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Bei einer heftigen Explosion während der Einweihungsfeier von Villa Brand, einem Gebäude aus dem 18. Jh., das dank der finanziellen Unterstützung eines international bekannten Fußballtrainers restauriert wurde, kommen vier Personen ums Leben, eine fünfte wird schwer verletzt. Caterina Ruggeri, Leiterin der örtlichen Mordkommission, die mit ihrem Partner auf dem Fest war und das Attentat unversehrt überstand, nimmt von Anfang an die Zügel der Ermittlungen in die Hand, die jedoch von düsteren Gestalten behindert werden, die einerseits mit der lokalen Freimaurerloge, andererseits mit dem Geheimdienst verbunden sind. Bei der Aufklärung des Verbrechens, das seine Wurzeln in grauer Vorzeit schlägt, werden der Ermittlerin viele Steine in den Weg gelegt.
Kommissarin Caterina Ruggeri ist eine scharfsinnige, temperamentvolle und mutige Frau. Sie ist Mutter eines reizenden Töchterleins, Aurora, und liebt es, die Abende in Gesellschaft ihres Partners Stefano zu verbringen. Aber unter dieser Fassade einer ganz normalen Frau verbirgt sich eine einsatzfreudige, abenteuerlustige Heldin, die stets bereit ist, es mit neuen Ermittlungen aufzunehmen. Wie die, bei denen sie während der Einweihung von Villa Brandi, einem von einem international bekannten Fußballtrainer erworbenen Anwesen aus dem 18. Jh., in einen Bombenanschlag verwickelt wird. Scheinbar wurde das Attentat meisterhaft von einem namens- und gesichtslosen Feind verübt. Das ist der Auftakt für ein neues Abenteuer, bei dem die unaufhaltsame Kommissarin in ein schier nicht endend wollendes Rätsel hineingezogen wird, das seine Wurzeln sogar in den alten Freimaurerlogen schlägt. Obskure Geheimagenten versuchen darüber hinaus, die Ermittlungen in die Irre zu führen.
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Seitenzahl: 570
Veröffentlichungsjahr: 2024
Für meine Frau Paola
Für meine Kinder Diego und Debora
Für meine Enkelinnen Maeve und Eileen
Edizioni Tektime
Stefano Vignaroli
Ein geruhsames Provinzstädtchen
Die Geheimnisse der Villa Brandi
Übersetzung von Ulriche Sengfelder
©2013 MJM Editore (I Misteri di Villa Brandi)
©2021 Tektime (zweite überarbeitete und geänderte Ausgabe)
Alle Vervielfältigungs-, Vertriebs- und Übersetzungsrechte vorbehalten.
Die Passagen über die Geschichte von Jesi sind den Texten von Giuseppe Luconi entnommen und wurden frei adaptiert.
Website http://www.stedevigna.com
Kontakt-E-Mail [email protected]
Piazza Federico II
Öl auf Leinwand des Künstlers Mario Ciccoli aus Jesi
Stefano Vignaroli
EIN GERUHSAMES
PROVINZSTÄDTCHEN
Die Geheimnisse der Villa Brandi
Kommissarin Caterina Ruggeris zweiter Fall
ROMAN
LEGENDE
1 – Piazza Federico II (Piazza San Floriano, ehemals Akropolis oder Forum)
2 – Palazzo Baldeschi-Balleani
3 – Porta Valle (Porta Pesa)
4 – Palazzo Battaglia
5 – Torrione Rotondo
6 – Porta Bersaglieri (Porta Nova oder Porta Marina)
7 – Via Pergolesi (Via degli Orefici)
8 – Gefängnisgärten
9 – Wachturm
10 – Baustelle Aufstiegsanlage
11 – Costa del Montirozzo und kleiner Bergfried
12 – Palazzo Pianetti II (ehemalige bezirksgerichtliche Strafanstalt)
13 – Alte römische Zisterne
14 – San-Floriano-Komplex (Städtisches Museum und Versuchstheater)
15 – Porta Garibaldi (Porta San Floriano)
16 – Enoteca Regionale delle Marche
17 – Areal des alten römischen Amphitheaters
18 – Palazzo del Governo (oder Palazzo della Signoria)
19 – Piazza A. Colocci
20 – Palazzo und Museum Fondazione Colocci
1 – Palazzo Carotti-Honorati (Sitz des Gerichts)
22 – Palazzo Mestica
23 – Piazza Baccio Pontelli
24 – Costa Mezzalancia (Scalette della Morte)
25 – Arco del Magistrato (Porta della Rocca)
26 – Dom (San Settimio)
27 – Via delle Terme
28 – Piazza Indipendenza (Piazza delle Scarpe)
29 – Piazza Spontini (Piazza del Soccorso)
30 – Piazza delle Monnighette
31 – Arco del Soccorso (Arco della Morte)
32 – Torrione di Mezzogiorno
33 – Piazza Sansovino
34 – Areal des früheren Seifenherstellungsbetriebs (ehemalige Kirche San Benedetto)
A-B – Cardo (Arco del Magistrato – Via Pergolesi – Piazza Federico II – Via delle Terme – Porta Bersaglieri)
C-D – Decumanus (Porta Valle – Via Lucagnolo – Costa Lombarda – Piazza Federico II – Via del Fortino – Porta Garibaldi)
VORWORT
PROLOG
CATERINA
VERONICA
VERONICA
CATERINA
AESIS
CHAMPIONS-LEAGUE-FINALE
MARIA LUCIA BRANDI
VILLA BRANDI
WIEDER IM EINSATZ
PROFESSOR WHU UND DIE NANOMASCHINEN
SPUREN UND TÄUSCHUNGEN
SONNTAGSSPAZIERGANG
MARKT
VERGANGENHEIT, GEGENWART UND ZUKUNFT
VLADIMIRO BRANDI, DER LANGLEBIGE
GEHEIMNISVOLLE KELLERGEWÖLBE
EIN EREIGNISREICHER KURZURLAUB
DER AUFZUG ZU DEN GEFÄNGNISGÄRTEN
ZWEI MERKWÜRDIGE POLIZISTEN
VERONICA UND LEONARDO
EIN ANTIKES RÄTSEL
GRAFFITI
NEPHILUS
ALLES KOMMT ANS LICHT
EPILOG
ZUKUNFT
ANMERKUNGEN DES AUTORS UND DANKSAGUNGEN
VORWORT
Kommissarin Caterina Ruggeri ist eine scharfsinnige, temperamentvolle und mutige Frau. Sie ist Mutter eines reizenden Töchterleins namens Aurora und liebt es, die Abende in Gesellschaft ihres Partners Stefano zu verbringen. Aber hinter dieser Fassade der Durchschnittsfrau verbirgt sich eine einsatzfreudige, abenteuerlustige Heldin, die stets bereit für neue Ermittlungen ist. Wie zum Beispiel die, in die sie bei der Einweihung der Villa Brandi, eines von einem international bekannten Fußballtrainer erworbenen Anwesens aus dem 18. Jahrhundert, direkt verwickelt wird: ein meisterhaft ausgeführter Bombenanschlag, verübt von einem namens- und gesichtslosen Attentäter. Der Auftakt eines neuen Abenteuers, bei dem die umtriebige Kommissarin sich mit einem schier nicht lösbaren Rätsel auseinandersetzen muss, dessen Wurzeln sogar bis in die alten Freimaurerlogen reichen.
Mit „Die Geheimnisse der Villa Brandi“ schrieb Stefano Vignaroli einen Roman, der besser als jeder andere die Konturen eines geheimnisumwobenen, faszinierenden Jesi zeichnet. Farben, Klänge, Bilder und Gerüche konzentrieren sich auf den Seiten eines Buchs mit einem geschichtlichen Anspruch und einem geheimnisvollen Hintergrund.
Ein atemberaubender Thriller, der in der Zeit vom 3. Jahrhundert vor Christus bis heute spielt und seine Leser und Leserinnen in Atem hält. Und wenn Sie auf der letzten Seite angelangt sind, werden Sie nicht umhinkommen, die Faszination Italiens aufs Neue Revue passieren zu lassen.
Filippo Munaro
PROLOG
August 2009
CATERINA
Das verlängerte Mariä-Himmelfahrts-Wochenende war schnell vorbei gegangen, und am 17. August saß ich morgens wieder mal gedankenversunken im Flugzeug von Ancona nach Genua, um an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Es war schön, dass ich zwei ganze Tage mit Stefano verbringen konnte, an denen wir Zukunftspläne schmiedeten, über uns und das Kind, das wir bald bekommen würden, sprachen und Zärtlichkeiten austauschten. In der kurzen Zeit, in der ich in Ligurien war, hatte mein Partner sein Leben völlig umgekrempelt, und zwar nicht nur in Sachen Musik. Er hatte sein Zimmer in der Klinik aufgegeben und war in ein wenige Kilometer entferntes Landhaus gezogen. Ein herrlicher Ort inmitten der Hügellandschaft der Marken. Das Haus war gemütlich und geschmackvoll in bäuerlichem Stil eingerichtet. Im Wohnzimmer gab es einen offenen Kamin, der uns an kalten Winterabenden wärmen würde. Über einen großen Hof, der zu lauschigen Sommerabenden im Freien einlud, gelangte man zu den Stallungen, in denen bereits zwei Pferde und ein Pony untergebracht waren. Nicht weit entfernt befanden sich die Hundeboxen, von denen zwei schon durch eine Dogge und einen Gordon Setter besetzt waren. Nach hinten grenzte das Grundstück an ein Wäldchen, an den anderen Seiten an Ackerland.
