dorfkneipe ist immerhin kein Freudenhaus, das Tag und Nacht geöffnet hat. Da würde jeder den Verstand verlieren. Mir geht das auf jeden Fall so, und ich denke gar nicht daran, wieder zu öffnen, bis Mon … sieur … le … maire mir das Vermögen zurückzahlt, das ich in die Renovierung gesteckt habe.« Ob ich wisse, wie viel Zeit das in Anspruch genommen habe? Ob ich wisse, wie egoistisch die Menschen seien? Ob ich jemanden wisse, der ihr den Laden zu einem vernünftigen Preis abnehmen könne, denn sie wolle sich mit Sack und Pack auf nach Paris machen, wo sich ihr wahres Schicksal als Künstlerin auf der Place du Tertre oder der Place Pigalle erfüllen werde? »Ha!«, schnaubte sie, warf die Hände in die Luft und stürmte von dannen.

Marie-Claire saß in der Nähe auf einem Stuhl. Sie war über achtzig Jahre alt, unsere Nachbarin und unsere erste Freundin im Dorf. Sie schien mir genauso Französisch zu sprechen, wie ich es tat: ohne erkennbaren Sinn oder Verstand. Jegliche Verlaut­barung von mir ist ein Zeugnis von Optimismus und gutem Willen. Größtenteils sind meine Äußerungen aber zu leise, als dass man sie verstehen könnte, und ich habe das Gefühl, als würde ich mir irgendwelche Klick- und Pfeiflaute aus den Fingern saugen, die ausgesprochen dann hoffentlich, auf wundersame Weise, von selber einen französischen Satz bilden, den jemand verstehen kann. Mein Französisch ist ein lebendes linguistisches Experiment. Sollte ich die Sprache eines Tages auch nur annähernd fließend sprechen können, so beweist das, dass die Erde flach und genau 6026 Jahre alt ist.

Marie-Claire war eine Diebin. Wir hatten gerade unseren ersten Sommerurlaub hier angetreten, da sagte ich zu Hans und Lotten Bjerke – einem schwedischen Paar, das besser Englisch spricht als ich und das uns gegenüber wohnt –, was für eine nette alte Dame Marie-Claire doch sei. Hans wippte in seinen Brogues vor und zurück und flüsterte mir zu, dass ich die Haustür abschließen solle, weil Marie-Claire gern hereinschneie und sich Sachen ausborge. Ach, das ist schon in Ordnung, sagte ich, da ich »ausborgen« wörtlich nahm. »Nein! Das ist nicht in Ordnung!«, verkündete er und erklärte, dass Marie-Claire sich Dinge aus­leihe wie Töpfe, Pfannen, literweise gutes Olivenöl, Pflanzen, Besteck, tragbares Werkzeug wie Schraubenzieher oder Hämmer, Bücher, kleine Elektrogeräte und Lebensmittel aus dem Kühlschrank. Offenbar kamen die Bewohner des Dorfes von Zeit zu Zeit bei ihr vorbei, wenn sie genug von ihren Streifzügen hatten, und holten sich ihre Sachen zurück. Marie-Claire schien das nichts auszumachen, denn sie fing ihre Sammlung einfach wieder von vorne an.

Ich nickte ihr zur Begrüßung zu und bedeutete meiner Familie mit einer Handbewegung, dass ich uns neue Drinks holen würde. Ich schob mich durch die Menge zu der dreißig Meter langen Bar, die, wenn ich den Erzählungen glauben darf, denen in muffigen Rugby-Klubs im australischen Outback nicht ganz unähnlich ist, und kaufte zweimal Weißwein (Muscat) in Plastik­bechern und zwei Colas. Mit vier Getränken in zwei Händen machte ich mich unsicheren Schrittes auf den Rückweg durch die Nachzügler, die ihre Plätze noch nicht gefunden hatten, und wurde zum vierten Mal von einem der Mädchen aus dem Dorf gefragt, ob ich etwas zu essen wollte. Ich verneinte, woraufhin sie achselzuckend die anderen Gäste zu ihren Stühlen scheuchte – oder es zumindest versuchte. Ich reichte meiner Frau einen der Muscat-Becher und drückte meinen Kindern die Colas in die Hand.

»Na also«, rief ich fröhlich. »Ich hab doch gesagt, dass das schön wird.«

»Es ist heiß«, bemerkte Kaz.

