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Das plötzliche Verschwinden von Personen beunruhigt die Bewohner von Triora, einem Dorf im Hinterland Liguriens. Caterina Ruggeri, Polizeikommissarin, muss geheimnisvolle Verbrechen aufdecken und dafür 400 Jahre weit zurückgehen: Die Tötung einer Hexe scheint die Hintergründe für eine übersinnliche Rache zu verschleiern.
Caterina Ruggeri, langjährige Leiterin einer Polizehundestaffel, wird nach ihrem Abschluss in Rechtswissenschaften zur Kommissarin ernannt und der Polizeidienststelle Imperia zugewiesen. Am neuen Arbeitsplatz eingetroffen, wird die frischgebackene Kommissarin gleich in eine düstere Ermittlung verwickelt. In deren Verlauf bekommt sie es mit Personen zu tun, die mit einer esoterischen Sekte verbunden sind – an dem Hexenort schlechthin: Triora. Beim Löschen eines Waldbrands wird die verkohlte Leiche einer Frau gefunden, und Dottoressa Ruggeri muss mit Unterstützung ihres Stellvertreters, Ispettore Giampieri, ehemaliger Soldat, IT-Spezialist und Sportwagenfahrer, auch Vorfälle untersuchen, die sich vor langer Zeit an diesem Ort ereigneten. Eine wichtige Rolle bei diesem Abenteuer spielt auch Kommissarin Ruggeris treuer Springer Spaniel Furia, dessen empfindliche Spürnase bei mehr als einer Gelegenheit wertvolle Hilfe leistet.
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Seitenzahl: 562
Veröffentlichungsjahr: 2024
An meine Frau Paola
Und an meine Kinder Diego und Debora
Tektime
ÜBERSINNLICHE VERBRECHEN
Stefano Vignaroli
Kommissarin Caterina Ruggeris erster Fall
Übersetzung von Ulriche Sengfelder
Copyright © 2011–2018 Stefano Vignaroli
Zweite Ausgabe © 2020 Tektime
Alle Rechte vorbehalten
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Kontakt-E-Mail [email protected]
STEFANO VIGNAROLI
Übersinnliche Verbrechen
Kommissarin Caterina Ruggeris
erster Fall
ROMAN
VORWORT
PROLOG
KAPITEL 1 Caterina Ruggeri
KAPITEL 2
KAPITEL 3 Aurora Della Rosa
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6 Mariella La Rossa
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9 Giovanna Borelli
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12 Anna Lory Stella
KAPITEL 13
KAPITEL 14 Larìs Dracu
KAPITEL 15 Clara Giauni
KAPITEL 16 Das Böse
KAPITEL 17
KAPITEL 18
EPILOG
ANMERKUNGEN DES AUTORS UND DANKSAGUNGEN
VORWORT
Wie hängen das geheimnisvolle Verschwinden mehrerer Menschen in Triora, Ligurien, und die Tötung einer Hexe vierhundert Jahre zuvor zusammen? Ist es möglich, dass diese beiden Ereignisse, die zeitlich so weit auseinanderliegen, irgendwie verbunden sind?
Kommissarin Caterina Ruggeri hat die Aufgabe, um jeden Preis Licht in diese Sache zu bringen. Dazu folgt sie einer düsteren Spur, die zu scheinbar übersinnlichen Wurzeln führt.
Dies ist das Thema des Romans „Übersinnliche Verbrechen“, in dem es um Bluttaten und dunkle Nächte geht: ein Roman noir, der die Leserschaft in Atem hält und jene unheilvolle Gänsehaut entstehen lässt, wie es nur ein guter Thriller vermag.
Ein packendes, realitätsnahes Werk, das sich mit seinen übersinnlichen Einflüssen gleichzeitig auch weit von der Wirklichkeit entfernt – als wäre es auf der Flucht vor ihr – und die Leserinnen und Leser in die Welt der Fantasie, Vorstellungskraft und ... des Gruselns entführt!
Filippo Munaro
PROLOG
Sommer 1989
An der Grenze zwischen Nepal und der Volksrepublik China
Als sich die Sherpas der x-ten Hängebrücke näherten, erklärten sie den beiden Frauen, die sie in Kathmandu angeworben hatten, in gebrochenem Englisch, dass sie den Punkt auf der anderen Seite der Brücke niemals überschreiten würden. Es sei ihnen nicht gestattet, die Götter herauszufordern, sie hätten viel zu viel Angst. Keiner von ihnen habe sich jemals jenseits dieser Brücke begeben, und alle, die es in früheren Zeiten gewagt hätten, wären niemals zurückgekommen. Wollten die Frauen ihren Weg fortsetzen, so müssten sie dies allein tun. Sie würden ihnen das Notwendigste überlassen, das sie in ihren Rucksäcken mitführen konnten: einige Lebensmittel, Schokolade, einen Campingkocher und ein leichtes Igluzelt für zwei Personen. Sie selbst würden drei Tage auf sie warten, nicht länger. Es war ein klarer Tag. Die dünne Luft in fast 4000 m Höhe verlieh dem Himmel ein leuchtendes Blau, in das die schneebedeckten Gipfel der weltweit höchsten Berge vorzustoßen schienen. Aurora und Larìs hatten sich die warmen Goretex-Jacken ausgezogen, die sie bis zu diesem Zeitpunkt vor plötzlichem Schneegestöber geschützt hatten, was in den letzten fünf Tagen häufig der Fall gewesen war. Sie waren nicht aufgebrochen, um den Kick eines Extremurlaubs zu verspüren, sondern um zum Tempel des Wissens und der geistigen Erneuerung zu gelangen und dort beim Großen Patriarchen vorzusprechen. Auf diese Weise hätten sie Zugang zum im Tempel verwahrten Universalwissen und könnten Adeptinnen auf höchstem Niveau dieser Sekte werden. Sie wussten bereits, dass sie hinter der Brücke allein weitergehen und sich auf ihre Intuition und ihre Fähigkeiten verlassen mussten. Würden diese sie im Stich lassen und sie sich verirren, gäbe es keine Rettung. Dann würden sie in jenen Bergen nur den Tod finden. Aurora gab dem Sherpa-Chef die vereinbarte Summe und teilte ihm mit, dass er auch gleich gehen könne, wenn er wolle. Der Mann mit den asiatischen Gesichtszügen, der ein Lama am Zügel hielt, schüttelte jedoch den Kopf und wiederholte: »Three days.«
Er wärmte einen starken Tee für die beiden Frauen auf und verabschiedete sich dann mit einem Handzeichen. Die ältere Frau und ihre junge Freundin schulterten die Rucksäcke und wagten sich auf die Hängebrücke, unter der sich ein mindestens achthundert Meter tiefer Schlund öffnete.
Caterina Ruggeri
Die Stimme des Flugzeugkommandanten, der die Fluggäste auf die unmittelbar bevorstehende Landung aufmerksam machte, brachte mich in die Realität zurück. Ancona und Genua waren nur eine Flugstunde entfernt, während derer unzählige Gedanken durch meinen Kopf wirbelten. Die Vorfälle der letzten Tage hatten mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich dachte an meine Vergangenheit und an meine Zukunft. Jetzt hatte ich eine wichtige Aufgabe übernommen. Ich war in Imperia zur Kommissarin berufen worden, doch ich hätte niemals gedacht, dass diese Ernennung so bald erfolgen würde. Sicher, als Leiterin der Hundestaffel der Polizia di Stato am Flughafen Raffaello Sanzio in Ancona hatte ich eine aufregende Zeit gehabt. Ich hatte die Möglichkeit, das zu machen, was ich mir von Kindesbeinen an gewünscht hatte: mit Polizeihunden zu arbeiten und diese auszubilden. Drogenspürhunde, Rettungshunde, die nach unter Trümmern Verschütteten suchen, Hunde, die helfen, Aufstände niederzuschlagen, und Spürhunde, die Spuren von Menschen und im besten Fall die dazugehörigen Menschen finden. Abgesehen davon, dass ich einer Arbeit nachging, die ich liebte, hatte ich auch Zeit gehabt, die Universität zu besuchen und ein Studium in Rechtswissenschaften abzuschließen sowie mich in Kriminologie zu spezialisieren, in der Hoffnung auf die ersehnte Beförderung.
Meine Leidenschaft für Hunde würde ich sicher nie verlieren. Diese hatte mein Cousin Stefano in mir entfacht, der nun in seinen 50ern ärztlicher Leiter der tierärztlichen Klinik Aesis war. Schon als ich ein kleines Mädchen war, war Stefano meine heimliche Liebe. Mein Cousin zweiten Grades, der zwölf Jahre älter war als ich, hatte seit jeher eine besondere Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Die Erinnerung an Mariä Himmelfahrt vor fünfundzwanzig Jahren hatte sich tief in mich eingeprägt. Damals besuchte die siebte Klasse und hatte mein dreizehntes Lebensjahr noch nicht vollendet. Er dagegen hatte vor Kurzem in Perugia seinen Abschluss in Veterinärmedizin gemacht.
Mit meiner Familie, meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern, den Zwillingen Alfonso und Stella, machte ich Urlaub an einem reizenden, 1400 m hoch gelegenen Ort in den Sibillinischen Bergen. Mein Vater, ein großer Freund des Alternativurlaubs, wäre mit uns nie in einem Hotel abgestiegen, also nutzten wir den brandneuen Zeltanhänger, den er soeben gekauft hatte.