»Es ist herrlich«, sagte ich zu Stefano, als wir im Hof saßen und einen atemberaubenden Sonnenuntergang genossen. »Schade, dass ich nicht so lange bleiben kann!«
»Na, das könnte sich ja auch ändern. Da du schwanger bist, könntest du dich versetzen lassen und beantragen, dass du näher bei deiner Familie eingesetzt wird. Und wenn du in den Mutterschaftsurlaub gehst, wirst du ja wohl herkommen, und ich werde dir keinesfalls erlauben, wegzugehen, solange unser Kind noch klein ist. Die beiden Pferde sind für uns, das Pony ist fürs Kind.«
Lachend nahm mich Stefano an der Hand, und wir liefen zu den Ställen. Er machte die Pferde los und forderte mich auf, auf die Stute zu steigen, während er selbst sich auf den Rücken des Hengstes schwang. Beide waren ungesattelt. Die Pferde waren handzahm und konnten problemlos ohne Sattel und Zaumzeug geritten werden. All das erinnerte mich an die Zeit, als ich als Kind häufig mit Stefano um das beste Pferd im Gestüt, auf dem wir zu Besuch waren, wetteiferte, und mich an die Mähne klammernd dem armen Tier auf Waldwegen und Schotterstraßen die Sporen gab. Ach, was für Zeiten! Natürlich würde es mir gefallen, mein Leben dort mit Stefano zu verbringen, aber wie sollte ich das mit meiner Arbeit vereinbaren? Ich liebte diese und würde sie nie im Leben aufgeben.
Am Montagabend hatte mich Stefano zum Flughafen begleitet und war so lange bei mir geblieben, bis mein Flug zum Boarding aufgerufen wurde und ich schnellstens durch die Sicherheitskontrolle musste. Der Abschied war mir wirklich schwergefallen, aber die Pflicht rief, und ich stieg schweren Herzens ins Flugzeug. Kurz vor der Landung gewann der Wunsch, mich wieder an die Arbeit zu machen, doch wieder die Oberhand. In Imperia fühlte ich mich wohl und hatte zu meinen Kolleginnen und Kollegen ein sehr gutes Verhältnis aufgebaut. Die Dienststelle war so etwas wie eine große Familie geworden, und ich hatte das Gefühl, eine gute Chefin zu sein, die alle akzeptierten. Nicht, weil ich meinen Willen durchzusetzen vermochte, sondern weil ich die Fähigkeit hatte, eine großartige Truppe an motivierten Polizeibeamten zu koordinieren, und somit unter Beweis stellte, dass ich meinem Job gewachsen war. Zugegeben war es abgesehen von den Ermittlungen zu den Verbrechen in Triora bisher auch ziemlich ruhig. Es gab zwar einige Fälle an Kleinkriminalität, und angesichts der Tatsache, dass Polizeireviere chronisch unterbesetzt sind, waren wir alle gezwungen, längere Arbeitsschichten zu machen, um den Dienst angemessen abzudecken. Ich war froh, dass Ispettore Giampieri, den man vor die Wahl gestellt hatte, entweder in der Dienststelle zu bleiben oder wieder mit dem Questore zusammenzuarbeiten, sich für Ersteres entschieden hatte. Ich hatte ihn nämlich inzwischen ins Herz geschlossen. Er war mein Stellvertreter, mein zweites Ich, und es wäre schwierig gewesen, auf ihn zu verzichten, vor allem da wir uns von Anfang an bestens verstanden hatten.
Diesmal erwartete mich aber niemand in der Ankunftshalle in Genua, weder er noch sonst jemand. Ich sammelte mein Gepäck auf und fuhr mit dem Taxi nach Imperia.
Als ich die Dienststelle betrat, herrschte dort ein ungewöhnliches Durcheinander. In der Nacht hatte es am Hafen eine Auseinandersetzung unter Immigranten gegeben, und die Kollegen hatten einige verhaftet, die jetzt einen unerträglichen Krawall veranstalteten. Ich bat D‘Aloia um eine Erklärung.
»Die waren fast alle betrunken, Dottoressa. Sie fingen an zu streiten, ich glaube aus irgendwelchen religiösen Gründen, und als der Streit schließlich ausartete, flogen leere Bierflaschen. Einer wurde am Kopf getroffen und in der Notaufnahme verarztet. Jetzt nehme ich ihre Namen zu Protokoll, kontrolliere ihre Aufenthaltsgenehmigungen und schmeiße sie dann hier so schnell wie möglich wieder raus.«
»Na dann viel Glück, D‘Aloia! Das wird nicht so leicht sein.«
Als ich mein Büro um 18 Uhr verließ, war D‘Aloia immer noch mit einigen Immigranten beschäftigt, die zwar keine gültige Aufenthaltserlaubnis hatten, jedoch behaupteten, für irgendwelche Bauunternehmen – natürlich schwarz – zu arbeiten.
»Dottoressa, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich müsste ihnen eine Ausweisungsverfügung ausstellen, aber sie tun mir leid!«
»Da gäbe es eine Lösung: Sie könnten denjenigen, der sie schwarz angeheuert hat, anzeigen, dann bekommen sie eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis, die maximal drei Monate lang gültig ist.« Ich zuckte die Achseln, denn ich war mir sicher, dass niemand von ihnen den Mut aufbringen würde, Anzeige zu erstatten und vielleicht Freunde oder Verwandte, die für dieselben Unternehmen tätig waren, in Schwierigkeiten zu bringen, verließ die Dienststelle und machte mich auf den Nachhauseweg.
Ich wollte gerade ein Taxi anhalten, als Mauro hinter mir auftauchte.
»Ich bin mit dem Wagen hier und mache für heute Schluss. Ich fahre nach Ventimiglia, um mich mit Anna zu treffen, aber ich glaube, ein kurzer Umweg, um dich nach Hause zu bringen, ist noch drin.«
Ich nahm das Angebot gern an, und in einer Viertelstunde war ich zu Hause angelangt. Clara war im Garten und spielte mit Furia. Die Art und Weise, wie sie meinen Kollegen grüßte, zeugte von großer Vertrautheit. Ich maß diesem Umstand keine weitere Bedeutung bei, schließlich hatten wir kürzlich viel Zeit miteinander verbracht. Außerdem mir gingen andere Dinge durch den Kopf.
In den nächsten Tagen würde ich mir einen Frauenarzt suchen müssen, der mich während der Schwangerschaft betreuen würde. Laura hatte mir eine junge Ärztin empfohlen, die im Krankenhaus in Imperia tätig war.
»Frau Dr. Valeri ist stets zuvorkommend und unproblematisch. Hier in Imperia verfügen wir über eine moderne Entbindungsstation und man sollte sich lieber immer in einer öffentlichen Einrichtung als in Privatkliniken betreuen lassen. Sie werden sehen, Sie werden zufrieden sein.«
Lauras Rat war wirklich gut, und einige Tage später verließ ich die Praxis der Frauenärztin mit den ersten Ultraschallbefunden und einer schier unendlichen Liste mit durchzuführenden Laboruntersuchungen. Das Geschlecht des Fötus war noch nicht hundertprozentig zu erkennen, aber die Ärztin war sich ziemlich sicher.
»Zu achtzig Prozent handelt es sich um ein Mädchen, aber beschwören kann ich das noch nicht.«
Der nächste Ultraschall drei Monate später bestätigte, dass es ein Mädchen war, und insgeheim hatte ich schon beschlossen, es Aurora zu nennen.
Meine Schwangerschaft bereitete mir keine Probleme, und es gelang mir, all meinen beruflichen und privaten Aufgaben nachzukommen. Es ging bereits auf den Herbst zu, und um in Form zu bleiben, hatte ich begonnen, ins Fitnessstudio zu gehen. Der Trainer dort hatte mir ein individuelles Programm zusammengestellt, das auf meine Schwangerschaft abgestimmt war.
Mitte Oktober war die Renovierung des Della-Rosa-Hauses in Rekordzeit abgeschlossen, und Clara konnte als Leiterin der Stiftung für esoterische Studien Triora einziehen. Ich hatte Clara in diesen Monaten unterstützt und ihr geholfen, Konzepte zu entwickeln. Sie war wirklich tüchtig, bemerkenswert intelligent und gebildet. Ich vermutete, dass sie sich meine Ratschläge eher aus Höflichkeit anhörte und nicht, weil sie sie wirklich benötigte. Die Texte und Manuskripte, die sich im Haus befanden, kannte sie bereits gut, weil sie sie seinerzeit katalogisiert und geordnet hatte, auch wenn vieles dem Brand zum Opfer gefallen war. Der Pentagramm-Salon sollte ein Studienzentrum werden, das allen offenstehen würde, die ihre Kenntnisse über Zauberei und Esoterik unter der wachsamen Leitung der Direktorin und Bibliothekarin Clara Giauni erweitern wollten. Mauro war zunehmend mehr präsent, um unserer Freundin unter die Arme zu greifen, vor allem, wenn es um körperlich schwere Arbeit ging, wie Möbel schleppen, Regale aufstellen und so weiter. Der heikelste Teil, nämlich die Geheimgänge und unterirdischen Stollen so einzurichten, dass touristische Führungen veranstaltet werden konnten, wurde praktisch von Mauro geleitet, der sich nahezu als Denkmalschutzexperte entpuppte. Am meisten war ich jedoch darüber verwundert und auch etwas besorgt, dass ich Anna immer seltener an seiner Seite sah. Ich hegte bereits einen Verdacht, als ich Mauro und Clara eines Tages beim Austausch von Zärtlichkeiten überraschte. Überrumpelt stammelte Mauro:
»Keine Sorge, Anna weiß schon seit ein paar Tagen Bescheid. Wir haben uns als gute Freunde getrennt.«
Tja, so heißt es immer. Aber letztendlich muss man sehen, wie es der Person, die verlassen wurde, wirklich geht. Normalerweise verspürt diese eine unüberwindbare Leere, auch wenn sie versucht, so zu tun, als ob nichts wäre, weil sie andere nicht belasten will. So rief ich Anna an und erfuhr, dass es ihr mies ging.