»Es ist schön. Ob ich heiß sagen würde, weiß ich nicht.«

»Sei nicht dumm. Ich meine die Temperatur. Ich gehe hier gleich ein.«

Es war den ganzen Tag über 37 Grad heiß gewesen, und auch jetzt waren es noch gute 32. Alle auf dem Platz hatten rote, verschwitzte Gesichter. Ich nahm gerade einen Schluck des süßen, warmen, lokal gebrauten Alkohols, als ich hinter mir jemanden rufen hörte.

»B-b-bon j-jour M-m-m-madame Dolby!«Ich drehte mich um und sah den stotternden Metzger – haarig, untersetzt und von der Statur eines Miniaturkampfschiffs – mit ausgestreckten Armen auf uns zukommen. Auf seinen Wangen und seinem Kinn zeichneten sich dunkelblaue Schatten ab, wo sein vor zehn Minuten mit einem Laguiole-Messer rasierter Bart schon wieder nachgewachsen war. Er strotzte geradezu vor Testosteron. Ich hätte darauf gewettet, er könnte ein Wildschwein aus zwanzig Schritt Entfernung mit nur einem Blick besamen. Ich mag Monsieur Le Metzger (oder mochte, wohl eher, denn damals wusste ich noch nicht, dass er auch eine dunkle Seite hatte). Ich kann ihn nämlich verstehen. Bis er einen Satz rausgebracht hat, habe ich Zeit genug gehabt, jedes einzelne seiner Wörter nachzuschlagen, mir eine Antwort zurechtzulegen und mein Abendessen für die nächsten drei Wochen zu planen.

Monsieur Le Metzger übt, wie jeder im Dorf, mindestens drei Berufe aus. Einerseits führt er die Metzgerei. Sein Fleisch, das er nie in der Auslage präsentiert, sondern immer in seinem riesigen, begehbaren Kühlschrank lagert, kann es problemlos mit jedem Soho-Metzger mit fünfunddreißig Sternen aufnehmen. Er hat jedes Teilstück im Verkauf, vom Hirn bis zum Huf, in allen Arten und Formen. Ich schwöre, er manikürt die Hufe noch, bevor er sie einwickelt. Zu Weihnachten ist sein Angebot wirklich beeindruckend. Es gibt lokale Austern, Langusten, Seebarsch, diverse Weißfische, verschiedene Käsesorten, alle erdenklichen Geflügelvariationen, angefangen bei der Bekassine über Wachtel, Ente und Taube bis hin zur Waldschnepfe. Für die kulinarisch Ungebildeten hat er auch Hühnchen und Truthahn im Angebot. Im Nachbardorf oben in den Bergen führt Monsieur Le Metzger außerdem ein Restaurant, dessen Spezialität geschmorte Rinder­füße sind. Und obendrein übernimmt er auch das Catering für öffentliche Festivitäten wie diese.

Monsieur Le Butcher schüttelte mir enthusiastisch die Hand, küsste Kaz auf die Wange – links, rechts, links – winkte meinen Kindern George und Freya zu und kommentierte mit einer Geste und einem Pfiff durch die Zähne ihre beachtliche Größe (keines der beiden war größer als einen Meter sechzig). Er fuhr fort, mir in einer Zeichensprache, die gewiss nicht so schnell der neue Standard für offizielle Fernsehdolmetscher werden würde, zu dem Geniestreich zu gratulieren, zwei so große und gesunde Kinder hervorgebracht zu haben. Erneut ergriff er energisch meine Hand. Es werde ein herrlicher Abend werden, sagte er dann lächelnd und rieb sich, nachdem er mich losgelassen hatte, die Hände. Zu diesem Zeitpunkt wurden ganze Wagenladungen an Lebensmitteln geliefert, und Monsieur Le Metzger gab mir zu verstehen, dass er das Essen organisiert hätte und ihn jetzt die Pflicht riefe. Mit diesen Worten machte er sich fröhlich auf den Weg durch die Menschenmenge.

***

In Causses ist das Sommerfest das Highlight unter den gesellschaftlichen Ereignissen. Alle 556 Einwohner des Dorfes zahlen je zehn Euro, um an langen, aufgebockten Tischen zu sitzen, ein Drei-Gänge-Menü zu verzehren, Wein zu trinken und sich auf einer eigens aufgebauten Bühne ein Kabarettstück anzusehen. Die Feier wird speziell für das Dorf veranstaltet, und zwar nur für das Dorf. Es dient dem Zusammenhalt zwischen seinen Bewohnern. Andere Dörfer im Languedoc haben ihre Sommerfeste, und so hat auch Causses sein eigenes. Und deshalb kam alles so, wie es kam.