Meine und Stefanos Familie waren sehr verbunden. Daher war mein Cousin mit seinen beiden Schwestern und seiner Mutter am frühen Morgen zu uns gestoßen, um zusammen mit uns Mariä Himmelfahrt – Ferragosto – zu verbringen. Es war ein herrlicher, klarer Sommertag, und am Himmel war kein Wölkchen zu sehen. Die frische Bergluft lud zu einer Wanderung ein. So beschlossen wir, zu einer Berghütte zu laufen, die etwa eineinhalb Wegstunden von unserem Zeltplatz entfernt war. Von dort führte ein steiler Aufstieg in einer weiteren halben Stunde zu einem Gipfel, dem Pizzo Tre Vescovi. Den ganzen Weg lang hatte ich meine gleichaltrige Cousine ignoriert und versucht, möglichst nah bei Stefano zu bleiben, um mich mit ihm zu unterhalten. Er erzählte mir von der Universität, von seinen aktuellen und zukünftigen Plänen und wie und warum er vor Kurzem seine Freundin verlassen hatte, mit der er mehr als fünf Jahre zusammen gewesen war. Ich und Stefano waren beide große Bergfreunde und hatten die beste Kondition von allen. So setzten wir, nachdem wir die Hütte erreicht hatten, unsere Wanderung zum Gipfel fort, während der Rest unserer Gruppe beschloss, sich auszuruhen und Heidelbeeren und Himbeeren zu sammeln. Mein Vater war damit einverstanden gewesen, nachdem wir ihm versichert hatten, dass wir zum Mittagessen um dreizehn Uhr wieder beim Zeltanhänger wären. Mit einer kindlichen, aber voll beabsichtigten Geste ergriff ich Stefanos Hand und begab mich mit ihm auf den steilen, mühevollen Weg. Die Aussicht am Gipfel belohnte uns für die Anstrengung. An einem klaren Tag wie diesem reichte der Blick von den Bergen Umbriens im Westen bis zum Adriatischen Meer im Osten, von den Bergen rund um Pesaro im Norden bis zur mächtigen Silhouette des Monte Vettore im Süden, der den Horizont begrenzte und den Blick auf den Gebirgszug der Monti della Laga und die Abruzzen versperrte.
Ich genoss das Panorama, schwelgte aber vor allem in Stefanos tiefgrünen Augen, der mir die Namen der verschiedenen Berge nannte. Zumindest von denen, die er kannte. Je mehr ich ihn beobachtete und ihm zuhörte, desto mehr fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Er hatte ein sympathisches Gesicht, umrahmt von einem leichten Bart, dichtes, dunkles Haar und Augen, die mir unglaublich gut gefielen. Da ich dem Kindesalter gerade erst entwachsen war, wusste ich nicht so genau, was es bedeutete, sich zu verlieben. Aber in jenen Augenblicken war mir bewusst, dass ich neue Gefühle verspürte, denen ich vielleicht zum ersten Mal zum Opfer fiel.
Während des Abstiegs unterhielten wir uns und alberten herum und stießen gerade rechtzeitig zum Mittagessen weder zu den anderen. Meine Mutter hatte ausgezeichnete Pasta mit Amatriciana-Sauce zubereitet, danach gab es Bratwürste vom Grill und zum Schluss die von unseren Geschwistern gesammelten Beeren. Nach dem Essen schlug ich Stefano vor, sich gemeinsam in die Sonne zu legen. Ich hatte eine Decke besorgt, und wir ließen uns etwas abseits von den anderen nieder, sodass sie uns nicht sehen konnten. Ich zog T-Shirt und Jeans aus und trug nur noch einen rosa Bikini, dessen Oberteil gerade mal meine noch unreife Brust bedeckte. Auch Stefano hatte sein T-Shirt ausgezogen. Wir legten uns nebeneinander, um die Nachmittagssonne zu genießen, die die Haut wärmte. Irgendwann drehte ich mich zu ihm und drückte meine winzigen Brüste gegen seinen Brustkorb.
»Zeig mir, wie man einen Jungen küsst!«
Er sah mich fragend an, aber schon näherte ich mich mit halb geschlossenen Augen und alles andere als schüchtern seinem Gesicht. Ich spürte seine Lippen auf meinen und war für einen Augenblick in Ekstase. Ich weiß nicht, wie lange dieser Augenblick dauerte. Vielleicht ein paar Sekunden. Als Stefano bewusst wurde, was er da gerade machte, hielt er inne und schob mich weg. Immerhin sanft und vielleicht auch schweren Herzens.
»Caterina, das geht nicht mit uns beiden, ich hätte mich nicht gehen lassen dürfen. Du bist ein süßes Mädchen und wirst sicher mal eine wunderschöne Frau. Du hast herrlich blaue Augen, die unter deinem dunklen Haar noch besser zur Geltung kommen. Sicherlich wirst du es nicht schwer haben, einen netten Jungen zu finden, der zu dir passt. Ich kenne dich, seit du ein Baby warst, und ich versichere dir, dass ich dich mag – aber wie eine Schwester! Zwölf Jahre Altersunterschied, das ist einfach zu viel. Du bist kaum mehr als ein Kind, und ich bin ein Mann im heiratsfähigen Alter. In jedem Fall werde ich im September für zwei Jahre nach Pisa gehen, um mich dort auf Kleintiere zu spezialisieren. Ich verspreche dir, dass ich dir schreiben werde und dir meine Adresse schicke. Meiner Freundschaft und meiner Zuneigung kannst du für immer sicher sein, aber belassen wir es beim heutigen Vorfall, als wäre er ein Spiel gewesen, und reden wir nicht mehr drüber.«
Errötend nickte ich, aber jener Kuss würde mir immer als der schönste, den ich jemals bekommen hatte, in Erinnerung und im Herzen bleiben.
Damals gab es noch keine Handys, und die Kontakte beschränkten sich auf Ansichtskarten, Briefe oder das Festnetztelefon. Nach einiger Zeit wurde daher der Kontakt zu Stefano immer lockerer, und erst nach zwei Jahren sollte es mir gelingen, wieder mal einige Tage mit ihm zu verbringen.
Ich hatte gerade die neunte Klasse am Gymnasium hinter mir und das Schuljahr mit ausgezeichneten Noten bestanden. Es kündigte sich ein langweiliger Sommer ohne große Aussichten auf einen Urlaub an, denn meine Eltern stritten immer häufiger, und es gelang ihnen nicht mehr, sich über irgendetwas einig zu werden. Darüber hinaus litt mein Vater zunehmend an Depressionen.
An einem heißen Julitag rief mich meine Mutter zum Telefon und teilte mir mit, dass mein Cousin Stefano dran sei und mich sprechen wolle. Ich rannte mit einem bis zum Hals pochenden Herzen zum Telefon.
«Hi Caterina! Ich habe gerade die Abschlussprüfung des zweiten Spezialisierungsjahrs bestanden und nun einige Tage frei, bevor ich das zweimonatige Praktikum in der Universitätsklinik beginne. Im Oktober muss ich dann die Dissertation vorlegen, also werde ich diesen Sommer ziemlich beschäftigt sein. Doch warum kommst du nicht einfach hierher nach Pisa, und wir machen eine Spritztour durch die Toskana? Ein kleiner Urlaub würde uns beiden guttun, dich von deiner familiären Situation ablenken und mir eine kurze Lernpause erlauben!»
Nachdem ich meine Eltern um Erlaubnis gebeten hatte, die keine Einwände erhoben, fuhr ich mit dem Zug nach Pisa. Stefano erwartete mich in der Bahnhofshalle. Ich drückte ihm meine Reisetasche in die Hand und stieg in sein Auto, eine Ente, mit der wir in den folgenden Tagen die Toskana bereisten. Entweder übernachteten wir in Jugendherbergen oder bei seinen Kommilitonen. Und wir besuchten herrliche Städte – Pisa, San Gimignano, Arezzo. Angeregt von unserer gemeinsamen Leidenschaft für die Berge machten wir auch einen kleinen Ausflug in den toskanisch-emilianischen Apennin zur Arnoquelle. Schließlich fuhren wir nach Florenz, wo wir bei seinem Bruder unterkamen, der dort offiziell Architektur studierte, aber in Wahrheit alles andere machte, als sich um sein Studium zu kümmern. Am letzten Abend, nach dem Essen, war es immer noch heiß, und ich war müde. Wir gingen am Arno bis zum Ponte Vecchio spazieren. Trotz der Hitze war es ein herrlicher Abend, und der fast volle Mond spiegelte sich im Fluss, was eine wirklich romantische Atmosphäre erzeugte. Müde kuschelte ich mich an Stefano und legte meinen Arm um seinen Hals. Er ergriff zart meine Hand an seiner Schulter und streichelte sie. Mit dem anderen Arm umschlang er meine Hüfte. So saßen wir da, ohne etwas zu sagen, einander nah und umschlungen, und betrachteten die florentinische Stadtlandschaft. Ich wartete auf einen Kuss, aber nichts geschah. Und ich wünschte mir, dass dieser Augenblick nie vorbeiginge, ich wollte für immer so sitzen bleiben. Doch schon am nächsten Morgen stand ich am Bahnhof von Florenz, bereit, die Rückreise anzutreten. Der Kurzurlaub war vorbei, aber immer noch dachte ich an die Umarmung am Abend zuvor, spürte noch Stefanos Hand auf meiner. War ich verliebt? Vielleicht.
Zurück zu Hause, fand ich meine Eltern im zigten Streit. Die in den Vortagen entstandenen romantischen Gefühle in mir waren mit einem Schlag Vergangenheit. Wie können zwei Personen, die sich mal geliebt und mehr als zwanzig Jahre lang ihr Leben geteilt hatten, so miteinander umgehen?, dachte ich. Genau in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich nie heiraten würde.
Ich war neunzehn Jahre alt, als mein Vater sich an einem lauen Herbsttag eine Kugel in den Kopf jagte. Wie er in den Besitz einer Pistole gelangt war, sollte ich nie erfahren. Sein Leben war von einem tragischen Umstand geprägt, der zwölf Jahre zuvor eingetreten war und bei dem mein dreijähriger Bruder ums Leben gekommen war.
