Ein halbes Dutzend Mord - Bernharda May - E-Book

Ein halbes Dutzend Mord E-Book

Bernharda May

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Beschreibung

Acht Personen sind zu einem Krimi-Dinner geladen. Vom Thema des Spiels inspiriert, beginnen sie einander wahre Mordgeschichten zu erzählen. Die einzige Bedingung dabei: Alle Fälle müssen binnen 24 Stunden gelöst worden sein. Die heitere Gesprächsrunde wird getrübt, als in unmittelbarer Nähe ein Mordanschlag verübt wird – und einer von den acht Spielern der Täter sein muss...

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ein halbes Dutzend Mord

1. Maiglöckchen2. Moonlight-Shopping3. Tiergehege4. Gasheizung5. Schnürsenkel6. Stoppschild7. AusbruchDanksagungImpressum

1. Maiglöckchen

Cornelia und Hans-Georg Augustin hatten zum Krimi-Dinner geladen. Während sie das Spiel »Der Tote in der Taucherglocke« besorgt und für ihren Mann und sich die passenden Kostüme geschneidert hatte, war es an ihm gewesen, die Einladungen zu verschicken.

»Wir müssen unbedingt zu acht sein«, hatte Cornelia während der Vorbereitungen betont. »Sonst funktioniert das Ganze laut Spielanleitung nicht. Wir laden auf jeden Fall die Voigts ein. Wilma und ich haben erst letztens beim Frauen-Aktiv über solche Ratespiele gesprochen und sie schien sehr begeistert. Ihren Bruder wird sie gewiss überreden können.«

Ihr Ehemann hatte bezweifelt, dass Bert Voigt – ein steifer Hauptfeldwebel im Ruhestand – Gefallen an einer fingierten Mördersuche finden würde; erst recht, wenn sich die Teilnehmer dazu verkleiden mussten. Aber tatsächlich saßen heute Abend beide Voigts am Tisch und spielten mit.

Des Weiteren waren Cornelias Großneffe Ronald und seine Freundin als Gäste vorgesehen gewesen, doch weil die Beziehung noch vor dem Krimi-Dinner in die Brüche gegangen war, hatte er stattdessen seinen Bekannten Kay mitgebracht. Cornelia war davon nicht begeistert, denn Kay war ihr höchst unsympathisch. Ihrer Meinung nach strengte er sich zu sehr an, auf andere witzig zu wirken, und hatte die unangenehme Art, ständig seine Augenbrauen abschätzig nach oben zu ziehen. Dass er freiwillig und sogar mit Begeisterung die Frauenrolle annahm, die ursprünglich Ronalds Freundin zugedacht war, fand Cornelia sehr suspekt. Glücklicherweise deutete Kay das Geschlecht seiner Rolle nur über etwas Schmuck an und hatte davon abgesehen, seinen fülligen Körper in ein Abendkleid zu zwängen.

Die Gastgeberin selbst hatte eine blonde, hochtoupierte Perücke aufgesetzt, ihr Gesicht im Stil der späten fünfziger Jahre geschminkt und genoss sichtlich ihren Auftritt als mondäne Großstadtdame. Mit ihrer Spielfreude steckte sie die anderen Teilnehmer schnell an. Selbst Hauptfeldwebel a.D. Bert Voigt schien sich wohl zu fühlen, wobei das auch an der angenehmen Rolle des zurückhaltenden Museumswärters liegen konnte. Die hatte ihm Hans-Georg Augustin wohlweislich zugeteilt, weil sie kein besonderes Kostüm verlangte.

In dem kleinen Ort, wo die Augustins in einem geräumigen Jagdhaus lebten, hatte sich kein weiteres Paar gefunden, das sich für ein Krimi-Dinner interessiert hätte. Deshalb hatte Hans-Georg zwei Gäste der gegenüberliegenden Pension eingeladen, die sich dort unabhängig voneinander ein Zimmer gemietet hatten. Cornelia Augustin war schier begeistert, als sich herausstellte, dass der ältere der beiden Fremden ausgerechnet ein ehemaliger Kriminaldirektor war. Er hieß Henry Herrmann, hatte ein dickes Gesicht mit Knollennase und blickte derart gutmütig drein, dass man ihn schnell ins Herz schloss.