Ich nippte an meinem Getränk und sah mich um. Der honigfarbene Stein der mittelalterlichen Häuser war gut gepflegt. Von den Montagnes Noires, die die südlichen Ausläufer des franzö­sischen Zentralmassivs bilden, wehte in der warmen Abendluft schwacher Thymianduft herüber. Ein oder zwei Fledermäuse hatten sich bereits aus den Verstecken getraut, die sie tagsüber bewohnten, und jagten halsbrecherisch um die Dächer. Baumsegler riefen sich etwas zu, schossen in Formation zu Boden und dann wieder hoch in den Himmel, umflogen die hohen Steingebäude. Die untergehende Sonne ließ die roten Dächer rund um die Place du Marché aufleuchten, und das angenehme Geschnatter der Menge erfüllte die Luft.

Plötzlich nahm ich aus dem Augenwinkel eine scharfe Bewegung wahr und kurz darauf hörte ich einen Ausruf. Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie sich ein kleiner, untersetzter Kerl über den Tisch warf, um einem weiteren stämmigen Einwohner an die Gurgel zu gehen. Der sprang zurück und sah zu, wie der Mann mit dem dicken Bauch auf dem Tisch landete, der für Teller, Pasteten und Weinflaschen, ganz sicher aber nicht für einen knapp fünfundneunzig Kilo schweren Franzosen gemacht war. Der Tisch tat, was jeder Tisch tun würde, der so behandelt wird: Er brach mit einem ohrenbetäubenden Krachen in sich zusammen, streckte die Metallbeine in die Luft und klappte zu. Das Ganze erinnerte an die alten Schwarz-Weiß-Filme, in denen Flugzeuge mit faltbaren Tragflächen auf dem Rollfeld gezeigt werden. Überraschend behände nutzte der Angegriffene die Gelegenheit und warf sich mit Gusto auf seinen Widersacher und eine bauchige Weinflasche. Vergessen Sie nicht, dass die Feier von Männern, Frauen, Babys in Kinderwagen und Kindern aller Altersgruppen besucht war. Es geschah, was bei jeder Schlägerei, die etwas auf sich hält, passiert: Die alten Damen, Kinder und Frauen schrien und stoben in alle Himmelsrichtungen davon, und die Männer sprangen auf, um mitzumischen. Im nächsten Moment hatte sich ein Pulk gebildet, der blindlings auf alles einprügelte, was sich bewegte. Wenige Augenblicke später zogen sich Verwundete mit blutenden Platzwunden am Kopf aus dem Gemenge zurück. Zu meiner Linken schrie eine alte Frau in einem weit abstehenden Bombasin-Kleid. Zu meiner Rechten schluchzte eine dynamischere Dame, der vor Angst die Tränen in den Augen standen. Doch dann fiel ihr auf, dass sie seit Jahren nicht mehr so viel Spaß gehabt hatte – sie ergriff ihren Gehstock und fasste den Teilnehmer ins Auge, der ihr am nächsten stand, um ihm gehörig eins überzuziehen. Als er sich jedoch aus dem Haufen löste, überlegte sie es sich anders, verfiel in hysterisches Kreischen und zog sich an die Seitenlinie zurück, wo sie sich Luft zufächeln ließ, um sich zu erholen. Jungs auf der Suche nach Ruhm stürzten sich ins Getümmel, Männer in ihren Zwanzigern, die ein Mädchen beeindrucken wollten, stürzten sich ins Getümmel, Männer in den Dreißigern, die unterhalten werden wollten, stürzten sich ins Getümmel, Männer in den Vierzigern, die es den anderen übel nahmen, dass sie jünger und fitter waren, stürzten sich ins Getümmel. Nur Männer in den Fünfzigern, Sechzigern und Siebzigern stürzten sich nicht ins Getümmel, sondern standen um die Menge herum und schnappten sich mit einer wohlplatzierten Faust diejenigen, die sich herausgekämpft hatten. Alles war erlaubt.