Sonntags fand mein Vater Freude daran, das Essen zuzubereiten. Im Kamin bereitete er die Glut vor, auf der er dann Spieße, Bratwürste, Gemüse, Hühnchen und sonstige Köstlichkeiten grillte. Am Tag des Unfalls hatte er wie gewöhnlich den Kamin angeschürt und alles Notwendige auf dem Tisch vorbereitet. Alfonso hatte sich zum Spaß einen Grillrost geschnappt und rannte damit im Zimmer umher. Mein Vater versuchte, die Gefahr zu bannen und lief ihm hinterher. Alfonso stolperte und fiel zu Boden. Der Grillrost wurde in die Luft geschleudert und landete in seinem Nacken. Ein spitzes Teil des Metallrosts hatte genau den Weg zwischen zwei Wirbel gefunden und bohrte sich ins Knochenmark. Mein Bruder war sofort tot. Mein Vater konnte sich niemals mit diesem Vorfall abfinden. Doch meine Eltern beschlossen, den erlittenen Verlust mit einem weiteren Kind auszugleichen, und so kamen schließlich die Zwillinge zur Welt. Einen Zwilling Alfonso zu nennen war alles andere als eine gute Idee gewesen, denn jedes Mal, wenn meine Eltern diesen Namen aussprachen, wurden sie an den tragischen Vorfall erinnert. Mit der Zeit stritten sie immer häufiger. Meine Mutter gab ihrem Ehemann die Schuld am Tod des Kinds, mein Vater litt dann an Depressionen und begab sich deswegen in Psychotherapie. Sein Therapeut hatte an einem gewissen Punkt begonnen, ihm Psychopharmaka zu verschreiben, die jedoch bei meinem Vater nicht etwa eine Besserung, sondern einen Nervenzusammenbruch hervorriefen und ihn schließlich in den Selbstmord trieben.
Als ich eines Tages einen lauten Knall hörte, rannte ich mit einer üblen Vorahnung ins Büro meines Vaters, aus dem der Knall gekommen war. Sein Oberkörper ruhte auf dem Schreibtisch, daneben ein Zettel, auf dem zwei Wörter standen: „Verzeiht mir“.
Ich konnte keine einzige Träne vergießen. Meine Mutter schien über den Verlust nicht allzu traurig zu sein, im Gegenteil: Für sie war es vielleicht eine Erleichterung. Ich verspürte das Bedürfnis, mit jemand anderem als meiner Mutter zu reden, mit jemandem, der mich verstehen würde. Der einzige Mensch, der mir einfiel, war Stefano. Ich fuhr zu ihm in seine Tierarztpraxis am Stadtrand von Jesi, und erst in seinen Armen konnte ich weinen.
«Ich habe zu sehr gelitten in den letzten Jahren, zu viel Schlechtes um mich herum erlebt. Ich möchte das ausgleichen und mir eine nützliche Arbeit suchen, die mir gleichzeitig Genugtuung bereitet. Gib mir bitte einen Rat!«
Stefano lächelte und versuchte, meine Tränen zu trocknen.
«Du hast vor Kurzem dein Abitur mit Bestnote bestanden, interessierst dich für Psychologie und Soziologie und magst Tiere, insbesondere Hunde. Vor einigen Tagen hat mir einer meiner Klienten, ein Sovrintendente der Polizia di Stato, von einem Projekt zur Einrichtung einer Hundestaffel, die der Polizeidirektion Ancona unterstehen soll, erzählt. Noch sind Mittel und Ausrüstungen nicht eingetroffen, doch ihm wurde bereits ein Deutscher Schäferhund als Drogenspürhund am Hafen zugeteilt. Warum versuchst du es nicht bei der Polizei? Ich finde, das würde gut zu dir passen! Wenn du einmal dabei bist, wirst du die Möglichkeit haben, deine Kenntnisse als Hundeexpertin einzubringen. Ich bin hier und werde dir helfen, wann immer du mich brauchst!«
Damals hatte ich die Idee für ziemlich abwegig gehalten, aber dann, auch weil ich mir aufgrund der schlimmen Erfahrungen mit meinen Eltern nicht vorstellen konnte zu heiraten, fand ich mich wenige Tage später bei der Polizeidirektion in Ancona ein und füllte den Antrag auf Zulassung zum Kurs für angehende Polizeibeamte aus.
Doch als ich den Kurs abgeschlossen hatte, war es nicht so einfach, wie ich gedacht hatte, Karriere zu machen. Es verging einige Zeit, bis ich zum Dienst einberufen wurde. In der Zwischenzeit hatte ich mich in Macerata an der Fakultät für Rechtswissenschaften immatrikuliert, wo ich mich vor allem mit Kriminologie beschäftigte.
Als das Schreiben der Polizeidirektion Ancona eintraf, dass man mich als Polizeibeamtin einstellen wollte, war es mir noch nicht gelungen, auch nur eine einzige Prüfung abzulegen. Anfangs schienen meine Kenntnisse der Kriminologie und der Arbeit mit Hunden niemanden bei der Polizei zu interessieren. Ich verbrachte lange Tage in Streifenwagen, die durch die Straßen der Stadt fuhren, hielt Autos an Polizeisperren an, nahm Betrunkene, Drogensüchtige und Prostituierte fest. Das war sicher nicht die Arbeit, die ich mir erträumt hatte, und nach Schichtende war ich so erschöpft, dass gar nicht daran zu denken war, irgendein Buch aufzuschlagen, um mein Studium wieder aufzunehmen.
Ich blieb jedoch wachsam und lauerte stets auf eine Gelegenheit, bei der ich meinen Vorgesetzten zeigen konnte, wo meine Fähigkeiten wirklich lagen. Nach ein paar Dienstjahren erfolgte automatisch die Beförderung zum Sovrintendente und eröffnete mir die Möglichkeit, den Ispettori bei Ermittlungen zur Hand zu gehen.
Die Idee einer der Polizeidirektion Ancona unterstehenden Hundestaffel war dagegen völlig von einem Kollegen vereinnahmt worden. Sovrintendente Carli war zum Hafen abkommandiert worden, wo er nichts anderes machte, als ausgewählte Touristen auf der Durchreise von seinem Schäferhund beschnüffeln zu lassen, was dazu führte, dass er zuweilen einem Pechvogel wenige Gramm Rauschgift aus der Unterhose ziehen konnte. Relevante Drogenlieferungen, die bekanntermaßen kiloweise durch den Hafen von Ancona geschleust wurden, hatte er nie abgefangen.
Eines Tages kam endlich meine große Chance. Zusammen mit Ispettore Ennio Santinelli, einem netten Mann, dem es jedoch an jenem gewissen Etwas fehlte, das ihn von der Masse abhob, und der darüber hinaus auch etwas arbeitsscheu war, ermittelte ich in einem Fall des Handels mit gestohlenen Hunden, die unserer Meinung nach ins Ausland geschafft wurden, nachdem ihnen etwaige Tätowierungen entfernt worden waren. Dem Kollegen zufolge handelte es sich zumeist um Jagdhunde, die in Griechenland, Albanien und der Türkei begehrt waren. Meiner Meinung nach steckte mehr dahinter, denn oft waren es Mischlingshunde jeden Alters und auch alte Hunde. Ich hatte Stefano um Rat gefragt, und auch er als Tierarzt war der Meinung, dass da irgendwas nicht stimmte.
»Wenn jemand mit einem internationalen Hundehandel spekulieren will, dann geht es entweder um junge Rassejagdhunde mit einwandfreiem Stammbaum oder um ausgebildete Kampfhunde. Da stimmt was nicht«, hatte er mir am Telefon bestätigt.
Eins Morgens im März traf ein Fax aus Griechenland in der Zentrale ein. Ein Tierschutzverein meldete, dass sich in Patras ein Lkw an Bord einer nach Ancona auslaufenden Fähre befand, der offiziell Pferde transportierte. Unter den Pferden seien aber mindestens rund hundert Hunde, die unter unwürdigen Bedingungen befördert würden. Sovrintendente Carli war an jenem Tag nicht im Dienst, und Ispettore Santinelli hatte keine Lust, sich zum Hafen zu begeben, sei es, weil es an jenem Morgen klirrend kalt war, sei es, weil er dem Kollegen nicht in die Quere kommen wollte.
»Ich glaube nicht, dass die Sache für uns interessant ist«, meinte er. »Geh du mal hin, Caterina, schau dich um, und wenn du es für notwendig hältst, dann ruf den Tierärztlichen Notdienst.«
Am Kai, an dem die Fähre aus Griechenland angelegt hatte, bemerkte ich sofort eine aufgeregte Gruppe von Tierschützern, die die Beschlagnahme der Tiere forderte. Dagegen bestand der Kapitän der Fähre darauf, dass die italienischen Behörden gemäß den internationalen Abkommen an Bord nicht eingreifen dürften, und teilte mit, er hätte vom griechischen Reeder die Anweisung erhalten, den Lkw nicht ausschiffen zu lassen, weil dieser nach Patras zurückkehren würde. All dies überzeugte mich immer mehr, dass ich es hier mit einem illegalen Handel zu tun hatte. Ich hatte die Papiere des Lkw, den Reiseplan und die Begleitdokumente für die Tiere verlangt. Zugmaschine und Anhänger kamen aus der Türkei, Bestimmungsort war Hannover. Den Transportdokumenten zufolge sollte das Fahrzeug nur Pferde, die geschlachtet werden sollten, befördern. Bei meinen Versuchen, mich mit dem griechischen Fahrer auf Englisch zu verständigen, erfuhr ich, dass unter den Pferden auch einige Hunde waren. Er hatte mir einige gesundheitlichen Atteste zum Nachweis der Tollwutimpfung und sonstiger Dinge gezeigt, die jedoch auf Griechisch verfasst waren und die ich daher nicht verstand. Der Fahrer versicherte, er hätte etwa vierzig Hunde an Bord, während die Tierschützer behaupteten, es wären mindestens hundert. Ich wollte den Lkw von Bord fahren lassen, um ihn in Ruhe zu kontrollieren, aber der Kapitän widersetzte sich weiter. Ich benötigte eine List. Ich hatte zum Handy gegriffen und, auch wenn die Mobilfunkgebühren damals noch ziemlich hoch waren, Stefano angerufen, der mir den richtigen Tipp gab.