»Als Polizeichef können Sie unseren gespielten Fall sicher als Erster lösen – außer natürlich, Sie sind der Mörder, haha«, hatte die Gastgeberin zu Beginn des Abends gescherzt. »Was führt Sie überhaupt in unseren bescheidenen Ort?«

»Ein Kongress der Kriminalpolizei«, hatte die Antwort gelautet, »auf dem ich einen Vortrag über die Organisation der Verbrechensbekämpfung hielt. Das hiesige Tagungszentrum genießt ja bundesweiten Ruhm.«

»Und warum haben Sie sich in der kleinen Pension gegenüber eingemietet und kein Zimmer im Zentrum genommen?«

»Wissen Sie«, hatte Herrmann gestanden, »man möchte im Ruhestand nicht ständig von ehemaligen Kollegen umgeben sein. Deshalb zog ich mich in die Pension zurück. Zu meinem Glück, will ich meinen, denn auf diese Weise bin ich in den Genuss Ihrer Einladung zum Krimi-Dinner gekommen.«

Cornelias Ehemann hatte sich indessen der Urlauberin Judith Strasser angenommen. Man kannte sich bereits vom Sehen, denn sie verbrachte das zweite Jahr in Folge ihren Sommerurlaub im hiesigen Luftkurort. Sie bedankte sich für die Einladung und bedauerte, so kurzfristig kein Kostüm mehr bekommen zu haben. Cornelia half mit einem schwarzen Hut aus ihrer Garderobe aus, der gut zur Rolle der trauernden Witwe passte.

Nun saßen diese acht Personen seit sechs Uhr abends rund um den Esstisch, rätselten und aßen und vergnügten sich außerordentlich. Das Esszimmer war gemäß der Spielanleitung mit vielerlei Krimskrams ausgestattet worden, denn die Szenerie schrieb das Innere eines Museums vor. Lediglich die Taucherglocke samt Toten musste man sich dazu denken.

Nach mehreren Dialogen und Fragerunden, für die alle Spieler kleine Rollenheftchen mit Hinweisen benutzen durften, wurde die Hauptspeise serviert: Bœuf bourguignon mit hausgemachtem Kartoffelpüree an glasierten Möhrchen. Erst danach war es den Teilnehmern gestattet, ihren persönlichen Hauptverdächtigen auf einen Zettel zu schreiben, bevor anschließend die Spielanleitung den Fall offiziell auflöste. Obwohl die meisten auf die von Judith gespielte trauernde Witwe getippt hatten, stellte sich die mondäne Großstadtdame als die wahre Täterin heraus. Die Gastgeberin amüsierte sich prächtig darüber, die Mörderin zu sein.

»Ich gebe zu, ich schwankte zwischen der Witwe und dem Museumswärter« – dabei zwinkerte sie Bert Voigt zu – »denn in Krimis ist ja häufig entweder der Ehepartner oder die am wenigsten verdächtige Person der Täter. Aber ich bewundere Sie, Herr Kriminaldirektor, dass Sie Ihre Niederlage so gut weg stecken. Auch Sie tippten verkehrt.«

Henry Herrmann lächelte und machte mit den Händen eine entschuldigende Geste.

»Auch ein Fachmann kann mal irren. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass das Spiel seinem Unterhaltungswert zum Trotz eine sehr unrealistische Szenerie entwirft. Wie hat beispielsweise die Täterin den Toten ungesehen in die Taucherglocke hieven können?«

»Immerhin wird sie in der Einführung als kräftige Frau beschrieben, die einst als Schlachterin gearbeitet hatte«, warf Ronald dazwischen. »Das hätte uns vielleicht ein Hinweis sein sollen.«

»Es gibt Berufe, in denen Frauen besser nicht arbeiten sollten«, meinte der ehemalige Hauptfeldwebel. »Die Schlachterei ist für eine Dame zu rau und grob.«

»Ich fürchte, Ihr Verständnis von Frauen ist recht altmodisch«, kicherte Kay frech, »und zudem verklärend. Zart und schwach sind die wenigsten Damen, die ich kenne.«

»Ach, mein Bruder ist eben ein Junggeselle«, winkte Wilma Voigt ab. »Er hat da seine eigenen verstaubten, realitätsfernen Ansichten.«

Bert Voigt errötete, schwieg aber.