Gerade, als die anfängliche Euphorie verflogen war und eher ein Showkampf daraus geworden war, betrat Monsieur Le Maire die Bühne. Ach, Monsieur Le Maire. Wie er durch die sich teilende Menge schritt, wirkte er wie ein beleibter Gary Cooper. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung schnappte er sich den ersten Kämpfer, der ihm in die Hände fiel, und donnerte ihm die geballte Faust auf den Schädel. Der Streitlustige drehte sich zu seinem neuen Gegner um, um es ihm heimzuzahlen, änderte seine Meinung jedoch, als er sah, wen er vor sich hatte, und trat vorsichtig beiseite. Der sechste Sinn der Kampfhähne schlug kollektiv an, und mit einem Mal kam alles zum Stillstand. Inmitten der Menge behauptete sich – geschunden und schwer atmend, aber immer noch aufrecht – der Mann, der die Prügelei angefangen hatte. Blut rann ihm das Gesicht herunter, und sein Ausdruck erinnerte an eine in die Enge getriebene Straßenkatze. Er hatte keine Angst vor Monsieur Le Maire. Er nicht. Er blieb standhaft. Als der Bürgermeister erkannte, dass seine Arbeit getan war, bedeutete er zwei bulligen Dorfbewohnern hinter dem Gesetzlosen, ihn bei den Armen zu packen. Sie stürzten sich auf ihn, und bevor er wusste, wie ihm geschah, war er gefasst. Er konnte sich noch so sehr wehren, er konnte nichts mehr ausrichten. Erschöpft wie er war, schien er plötzlich der Meinung zu sein, sich erklären zu müssen, und rief, er brauche sich gar keine Sorgen zu machen, er habe bezahlt wie jeder andere auch: »Je ne m’inquiète pas. Je ne m’inquiète pas. J’ai payé comme chacun!«

In dem Moment fiel mir auf, dass Monsieur Le Metzger sich neben mir befand und mir zuflüsterte: »Er ist aus M-m-m-murviel. Wollte sich bei unserer Feier einschleichen. M-m-m-murviel. Von d-da kommt nichts Gutes. Schauen Sie ihn sich an: D-der würde sogar Ihre M-m-m-mutter stehlen. Man kann keinem von da trauen. D-d-d-das Fleisch ist schlecht und das B-b-b-rot trocken, und kein Holz, das die liefern, b-b-b-rennt richtig.« Der immer noch schreiende Übeltäter wurde an uns vorbei und zur Hauptstraße geführt. Monsieur Le Metzger schüttelte seinen kahlen Bowlingkugelkopf. »Puff!« Er tat so, als würde er den Eindringling wegschnippen, der jetzt die Hauptstraße hinunterbugsiert wurde und laut behauptete, die Männer von Causses würden zuschlagen wie Mädchen.

Überall auf dem Platz beglückwünschten sich die Männer zu ihrem Mut. Diejenigen, die verletzt worden waren, bildeten nun eine Bruderschaft, die die Geschichte der Schlägerei in die kommenden Generationen tragen und die Ärmel hochkrempeln würde, um die Narben ihrer Kriegsverletzungen zur Schau zu stellen. Ein Jahr später sprach ich mit unserem Klempner, der es aufrichtig bedauerte, dass wir den großen Kampf letztes Jahr verpasst hätten. »Wie man hört«, berichtete er ernst, »mussten viele ins Krankenhaus, und ein Mann aus dem Nachbardorf schwebte in Lebensgefahr.«

***

Später, als das Essen auf den wieder aufgerichteten Tischen stand, zogen wir uns auf unsere Dachterrasse zurück. Zwischen uns und dem Platz lag nun die Dorfkirche aus dem 10. Jahrhundert. Wir nippten an gekühltem Rosé, schwitzten und sangen mit, als eine recht talentierte Chanteuse auf der Festbühne »Mack le couteau« anstimmte, »Die Moritat von Mackie Messer«. Ich tippte gegen das Thermometer an der Wand. 30 Grad. Ich legte mich auf die warmen Fliesen und briet langsam vor mich hin. Rechts von uns spielten Fledermäuse im mittelalterlichen Kirchturm, schossen in den Turm hinein, um die Glocke herum und wieder hinaus. Eine Eule segelte geräuschlos durch das Licht der Scheinwerfer und verschwand in der Dunkelheit.