»Wenn die Tiere seit mehr als vierundzwanzig Stunden unterwegs sind, müssen sie zu ihrem Wohlbefinden und gemäß den geltenden internationalen Bestimmungen trinken, fressen und sich ausruhen, mach das dem Kapitän klar und lass den Lkw ausschiffen. Du wirst sehen, dass er dagegen nichts sagen kann. Wenn er sich nicht an die Regeln hält, läuft er nämlich Gefahr, seinen gut bezahlten Job zu verlieren.«
Der Kapitän hatte zwar angedroht, sich später an offizieller Stelle zu beschweren, den Lkw aber ausschiffen lassen. Darin befanden sich tatsächlich wenige Pferde und viele Hunde. Ich rief sofort Ispettore Santinelli und den diensthabenden Staatsanwalt an, denn ich beabsichtigte, die gesamte Ladung zu beschlagnahmen. Dies erreichte ich trotz des Widerwillens meines Kollegen und des Staatsanwalts, die ziemlich genervt waren, denn wir mussten einen geeigneten Platz für die Unterbringung aller Tiere finden.
Bei der Kontrolle der Hunde, insgesamt waren es 102, fiel mir auf, dass es sich bei allen um mittelgroße Mischlinge mit ausgeprägter Rückenmuskulatur handelte.
Warum nicht?, dachte ich mir. Sie könnten eine Methode entwickelt haben, etwas zu schmuggeln, indem sie es diesen armen Tieren unter die Haut schoben! Wie aber soll ich das meinen Vorgesetzten erklären?
Erneut kam mir Stefano mit einem kostbaren Rat zu Hilfe. Ich hatte die Pferde im Stall eines seiner Freunde einstellen lassen und die Hunde in einem modernen, vor Kurzem eröffneten Tierheim untergebracht, dessen tierische Bewohner er ärztlich betreute. Das Tierheim verfügte über eine gut ausgerüstete Krankenstation, in der Stefano Notbehandlungen verletzter Hunde durchführte. Zur Verfügung stand auch ein Ultraschallgerät, um die Trächtigkeit von Hündinnen festzustellen.
Es musste schnell gehen, denn schon hatten sich international renommierte Anwälte eingeschaltet, um die Freigabe der Tiere zu erwirken, was den Verdacht und die Möglichkeit eines illegalen Handels nur noch erhöhte. Doch auch Kollege Carli befand sich auf dem Kriegspfad, weil wir uns in seinen Zuständigkeitsbereich eingemischt hatten. Er berief sich auf hochrangige Bekannte, sogar auf den Innenminister, und forderte, dass der Fall ihm übergeben werden sollte.
Als wir einem Hund das Fell abrasiert hatten, bemerkten wir, dass das Tier je eine gerade verlaufende Narbe rechts und links der Lendenwirbelsäule hatte.
»Probieren wir mal, seinen Rücken zu schallen«, sagte Stefano, während er zärtlich einen der Hunde streichelte.
»Das sind perfekte Narben. Wahrscheinlich sind es keine chirurgischen Schnitte, denn es sind keine Querstiche von Nähten zu sehen. Aber einem Chirurgen, der weiß, was er tut, gelingt es, mittels einer speziellen subkutanen Naht so ästhetische Narben wie diese zu fabrizieren. Ich könnte es nicht besser.«
Dann legte er die Ultraschallsonde auf den Rücken des Hundes.
»Das subkutane Gewebe weist eine anormale Dichte auf. Ich würde vorschlagen, einige dieser Hunde in den OP zu bringen und nachzuschauen, was sich unter den Narben verbirgt.«
Er versetzte einen der Hunde in Narkose, bereitete den entsprechenden Rückenbereich vor und setzte genau über der Narbe einen Schnitt. Gleich darauf zog er eine sorgfältig versiegelte, blutverschmierte, durchsichtige Plastiktüte heraus, durch die ein weißes Pulver zu erkennen war. Mit Sicherheit handelte es sich weder um Mehl noch um Zucker.
»Rauchgift«, sagte er. »Mit aller Wahrscheinlichkeit Kokain oder Heroin aus Afghanistan, das über die Türkei, Griechenland, Italien und Österreich nach Deutschland kommen soll. Da haben sie ja einen netten Trick ersonnen. Meiner Meinung nach wurden sie jedoch dabei von einem Experten beraten. Drogenhunde nehmen nur den Geruch ihrer Artgenossen wahr, und beim Zoll wird das Rauschgift nicht entdeckt. Der chirurgische Eingriff wird am Herkunftsort durchgeführt. Dann wird abgewartet, bis die Verletzungen vernarbt sind und das Fell nachgewachsen ist. Bei der Ankunft werden diese Tiere vermutlich gequält, vielleicht sogar getötet, um den kostbaren Inhalt zu gewinnen.«
Ich informierte den Staatsanwalt über diese Entdeckung. Er ordnete an, die Tiere unter den vorgeschriebenen Bedingungen zu operieren, die Drogen zu entfernen, und sie dann angemessen zu versorgen. Später sollten sie zur Vermittlung freigegeben werden. Stefano operierte in seiner Klinik nach und nach alle Hunde und gönnte sich zwischendurch nur wenige Stunden der Ruhe, obwohl er wusste, dass er für seine Arbeit keinerlei Honorar bekommen würde. Aber um mir den Erfolg zu sichern, war er bereit, dies und noch mehr zu tun. Am Ende hatten wir 240 Beutel. Jeder enthielt ein halbes Kilo Rauschgift. Später stellte das kriminaltechnische Labor fest, dass es sich um reines Kokain handelte. Ware im Wert von damals 130 Mrd. Lire (zirka 60 Mio. Euro). Außerdem konnten wir aufdecken, dass Sovrintendente Carli bis zum Hals in die Sache verwickelt war, und nahmen ihn wegen Begünstigung fest. An dieser Stelle wurden die Ermittlungen Interpol übergeben, damit sie das Drogenhändlernetz ausgehend von all den Hinweisen, die wir zur Verfügung gestellt hatten, auffliegen lassen konnte.
Ein paar Tage später rief mich der Questore in sein Büro, um mir zu gratulieren.
»Glückwunsch, Ruggeri! Dank Ihres Spürsinns haben wir gute Arbeit geleistet, im Ministerium haben sie uns gefeiert. Ich habe bereits den Vorschlag für Ihre Beförderung zum Ispettore Capo unterzeichnet. Darüber hinaus haben wir auch herausgefunden, dass Carli alles Mögliche veranlasst hat, um die Vorschläge und die Mittel des Ministeriums für das Hundestaffelprojekt zu unterschlagen. Jetzt, wo Carli nicht mehr da ist, werde ich vorschlagen, dass das Projekt direkt Ihrer Leitung unterstellt wird. Sie können über die Mittel nach Belieben verfügen und entscheiden, wie Sie das Ganze aufbauen möchten, aber vor allem die Hunde und die Leute auswählen. Mein Vorschlag ist es, den Hafen der Guardia di Finanza zu überlassen, die bereits den Zoll kontrolliert, und uns einen eigenen Bereich am Flughafen Raffaello Sanzio zuweisen zu lassen, dessen Ausbau ab 2000 geplant ist. Was sagen Sie dazu?«
»Danke, Dottore, aber ich weiß nicht, ob ich all das verdient habe«, erwiderte ich und senkte den Blick. »Ich habe nur meine Pflicht getan!«
Dieses lang zurückliegende Gespräch hallte in meinem Kopf wider, als mich die kratzende Stimme aus dem Lautsprecher aufschrecken ließ.
»Wir danken Ihnen, dass Sie mit Nuova Italia geflogen sind, und möchten die Fluggäste darauf hinweisen, dass wir in zirka zehn Minuten auf dem Flughafen Cristoforo Colombo in Genua landen werden. Heute ist der 1. Juli 2009, es ist 9:30 Uhr, die Temperatur am Boden beträgt zirka 28 Grad, die Wettervorhersage ist heiter, beständig, mit steigenden Temperaturen und Südostwind. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Wir danken Ihnen und würden uns freuen, Sie wieder auf einem unserer Flüge begrüßen zu dürfen.«
Es bedurfte weiterer zwei Jahre, um den Polizeiposten mit der Hundestaffel beim Flughafen Raffaello Sanzio einzurichten. Auf einem Teil des Geländes, das früher der Luftwaffe gehört hatte, war der Posten genauso errichtet worden, wie ich es mir vorgestellt hatte: Zwölf Boxen schlossen an drei Seiten einen weitläufigen Übungsplatz ab. An der vierten Seite stand das Dienstgebäude, das in einem alten Bau der Luftwaffe untergebracht war. Im Erdgeschoss befand sich eine gut ausgestattete Krankenstation für die Hunde mit Röntgen- und Ultraschallgerät, Arzneimittelschrank und einem OP-Saal für Notoperationen. Ein paar Räume waren der Erledigung von Büroarbeit vorbehalten. Im ersten Stock war dagegen meine Dienstwohnung untergebracht: Schlafzimmer, Bad und eine kleine Küche. Mehrere Jahre lang sollte das ehemalige Luftwaffengebäude also nicht nur mein Arbeitsplatz, sondern auch mein Zuhause und mein Zufluchtsort sein, auch angesichts der Tatsache, dass ich immer mehr zur Überzeugung gelangte, mich niemals an einen Mann binden zu wollen.