»Apropos Realismus«, griff der Gastgeber das gefallene Stichwort auf, »in diesem Spiel wurde ein Mordfall innerhalb weniger Stunden gelöst. Ich kenne mich in der Polizeiarbeit nicht aus, aber wir haben heute einen Experten unter uns. Herr Herrmann, für eine echte Aufklärung braucht es im Polizeialltag doch sicherlich länger?«

Der ehemalige Kriminaldirektor bemerkte die vielen Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren. Er hatte mit Fragen wie dieser gerechnet, denn immerhin saßen um ihn herum ausschließlich Liebhaber von Kriminalliteratur. Wer sonst würde eine Einladung zum Krimi-Dinner so bereitwillig annehmen?

»Nun«, begann er vorsichtig, »natürlich ziehen sich die Ermittlungen meist arg in die Länge. All die Vernehmungen und Überprüfungen müssen ja nicht nur durchgeführt, sondern anschließend auch ausgewertet werden.«

»Aber manchmal dauert es tatsächlich nur wenige Stunden«, unterbrach ihn Kay. »Ronald, erinnerst du dich an den Vorfall vor einem Jahr?«

Bevor Ronald antworten konnte, meldete sich Cornelia Augustin zu Wort:

»Wenn ich so überlege, kennen auch wir einen Fall, Hans-Georg, der innerhalb von vierundzwanzig Stunden aufgeklärt werden konnte. Weißt du noch damals, als wir im Erzgebirge waren?«

»Das kann man kaum einen ernstzunehmenden Mordfall nennen, Schatz«, entgegnete ihr Gatte und wandte sich wieder dem Kriminaldirektor zu. »Ich fürchte, Herr Herrmann, wir haben Sie nicht ausreden lassen.«

Henry Herrmann räusperte sich.

»Die Dauer der Aufklärung hängt letztlich von den Umständen des Falles ab. Wenn beispielsweise ein Mord innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft geschieht und die Kriminalpolizei zufällig bereits in der Nähe ist, kann ein Fall durchaus zügig untersucht und gelöst werden – sagen wir, innerhalb von vierundzwanzig Stunden, wie unsere Gastgeberin gerade formulierte. Mir ist so etwas während meiner Laufbahn tatsächlich schon untergekommen.«

»Wirklich?«, hakte Cornelia nach und ihre Augen leuchteten. »Erzählen Sie!«

Herrmann fühlte sich von der Aufforderung geschmeichelt, und als er in den Gesichtern der anderen Gäste ebenfalls unstillbare Neugierde lesen konnte, begann er seinen Bericht:

»Der Mordfall, von dem ich sprechen will, ereignete sich vor einigen Jahren in der Vorstadt meines Heimatortes. Ich war allerdings als Privatperson involviert. Die offiziellen Ermittlungen leitete ein gewisser Kommissar Tork, den ich damals als einen jungen, umsichtig vorgehenden Kollegen kennenlernte. Er begegnete dem Fall mit nüchterner Bedachtsamkeit und vermied viele Anfängerfehler, wie sie einige seiner Altersgenossen passieren.

Wie dem auch sei, ich war eines Sonntagnachmittags zu einer gemütlichen Kaffeerunde geladen. Das Patenkind meiner Gattin – ich will sie Ruth nennen – veranstaltete sie, ohne dass es einen besonderen Anlass gegeben hätte. Meine Frau konnte der Einladung aus terminlichen Gründen nicht folgen, also schickte sie mich stellvertretend hin. Es war nur eine kleine Runde. Neben Ruths Gatten Daniel und ihrer achtjährigen Tochter Louise war noch Daniels Arbeitskollege Sahin zugegen sowie die Nachbarin Agnes, eine Apothekerin. Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich nur bei den Vornamen bleibe und keine Nachnamen erwähne?«

»Selbstverständlich«, sagte Cornelia.

»Wir haben uns hier ja nicht versammelt, um Ihre Schweigepflicht anzugreifen oder unbekannte Leute zu diffamieren«, setzte Kay hinzu.