Nachdem Freya und Kaz ins Bett gegangen waren, blieben George und ich noch draußen sitzen, unterhielten uns und verloren uns in der Unendlichkeit der leuchtenden Sterne. Wir sprachen über Dinge, von denen wir wenig verstanden, über die wir aber gerne mehr wissen wollten. Wir sprachen von Sternen und dem Weltall und vom Raum-Zeit-Kontinuum, von Leuten und Orten, Bier und Mädchen.

2

Ein kurzer Ausflug in die Mittelmeerregion

Was ist mit den Franzosen? – Begegnung zweier Teenager – Ein grantiger alter Mann – L’Isle-sur-la-Sorgue – Ein Ort zum Suchen

Als Jugendlicher hatte ich eine irrationale Abneigung gegen Franzosen. Ich hatte diese Abneigung im Alter von vierzehn Jahren von einem Schüleraustausch in der Normandie mitgebracht.

Vor fünfzig Jahren war es eine ziemliche Expedition, den Kontinent zu besuchen. Die Reise begann mit einer Wanderung von den Midlands nach Plymouth, wo wir die Fähre nach Roscoff nahmen. Von dort ging es mit dem Bus weiter nach Coutances, einer kleinen Kirchengemeinde, die im Krieg ziemlich gelitten hatte. Nach der Ankunft stellten wir uns auf dem Schulparkplatz auf und wurden wie Geflüchtete von den Familien ausgewählt, bei denen wir wohnen würden. Ich war einer der Letzten und wurde schlussendlich von einer Mutter in ihren Dreißigern adoptiert, in ein Auto gepfercht und – es muss ein Versehen gewesen sein – landete dann in einem Haus mit fünf Mädchen, von denen die Jüngste etwa in meinem Alter und die älteste etwa zwanzig war. Diese Mädchen wollten nichts lieber, als sich um mich zu kümmern. Und sie benutzten sofort »tu«, dabei hatte meine Franzö­sisch­lehrerin gesagt, dass sie das nicht tun würden – oder zumindest hatte sie gesagt, dass nur Familienmitglieder sich duzen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fragte man mich »as-tu soif?«, »as-tu faim?«, »es-tu fatigué?«. Es war wie in meinen wildesten Träumen. Am nächsten Tag, als ich in die Schule ging, wurde ich von der Achtzehnjährigen dort abgesetzt. Ich hätte genauso gut mit Debbie Harry vorfahren können.

Die Mädchen waren toll, aber ihr Vater war unsagbar ätzend. Vor ihm hatte ich Todesangst. Er wollte einfach immer Französisch mit mir reden, dabei wollte ich einfach immer nur seine älteren Töchter anstarren. Diese beiden Aktivitäten waren definitiv inkompatibel, und ich machte meine ersten Erfahrungen mit einem missgelaunten Franzosen – Erfahrungen, die mein Bild der gesamten Bevölkerung für eine ganze Zeit lang prägen sollten.

Ich hatte meinen Eltern das hässlichste Gewürz-Dekanter-Set gekauft, das ich im Billigladen finden konnte – die Gläser sahen wie Kürbisse aus –, und für mich selber das neue, unglaublich teure Led-Zeppelin-Album »Houses Of The Holy« mit dem französischen Cover. Die Mädchen verstanden meine Prioritäten voll und ganz. Ihr Vater jedoch hatte einen kompletten Humor-Ausfall. Offenbar war er kein Led-Zeppelin-Fan.

***

Wir hatten schon eine Weile im Internet und sonst wo nach Häusern gesucht. Ich nutzte dieses neue Ding namens Google Earth, um mir Orte an der französischen Mittelmeerküste anzusehen, die wir besucht hatten, und um in Erinnerungen zu schwelgen. Das Tolle an Google Earth ist, dass man zu Superman wird, von einem Ort zum nächsten fliegen und wie ein Satellit in der Luft schweben kann. Ein ziemlich verrücktes Programm.

300 Kilometer: Zu meiner Rechten liegen Monaco und Mailand, und nur einen Katzensprung entfernt San Marco und Rom. Zu meiner Linken befinden sich Andorra und Barcelona, und in der Mitte der knubbligen alten Landkeule breitet sich Spanien mit Madrid aus. Im Meer zu meiner Rechten erspähe ich Sardinien und Korsika.

Über Sardinien weiß ich nichts.

Über Korsika auch nicht, wo wir schon dabei sind.