Ich hatte die Hunde persönlich im Hundezentrum der Guarda di Finanza in Castiglione del Lago und im Hundezentrum der Polizia di Stato in Nettuno bei Rom ausgewählt, wo ich seinerzeit einen Trainingskurs besucht hatte. Ich wollte perfekt ausgebildete Hunde und möglichst Experten für jedes Gebiet. Ich brachte zum Flughafen zwei Deutsche Schäferhunde, die als Drogenhunde zum Einsatz kommen sollten, sowie zwei weitere Hunde der gleichen Rasse und einen Rottweiler als Schutzhunde. Für die Aufgabe als Vermissten- und Trümmerspürhund, die somit als Rettungshunde zum Einsatz kommen sollten, entschied ich mich für zwei Labrador Retriever und einen Samojede. Für den Angriff und zur persönlichen Verteidigung wählte ich schließlich zwei Weimaraner für die Arbeit mit Sprengstoffen und einen weiteren Deutschen Schäferhund, einen großen Rüden, aus. Eine Box, die für etwaige andere Spezialisierungen leer geblieben war, sollte später meinen Springer Spaniel Furia beherbergen. Dieser war für die Jagd ganz und gar nicht geeignet, hatte aber einen wirklich außergewöhnlichen Spürsinn und war in der Lage, nur anhand eines einfachen Gegenstands, der einer vermissten Person gehört hatte, eine Fährte aufzunehmen und diese Person aufzuspüren. Furia sollte jedoch erst mehrere Jahre, nachdem der Posten seine Tätigkeit aufgenommen hatte, eintreffen.
Auch die Leute waren unter den besten ausgewählt worden, die bei der Polizia di Stato in den verschiedenen Provinzen der Marken im Dienst waren. Jedem Hund wurde ein Diensthundeführer zugewiesen, der somit nicht nur Experte auf demselben Gebiet wie der Hund sein, sondern auch die Geduld aufbringen musste, seinen Hund wie ein eigenes Kind oder einen Teil seiner selbst auszubilden, zu betreuen und für ihn zu sorgen. Als ich Ispettore Santinelli für den Posten meines Stellvertreters vorschlug, hatte ich so meine Zweifel. In der Regel gibt es Schwierigkeiten, wenn man einer Person unterstellt wird, deren Vorgesetzter man zuvor war. Santinelli aber hatte bereitwillig zugestimmt. Vielleicht aufgrund seiner Leidenschaft für Hunde oder gar für mich, die ich aber niemals teilen würde.
Anfang Sommer 1997 waren wir endlich startklar. Der Posten war im Beisein wichtiger Amtspersonen eingeweiht worden: dem Präfekten, den Bürgermeistern von Ancona und Falconara Marittima sowie Funktionären des Innenministeriums. Zunächst führten wir vor, wie wir mithilfe der Hunde nach Drogen und Sprengstoffen suchten und Verbrecher festnahmen, anschließend zeigte die Kunstflugstaffel der Luftwaffe ihr akrobatisches Können. Der einzige Wermutstropfen an diesem Tag war eine Nachricht, die ich mit großem Bedauern vernahm, nämlich dass dies das letzte öffentliche Ereignis sein sollte, an dem Questore Ianniello teilnahm, der kurz vor der Pensionierung stand.
Im Alter von noch nicht einmal sechsundzwanzig Jahren hatte ich also einen verantwortungsvollen und äußerst befriedigenden Posten. Natürlich musste ich nie auf Stefanos Unterstützung verzichten, er war sowohl Arzt für unsere Hunde als auch mein vertrauter Freund. Alle ausgewählten Hunde leisteten hervorragende Arbeit. Bis auf den Rottweiler.
»Um eine Menschenmenge unter Kontrolle zu halten«, hatte mir Stefano gesagt, »brauchst du Hunde, die was hermachen und die denjenigen, die sie vor sich haben, Furcht einflößen, egal, ob es dabei um Fußballfans im Stadion oder um Demonstranten geht. Die Hunde dürfen jedoch niemals Verletzungen herbeiführen. Der Rottweiler ist ein Verräter. Er sieht gutmütig aus, sitzt ruhig da, sieht dich an und scheint sich gar nicht um dich zu kümmern. Wenn er es jedoch auf dich abgesehen hat, dann kann er dich zerfleischen, ohne auch nur einmal vorher geknurrt zu haben. Sein Kiefer ist kräftiger als der jeder anderen Hunderasse. Der Rottweiler ist eine Kampfmaschine. Vertrau ihm nie!«
Und nachdem Thor, wie wir ihn genannt hatten, seinem Hundeführer beim Training einige Probleme bereitet hatte, musste er trotz meines Bedauerns ausgemustert werden. In der Regel wird ein Hund am Ende seiner Karriere, wenn er zu alt ist, um seine Aufgaben zu verrichten, ausgemustert. In den meisten Fällen wird er vom Hundeführer, der in all den Jahren eine besondere Beziehung zu ihm aufgebaut hat, aufgenommen. Er behält ihn, da das Tier ja noch ein paar Lebensjahre vor sich hat. Klappt dies nicht, bleibt für den ausgemusterten Hund nur die Euthanasie, weil es undenkbar ist, dass auf eine solche Weise ausgebildete Hunde in den Händen von Laien landen. Mir war bewusst, dass Thor an einer tödlichen Injektion verenden würde, und es gelang mir nicht, mich damit abzufinden. Aber als ich seinen Hundeführer sah, der noch einen Verband am Arm trug, konnte ich die Verantwortung, dass das erneut passieren würde, nicht übernehmen. An Thors Stelle trat bald ein Deutscher Schäferhund, den ich dieses Mal von einem lokalen Züchter geholt hatte. Ich kümmerte mich selbst um dessen Erziehung vom Welpenalter an und bildete ihn aus, bis er einem Hundeführer zugewiesen wurde.
Abgesehen von dem unangenehmen Vorfall mit Thor vergingen die Tage ohne besondere Vorkommnisse. Jeden Tag verbrachte das Team mit mindestens zwei oder drei Ausbildungsstunden, dann gab es Einsätze wie die Drogenkontrolle an der Zollstelle im Flughafen sowie bei Messen und Märkten, um mögliche Trickdiebe oder Drogenhändler aufzuspüren. Manchmal wurden wir auch zu weit entfernten Orten zu Zivilschutzeinsätzen gerufen, etwa bei Erdbeben oder sonstigen Naturkatastrophen, um Überlebende aus Trümmern zu bergen oder Personen zu suchen, die in den Bergen vermisst wurden, nicht nur nach Lawinenabgängen, sondern auch wenn sich beispielsweise jemand auf einer Wanderung verirrt hatte. In der Zwischenzeit hatte sich mein Team auch über die Marken hinaus einen Ruf gemacht, und häufig wurden wir zu Einsätzen weit entfernt von unserem Stützpunkt gerufen. Im Team fehlte noch ein Spürhund, also einer, der in der Lage war, Spuren zu verfolgen und einem Polizisten auch bei einer Ermittlung, nicht nur bei einem Einsatz zu helfen. Dieser sollte später zu uns stoßen, mein Furia, ein Springer Spaniel, Welpe einer Hündin, die Ispettore Santinelli gehörte.
An dieser Stelle wurden meine Gedanken endgültig vom Abbremsen des Flugzeugs auf der Landebahn und dem Öffnen der Türen unterbrochen. Ein neues Kapitel meines Lebens begann.
KAPITEL 2
Ich versuchte gerade, mich in der Ankunftshalle des Flughafens zu orientieren und herauszufinden, wo meine Koffer ankommen würden, als ein Polizist in tadelloser Sommeruniform, der die Größe eines Riesen hatte, entschlossenen Schrittes auf mich zukam. Er war mindestens 1,90 m groß, hatte einen Bürstenhaarschnitt und blaue Augen und war sorgfältig rasiert. Wo die kurzen Ärmel seines Uniformhemds endeten, quollen seine Oberarmmuskeln nahezu hervor. Er setzte zu einem militärischen Gruß an, überlegte es sich dann aber anders und streckte mir die Hand entgegen.
»Dottoressa Ruggeri? Ich bin Ispettore Mauro Giampieri und stehe Ihnen ab jetzt zu Diensten. Ich habe vom Questore genaue Instruktionen erhalten, wir müssen sofort zum Tatort eines Verbrechens, das heute Nacht in Triora, einem Dorf im Hinterland von Imperia, begangen wurde. Ich habe bereits einen Kollegen beauftragt, Ihre Koffer abzuholen und zur Polizeidienststelle zu bringen. Bitte folgen Sie mir, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Ich fühlte mich zwar etwas überrumpelt, folgte ihm aber ohne Murren, auch wenn ich mir einen etwas anderen Anfang gewünscht hätte: ein Taxi nehmen, bis Imperia fahren, mich im Hotel frisch machen und mich dann an meinem neuen Arbeitsplatz einfinden. Wir gingen zu dem nur den Streitkräften vorbehaltenen Parkplatz, und es durchzuckte mich förmlich, als ich das weiß-blaue Polizeifahrzeug sah: Es war ein brandneuer Lamborghini Gallardo. Ich hatte in unseren Fachzeitschriften darüber gelesen und wusste um die Existenz dieses herausragenden Gefährts, das eine Geschwindigkeit von 320 km/h auf den Tacho brachte. Zudem war es mit einem Bordcomputer mit vielerlei Funktionen ausgestattet, der über ein Satellitensystem mit den EDV-Archiven der Kriminalpolizei und Interpol verbunden war.
»Ich dachte, dieses Schätzchen wäre der Verkehrspolizei vorbehalten«, sagte ich im Versuch, das Eis zwischen dem Ispettore, der weiterhin unbeirrt vorausschritt, und mir zu brechen. Als wir nur noch wenige Meter vom Auto entfernt waren, blinkte dessen Warnblinkanlage auf und ein piepsendes Geräusch ertönte.