»Ich kam also kurz nach drei bei den besagten Freunden an«, fuhr der ehemalige Kriminaldirektor fort. »Etwas zu spät, was eigentlich nicht meine Art ist. Ich hatte Schwierigkeiten gehabt, einen Parkplatz zu finden; zu viele Anwohner schienen am Straßenrand zu halten, um mal eben was aus der Apotheke zu holen, die ganz in der Nähe war. Eine regelrechte Schlange stand vor dem Eingang. Wie dem auch sei, ich stellte mein Auto etwas weiter weg ab und hetzte zu Ruth und Daniel. Sie empfingen mich in ihrer Doppelhaushälfte und stellten mir Sahin vor, der sich mit Daniel ein Büro teilte. Die beiden arbeiteten in der IT-Branche, müssen Sie wissen. Die kleine Louise tänzelte um mich herum, denn sie wusste, dass Onkel Henry (also ich) immer ein kleines Spielzeug für artige Kinder einstecken hatte, wenn er zu Besuch kam.«

Bei diesen Worten blinzelte Cornelia ihrem Gatten fröhlich zu. Offenbar gehörte auch er zu dieser Sorte wohltätiger Onkels.

»Ich überreichte Ruth einen Strauß Blumen, den sie sogleich in eine Vase steckte.

›Die Maiglöckchen, die Louise im Garten gesammelt hat, sind schon ein wenig vertrocknet‹, meinte sie. ›Da können wir sie ebenso gut austauschen.‹

Wir waren gerade dabei, uns an den Tisch zu setzen, als die Nachbarin hereinplatzte. Ich kannte sie zwar schon flüchtig von einem meiner vorigen Besuche, aber erschrak trotzdem. Agnes kam nämlich nicht zur Haustür herein, sondern hinten herum durch die Terrasse. Das lag daran, dass Daniels Grundstück und ihres ursprünglich einmal eins gewesen waren und nur durch eine Hecke, nicht durch einen Zaun voneinander getrennt waren. Man hatte eine kleine Lücke in der Hecke gelassen und dort ein buntes Gartentürchen installiert, welches jedoch stets unverschlossen blieb.«

»Klingt, als hätten die beiden Parteien eine gute, vertrauensvolle Nachbarschaft gepflegt«, bemerkte Kay. »Wenn ich da an meine Nachbarn denke…«

»Es blieb ihnen beinahe nichts anderes übrig«, sagte Herrmann. »Daniel und Ruth bewohnten eine Doppelhaushälfte. Die andere Hälfte gehörte der Apothekerin. Agnes’ Familie hatte vor vielen Jahren das gesamte Gebäude samt Grundstück besessen. Es lag sehr günstig an einer wichtigen Kreuzung. Der alte Apotheker, der Vater der Nachbarin, hatte zur Hauptstraße hin seine Geschäftsräume. Es war eine schöne, altmodische Apotheke, müssen Sie wissen, mit hohen Regalen aus dunklem Holz, die sich die Wände hochzogen. Es gab viele Schubladen mit Porzellanknauf, auf denen in Schreibschrift die Namen der Medikamente standen.«

»Solche Apotheken liebe ich«, schwärmte Cornelia. »Die wirken immer so gemütlich!«

»In den privaten Teil des Hauses kam man durch den Eingang, der zur Seitenstraße hinausging. Doch der Konkurrenzdruck durch andere Apotheken sowie Drogerien wuchs und die Familie konnte das große Anwesen nicht mehr bewirtschaften. Glücklicherweise erlaubte die Länge des Hauses eine Trennung in zwei Hälften. Also zog man Trennwände hoch, pflanzte die Hecke und verkaufte den hinteren Abschnitt. Aber ich will Sie nicht allzu sehr mit der Architektur langweilen. Kommen wir zum spannenden Teil meiner Geschichte.«

Unweigerlich rückten alle Zuhörer etwas näher an den Tisch heran.

»Agnes kam also später. Sie grüßte uns und setzte sich mir gegenüber. Dabei bemerkte ich diesen typischen Apothekenduft, der ihr anhaftete. Es dauerte etwas, bis wir uns eingerichtet hatten, denn Ruth hatte eine lange, schwere Tischdecke aufgelegt, welche die Beinfreiheit beim Sitzen sehr einschränkte. Kurz darauf servierte Louise eine Sachertorte und verkündete stolz, sie ganz alleine gebacken zu haben.