Rechts von mir erkenne ich Ibiza, Mallorca und Menorca. Eine dieser Inseln habe ich schon besucht. Leider handelt es sich dabei nicht um Ibiza. Dort treiben sich, wenn ich es richtig verstanden habe, junge Menschen in bis zu dreitausend Mann starken Gruppen herum und besuchen Orte, die nach türkischen Militärs benannt wurden.

Einmal habe ich Ferien auf Mallorca gemacht. Damals hieß es noch Majorca, und in England gab es einen ziemlich seltsamen Werbespot dazu, dass das Wasser dort rauer sei als anderswo. Vielleicht ist Mallorca die schicke Version von Majorca. Ich weiß noch, dass wir im unverdorbenen Teil der Insel waren. »Unverdorben« bedeutet, dass dort jede Menge verbitterte Einheimische lebten, die dich verachten, weil sie es nicht geschafft hatten, auf der verdorbenen Hälfte der Insel Fuß zu fassen, wo ihre Cousins das große Geld gemacht hatten. Sie wollten unbedingt auch diesen Teil der Insel verderben, um zu Geld zu kommen. Als Besucher musste man aus diesem Grund in einer Villa ohne Strom- und Abwasserversorgung unterkommen. Ich verbrachte eigentlich eine ganz wunderbare Zeit dort – wenn man davon absah, dass einer der Einheimischen mir die gesamte Kamera-Ausrüstung aus meinem Mietwagen klaute, als ich mal zehn Minuten an einem verlassenen Strand verweilte.

Ich war auch in Barcelona und kam sogar im Hotel Condes de Barcelona unter. Wenn Sie es kennen, werden Sie sich an den Balkon an der Fassade erinnern, an dem ein Fahnenmast so prominent hervorstach, dass er vor ein Rathaus aus der Franco-Ära gepasst hätte. Hier verbrachte ich um 1985 einige Tage in einer Suite mit Klimaanlage. Da ich beruflich unterwegs war, zahlte mein Arbeitgeber den Aufenthalt, und ich führte meine frischgebackene Ehefrau aus. Als der jobmäßige Aufenthalt zu Ende war, mussten wir umziehen. Unser neues Hotel lag am anderen Ende der Straße, hatte minus einen Stern und stank nach Katzenpisse, und die Aufzüge betrat man durch scheppernde Falttüren. Nachts hallten die Schreie der anderen Insassen durch die Gänge. An diesem Ort lernte ich, den Wert von Geld zu schätzen.

60 Kilometer: Nördlich von Marseille, ein Stück die A7 hoch, befindet sich die Provence. Ich kenne die Provence recht gut: Gordes, Goult, Ménerbes, Roussillon, Apt, Aix und Cavaillon. Letzteres ist eine stinknormale Marktstadt an der Autobahn, ein guter Supermarkt, bricolage, gare und eine sehr bequem gelegene périphérique sorgen dafür, dass man schneller wieder rauskommt.

Im Nordwesten von Cavaillon liegt L’Isle-sur-la-Sorgue. Diese malerische Gemeinde hat ihre Seele an den Teufel verkauft. Sie mag wie ein mittelalterliches Dorf am Ufer eines wunderschönen Flusses aussehen, der so klar wie ein Bergbach ist und in dem sich Fische zwischen den sattgrünen Algen tummeln. Doch die Idylle trügt. Bei dem Fluss handelt es sich in Wahrheit um den Styx, und jeder, der auch nur im Entferntesten wie ein Einheimischer aussieht, ist dazu auserkoren, Seelen ans andere Ufer zu bringen, wo ein Trödelmarkt sich bis zum Horizont erstreckt. Im Hochsommer findet jeden Sonntag ein Bootsrennen gegen den Strom statt, das einen angenehmerweise von dem betörenden Duft vongebratenen Poulets ablenkt.