»Das ist anders als das der Verkehrspolizei. Nicht, was das Modell betrifft, sondern was Ausstattung und Leistung angeht. Ich werde es Ihnen unterwegs erklären, steigen Sie ein!«
Sobald wir im Auto saßen, steckte er eine Karte in einen Schlitz am Armaturenbrett und gab über eine Zahlentastatur eine Nummer ein. Dann schickte er sich an, den Motorstartknopf zu drücken, hielt aber inne, um mit einem Behälter herumzuhantieren.
»Ihren rechten Unterarm bitte, Dottoressa! Ich werde Ihnen jetzt einen Mikrochip mit einigen persönlichen Informationen wie Ihre meldeamtlichen Daten, Ihre Blutgruppe und Ihre Krankengeschichte implantieren, über den Sie im Notfall auch geortet werden können. Es dauert nur einen Augenblick und wird nicht wehtun. Ich führe nur einen Befehl aus und habe selbst auch einen Chip verpasst bekommen.«
Sein pseudomilitärisches Gehabe ging mir langsam auf die Nerven, und ich setzte zum Protest an.
»Ich bin doch kein Hund, der sich verläuft!«
Geschickt öffnete er ein steriles Tütchen, das einen mit Desinfektionsmittel getränkten Tupfer enthielt, und zog aus einem anderen Beutel ein Injektionsgerät mit einer riesigen Nadel. Trotz meiner Proteste griff er meinen Arm und platzierte den Mikrochip unter meine Haut.
»Drücken Sie ein paar Sekunden fest mit dem Tupfer drauf und schnallen Sie sich an! Es geht los.«
Die Beschleunigung presste mich in den Sitz. In wenigen Sekunden erreichte der Lamborghini eine Geschwindigkeit, die weit über der lag, die die Straßenverkehrsordnung zuließ. Nach kurzer Zeit passierten wir die Mautstelle und fuhren mit knapp 200 km/h davon.
»Ispettore, Sie scheinen mir eher Soldat als Polizist zu sein. Ich kenne Ihren Lebenslauf nicht, werde ihn aber wohl aufmerksam studieren. Nun, da wir zusammenarbeiten müssen und ich Förmlichkeiten hasse, würde ich vorschlagen, dass wir uns duzen, ich heiße Caterina.«
Er antwortete mir, einen Tick weniger steif.
»Mauro. Ich muss Ihnen ... äh dir ... gestehen, dass ich tatsächlich bis vor einigen Monaten beim Militär war. Ich war mehrmals auf Mission im Ausland, und bis Weihnachten letzten Jahres war ich in Afghanistan stationiert. 2003 war ich in Nasiriya, wo viele italienische Soldaten einem Massaker zum Opfer fielen. Ich kam völlig unverletzt davon. Ich war auch im Irak und in Bosnien-Herzegowina. Ich bin einfach noch an die militärische Disziplin gewöhnt. Auf jeden Fall kenne ich mich mit Sprengstoffen aus, bin Experte in der Bekämpfung von Terrorismus und organisierten Guerillakriegen, Führer unter Extrembedingungen ... Ich glaube, der Questore wollte uns beide im Team, um einen wirklich heiklen Fall zu lösen, von dem ich dir dann berichten werde. In der Zwischenzeit erkläre ich dir die Funktionen dieses Fahrzeugs, das bisher einmalig in Italien ist. Wie du siehst, gibt es hier in der Mitte des Armaturenbretts ein 12-Zoll-Display, das wie ein GPS-Navigationsgerät aussieht, aber viele andere Funktionen hat. Es ist ein richtiger Bordcomputer, der über Satellit mit dem Internet verbunden ist und uns ermöglicht, die Datenbanken nicht nur der italienischen Polizei sondern weltweit abzufragen. Das hier ist ein kleiner Scanner, der mit dem System verbunden ist. In ihn können wir mit Klebeband genommene Fingerabdrücke eingeben, um die Suche in den Datenbanken, an die wir angebunden sind, zu starten. Abgesehen von der Touchfunktion, die für die Bedienung des Hauptmenüs interessant ist, gibt es auch eine Standardtastatur, die aus dieser kleinen Schublade hier unten herausgezogen wird. Öffne mal das Handschuhfach: Dort findest du eine Pistole, die für dich bestimmt ist, und ein Handheld. Wir haben beide ein identisches Handheld, mit dem wir uns mit dem Bordcomputer dieses Fahrzeugs verbinden können. Wie der Mikrochip, den wir implantiert bekommen haben, ermöglicht das Handheld nicht nur der Zentrale, sondern auch einem von uns, sofern er im Auto sitzt, unsere exakte Position per GPS orten.«
»Oh je, sieht so aus, als sei die Ermittlung, mit der wir betraut sind, ziemlich gefährlich. Nicht einmal der legendäre James Bond hat all diese Technik zur Verfügung!«
»Tja, da liegst du in der Tat nicht falsch. Seit mehreren Jahren ereignen sich in Triora seltsame Vorfälle: Personen verschwinden unter geheimnisvollen Umständen, ohne scheinbar irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Bisher waren die Carabinieri für die Ermittlungen zuständig, kamen aber nicht weiter. Was die Hauptverdächtige betrifft, eine gewisse Aurora Della Rosa, die die Leute im Dorf als Zauberin oder besser Hexe bezeichnen, gelang es ihnen nicht, ausreichendes Beweismaterial zu sammeln. Die Ermittler tappen also bisher im Dunklen. Heute Nacht ist im Wald bei Triora ein Brand ausgebrochen, der sich bis zu Auroras Haus ausbreitete. Nach dem Löschen fand die Feuerwehr die völlig verkohlte Leiche einer Frau. Die Rechtsmedizinerin und die Kriminaltechniker sind, glaube ich, bereits vor Ort. Diesmal keine Carabinieri und keine kriminaltechnische Einheit unter deren Kommando. Die Ermittlung gehört uns. Der Questore von Imperia forderte dich an, weil du dich mit Esoterik und Sekten beschäftigt hast. Und wie der Zufall es will, ereignete sich dieses Verbrechen exakt zum Zeitpunkt deiner Ankunft. Jetzt müssen wir uns dahinterklemmen, und zwar gründlich!«
Nach einigen Jahren intensiver Arbeit mit der Hundestaffel war das Team so eingespielt und effizient, dass ich etwas mehr Zeit für mich persönlich hatte und das Studium der Rechtswissenschaften in Macerata wieder aufnahm. Ich wusste, dass ich mit einem abgeschlossenen Studium in die höheren Ränge bei der Polizei aufsteigen konnte, aber das war nicht der Grund dafür, warum ich studieren wollte. Vielmehr war es meine schon immer bestehende Leidenschaft für die Kriminologie, die nur der für Hunde hintenanstand. Ich hatte mich insbesondere für von Mitgliedern sogenannter esoterischer Sekten begangene Verbrechen interessiert. Ausgehend vom Vorfall rund um die „Bestie di Satana“, der sich einige Jahre zuvor ereignet hatte und bei dem zur Verschleierung des Mords an einer jungen Frau und zur Irreführung der Ermittlungen schwarze Messen und satanische Rituale inszeniert worden waren, hatte ich begonnen, mich mit realen esoterischen Sekten zu befassen. Ich hatte versucht, ihnen auf den Grund zu gehen, um mir eine Vorstellung von ihren Ursprüngen zu machen, die bis in die graue Vorzeit zurückreichen, denn ich wollte begreifen, was sich hinter ihren Ritualen verbirgt und welcher Verbrechen sich ihre Mitglieder in der weit zurückliegenden als auch in der näheren Vergangenheit schuldig gemacht hatten. In Italien galt die Region Ligurien als einer der Orte, an dem sich Sektenmitglieder immer noch zusammenfanden und im Geheimen ihre Rituale pflegten. Und letztere beinhalteten zuweilen auch Tier- oder Menschenopfer. Die Inquisition bekämpfte die Sekten bis weit ins 17. Jahrhundert, klagte deren Anhänger der Häresie oder Hexerei an und verurteilte sie zum Tod. All dies faszinierte mich, und so schloss ich mein Studium mit einer Arbeit über esoterische Sekten und von deren Anhängern begangene Verbrechen im Juli 2008 mit Bestnote ab.
Dank dieser Kenntnisse war ich nicht einmal ein Jahr nach meinem Abschluss als Kommissarin zur Polizeidienststelle Imperia berufen worden, eben in jene Gegend, in der Sekten noch ziemlich aktiv waren.
Durchs Fenster sah ich mehrere Autobahnausfahrten an uns vorbeiziehen. Wenige Minuten später hatten wir die Ausfahrt Savona passiert und fuhren bei hohem Tempo in Richtung Imperia.