»Ich weiß, ich sollte nicht so fertig sein, Caterina. Mauro und ich haben unsere Beziehung stets völlig frei gelebt, und ich dachte immer, es sei ganz normal, wenn es plötzlich zu Ende gehen würde, aber jetzt geht es mir doch schlecht. Ich bin weder auf ihn noch auf Clara sauer, das will ich klarstellen, aber Mauro fehlt mir sehr.«
Wir beschlossen, gemeinsam zum Abendessen auszugehen, und es bedurfte all meiner Künste, um sie zu trösten und abzulenken. Nach dem Essen in einer Trattoria in Sanremo beschlossen wir, ins nahe Fürstentum Monaco zu fahren und die Nacht in einem Spielkasino in Montecarlo zu verbringen. Ich kam erst im Morgengrauen nach Hause. So eine Eskapade würde ich mir zukünftig nicht mehr leisten können, da mein wachsender Taillenumfang mir nahelegte, eine ruhigere und geregeltere Phase meines Lebens zu beginnen.
Im November zogen Clara und Mauro endgültig ins ehemalige Della-Rosa-Haus, und ich blieb mit Furia allein in dem Bauernhaus im unteren Valle Argentina zurück. Die Einweihung des Studienzentrums, an der Mitte November wichtige Würdenträger teilnahmen, war ein voller Erfolg. Das Della-Rosa-Haus erstrahlte wieder in alter Pracht. Der renovierte Pentagramm-Salon war wunderbar geworden. Dem Marmorboden hatte der Brand nichts anhaben können und er präsentierte sich auf Hochglanz poliert als Meisterwerk. Die Spiegelwand war offen gelassen worden, damit man die dahinter verborgene Bibliothek mit ihrer Fülle an antiken Texten und Manuskripten sah. Ein langer Massivholztisch stand nun im Salon und war für Besucher bestimmt, die dort die Texte konsultieren wollten, die über eine Theke am Durchgang zur Bibliothek ausgegeben wurden. Einst war dieser von einer Schiebespiegelwand verschlossen, die noch voll funktionsfähig war, aber der komplizierte Öffnungsmechanismus war durch einen praktischen Handsender ersetzt worden. Der lange Tisch war für den Empfang gedeckt, und nachdem der Bürgermeister, ein Staatssekretär des Kultusministeriums, Dottor Leone und Dottoressa h. c. Clara Giauni ihre Reden gehalten hatten, tischte das Personal des Cateringunternehmens jede nur erdenkliche Köstlichkeit auf.
Als die illustren Gäste gegangen waren, waren nur Clara, Mauro und ich übrig. Ich war wirklich froh, dass ich dieser jungen Frau hatte helfen können. Ich hatte ihr nicht nur das Leben gerettet, sie hatte jetzt auch eine Zukunft, und das war nicht wenig. Und sie hatte zudem einen tollen Partner gefunden, auch wenn nun eine andere Frau das Nachsehen hatte. Und dann kam plötzlich Anna zur Tür herein.
»Meinen aufrichtigen Glückwunsch, Clara, alles ist märchenhaft, und du hast dir das wirklich verdient.«
Sie umarmte sowohl Clara als auch Mauro innig, und ich sah keinen Groll in ihren Gesten, die aufrichtig zu sein schienen.
Gott sei Dank, sagte ich mir. Vielleicht hat sie das Schlimmste überstanden. Oder vielleicht verbirgt Anna geschickt ihre echten Gefühle!
»Nun, meine Lieben, ich wünsche euch alles Gute. Leider werde ich euch in ein paar Tagen verlassen. Mein Antrag auf Mutterschaftsurlaub ist bereits unterzeichnet, und ich werde wohl die letzte Schwangerschaftsphase in den Marken bei meinem Partner verbringen. Aber auch wenn wir uns nicht sehen, bleiben wir in Kontakt!«
Sowohl Mauro als auch Clara und Anna versicherten mir, dass wir jeden Tag voneinander hören würden, per Telefon oder SMS. An jenem Abend kehrte ich glücklich nach Hause zurück, beseelt von jener menschlichen Wärme, die ich bisher in meinem Leben nur selten verspürt hatte. Es würde mir schwerfallen, von hier fortzugehen, diese Orte zu verlassen, die in vielerlei Hinsicht so wunderbar waren. Ich war jedoch überzeugt, dass ich einige Monate später zurückkehren würde – damals wusste ich noch nicht, was das Leben und das Schicksal für mich bereithielten.
Als ich Dottor Peruginis Büro betrat, um ihm den Umschlag mit meinem Antrag auf Mutterschaftsurlaub zu übergeben, sah ich, dass der Questore seinerseits einen dicken Umschlag in der Hand hielt, auf dem in Großbuchstaben mein Name stand.
»Ich wusste ja, dass Sie seit dem Kontakt mit den Hexen von Triora über übernatürliche Kräfte verfügen, aber das ist reine Telepathie, meine Liebe. Ich wollte Sie gerade rufen lassen!«
»Gut. Zuerst Sie oder ich?«, fragte ich und blickte zwischen meinem und seinem Umschlag hin und her.
»Ich glaube, nachdem Sie den Inhalt dieses Umschlags gelesen haben, werden Sie mir gar nichts mehr geben müssen, keinen Antrag auf Urlaub, Freistellung oder Sonstiges ...«, sagte er und reichte mir den verschlossenen Umschlag, dessen Inhalt er, seinem verschwörerischen Lächeln nach zu urteilen, wohl schon kannte. Ich öffnete das Schreiben, das vom Innenministerium kam, und überflog es.
Angesichts ihrer bemerkenswerten Ermittlungsfähigkeiten sowie der Tatsache, dass sie jeder Gefahr mutig ins Auge blickt, ihrer Aufopferung und ihrer Achtung gegenüber den in die Ermittlungen verwickelten Personen .... wird Dottoressa Caterina Ruggeri, die gegenwärtig der Polizeidirektion Imperia mit dem Dienstgrad einer Kommissarin unterstellt ist, auf Beschluss dieses Ministeriums zum Vice Questore Aggiunto bei der Polizeidirektion Ancona befördert, wo sie ihren Dienst innerhalb des 15. Dezembers dieses Jahres anzutreten hat. Der Questore wird auf Basis der Bedürfnisse und unter Berücksichtigung der ausgezeichneten Eigenschaften von Dottoressa Ruggeri deren Dienstsitz bestimmen ...
Ich konnte nicht glauben, was ich da las. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich unerwartet, ja sogar auf unglaubliche Weise ein weiteres Treppchen auf der Karriereleiter genommen. Das Ministerium belobigte mich, und nachdem ich erst wenige Monate entfernt von meinem Heimatsort im Einsatz war, durfte ich in vollen Ehren wieder in dessen Nähe arbeiten, gerade richtig zum Zeitpunkt meiner Schwangerschaft. Ich verabschiedete mich von Dottor Perugini, dankte ihm für alles, was er für mich in dieser kurzen Zeit getan hatte, und verließ das Präsidium, während mir so viele Gedanken durch den Kopf schossen, dass dieser zu platzen drohte. Ich stieg ins Auto und fuhr so geistesabwesend, dass ich mir gar nicht bewusst war, wie ich die Strecke nach Hause zurücklegte. Anders als einige Monate zuvor musste ich diesmal keine Entscheidung treffen. Die Würfel waren bereits gefallen, und ich würde mich dem Schicksal nicht widersetzen. Und doch liebte ich die Gegend hier, auch wenn ich nur kurze Zeit hier verbracht hatte. Die Vorstellung, mich vielleicht für immer von meinen neuen Freunden trennen zu müssen, war kaum zu ertragen. Noch nie im Leben hatte ich eine so intensive Freundschaft und Solidarität wie in der letzten Zeit erlebt. Es würde mir schwerfallen, Mauro, Clara oder Anna, aber auch Laura, D‘Aloia und sogar Ispettore Gramaglia oder irgendeinem Beamten, der in der Dienststelle tätig war, Lebewohl zu sagen. Andererseits würde ich in meine geliebte Heimat zurückkehren und in der Nähe meines Partners, des Vaters meiner Tochter, sein. Und das Kind würde in einer normalen Familie mit einem liebenden Vater aufwachsen. Ich wusste, dass ich arbeitsbedingt nicht viel zu Hause sein würde, und hätte meine Tochter allein bei mir aufwachsen müssen, hätte ich sie ständig einer Kindertagesstätte oder einem Babysitter anvertrauen müssen. So würde alles viel einfacher sein.
Es blieben mir nur noch wenige Tage in Ligurien. Der Winter stand vor der Tür, und die Kälte machte sich bemerkbar, auch aufgrund der nahen Berge, deren Gipfel bereits schneebedeckt waren. Furia versuchte immer häufiger, ins Haus zu schlüpfen, um es sich vor dem Feuer im offenen Kamin bequem zu machen. Nicht ohne einen Anflug von Schwermut begann ich, meine Sachen zusammenzusammeln und einige Kartons zu packen, um diese zusammen mit den Koffern im Auto zu verstauen.
Wie schafft man es bloß, fragte ich mich, in solch kurzer Zeit so eine unglaubliche Menge an Dingen anzuhäufen, von denen man sich nicht trennen will?
Ich fand unter anderem das kostbare, auf Hebräisch verfasste Buch mit lateinischer Übersetzung, das mir am Tag des Brands im Della-Rosa-Haus in die Hände gefallen war. Ich hatte es als Erinnerung an die Ermittlungen und die gebannte Gefahr behalten, wusste aber, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war, um es Clara zurückzugeben. So entschied ich, sie zu besuchen und mich von ihr und Mauro zu verabschieden.