Ich stelle mir vor, wie einige Hippies vor vierzig Jahren mit ihren Schlafsäcken aus Paris in diesem verschlafenen ländlichen Marktflecken ankamen. Sie hatten ein paar Perlen und Schmuckstücke dabei, die sie verkaufen wollten. Wie nett, dachten die Bewohner und zogen mit ihren Holzbündeln auf dem Rücken und ihren günstig vom Staat erhaltenen Geldern, die ihnen in Scheinen zerknüllt aus den Taschen fielen – damals noch in Franc-Noten – los. Die Pariser erkundeten nach und nach diesen Ort und wollten ein Souvenir oder zwei von ihrem Ausflug aufs Land mitnehmen. Also fingen die Dorfbewohner an, die Häuser ihrer Großmütter nach Küchenwaagen aus den Fünfzigerjahren und die Gartenhäuschen ihrer Großväter nach Bauteilen alter Bohrmaschinen und hölzernen Handhobeln zu durchsuchen, die sie am Straßenrand zu Preisen verkauften, die sie sich am Abend zuvor mit größtem Vergnügen über ein paar Gläser Pastis ausgedacht und dann auf vergilbte Papierschilder geschrieben hatten.1 Raphaël und Chloé hielten das für schrecklich reizend und kauften alles. Nach ihrer Heimkehr erzählten sie ihren Freunden im 10. Arrondissement direkt neben dem Quai de Valmy, was für ein Schnäppchen sie gemacht hätten. Sie hatten so viel Spaß gehabt, dass sie im nächsten Jahr zurückkamen und ein Vermögen für einen rostigen alten Nagel und eine Ziegenkäse-Überraschungstüte ausgaben. Und so erinnert L’Isle-sur-la-Sorgue heute jeden Sonntag an ein Designer-Outlet.

Wir haben unsere Urlaube viele Jahre lang in Murs, einem nahe gelegenen Dorf, bei einer wunderbaren Dame namens Anne White verbracht. Sie war Engländerin, stammte aus Sussex, lebte seit fünfzig Jahren in der Provence und war beinahe akklimatisiert und akzeptiert. Beinahe. Es wird sicher nochmal 20 Jahre dauern, bis die lokale Polizei, die flics, ihr ihre Raserei durchgehen lassen. Einer ihrer Stiefsöhne hatte sogar eine Frau aus der Gegend geheiratet und mit ihr zwei Kinder, die irgendwie als »von hier« galten. Aber das machte es nur noch schlimmer. Denn dieser Sohn hatte sich eines der Mädchen aus der Umgebung geangelt, obwohl es davon ohnehin nicht genug gab.

Geht man Richtung Westen, kommt man an Orange vorbei und gelangt zum Pont du Gard. Bei unserem jährlichen Urlaub in Murs sind wir regelmäßig zu dieser Bogenbrücke gefahren, um unter ihr im Gard zu schwimmen und dieses Monument zu bewundern: ein perfekt erhaltenes Aquädukt aus der Römerzeit in schwindelerregender Höhe. Das Bauwerk ist atemberaubend. Sollte es die alten Römer je wieder hierher verschlagen, wären sie sicher entzückt, dass es noch wie neu aussieht. Aber so ganz stimmt das nicht. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das Aquädukt eine ziemliche Ruine. Dann hat Napoleon III. beschlossen, dass der Staat es wieder restaurieren sollte. Und genau das hat er auch gemacht und dabei Steine von überallher verwendet. Was man heute also zu sehen bekommt, ist zu großen Teilen gar nicht der römische Pont du Gard. Schon komisch. Im Westen gilt etwas als Replik, wenn es kaputt geht und dann mit etwas Gleichem ersetzt wird. Im Osten sieht man das anders. Der Kiyomizu-dera, der Tempel des klaren Wassers im Osten Kyotos, ist oft um- und wieder aufgebaut worden, seit vor rund 1200 Jahren das Fundament gelegt wurde. Es steht gar nicht zur Debatte, ob es sich dabei immer noch um den Original-Tempel handelt. Natürlich tut es das. Er verkörpert seine eigene Geschichte. Seine Bedeutung und Identität basieren nicht auf seinem heutigen Aussehen. Im Westen haben wir es nicht so mit diesem Konzept. Wenn mein Großvater eine Axt hat, mein Vater den Griff austauscht und ich die Klinge, ist es dann noch die Axt meines Opas?

15 Kilometer: Bei ungefähr fünfzehn Kilometern wird alles etwas spezifisch. Man kann die Küste und die Weinberge ausmachen, die Berge und Dörfer und Städte wie Montpellier. Ich zoomte auf das Orb-Tal. Béziers mit seinem bekannten Rugby-Klub, einer recht schicken mittelalterlichen Kathedrale und Stierkämpfen im Sommer.