»Warum sind die Ermittler der Meinung, dass eine Sekte dahintersteckt?«, fragte ich, aus meinen Gedanken auftauchend. »Gerade wenn man an die Bestie di Satana denkt, die in dieser Gegend berühmt-berüchtigt ist, wird klar, dass es sich fast immer um Vortäuschungen handelt, die nichts mit Esoterik zu tun haben.«
»In diesem Fall gibt es stichhaltige Gründe zur Annahme, dass eine Sekte dahintersteckt, auch wenn die ganze Angelegenheit, die vor vielen Jahren begann, im Dunklen liegt. Bis heute wurden niemals Leichen gefunden, und auf der Grundlage dieses neuen Ereignisses kann man davon ausgehen, dass auch die zuvor vermissten Personen getötet, die Verbrechen aber seinerzeit perfekt verschleiert wurden. Heute Nacht ist vielleicht etwas Unvorhergesehenes vorgefallen, und dem oder den Mördern ist es nicht gelungen, die Leiche wie in den anderen Fällen verschwinden zu lassen. Vielleicht wurde versucht, den Körper des Opfers zu verbrennen, und ein plötzliches Drehen des Winds, was hier nicht gerade selten vorkommt, hat einen Brand ausgelöst, der nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen war. Frau Della Rosa selbst hat die Rettungskräfte gerufen, weil ihr Haus vom Brand bedroht war.«
»Hat sie ein Alibi? Wissen wir, was sie gesagt hat?«
»Sie hat gesagt, sie wäre sehr spät nach Hause gekommen, weil sie in einem Restaurant weiter unten im Tal zu Abend gegessen habe, und hätte, als sie sich ihrem Haus näherte, die Flammen gesehen. Sie hat per Handy die Feuerwehr verständigt, als sie noch einige Kilometer von zu Hause entfernt war.«
»Gut, wir werden das überprüfen. Was ist mit den zuvor vermissten Personen?«
»Das wäre eine lange Geschichte, wenn ich alle Details berichten würde. Ich versuche, das Wichtigste zusammenzufassen. Später werden wir Gelegenheit haben, das ganze Material, das uns von der Polizeidirektion und dem Gericht übermittelt wurde, zu prüfen. Es gibt einen Haufen Akten durchzusehen. Die liegen schon auf deinem Schreibtisch. Die erste Person, von der jegliche Spur fehlt, ist eine Frau, die im selben Haus wie Aurora Della Rosa wohnte und sich ebenfalls Aurora nannte. 1989 beschloss diese Sechzigjährige, die als Wahrsagerin, Kräuterfrau, Heilerin, Hellseherin und Zauberin bekannt war, einen Gebirgstempel in Nepal aufzusuchen, in dem sie Geist, Körper und Seele erneuern wollte. Sie erreichte Kathmandu zusammen mit einer Schülerin, einer jungen Rumänin, einer gewissen Larìs Dracu. Die beiden Frauen heuerten Sherpas an, die sie bis zu einem gewissen Punkt begleiteten. Als sie darauf beharrten, ein unerforschtes Gebiet zu betreten, das für die Sherpas aufgrund ihres Glaubens tabu war, ließen diese die Frauen allein und sagten ihnen, sie würden drei Tage auf sie warten, danach würden sie als vermisst gelten. Von den beiden Frauen hörte man nie wieder etwas. Einige Monate später tauchte jedoch in Triora eine Zwanzigjährige auf, die behauptete, dass sie Auroras Enkelin sei. Sie berief sich auf die Gleichnamigkeit und beanspruchte das Recht, die Wohnung ihrer Großmutter in Besitz zu nehmen. Auch diese junge Aurora schien übernatürliche Kräfte zu haben, viel stärker als die ihrer angeblichen Großmutter. Die wenigen Dorfbewohner, die Aurora gekannt hatten, als sie jung war, kamen nicht umhin, die außerordentliche Ähnlichkeit der jungen mit der vermissten älteren Frau zu bemerken. Viele gelangten sogar zur Überzeugung, die Hexe hätte auf ihrer Nepalreise ein Elixier der ewigen Jugend gefunden, mit dessen Hilfe sie wieder zu einer jungen Frau geworden war. Abgesehen davon ereigneten sich dann in den Wäldern rund um Triora seltsame Dinge. Im Dorf hieß es, die Hexen hätten unter Leitung der jungen Aurora in den Vollmondnächten wieder angefangen, Hexensabbat zu feiern. Doch dessen ungeachtet empfing Aurora viel Besuch in ihrem Haus. Neben Bittstellern, die Heilmittel auf Kräuterbasis zur Heilung von Krankheiten oder unterschiedlichste Elixiere, um Unglück in der Liebe abzuwenden, verlangten, kamen zuweilen auch Leute, die sie als Anhänger einer esoterischen Sekte beherbergte, an deren Namen ich mich jetzt aber nicht mehr erinnere. Diese Individuen, bei denen es sich im Wesentlichen um Frauen handelte, kamen, um Wissen aus der alten Bibliothek zu schöpfen, die Aurora und bereits ihre Ahninnen stets sorgfältig gepflegt und im Lauf der Jahrhunderte vergrößert hatten. Eine dieser jungen Frauen war Mariella Carletti, genannt La Rossa. Sie brach 1997 von einem Dorf in den Abruzzen auf, in dem sie bereits als Heilerin und Hellseherin bekannt war, mit den Worten, sie würde nach Triora reisen, um die harten Prüfungen zu bestehen, dank derer sie eine Adeptin der siebten Stufe, einer der höchsten, werden könnte, und würde mit Fähigkeiten zurückkehren, die sich niemand hätte vorstellen können. Sie kam aber nie zurück. In Triora blieb diese schöne junge Frau mit dem dicken feuerroten Haar, den hellblauen Augen, dem hellen Teint und den vielen Sommersprossen nicht unbemerkt. Am 21. Juni, dem Tag der Sommersonnenwende, begab sie sich in den Wald, wo es hieß, dass ein Hexensabbat stattfinden würde, und wird seither vermisst. Besonders interessant ist, dass in jener Nacht ein Brand ausbrach, der jedoch keine größeren Auswirkungen hatte. Scheinbar geriet ein seit einiger Zeit ungenutzter Lieferwagen in Brand, aber es gelang nicht, diesen Vorfall mit dem Verschwinden der jungen Frau in Verbindung zu bringen. Der ausgebrannte Lieferwagen ist noch dort, er wurde nie weggeschafft. Damals wurde der Fall als Werk von Randalierern abgehakt. 2000 recherchierten drei Journalisten, zwei Männer und eine Frau, einer bekannten Monatszeitschrift mit nationaler Auflage, deren Sitz in Genua ist, zum Verschwinden der jungen Frau, das sich drei Jahre zuvor ereignet hatte. Unter dem Vorwand einer Reportage über Hexen und Hexerei in Triora platzierten sie ein Zelt in dem Wald, in dem die Hexen zusammentrafen, in der Nähe einer Quelle, der Fonte della Noce, in der Hoffnung, irgendein Teufelsritual oder etwas in der Art zu beobachten. Ein paar Tage lang sammelten sie Informationen über den Hexenprozess, der in Triora Ende des 16. Jahrhunderts stattgefunden hatte. Sie versuchten auch, Aurora zu einem Exklusivinterview zu überreden, was ihnen aber nicht gelang. In der Nacht vom 20. auf den 21. August verschwanden die drei unter mysteriösen Umständen. Im Zelt, das am Morgen darauf leer vorgefunden wurde, entdeckte man einige Notizhefte mit dem zusammengetragenen Material. Diese Hefte wurden der Zeitschrift übergeben, die zum Gedenken an die drei einen achtseitigen Artikel über die Hexen in Triora veröffentlichte. Der letzte Satz im Heft eines der drei Journalisten war in Großbuchstaben geschrieben und unterstrichen: „MEIN GOTT!“ Jemand oder etwas hatte den Verfasser wohl zu Tode erschreckt. Von den vermissten Journalisten fand man niemals wieder eine Spur.«
In der Zwischenzeit hatten wir Imperia hinter uns gelassen, waren an der Ausfahrt Arma di Taggia von der Autobahn abgefahren und befanden uns nun auf einer Landstraße, die durch einen herrlichen Talgrund parallel zu einem Fluss verlief. Zum ersten Mal sah ich die Orte, die mir später vertraut werden sollten. Wir fuhren durch das Valle Argentina, durch das der gleichnamige Fluss fließt. Ein schmales, dünn besiedeltes Tal. An diesem heißen Tag Anfang Juli bildete das Grün der dichten Wälder einen herrlichen Kontrast zum Tiefblau des klaren Himmels, und in mir erwachte wieder meine alte Liebe zu den Bergen. Ich begann schon, davon zu träumen, die Wege zu erkunden, die diese Wälder durchzogen. Nachdem wir das kleine Dorf Molini di Triora hinter uns gelassen hatten, fuhren wir weiter bergauf nach Triora, einer mittelalterlichen Ortschaft, die sich auf eine Bergkuppe duckt. Jenseits der Siedlung ging die Straße wieder bergab, und kurz darauf stoppten wir in einer Haltebucht, wo bereits ein paar Polizeiautos, ein Geländewagen der Feuerwehr und ein Mannschaftswagen des Forstkorps, der zum Löschen von Waldbränden ausgerüstet war, parkten.
»Gut«, sagte ich, »was du mir erzählt hast, ist äußerst interessant, und abgesehen vom Brandgeruch riecht es hier auch nach Sekte, und wie! Wir müssen nun verstehen, bis zu welchem Punkt hier Esoterik im Spiel ist, und welche Verantwortung dagegen die Sektenmitglieder für das Verschwinden der Personen, die du erwähnt hast, und den Mord von heute Nacht tragen, sofern es sich um Mord und nicht um einen einfachen Unfall handelt.«
»Pass auf, Caterina! Hier kann man nie vorsichtig genug sein. Ganz abgesehen von Hexen könnten wir es bei diesen Ermittlungen mit skrupellosen Kriminellen zu tun haben. Nimm die Pistole mit! Wir speichern jetzt jeweils die Nummern unserer Handhelds, sodass wir uns im Notfall anrufen können. Gehen wir!«
Ich griff zum Handheld, ließ aber die Pistole im Handschuhfach des Autos zurück, da ich nicht damit rechnete, dass ich sie brauchen würde.
KAPITEL 3
Aurora Della Rosa
Larìs hatte keine Angst davor, die Hängebrücke zu überqueren. Mit dem Blick suchte sie Auroras blaugrüne Augen, die ihr all die Kraft und Energie vermittelten, die sie brauchte. Sie kannten sich erst seit Kurzem, aber sie vertraute ihr und ihren übersinnlichen Kräften.