›Papa hat sie sich gewünscht‹, sagte sie, ›und Mama hat nur ein klitzekleines bisschen geholfen.‹

Wir lachten und lobten das schmackhafte Aussehen. Vor allem die farbenfrohe Blume auf der Tortenmitte, aus diversen Gummitierchen geformt, imponierte uns. Ruth schenkte allen Kaffee ein (das heißt, die kleine Louise bekam eine Tasse Kakao) und Daniel teilte jedem ein Stück Torte zu, bis auf Sahin.

›Mein Glaube erlaubt mir nicht, davon zu kosten‹, sagte er entschuldigend und spielte auf die Gelatine und den Rum an, der in der Torte enthalten war. Er hatte sich ein eigenes, bescheidenes Keksgebäck mitgebracht und war damit zufrieden.

Wir saßen eine Weile ungezwungen da und plauderten. Dabei hatten Sahin und Agnes den größten Anteil am Gespräch. Daniel und Ruth blieben merkwürdig still und Louise fragte nur immer, ob es denn wirklich allen schmecke.

›Es ist nämlich ein Geheimrezept aus dem Internet‹, sagte sie, aber niemand, bis auf Agnes, ging darauf ein.

›Schade, dass ich zurzeit auf Diät bin‹, sagte sie, ›da werde ich nicht mehr als ein Stück von deinem Meisterwerk schaffen, Louise!‹

Tatsächlich nahm die Apothekerin nur ganz kleine Häppchen zu sich – wohl hatte sie deshalb ausreichend Zeit, das Gespräch am Tisch zu bestimmen.

Etwa eine Stunde verfloss und ich hatte mein zweites Tortenstück fast aufgegessen, als ich ein Zwicken im Magen spürte. Ich tat es zunächst ab und trank einen Schluck Kaffee, doch das Zwicken verstärkte sich und ich erlitt einen heftigen Krampf im Bauch. Ich musste mir mein Sakko ausziehen und bemerkte, dass die anderen Herren das Gleiche taten.

›Mama, mir ist schlecht‹, klagte Louise und war ganz blass geworden. ›Ich glaube, ich muss brechen.‹

Ruth hielt sich ihre Hand vor den Mund, offenbar ging es ihr nicht anders.

›Irgendwas stimmt nicht‹, sagte Sahin und schaute uns alle an. ›Ihr seht aus, als ob ihr plötzlich alle krank wäret!‹

Agnes versuchte sich zu erheben, musste sich aber abstützen, weil ihr schwindelig wurde.

›Mir scheint, wir haben Vergiftungserscheinungen‹, ächzte sie. ›Ruth, geh mit der Kleinen zur Toilette und stecke ihr den Finger in den Hals! Jemand ruft sofort einen Notarzt. Ich laufe rüber in die Apotheke – irgendwo muss ich noch medizinische Kohle haben.‹«

Der Kriminaldirektor hielt inne. Er war sich nicht sicher, wie detailliert er die Vergiftung schildern durfte, damit keinem der Zuhörer übel wurde. Judith Strasser schaute, ganz die resolute Krankenschwester, interessiert zu ihm. Die Augustins und die Voigts ließen sich nichts anmerken; in ihrem Alter war man es gewöhnt, über Krankheitssymptome jedweder Art zu schwatzen. Lediglich Ronald und Kay rümpften unbewusst die Nase.

»Ich fasse mich an dieser Stelle besser kurz«, entschied Herrmann, »denn die Einzelheiten kann man sich ja denken. Uns war klar, dass wir unter irgendeiner Vergiftung litten und Sahin stürzte zum Telefon, um Hilfe zu holen. Agnes, die wenig gegessen hatte, schaffte es zu sich nach Hause, holte Kohletabletten und brachte sie uns. Sie verabreichte zunächst Louise eine, dann Ruth, dann mir. Daniel erhielt die Medizin zuletzt. Sahin verzichtete, weil er sich gesund fühlte. Dann traf schon der Notarzt ein, untersuchte uns und nahm uns allesamt mit ins Krankenhaus. Obwohl es mir bald besser ging, musste ich mehrere Stunden dort bleiben. Die Ärzte wollten kontrollieren, ob alle lebenswichtigen Funktionen in Ordnung waren, und das zog sich hin.