»Danke, Caterina. Ich dachte, das Buch sei für immer in den Flammen verloren gegangen, aber ... erlaube mir, dir ein Exemplar vom Schlüssel des Salomon in der italienischen Übersetzung zu schenken. Du kannst es als Erinnerung behalten und wirst die Macht, die Weisheit und die Geheimnisse, die dieser Text birgt, begreifen. Nur du weißt, weshalb du in jener Nacht in der Lage warst, die Beschwörung auswendig aufzusagen, mit der du mir das Leben gerettet hast. Und dann auch noch in einwandfreiem Hebräisch.«
Da wir allein waren, weil Mauro hinausgegangen war, um Holz für den Kamin zu holen, gestand ich ihr, was sie meines Erachtens sowieso schon wusste.
»Aurora Della Rosa hat mir die Worte eingeimpft, aber das habe ich niemandem erzählt. Ich glaube, dass nur du mich verstehen kannst. Nachdem ich Sex mit ihr hatte, habe ich mich verändert, habe Wahrnehmungen, von denen ich vorher nicht einmal wusste, dass sie existieren. Wenn ich mich konzentriere, dann sehe ich die Aura der Leute, und manchmal habe ich den Eindruck, dass ich auch Gedanken lesen kann.«
»Das sind Fähigkeiten, meine liebe Caterina, die jeder von uns bereits von Natur aus hat. Die Grenzen des menschlichen Verstands sind noch unerforscht. Manche erlernen den Umgang mit bestimmten Fähigkeiten, andere dagegen lassen sie außer Acht, trainieren sie nicht, nutzen sie nicht, und daher ist es so, als ob sie sie nicht besitzen würden.«
»Wie dem auch sei, ich glaube, dass Aurora Della Rosa die Entwicklung dieser Wahrnehmungen in mir gefördert hat. Für mich sind diese neu, aber fantastisch. Deswegen habe ich beschlossen, dass meine Tochter Aurora heißen soll, ihr zu Ehren und im Gedenken an sie, auch weil ich mich zum Teil für ihren Tod verantwortlich fühle bzw. dafür, dass ich nicht genug unternommen habe, um ihn zu verhindern.«
Ich sah, dass Claras Augen feucht wurden, als sie den Namen vernahm.
»All das macht dir Ehre, Caterina. Bestimmt wird deine Tochter, egal, welchen Namen du ihr gibst, eine außergewöhnliche Persönlichkeit haben. Glaub bloß nicht, dass ich dich aufgrund der Entfernung nicht besuchen komme, um sie kennenzulernen! Ein paar Hundert Kilometer werden mich sicher nicht davon abhalten!«
Mauro war mit einem Arm voller Holzscheite zurückgekehrt, die er in der Nähe des Kamins ablegte.
»Wenn ihr jetzt mit dem Weibertratsch fertig seid, möchte auch ich mich von meiner Kollegin verabschieden, bevor sie in eine entlegene Region Mittelitaliens abreist. Die Polizia di Stato da unten wird sich noch in der Steinzeit befinden!«
»Einen Lamborghini Gallardo haben sie sicher nicht«, erwiderte ich und äffte dabei seinen sarkastischen Tonfall nach. »Aber nichts wird mich daran hindern, deine spezielle Mitarbeit anzufordern, wenn ich es mit besonders verzwickten Ermittlungen zu tun bekomme.«
»So, wie du diese anziehst, wirst du mich bald rufen!«
Ich blieb zum Abendessen bei meinen Freunden, und nachdem ich während unserer Unterhaltung zuerst Rotwein, dann Grappa und schließlich auch noch Mandarinenpunsch getrunken hatte, stieg ich mit einem Promillegehalt ins Auto, der sicherlich den zulässigen Wert überstieg, aber glücklich, weil ich einen so schönen Abend unter wahren Freunden verbracht hatte.
Ich beschloss, nicht per Flugzeug in die Marken zurückzukehren, sondern mit dem Auto zu fahren, sodass ich auch Furia mitnehmen konnte.
Herbst/Winter 2009/2010
VERONICA
Der Herbst war bereits fortgeschritten, auch wenn die Temperaturen noch angenehm waren. Die Tage waren kürzer geworden, und um 20:30 Uhr war es bereits tiefste Nacht. Die hochgewachsene, aber zierliche, blonde junge Frau mit dem maskulinen Kurzhaarschnitt schleppte sich humpelnd und sich auf eine Krücke stützend langsam voran. In der freien Hand hielt sie eine Papiertüte mit ihrem kärglichen Abendessen. Sie erreichte die Überdachung der Bushaltestelle am Anfang der Viale Trieste und ließ sich mühsam auf die Bank sinken. Sich umsehend vergewisserte sie sich, dass keine zwielichtigen Gestalten in der Nähe waren. Der einzige Passant war der Tierarzt, der immer noch in diesem Viertel wohnte. Vielleicht weil er eine Praxiswohnung hier hatte und im Gegensatz zu den meisten italienischen Familien der Versuchung, in einen anderen Stadtteil zu ziehen, nicht nachgegeben hatte. Sein Abendspaziergang mit dem niedlichen weißen Hündchen wirkte beruhigend auf sie. Die junge Frau aß ihr Brötchen mit wenigen Bissen und suchte dann nach ihrem Zigarettenpäckchen, doch das, das sie aus ihrer Tasche zog, war leer. Leonardo Albini tauchte so plötzlich aus der Dunkelheit auf, wie nur er es vermochte – so, als ob er unter einer Tarnkappe hervorschlüpfen würde. Nur einer Person entgingen seine Bewegungen nicht: Veronica Zanardi, der Kommissarin, die auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite an der Mauer lehnte und vorgab, mit ihrem Autoschlüssel zu spielen. Leonardo setzte sich neben die junge Frau auf die Bank und legte Zigarettenpapier und Tabak auf ihren Schoß. Sie drehte sich eine Zigarette und zündete sie an.
»Bist du sicher, dass du es wissen möchtest? Glaub mir, Rache lohnt sich nicht.«
»Hinterlässt aber einen guten Geschmack, wie dieser Tabak.«
Leonardo schrieb einen Namen und eine Adresse auf ein Stück Papier und reichte es der jungen Frau.
»Es handelt sich um einen angesehenen Mann. Bist du sicher, dass das das Kennzeichen ist?«
»Ja, es hat sich in mein Gehirn eingeprägt. Er hat mich umgefahren, dort, auf dem Zebrastreifen, und ist dann weggefahren. Bevor ich bewusstlos wurde, habe ich das Kennzeichen genau gesehen.«
»Und warum hast du das nicht der Polizei gesagt?«
»Habe ich doch, nachdem ich aus dem Koma aufgewacht bin. Sie haben nachgeprüft und gesagt, dass ich mich vielleicht versehen habe oder mich falsch erinnere, weil die Karosserie des betreffenden Fahrzeugs keine Unfallschäden hatte. Natürlich hatte der Typ alle Zeit der Welt gehabt, um das Auto reparieren zu lassen! Und der Polizei traue ich schon lang nicht mehr.«
Nur ein leichter Akzent verriet die slawische Herkunft der jungen Frau, die Anna hieß. Vor mehr als sechzehn Jahren war sie mit ihren Eltern aus Serbien gekommen, damals war sie erst vier Jahre alt gewesen. Um zu Geld zu kommen, hatte ihr Vater seine Frau sofort auf den Strich geschickt. Sie war jung und attraktiv, und das Viertel war gut für jene Art von Geschäft geeignet. Eines Abends kehrte Annas Vater jedoch sturzbetrunken nach Hause zurück und beschuldigte seine Frau, nicht alles Geld, was sie verdiente, für die Familie herauszurücken, sondern etwas davon für sich zu behalten und für unnütze Dinge wie Kleider, Schuhe und Kosmetika auszugeben. Der Streit endete mit einem Messerstich. Anna sah ihren Vater, der niemals mehr zurückkommen sollte, flüchten, während ihre Mutter heftig blutend auf dem Boden lag. Das Kind wusste, wie man vom Handy aus einen Notruf absetzte. Der Rettungsdienst traf gerade noch rechtzeitig ein. Ihr Vater wurde nie gefasst, vermutlich hatte er sich in sein Heimatland abgesetzt. Ihre Mutter brachte sie mit Ach und Krach durch. Sie ging Gelegenheitsjobs als Putzfrau oder Seniorenbetreuerin nach, ohne jemals wieder ihren Körper zu verkaufen, brachte aber viel weniger Geld nach Hause. Anna war vierzehn, als ihre Mutter des Lebens müde war und sich umbrachte. Sie ging auf die Straße vor dem Haus, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Ein schreckliches Ende, dem Anna glücklicherweise nicht zusehen musste. Als sie von der Schule kam, sah sie ein schwarzes Etwas auf dem Gehsteig liegen, so als ob jemand eine große Puppe verbrannt hätte. Sie konnte kaum fassen, dass dieses Etwas ihre Mutter war. Um die verkohlten, noch rauchenden Überreste hatte sich eine Traube Neugieriger gebildet, aber niemand hatte den Mut, ihr zu Hilfe zu kommen. All das hatte sich mitten am Tag ereignet.
Anna kam in eine Pflegefamilie, riss aber sofort wieder aus, um auf der Straße zu leben und derselben Arbeit wie zuvor ihre Mutter nachzugehen und sich so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch sobald ihre „Kunden“ bemerkten, dass sie kaum dem Kindesalter entwachsen war, ergriffen sie entweder sofort die Flucht aus Angst, der Pädophilie beschuldigt zu werden, oder gaben ihr höchstens 20 Euro, weil sie ja nur ein Mädchen war, das nicht viel zum Leben brauchte, höchstens was zum Essen.
»Geh zu einem Anwalt und gib ihm den Namen. Er wird dafür sorgen, dass du entschädigt wirst«, riet Leonardo ihr.
Sie schüttelte den Kopf.