Larìs Dracu stammte ursprünglich aus Siebenbürgen, auch Transsilvanien genannt, einer Region Rumäniens, das Ende der 1980er-Jahre noch von einem kommunistischen Diktator regiert wurde. Bereits im Alter von achtzehn Jahren hatte sie den Ruf einer antikommunistischen Hexe und wagte eine schwierige Flucht nach Italien, um der Geheimpolizei Ceaușescus nicht in die Hände zu fallen. Sie war bis zu einem Dorf in Ligurien vorgedrungen, weil sie wusste, dass dort eine Anhängerin ihrer Sekte lebte. Diese würde ihr helfen und ihr auf dem Weg zur höchsten Stufe, der des Universalwissens, die auf die siebte Stufe folgte, zur Seite stehen. Als sie am Tag des Frühlingstagundnachtgleiche zur Mittagsstunde Auroras Haus erreichte, bemerkte sie, dass ihre Gastgeberin sie bereits auf der Schwelle der geöffneten Tür erwartete. Das wunderte sie nicht, denn sie wusste um die hellseherischen Fähigkeiten der Zauberin. Sie spürte, wie sie mit Wohlgefallen betrachtet wurde. Larìs war eine wunderschöne junge Frau mit glänzendem schwarzem Haar, das sie in einem straff gebundenen, kurzen Pferdeschwanz trug, dunklen, fast schwarzen Augen und feinen Gesichtszügen. Die Zauberin präsentierte sich als topfitte Sechzigjährige mit blondem Haar, durch das sich einige graue Strähnen zogen, und Augen, die je nach den Lichtverhältnissen zwischen Blau und Grün changierten. Ihr Körper strahlte noch die Kraft einer Vierzigjährigen aus, ihre Haut war glatt, geschmeidig und nicht durch auffällige Falten zerfurcht. Auroras Blick war bohrend, und als sich Larìs‘ Blick mit ihrem kreuzte, fühlte sich Larìs von der älteren Frau sexuell angezogen. Aurora sprach einige Worte in einer für Normalsterbliche unverständlichen Sprache. Es war nicht Okzitanisch, was typisch für jenes Grenzgebiet zwischen Italien und Frankreich gewesen wäre. Doch Larìs hatte sie verstanden, da sie die Sprache als Kind gelernt hatte, als ihre Ziehmutter sie in die magischen und übersinnlichen Praktiken eingewiesen hatte. Es handelte sich um Semants, die alte Sprache der Adepten. Ein Idiom, das bereits im alten Ägypten Zauberern und Schamanen bekannt war, jedoch noch älteren Ursprungs war. Aurora forderte Larìs auf einzutreten und führte sie in einen quadratischen Salon. Eine der Wände war vollständig verspiegelt, wodurch der Eindruck entstand, der Raum wäre viel größer, als er in Wirklichkeit war. An den anderen Wänden befanden sich dagegen Regale, die Platz für zahlreiche Bücher und Manuskripte sowie einige Porzellangefäße in der Art jener, die früher in Apotheken und Kräuterhandlungen genutzt wurden, bot.
Vor allem der Fußboden zog Larìs‘ Aufmerksamkeit auf sich: aus mehrfarbigem Hochglanzmarmor – gelb, türkis und smaragdgrün. Mit farbigen Fliesen gleich einem Mosaik war das Muster einer der wichtigsten übersinnlichen Symbole realisiert worden: ein Pentagramm, das heißt, ein fünfzackiger Stern in einem Kreis, der von den quadratischen Umrissen des Raums eingefasst war.
Das Symbol des Äthers, eine Art Sternchen, das auf der mittigen fünfeckigen Fliese aufgemalt war, abgegrenzt durch die Linien, deren Verbindungen den fünfzackige Stern formten, gab die exakte Raummitte an. In allen anderen Sektoren, in die der Fußboden durch die Linien und Kreisbögen unterteilt war, ließen sich Figuren erkennen, die mit der übersinnlichen Symbolik verbunden waren: ein zunehmender und ein abnehmender Mond, ein Vollmond, die Verbindung von Sonne und Mond bei einer partiellen und einer totalen Finsternis und andere. Larìs war gleichermaßen fasziniert und verlegen.
»In dem Haus, in dem ich in Transsilvanien gelebt habe, gab es auch so einen Salon«, sagte sie zu Aurora in derselben Sprache, in der zuvor die Zauberin gesprochen hatte. »Die Fliese in der Mitte gibt genau die Stelle an, an der sich in der Vergangenheit etwas Wichtiges ereignet hat, etwas Wunderschönes oder etwas ganz Schlimmes. Meine Adoptivmutter, Cornelia, erzählte mir, dass an der Stelle unseres Hauses vor vielen, vielen Jahrhunderten ein Fürst, der aus den Karpaten gekommen war, in einer Vollmondnacht ein wunderhübsches Mädchen liebte und dass aus diesem Beischlaf das Kind hervorging, das den Anfang unseres Geschlechts bilden sollte. Aber abgesehen von dieser Legende weiß ich auch, dass das Absenken der mittleren Fliese einen Mechanismus auslöst, der einen hinter dem Spiegel verborgenen geheimen Raum zum Vorschein kommen lässt. Cornelia nahm damals eine goldene Kette von ihrem Hals, die einen Ring als Anhänger hatte. In diesen war ein pentagrammförmiger Stein eingelassen, der in ein hinter einem Regal verstecktes Schloss passte. Damit wurde die fünfeckige Fliese abgesenkt, der Spiegel verschoben und der Zugang zum geheimen Raum frei. Dort wurden sehr alte Bücher, Manuskripte und Pergamente verwahrt, die ihre Vorfahrinnen ihr hinterlassen hatten und die das Wissen bildeten, dessen Zugang sie denen gewährte, die Adeptinnen der siebten Stufe werden wollten.«
»Deinen Worten zufolge und nach dem, was ich dank meiner Fähigkeiten wahrnehme, weiß ich, dass du diese Dokumente bereits begutachten konntest und – wie ich – die Fähigkeiten und das Wissen der siebten Stufe besitzt. So hat es keinen Sinn, dass ich den geheimen Raum für dich öffne. Gemeinsam können wir dagegen den Weg beschreiten, der uns zur höchsten Stufe führt, der des Universalwissens.«
Während sie sprach, hatte Aurora Tabak aus einem kostbaren Porzellanbehältnis genommen und mit Zigarettenpapier geschickt zwei Zigaretten gedreht. Eine bot sie Larìs an. Dann entzündete sie ein Streichholz und führte dieses zuerst an die Zigarette der jungen Frau, dann an ihre.
Ein tiefer Zug, und Larìs wusste, dass dem Tabak Rausch- und Aufputschmittel hinzugefügt worden waren, aber sie war bereits daran gewohnt, solche Mischungen zu rauchen. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre sie dem Willen der Zauberin verfallen, als Folge einer sowohl durch die Rauschmittel als auch die okkulten Fähigkeiten Auroras hervorgerufenen Hypnose. Die Droge regte dagegen ihr sexuelles Verlangen an. Sie näherte sich Aurora und ließ sich küssen und streicheln. Nachdem sie die Zigaretten ausgedrückt hatten, entledigten sich die beiden ihrer Kleidung und schliefen miteinander auf dem nackten Fußboden.
»Nachdem wir unsere Körper vereinigt haben, werden wir auch unsere Geister und unsere Seelen vereinen«, bedeutete Aurora der jungen Frau. »Heute ist ein besonderer, einzigartiger Tag, und wir müssen unsere geeinten Fähigkeiten nutzen, um den Geist Artemisias heraufzubeschwören, die genau vor vierhundert Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.«
Larìs lauschte neugierig ihren Worten, während sie beobachtete, wie das durch das Fenster einfallende Licht schwächer wurde und der Vollmond sich bereits am noch blauen Spätnachmittagshimmel abzeichnete.
»Am 21. März 1589 vor genau vierhundert Jahren wurde Artemisia an einen Pfahl gebunden, der genau dort in den Boden getrieben war, wo du nun die fünfeckige Fliese mit dem Symbol des Äthers siehst. Heute ist Frühlingstagundnachtgleiche. In einigen Stunden wird der Vollmond vom Erdschatten in einer totalen Mondfinsternis verdunkelt sein. Das ist eine Konstellation, die nur sehr selten eintritt. Die ideale Nacht für einen Sabbat. Aber das ist nicht das, was uns interessiert. Du bist jetzt hierhergekommen, weil ich allein nicht die Kraft gehabt hätte, das zu tun, was wir gemeinsam tun werden.«
Sie nahm eine scharfe Schere und schnitt sorgfältig ihre blonden Schamhaare ab, bis ihr Genitalbereich völlig enthaart war. Sie sammelte die Haare in einem goldenen Kelch und wiederholte dann den gleichen Vorgang auch bei Larìs, deren Haare viel dunkler als die ihren waren. Dann nahm sie aus einigen Behältern getrocknete Kräuter und auch etwas von der Mischung, die sie zuvor geraucht hatten, vermischte sie, gab etwas Öl hinzu und stellte dann den Kelch vorsichtig auf die mittige Fliese. Anschließend drehte sie zwei weitere Zigaretten, die sie beide noch nackt rauchten, bis sie ein gewisses Maß an Bewusstseinsverlust erreichten und fast in Trance fielen. Inzwischen war die Dunkelheit eingebrochen und am Himmel strahlte der Vollmond, der langsam durch den Erdschatten verdunkelt wurde, in jenem selten magischen Moment der Angleichung der drei Himmelskörper. In dem Augenblick, in dem der Mond völlig verdunkelt und seine Position am Himmel nur durch einen rötlichen Schein zu erkennen war, berührten sich die beiden nackt auf dem Boden sitzenden Frauen an Händen und Füßen, um einen Kreis rund um den Kelch und darüber zu bilden. Aurora sprach einen Zauberspruch: »Has Sagadà, Artemisia.«