»Kaz, was weißt du über das Languedoc?«

»Du hast mir nicht zugehört, oder?«

»Wem gehört was an der Oder?«

»Languedoc. Languedoc. Da habe ich mich die letzten sechs Wochen umgeschaut. Da werden wir uns nächsten Monat rumtreiben, wir haben dort fünf verschiedene Besichtigungstermine vereinbart, von denen ich dir gestern lang und breit erzählt habe.«

»Mann, ist das gruselig«, sagte ich.

11 Ich habe keine Ahnung, wo sie diese Preisschilder mit den weißen Baumwollfäden und der länglichen Karte herhatten. Jeder Stand besaß sie, und alle schienen von derselben Person geschrieben worden zu sein. Vermutlich wurde irgendwo in den Gassen von L’Isle-sur-la-Sorgue eine alte Dame gefangen gehalten, die die Preise mit dem Blut siebzehnjähriger Hippies auf das Papier kritzelte.

3

Un Grand Projet

»Ryanair-Ellenbogen« und andere Kampfsportarten – Ein Franzose namens Charles aus Lewisham – Nylonkissenwut – Hauskauf – Hausverlust – Ein Versprechen

Es war an einem Tag im März 2004 gegen zehn Uhr morgens. Das Abflugterminal des Londoner Flughafens Stansted, in dessen Mitte der wunderbare, 1991 zur Feier eines Besuchs von Queen Elizabeth II. gebaute Duty-Free-Einkaufskomplex aufragte, war gut besucht. Kaz und ich hasteten mit dem schnellen Gang umher, der Kunden von Billig-Airlines zu eigen ist, die nur wenig Zeit für alles haben. »… was sie einander zu sagen hatten, war von so weittragender Bedeutung, daß es immer erst nach langem vorbereitendem Schweigen ausgesprochen wurde und alle zwanzig Schritte nicht mehr als ein Satz zustande kam, wobei diesen Satz oft auch ein einziges Wort nur oder ein Ausruf ersetzte. Da jedoch beide Sprecher einander seit Langem kannten, einträchtig gemeinsame Ziele verfolgten und wohldurchdachte Pläne stets sorgfältig erwogen, war sich jeder von beiden auch über die genaue Bedeutung solcher Ausrufe klar.«2

Wir hatten einen Ryanair-Flug von Stansted nach Montpellier gebucht. Wenn man mittelaltes Mitglied der Mittelschicht ist und sich ein paar Kröten leihen kann, dann ist es ebenso wichtig, ein Haus in Frankreich zu besitzen, wie einen Geländewagen zu fahren, sich den Wocheneinkauf nach Hause liefern zu lassen, ein un­terbenutztes Facebook-Profil zu haben und jede Schattierung von Farrow & Ball-Wandfarben zu kennen. (Fürs Protokoll: Ich habe nichts davon und will auch nichts davon, und die Farb­palette von Farrow & Ball bleibt für mich wohl ein lebenslanges Geheimnis.)

Es hatte nur vier Monate gedauert, bis ich mich hatte breitschlagen lassen. Kaz entschied gleich zu Anfang, dass das Languedoc unsere erste Anlaufstelle sein sollte. Dort war es günstiger als in der Provence, und so konnten wir etwas Neues »ent­decken«.

Das ist mein großes Problem. Ich kann mich nicht entspannen. Wenn ich nicht irgendetwas tue, fühle ich mich, als ob ich Zeit verschwende und arbeiten sollte. Wenn ich arbeite, muss ich meine Aufgaben so schnell wie möglich erledigen, damit ich schneller fertig werde. Glauben Sie mir, ich möchte mich entspannen, es ruhig angehen lassen, die Welt an mir vorbeiziehen lassen. Ich schaue auf die Uhr, und jedes Ticken ist ein Todes­urteil. Ich versuche, tief durchzuatmen. Ich versuche mir einzu­reden, dass es egal ist, dass ich jede Menge Zeit habe, dass mich niemand für einen Dummkopf halten wird, wenn ich erst in einer Stunde auf die E-Mail antworte. Probieren Sie den Stau-Test mal bei sich selber aus. Wenn ich im Stau stecke, weiß ich ganz genau, dass es völlig sinnlos ist, sich zu ärgern, weil es nicht vorangeht. »Du kannst nichts dagegen tun, bleib ruhig«, sage ich mir. Dann schreie ich den Kerl vor mir an, der einen halben Meter Platz zwischen sich und seinem Vordermann gelassen hat.