»Hab kein Geld für einen Anwalt. Das Arschloch muss büßen, und dafür werde ich sorgen, darauf kannst du wetten. Dieses Bein wird nie mehr werden wie zuvor. Mein Oberschenkelknochen wurde unter den Rädern dieses riesigen SUV zermalmt. Die Ärzte haben sich zwar bemüht, aber das Bein ist jetzt mehrere Zentimeter kürzer als das andere, darüber hinaus hab ich höllische Schmerzen. Gerade als es mir gelungen war, meinem Leben eine Wende zu geben. Ich hatte die Selections bestanden und wäre als Model genommen worden. Ich hatte einen Job und eine Karriere in Aussicht. Jetzt wird mich niemand mehr für eine Modeschau oder einen Werbespot engagieren: Um zu überleben, muss ich wieder auf die Straße.«
Ohne etwas zu erwidern, gab Leonardo der jungen Frau ein weiteres Paper und etwas Tabak, damit sie sich noch eine Zigarette drehen konnte, bevor er ging. Er überquerte die Straße und ging auf Veronica, die Polizistin, die ihn observierte, zu.
»Es fällt überhaupt nicht auf, dass du mich beschattest. Wann wirst du endlich begreifen, dass ich sauber bin? Ich sollte wohl mit dir ins Bett, damit du es endlich kapierst. Du hättest Spaß und würdest du dann aus anderen Gründen nach mir suchen.«
»Hör bloß auf, du Möchtegern-Casanova. Ich hab genau gesehen, wie du der dort eine ›Dosis‹ gegeben hast. Bist du jetzt unter die Dealer gegangen?«
»Ich hab schon gesagt, dass ich sauber bin«, antwortete Leonardo und hob die Arme. »Du kannst mich ruhig durchsuchen. Wenn ich ein Dealer wäre, hätte ich noch mehr von dem Zeug dabei, oder etwa nicht, Frau Kommissarin?«
Veronica tastete ihn ab und zog ihm außer seiner Geldbörse Tabak, Zigarettenpapierchen, ein Feuerzeug und ein Päckchen Marlboro aus der Tasche.
»Wie zum Teufel schafft ihr es, euch mit diesem Zeug Zigaretten zu drehen? Uhm!« Sie nahm sich eine Marlboro aus der Schachtel, zündete sie an und gab Leonardo dann alles zurück. »Früher oder später werde ich dich auf frischer Tat ertappen, und dann wird es für dich einen tollen Urlaub in einem hübschen Ortsteil von Ancona geben, der Montacuto heißt. Hinter Gittern auf einem Anwesen, das von einem meterhohen Zaun umgeben ist.«
»Da werde ich dich wohl eher ins Bett kriegen. Du bist schon fast so weit«, erwiderte Leonardo, drehte sich geschickt eine Zigarette und zündete sie unter Veronicas angewidertem Blick an. Beide gingen ihrer Wege, während Anna noch lange unter der Überdachung der Bushaltestelle sitzen blieb. Dann stand sie auf und humpelte langsam zu der Adresse, die ihr Leonardo gegeben hatte. Sie sah sich die Villa ganz genau an und studierte ihre Bewohner, während in ihrem Kopf bereits die Idee dessen reifte, was sie sich als Rache vorgestellt hatte.
Schon am nächsten Tag war Anna bereit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sie hatte den Molotowcocktail unter penibler Einhaltung der Anweisungen fabriziert: Er würde funktionieren. Ihr Adrenalinspiegel war so in die Höhe geschossen, dass sie kaum mehr Schmerzen mehr hatte. Es war drei Uhr nachts, die Straßen waren menschenleer. Sie lehnte die Krücke an den Zaun, den sie dann mühsam hochkletterte. Die Leiter, die sie im Garten gesehen hatte, war wohl zum Beschneiden der Bäume verwendet worden, hatte aber genau die richtige Höhe, um damit ans Fenster im ersten Stock zu gelangen. Anna stellte die Leiter unter das Fenster, das sie als Schlafzimmerfenster ausgemacht hatte. Der Typ schlief im selben Zimmer wie seine Frau, und die beiden hatten ein wenige Monate altes Baby, das im Zimmer nebenan schlief. In der Nacht zuvor war um genau drei Uhr fünfzehn das Licht einer Nachttischlampe angegangen, und die Frau war ins Kinderzimmer gehuscht, weil das Kind aufgewacht war und nach der Flasche schrie. Anna hatte daraus geschlossen, dass sich dies jede Nacht ungefähr um die gleiche Uhrzeit wiederholen würde. Sie erklomm die Leiter Stufe um Stufe, was ihr Mühe bereitete, aber machbar war. Der Rollladen war nur zur Hälfte heruntergelassen. Zum richtigen Zeitpunkt ein Stoß mit dem Ellenbogen durchs Fenster und dann hinein mit dem Molotowcocktail.Es wird ein Inferno geben.
Das Arschlosch wird genau wie meine arme Mutter sterben. Und das hat er verdient! Wenn sich die Frau nicht zu dumm anstellt, wird sie sich und das Kind retten. Ich dagegen werde darauf warten, dass sie mich festnehmen, denn ich habe nichts mehr zu verlieren ...
Am Ende der Leiter steckte sich Anna eine Zigarette in den Mund, dann griff sie mit der einen Hand das Feuerzeug, mit der anderen den Molli. Das Licht ging an, die Frau stand auf. Die Flamme des Feuerzeugs erreichte die Zigarette, aber nicht die Lunte des improvisierten Wurfbrandsatzes.
Nein, ich kann nicht die Ursache dafür sein, dass dieses Kind wie ich ohne Vater und mit einer sich vor Schmerz verzehrenden Mutter aufwächst.
Jetzt schmerzte das Bein, und Anna fiel es schwer, die Leiter wieder herabzusteigen, diese wieder an ihren Platz zu stellen, über den Zaun zu klettern und sich ihre Krücke wieder zu holen, aber es gelang ihr.
Annas Leben ging weiter wie bisher. Das Geld wurde immer knapper, jeden Abend aß sie auf der gleichen Bank ihr Brötchen. Sie rief das weiße Hündchen zu sich, das von seinem Weg abwich, um sich von ihr streicheln zu lassen, und auch sein Herrchen mitzog. Das Hündchen legte sich auf den Rücken, um sich den Bauch kraulen zu lassen, was es ungemein genoss. Der Tierarzt lächelte Anna an, sie blickte ihm in die Augen, die grün waren und Vertrauen erweckten.
»Auf diesem Zettel stehen der Name und die Adresse des Mannes, der mich so zugerichtet hat. Mach damit, was du willst, ich habe weder das Geld noch besitze ich die Glaubwürdigkeit, um Schadensersatz zu fordern.«
Ohne ein Wort zu sagen, nahm der Mann den Zettel, steckte ihn in die Tasche und ging. Einige Tage später bekam Anna per Post einen Scheck über 300.000 Euro, ausgestellt von dem Mann, der sie seinerzeit überfahren hatte und sich feige aus dem Staub gemacht hatte. Der Umschlag enthielt außerdem einen Zettel: Ich hoffe, das ist genug. Bitte zeigen Sie mich nicht an. Ein Skandal würde mein Leben ruinieren.
Wie gewöhnlich tauchte Leonardo aus dem Nichts auf und setzte sich neben Anna auf die Bank.
»Zigarette?«, fragt er.
»Nein, danke. Ich habe aufgehört. Ich mag keinen Tabakgeschmack im Mund mehr.«
»Wie ist es gelaufen? Hast du meine Informationen genutzt?«
»Dank dir und einem anderen Schutzengel habe ich nun das Geld, um nach Amerika zu fliegen und mich dort operieren zu lassen, sodass mein Bein wieder die richtige Länge haben wird. Ich habe mir ausgerechnet, dass die Kosten für Reise, Unterkunft und OP rund 300.000 Euro betragen werden. Das ist alles, was ich habe, aber wenn ich dann nach Italien zurückkehre, werde ich ein neues Leben beginnen können.«
»Gut, dann viel Glück!«
Leonardo überquerte die Straße und ging zur Polizistin, die ihn beschattete. Er nutzte den Überraschungsmoment und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Veronica war überrumpelt und ließ ihn zunächst gewähren. Dann versteifte sie sich, löste sich so viel von ihm, dass es reichte, um ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen.
»Du spinnst ja!«, rief sie. Dann war sie wieder ganz Polizistin: »Heute wollte die Nutte das Zeug wohl nicht, das du ihr angeboten hast? Aber denk dran und merk dir gut: Früher oder später werde ich dich auf frischer Tat ertappen.«
»Du solltest lieber die Augen offen halten und dich auf die wirklich Kriminellen konzentrieren, die es hier in dieser Gegend haufenweise gibt. Aber wieso sage ich dir das? Du bekommst ja die Verbrecher ganz einfach zu fassen, indem du mir folgst. Früher oder später werde ich dir die Rechnung präsentieren, meine Liebe!«
Erneut versuchte er sie zu küssen, und diesmal erwiderte sie den Kuss, und das nicht aus Versehen. Als sie die Augen wieder öffnete, war Leonardo wie üblich in der Dunkelheit verschwunden.
VERONICA
Dunkelheit. Während ehrbare Bürger in ihren Wohnungen sich dem wohlverdienten Schlaf hingeben, wird in einigen Vierteln der Stadt ein anderes Leben gelebt, in dessen Mittelpunkt Penner, Drogenabhängige, Betrunkene, Nutten, sich prostituierende Transsexuelle, illegale Einwanderer und Menschen ohne festen Job oder Wohnsitz stehen. In Jesi findet sich das pulsierende Herz jener Schattengesellschaft in der Gegend zwischen dem Eisenbahn- und dem Busbahnhof, und die Schlucklöcher dieses Abschaums, die in der Lage sind, ihn aufzunehmen, ohne gleich wieder auszuspucken, sind der Bereich um die Bar am Piazzale di Porta Valle und die Sitzbänke, die unter den Bäumen fast im Dunklen bleiben, weil das Licht der Straßenbeleuchtung nur mühsam oder gar nicht dorthin gelangt. Nicht selten sieht man dort betrunkene Prostituierte auf den Bänken liegen, deren nacktes Hinterteil in die Höhe gereckt ist, genau in derselben Position, in der sie mit ihrem letzten Kunden zugange waren, der nicht selten einfach ging, ohne bezahlt zu haben.
Mitternacht war seit einer Weile vorüber, und das Rolltor der Pizza-Bar war seit über einer halben Stunde zur Hälfte heruntergelassen. Veronica, vierzig, Kommissarin und auf eine glorreiche Vergangenheit als Olympiasiegerin im Fechten zurückblickend, lehnte an ihrer schwarzen Limousine. Der Rauch ihrer Zigarette vereinte sich mit ihrem kondensierenden Atem und dem Nebel in dieser Spätherbstnacht, durch den die Umrisse von Personen und Dingen gedämpft erschienen. Eine farbige Prostituierte näherte sich ihr.
»Für 20 Euro kann ich‘s dir besser besorgen als jeder Mann.«
»Hau ab!«, antwortete Veronica und zückte ihren Dienstausweis. »Du kannst von Glück sagen, dass ich heute Abend etwas anderes zu tun habe, sonst würdest du eine Nacht in der Zelle verbringen.«
»Dann gib mir eine Kippe.«
Veronica schnippte ihre halb aufgerauchte Zigarette weg, wühlte in ihren Taschen und zündete sich die letzte Zigarette aus dem Päckchen an, das sie zerknüllte und auf den Boden warf.
»Wie du siehst, habe ich keine mehr. Zieh ab!« Dem letzten Satz verlieh sie Nachdruck, indem sie der Prostituierten den Rauch direkt ins Gesicht blies und sie mit dem zornigsten Blick anstarrte, den sie noch zustande bekam.
Eine der wenigen funktionierenden Straßenlaternen ging wie durch ein seltsames Uhrwerk gesteuert an und aus. Vermutlich hatte die Lampe das Ende ihrer Lebensdauer erreicht, aber es würde wohl noch einige Zeit vergehen, bis irgendein Angestellter der Stadt vorbeikommen würde, um sie zu ersetzen. Die Dunkelheit und den Nebel nutzend, erleichterte sich der Roma mit dem langen grauen Haar und dem breitkrempigen Hut hinter einem abgestellten Bus, bevor er wieder zur Bar zurückging, sein Glas leerte und schließlich zu seinem Fahrrad torkelte. Nach drei Pedaltritten fiel er um, rappelte sich wieder auf und verschwand im Nebel. Ein Schauspiel, das sich Abend für Abend wiederholte, und keiner der Zuschauer wusste, ob es ihm gelingen würde, seinen Wohnwagen unten im Industriegebiet wohlbehalten zu erreichen. Doch am nächsten Tag fand er sich pünktlich wieder ein, um um Geld, Alkohol und Zigaretten zu betteln.
Veronica zog die Lederjacke enger um sich, um sich vor Kälte und Feuchtigkeit zu schützen. Jetzt galt ihre Aufmerksamkeit den beiden Gestalten, die unter dem Rolltor der Bar hervortraten. Leonardo, also Ingenieur Leonardo Albini, befand sich in Begleitung einer großen Frau mit bronzefarbener Haut, Minirock, Beinen bis zum Hals und einem Busen, der dermaßen mit Hormonen und Silikon vollgepumpt war, dass er jeden Moment zu explodieren drohte.
Die ist wohl eher Mann als Frau. Hat sicher was zwischen den Beinen baumeln!, dachte Veronica, verfolgte aber den Gedanken nicht weiter. Ihr Interesse galt Leonardo, Bauingenieur und Möchtegern-Privatdetektiv. Stets in Kontakt mit der lokalen Unterwelt, wer könnte Kriminelle besser als er zu fassen bekommen?
Leonardo verabschiedete sich von der Transsexuellen, die in Richtung Via Setificio ging, wandte sich selbst in Richtung Porta Valle und ging in die Altstadt. Veronica folgte ihm, wobei sie versuchte, Abstand zu halten, verlor ihn in dem Gassengewirr aber aus den Augen.
Ein Mann näherte sich ihr von hinten, ließ ein Schnappmesser klicken und sagte dann mit starkem osteuropäischem Akzent:
»Frau soll besser nicht allein in diese Gegend sein!«
Alles andere als eingeschüchtert wirbelte die Polizistin um ihre Achse und entwaffnete den potenziellen Angreifer mit einem gezielten Fußtritt.
»Auch Mann, vor allem, wenn er die Falschen belästigt!«
Für diese Nacht war es genug. Sie hatte ihr Zielobjekt aus den Augen verloren und nicht feststellen können, ob es mit den Kriminellen der Südzone Jesis, einst ein geruhsames Provinzstädtchen, unter einer Decke steckte. Also lieber gleich wieder zurück zur Polizeistation. Mit Sicherheit würde Leonardo früher oder später einen Fehler machen. Pure Fantasie? Oder war sie vielleicht insgeheim in ihn verliebt?
Am nächsten Tag, an dem sich ein blasser Sonnenstrahl durch die Nebeldecke drängte, brachten die Lokalzeitungen die x-te Verbrechensmeldung.
Jesi. In der Zone Porta Valle wurde ein Transsexueller angegriffen und niedergestochen. Nachdem ihm Ingenieur Albini, der gerade zufällig vorbeikam, Erste Hilfe geleistet hatte, wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Voraussichtlich kann er in ungefähr 10 Tagen wieder entlassen werden. Wo war die Polizei?
CATERINA
An einem kalten Dezembertag wurde ich beim Questore von Ancona vorstellig. Dottor Spanò war mein früherer Chef. Ich war wieder zur Basis zurückgekehrt, aber nur kurz vorbeigekommen, um den Umschlag mit meinem Antrag auf Mutterschaftsurlaub vorbeizubringen.
»Ich freue mich, dass Sie wieder bei uns sind, Dottoressa Ruggeri. Eine so wertvolle Mitarbeiterin wie Sie weiß ich lieber hier im Mutterschaftsurlaub als weit weg bei einer anderen Polizeidienststelle. Dank Ihres neuen Amts habe ich für Sie eine ganz besondere Aufgabe. Hier in den Marken haben wir keine Mordkommission. Da Sie bei den Ermittlungen in Triora so erfolgreich waren und die Kriminalität auch hier bei uns so zugenommen hat, habe ich beschlossen, hier in Ancona eine Mordkommission einzurichten, die für die gesamte Region zuständig sein soll. Sie werden deren Leitung mit der Unterstützung von Ispettore Santinelli übernehmen.«
Oh, nein!, dachte ich. Schon wieder der. Sollte er nicht nach meinem Weggang die Leitung der Hundestaffel übernehmen? War es ihm gelungen, in so kurzer Zeit meine jahrzehntelange Arbeit zu ruinieren? Steht die Hundestaffel kurz vor der Auflösung?
Ich hatte nicht den Mut, meinen Vorgesetzten um eine Erklärung zu bitten. Dieser schien jedoch meine Gedanken zu erahnen und beruhigte mich.
»Keine Sorge, Ihre geliebte Hundestaffel funktioniert bestens auch ohne Sie, aber Ispettore Santinelli war nicht in der Lage, sie zu leiten. Im Sommer sind gleich drei Hunde an Leishmaniose erkrankt, und zwei Hundeführer haben die Versetzung beantragt, weil sie mit dem Ispettore nicht zurechtkamen. Bevor man nichts wieder hätte gutmachen können, habe ich Santinelli durch einen tüchtigen Kollegen, Ispettore Capo Della Debbia, ersetzen lassen, der von Nettuno hierher versetzt wurde.«
Ich atmete erleichtert auf und hörte weiter, was der Questore mir zu sagen hatte.
»Zurück zu uns: Diese neue Mordkommission, die auf regionaler Ebene zuständig sein wird, wird sich mit Mord- und Vermisstenermittlungen beschäftigen, und ich glaube, dass Sie die beste Wahl für deren Leitung sind. Sie können kommen, wann Sie wollen, ohne Ihre Verpflichtungen als frischgebackene Mutter zu vernachlässigen, und die Abteilung aufbauen. Sobald Sie mir sagen, dass Sie bereit sind, starten wir.«
Ich war begeistert, und schon gingen mir Ideen für die Organisation des neuen Teams durch den Kopf.
»Alles gut, aber muss ich wirklich auch Ispettore Santinelli übernehmen?«
»Da Sie scheinbar die Einzige sind, der es immer gelungen ist, mit ihm zurechtzukommen, ja!«
Ich nickte, war aber nicht gerade glücklich und reichte meinem Vorgesetzten die Hand, um mich zu verabschieden.
»Eine letzte Sache, Dottoressa. In den nächsten Tagen werden wir Spezialisten hier haben, die einen Kurs über Körpersprache und Proxemik geben werden, was sicherlich interessant wird. Wenn Sie teilnehmen möchten, obwohl Sie beurlaubt sind, können Sie sicherlich wichtige Dinge für die Durchführung von Vernehmungen lernen.«
Ich nahm die Einladung an, obwohl ich wusste, dass Stefano keineswegs begeistert sein würde. Doch in diesem Kurs würde es um Themen gehen, die mich schon immer fasziniert hatten: anhand des Verhaltens einer Person verstehen, was sie denkt, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt. Jenes Wissen und meine neu erworbenen Wahrnehmungsfähigkeiten würden aus mir eine unfehlbare Ermittlerin machen.
So verbrachte ich trotz meines Bauchumfangs und der Proteste meines Partners die meiste Zeit auf der Polizeidirektion, um den Kurs über Körpersprache zu absolvieren und mein neues Büro und mein neues Team zu organisieren. Ispettore Santinelli folgte mir diensteifrig und gefügig, und im Großen und Ganzen konnte ich mich nicht über ihn beklagen. Ich konnte keinen Lamborghini wie jenen, den wir in Imperia hatten, verlangen, aber ich erwirkte, dass man in einen Alfa 159 einen Computer einbaute, der dem ähnelte, der uns bei den Ermittlungen in Triora so sehr geholfen hatte. Ich wies Santinelli etwas in dessen Nutzung ein und bewegte ihn außerdem dazu, sich für einen IT-Fortgeschrittenenkurs anzumelden, auch wenn ich der Überzeugung war, man könne von ihm nicht mehr als ein bestimmtes Maß an Einsatz verlangen.
Weihnachten ging vorüber, dann Silvester und schließlich auch Karneval. Mit so vielen Verpflichtungen verflog die Zeit, und mein Bauch wuchs immer weiter, das Kind strampelte und machte sich zunehmend vehementer bemerkbar. Anfang März beschloss ich also, dass es an der Zeit war, etwas kürzer zu treten, mich zurückzuziehen und der Entbindung zu harren.
Damit ich aber die Verbindung zur Arbeit nicht völlig verlor, ließ ich zu Hause einen PC mit Webcam und einer leistungsstarken Breitbandverbindung installieren. Ich lernte schnell, Videochats mit meinen Freunden, insbesondere mit Clara und Mauro, und lange Videokonferenzen mit Santinelli zu schalten, um zu kontrollieren, wie die Dinge in meiner neuen Abteilung vorangingen. Wir hatten uns nunmehr ganz gut organisiert. Die Abteilung war in einem kleinen Flügel des Präsidiums eingerichtet. In wenigen Räumen, insgesamt vier, jedoch alle mit modernster Technik ausgestattet. Der Vernehmungsraum war akustisch gedämmt und mit Videokameras und Mikrofonen ausgerüstet, dank derer man von einem anderen Zimmer aus verfolgen konnte, was darin geschah. In meinem Büro hatte sich Santinelli provisorisch eingerichtet. Ihn hatte ich angewiesen, den Computer mit eingeschalteter Webcam stets laufen zu lassen, sodass ich ihn kontrollieren konnte. Das Team bestand aus weiteren drei Beamten, die allesamt jung und wirklich tüchtig waren. Sovrintendente Roberta Gualandi war die jüngste. Sie war äußerst entschlossen und liebte ihre Arbeit. Ispettore Andrea Rosati kannte sich sowohl gut mit dem Computer für Online-Recherchen als auch mit der Vor-Ort-Arbeit aus. Agente Scelto Gaetano Perrotta, der ursprünglich aus Kalabrien stammte und erst vor Kurzem nach Ancona gekommen war, war scharfsinnig, ein sehr guter Beobachter und hatte sich das, was er beim Kurs über Körpersprache und Proxemik gelernt hatte, zu Herzen genommen. Wir waren bereit für jede Art von Ermittlungen, und ich verfolgte unseren ersten Fall, der einen vermissten jungen Mann betraf, vom Bildschirm meines Computers aus, was ich mir bis dahin niemals hätte vorstellen können.
Eines Morgens waren die Eltern eines 19-Jährigen namens Thomas Vindici ins Präsidium gekommen, weil sie sich Sorgen machten. Ihr Sohn hatte am Abend zuvor das Haus verlassen und nichts mehr von sich hören lassen. Sein Handy war ausgeschaltet, und es gab keine Spur von ihm. Ich verfolgte aufmerksam mit, was Ispettore Santinelli zu den Eltern sagte, und hoffte, nicht eingreifen und meine blecherne Stimme über die PC-Lautsprecher vernehmen lassen zu müssen.
»Ihr Sohn ist volljährig und wird erst seit gestern Abend vermisst. Vielleicht ist es noch etwas früh für eine Vermisstenanzeige. Haben Sie es bei Freunden oder dort, wo er sich normalerweise aufhält, versucht?«, begann Santinelli.
»Ja, er ist bei keinem seiner Freunde, die wir kennen. Gestern Abend hat er bei uns zu Hause mit seiner Freundin gestritten. Auch sie weiß nicht, wo er hingegangen sein könnte. Ansonsten hüllt sie sich in Schweigen und will uns nicht einmal sagen, worum es bei dem Streit ging. Als er aus dem Haus ging, hat Thomas die Tür hinter sich zugeschlagen. Samantha, so heißt seine Freundin, hat versucht, ihm hinterherzulaufen, aber er hat sich auf den Roller geschwungen und ist losgefahren, noch bevor sie mit ihm sprechen konnte«, berichtete die Mutter des 19-Jährigen, während der Vater schwieg und seine Frau reden ließ.
»Hmm, ein Dummejungenstreich. Vielleicht ist er irgendwo hingegangen und hat ein Glas zu viel getrunken, um den Streit zu vergessen. Wenn der Rausch vorbei ist, wird er wieder nach Hause finden.«
»Nein, dafür ist Thomas nicht der Typ. Er trinkt keinen Alkohol, er ist ein guter Junge. Und das ist das erste Mal, dass er so etwas macht«, insistierte die Mutter.
»Machen wir es so: Wir werden vorerst einige diskrete Ermittlungen anstellen, ohne eine Vermisstenanzeige aufzunehmen. Besorgen Sie mir ein neueres Foto Ihres Sohns, das ich an die Streifenpolizisten geben kann. Rosati, du versuchst, das Handy des Jungen zu orten. Roberta, du gehst nach Hause zu den Eltern und wirfst einen Blick in den Computer. Schau dir vor allem E-Mails und gespeicherte Messenger-Chats an, also alles, was nützlich sein könnte, um herauszufinden, wo sich der Junge versteckt hält. Dann versuch auch, Samantha, die Freundin, auszuhorchen. Geh dabei aber bitte behutsam vor und bedränge sie nicht zu sehr. Sie ist noch minderjährig.«
Alles in allem schien Santinelli gut zurechtzukommen, und ich atmete erleichtert auf. Ich hätte es nicht besser machen können, und das, was er vorgeschlagen hatte, war sinnvoll.
Nach einigen Stunden kamen die beiden Kollegen zurück ins Büro. Rosati hatte keine tröstenden Meldungen zu machen. Thomas‘ Handy ließ sich nicht orten. Mit Sicherheit hatte er Akku und die SIM-Karte entfernt, was darauf schließen ließ, dass er sich mit diesem Thema auskannte. Etwas mehr hatte Roberta in Erfahrung bringen können.
»Nichts Interessantes in der dem Jungen vorbehaltenen Partition des Computers. Ich habe mir auch sein Facebook-Profil angesehen, aber auch dort nichts gefunden. Was mir dagegen aufgefallen ist und bei mir die Alarmglocken hat läuten lassen, ist ein passwortgeschützter Ordner in der Partition, die Herrn Vindici, dem Vater des Jungen, vorbehalten ist. Es war nicht schwierig, die Sicherung zu knacken und den Inhalt des Ordners aufzurufen. Darin befinden sich unzählige Bilder, mehr als eintausendvierhundert, die rauchende Frauen zeigen.«
»Pornobilder?«, fragte ich per Online-Zuschaltung und hatte sofort die Aufmerksamkeit der Kollegen im Büro.
»Nicht wirklich. Ja, ein paar Nacktbilder, aber immer sind darauf junge, hübsche Frauen mit einer Zigarette in der Hand oder im Mund. Viele Porträtfotos von Frauen, die Rauch inhalieren oder ausblasen oder von einer bläulichen oder weißlichen Rauchwolke umgeben sind.«
»Ein Fetischist. Mit aller Wahrscheinlichkeit hat er nur spärlichen oder gar keinen Sex mit seiner Frau und befriedigt sich beim Anschauen dieser Bilder. Soweit nichts Schlimmes, würde ich sagen. Eben das Bild einer etwas zerrütteten Ehe.«
»Ja, Sie haben recht, Dottoressa. Ich habe versucht, etwas über die Beziehungen zwischen Giorgio Vindici und seiner Frau Elisabetta herauszufinden. Diskret natürlich. Sie leben praktisch getrennt unter einem Dach, schlafen in getrennten Zimmern und hatten seit Langem keinen Geschlechtsverkehr mehr. Vor fünf oder sechs Jahren war die Frau sehr krank und musste eine komplizierte Operation über sich ergehen lassen, eine Lebertransplantation. Die beiden hatten sich schon zuvor auseinandergelebt. Die Frau ergriff die Gelegenheit, ein eigenes Zimmer zu beziehen unter dem Vorwand, sie müsse eine Therapie mit Immunsuppressiva machen, die unverzichtbar sind, damit das transplantierte Organ nicht abgestoßen wird, um nicht Gefahr zu laufen, sich irgendetwas einzufangen, sei es auch nur eine Erkältung. Seit damals schläft sie in einem anderen Zimmer und nicht mehr bei ihrem Mann. Dieser hat es nicht übers Herz gebracht, sie zu verlassen, und aus Achtung, Angst oder Schüchternheit hat er sich auch keine andere gesucht. Also verschafft er sich wohl Befriedigung beim Betrachten der Bilder am PC.«
»Eine etwas komplexe Persönlichkeit. In solchen Fällen mangelt es häufig auch am Dialog in der Familie. Aber all das hilft uns nicht dabei, Thomas zu finden.«
»Sicher. Wenn ich nicht auch entdeckt hätte, dass Samantha, die Freundin, rebellisch, antikonformistisch und unkonventionell ist und darüber hinaus ziemlich viel raucht für ihr Alter. Wie würden Sie diese Dinge mit dem Laster von Thomas‘ Vater in Verbindung bringen?«
»Glauben Sie, dass er nicht widerstehen konnte und das Mädchen belästigt hat?«
»Ja. Und ich glaube, dass der Sohn ihn dabei auf frischer Tat ertappt hat. Und deswegen mit Türenknallen aus dem Haus gestürmt ist.«
»Bevor wir zu voreiligen Schlüssen kommen, möchte ich mir selbst ein Bild von Herrn Vindici und Samantha machen. Wir können Vindici vorladen. Ich möchte, dass Perrotta ihn verhört, und will die Vernehmung mitverfolgen. Was das Mädchen betrifft, gehst du, Roberta, zu ihr nach Hause und sprichst dort mit ihr. Nimm das Handheld mit und aktiviere den Videochat, sodass ich ihren Charakter analysieren und hören kann, was sie zu sagen hat.«
Nach etwa einer Dreiviertelstunde wurde Vindici in den Vernehmungsraum geführt. Perrotta ließ ihn eine ganze Weile allein, sodass wir sein Verhalten über die Videokameras angesichts dessen, was wir im Kurs über Körpersprache gelernt hatten, studieren konnten. Auf der einen Hälfte meines Monitors sah ich den Vernehmungsraum, auf der anderen mein Büro, das momentan Santinelli vereinnahmt hatte. Vindici wirkte besorgt, sehr nervös, blinzelte häufig, hob die Augenbrauen und spielte mit allem herum, was ihm in die Finger kam, zuerst mit seiner Uhr, dann mit allem, was er im Raum fand. Am meisten fiel mir jedoch auf, dass seine Füße stets in Richtung Tür oder des einzigen Fensters im Raum zeigten. also zu einem Fluchtweg, wie wir im Kurs gelernt hatten. Er konnte es kaum erwarten, dort wegzukommen. Perrotta ließ ihn geschickt etwa zwanzig Minuten lang schmoren und betrat dann den Raum.
»Seien Sie beruhigt und entspannen Sie sich, wir werden nichts von dem, was Sie hier sagen, Ihrer Frau berichten. Die Wände sind schallgedämmt, niemand hört uns. Möchten Sie ein Glas Wasser?« Im Raum gab es einen Wasserspender. Gaetano füllte einen Plastikbecher mit Wasser und reichte ihn dem Mann. »Auf Ihrem PC sind interessante Fotos gespeichert. Möchten Sie darüber sprechen?«
Vindici begann zu schwitzen und suchte Ausflüchte.
»Da ist nichts Illegales. Das sind keine Pornofotos, und es handelt sich nicht um Minderjährige. Ich bin kein Pädophiler.«
»Ja, ja, sicher. Jeder von uns pflegt Leidenschaften. Ich spiele Fünfer-Fußball, Sie mögen rauchende Frauen. Apropos, möchten Sie eine Zigarette?«
»Ähm, nein. Ich rauche nicht.«
»Wirklich? Und woher kommt dann diese Leidenschaft?«
»Das weiß ich auch nicht. Die menschliche Psyche ist unkontrollierbar. Fakt ist, dass es mich erregt, wenn ich eine rauchende Frau sehe, vor allem, wenn sie gerade eine Zigarette mit einem Feuerzeug oder Streichholz anzündet, und ich kann nichts dagegen tun. Das war schon so, als ich ein Jugendlicher war. Ich weiß nicht, was ich dagegen machen soll.«
In der Zwischenzeit war Roberta bei Samantha zu Hause eingetroffen und hatte den Videochat ihres Handhelds aktiviert. An meinem Computer ploppte also ein drittes Fenster auf, in dem ich sie sehen konnte: ein zierliches Mädchen, dessen blondes Haar zu dünnen Zöpfchen geflochten war. Sie hatte blaue Augen, ein rundliches Gesicht und eine rosige Haut, hie und da ein paar Pickel. Sie sah noch jünger als siebzehn aus und nutzte daher einige Tricks, um älter zu wirken. Vor allem schminkte sie sich stark, aber sorgfältig, hatte Piercings und rauchte. Ich bemerkte ein Nasenpiercing und eins unter der Unterlippe. An der linken Ohrmuschel trug sie eine durchgehende Reihe unterschiedlicher Ohrstecher, das rechte Ohr zierten dagegen einen Ohrring am Ohrläppchen und ein Piercing weiter oben. Vermutlich hatte sie auch anderswo welche, die momentan nicht sichtbar waren, vielleicht am Nabel oder im Intimbereich. Sie war mit Zigarettenpapier, Filter und Tabak zugange, um sich eine Zigarette zu drehen, und gab sich dann mit einem kleinen roten BIC-Feuerzeug Feuer, was Roberta, die überzeugte Gesundheitsfanatikerin war und Rauch nicht ertrug, sehr störte.
»Möchtest du mir erzählen, was gestern bei Thomas zu Hause vorgefallen ist?«, fragte die Sovrintendente.
»Nein, ich möchte gar nichts sagen. Ich bin minderjährig, lassen Sie mich in Ruhe! Ich kenne meine Rechte, und Sie dürfen mich nicht vernehmen.«
»Das ist kein Verhör. Ich versuche nur herauszufinden, wo dein Freund abgeblieben ist. Möchtest du das nicht auch wissen?«
Das Mädchen wandte sich zur Seite und blies dichten Rauch aus der Nase.
»Uff!«
In der Zwischenzeit gab Vindici unter den immer drängenderen Fragen Perrottas nach.
»Wenn Sie nicht kooperieren, müssen wir Strafanzeige wegen Belästigung Minderjähriger gegen Sie erstatten. Beweise haben wir genug.«
»Okay, okay. Ich habe das Mädchen nicht missbraucht. Sie hat mich provoziert. Sie kennt meine Schwäche, weil sie mich einmal überrascht hat, als ich mir diese Fotos am Computer angesehen habe. Sie hat mich bewusst provoziert. Als wir einige Augenblicke allein waren, zog Samantha eine Zigarette aus einem Päckchen und steckte sie sich in den Mund. Sie hat mehrmals versucht, sie anzuzünden, aber das Feuerzeug hat nicht funktioniert. Ich weiß nicht, ob es leer war oder ob das Mädchen nur so getan hat, um mich zu provozieren. Dann hat sie mich gefragt, ob wir Streichhölzer im Haus hätten. Ich habe welche geholt, eins angezündet und die Flamme an ihre Zigarette geführt. Sie wusste ganz genau, dass ich in diesem Moment äußerst erregt war, und blies mir den Rauch ins Gesicht. Dann hat sie meine Hand genommen und unter ihr T-Shirt auf ihre nackte Haut geführt. Das hat mich verrückt gemacht. Meine Hand hat ihr Nabelpiercing berührt, und ich musste mich sehr beherrschen, um sie nicht nach oben zu ihrer Brust gleiten zu lassen. Sie hatte keinen BH an. Samantha hatte mir bereits die Hose aufgeknöpft und war kurz davor, meinen Penis in die Hand zu nehmen, als Thomas hereinkam. Ich habe mich zu Tode geschämt. Mein Sohn wurde wütend, aber Samantha hat mir, bevor sie ihm hinterhergelaufen ist, einen Blick zugeworfen, der nichts anderes bedeuten konnte als: Kein Wort, ich werde nichts sagen. Ich dachte, sie würde zu ihm laufen und sie würden sich versöhnen, aber ...«
Ich bat Roberta, das Handheld ans Ohr zu halten, und berichtete ihr, was sich bei der Vernehmung von Thomas‘ Vater ergeben hatte. Roberta nickte und wandte sich erneut an das Mädchen.
»Gut, Samantha. Man informiert mich gerade, dass Herr Vindici gestanden hat, was gestern Abend zwischen euch vorgefallen ist. Wenn der Verdacht besteht, dass er dich belästigt oder missbraucht hat, muss ich den Sozialdienst rufen und dich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen lassen, um festzustellen, ob du vergewaltigt wurdest. Eine solche Untersuchung ist meistens nicht gerade angenehm. Dann müssten wir dein Zimmer durchsuchen, um herauszufinden, ob du außer Tabak noch was anderes rauchst. Wenn du all das vermeiden willst, dann sag uns, was du weißt.«
Samantha drehte sich eine weitere Zigarette, um Zeit zu gewinnen, und zündete sie an. Resigniert begann sie zu sprechen.
»Also gut, du blöde Bullenzicke. Zwischen mir und Giorgio ist nichts vorgefallen. Ich provoziere gern, und es war mir einfach danach. Ich glaube, ich weiß, wohin Thomas gegangen ist. Unten am Hafen zwischen der Anlegestelle für Handelsschiffe und dem kleinen Touristenhafen gibt es ein paar Fischerhütten, die zu dieser Jahreszeit nicht genutzt werden. Wir sind ein paar Mal dorthin gegangen, um Sex zu haben. Ich glaube, er hält sich in einer davon versteckt.«
Ich gab Roberta sofort Instruktionen.
»Ich kenne den Hafen gut. Es gibt Hunderte solcher Hütten dort, und Thomas könnte sich in irgendeiner davon befinden. Wir müssen ihn schnell finden. Wenn der Junge sensibel ist, könnte er versuchen, sich etwas anzutun. Fahr bei ihm zu Hause vorbei und nimm ein Kleidungsstück mit, das Thomas getragen hat und das noch nicht gewaschen wurde. Schick jemanden bei mir vorbei, um Furia abzuholen, und lass ihn am Kleidungsstück schnüffeln. Wir werden den Jungen sicher finden.«
Furia erfüllte seine Aufgabe vorbildlich. Als die Kollegen in die Hütte mit der versperrten Tür eindrangen, an der Furia mit der Pfote gekratzt hatte, stand Thomas bereits auf einem Schemel und hatte sich eine Schlinge um den Hals gelegt. Als er hörte, wie die Tür aufgebrochen wurde, sprang der Junge vom Schemel und baumelte am Seil, aber Roberta und Gaetano kamen ihm schnell zu Hilfe, und der Selbstmordversuch hatte keine tragischen Folgen. Der Junge wurde ins Präsidium gebracht, wo seine Eltern auf ihn warteten. Von meinem PC aus sah ich alle, die Kollegen und die Familie Vindici, vor der Webcam stehen, und konnte mich einer Strafpredigt nicht enthalten.