Als ich das Krankenhaus verlassen durfte, traf ich im Warteraum Ruth mit Louise im Arm. Sie weinte still vor sich hin, was mich wunderte. Sahin stand daneben, eine Tasse Tee in der Hand, die er Ruth reichen wollte. Agnes saß in einer anderen Ecke und schaute mich ratlos an.

›Daniel ist gestorben‹, sagte sie leise.

Ich musste mich setzen, so bestürzt war ich. Wie konnte ein gesunder Mann im besten Alter eine Lebensmittelvergiftung nicht überleben, die war zwar heftig gewesen war, aber selbst die achtjährige Louise gut überstanden hatte?«

»Was für eine Vergiftung war es denn genau?«, wollte Judith Strasser wissen.

»Die Ärzte sagten etwas von einer Glykoside-Vergiftung«, erwiderte Herrmann. »Das hat wohl irgendetwas mit dem Herzen zu tun.«

»Dann hat Daniel vielleicht einen Herzfehler gehabt, von dem man nichts wusste?«, mutmaßte Cornelia.

»Oh nein«, sagte Herrmann ernst. »Daniel war gesund gewesen, darin waren sich die Ärzte einig. Und als wir ihnen erzählten, was wir gegessen und getrunken hatten, fassten sie die Meinung, dass das Gift in der Torte gewesen sein muss – und Daniel zu viel davon abbekommen hatte. Viel zu viel!«

»Wieso denn in der Torte?«, fragte Bert Voigt.

Seine Schwester rollte die Augen.

»Das hab ja sogar ich verstanden«, moserte sie. »Der Einzige, der gesund blieb, war Sahin. Er war der auch Einzige, der nichts von der Torte gegessen hatte. Vom Kaffee hatte er sehr wohl getrunken, nicht aber das kleine Mädchen, das seinen Kakao schlürfte, weshalb wir die Getränke ausschließen müssen. Du siehst, Bert, dass nur die Sachertorte als Ursache übrig bleibt. Etwas darin muss verdorben gewesen sein.«

»Ach so«, war alles, was der Hauptfeldwebel a.D. dazu sagte.

»Nicht verdorben, Wilma«, berichtigte Cornelia ihre Freundin. »Der Kriminaldirektor erzählt uns hier von einem Mordfall, vergiss das nicht! Was er damals zunächst für eine Lebensmittelvergiftung gehalten hatte, muss also in Wahrheit ein Verbrechen gewesen sein.«

Nun war es Wilma Voigt, die »ach so« machte.

»Klingt, als handelte sich um eine absichtlich herbeigeführte Vergiftung mit dem Ziel, Daniel aus dem Weg zu räumen«, überlegte Ronald laut. »Damit es wie ein Zufall aussehen würde, hatte man Sie und die anderen Geburtstagsgäste gleich mit vergiftet, nur in kleinerer Dosis.«

»Ähnliches dachten sich die Ärzte, und nachdem sie mich als Kriminologen eingeweiht hatten, glaubte ich das schließlich auch. Also riefen wir die Polizei an und kurze Zeit später traf Kommissar Tork ein. Er begrüßte uns, drückte Ruth gegenüber sein Beileid aus und schlug vor, die Befragung weder im Krankenhaus noch auf dem Revier, sondern bei Ruth zu Hause durchzuführen.

›Dann kann Ihre Tochter in Ruhe ins Bett‹, argumentierte er und Ruth erklärte sich einverstanden. Es war nämlich schon nach 19 Uhr und bald würde es draußen dämmerig werden.

Die Polizei begleitete uns zurück, ließ uns aber nicht ins Wohnzimmer, das ja von nun an als Tatort galt. Die Beamten nahmen die Kaffeekanne, die Tassen und die Torte an sich, um sie analysieren zu lassen. Das war jedoch gar nicht mehr nötig, weil bei einem Gespräch zwischen Tork und Louise die Sprache schnell auf das ›Geheimrezept aus dem Internet‹ kam.

Arglos holte das Mädchen ihr kleines Netbook. Es war rosa und mit vielen glitzernden Aufklebern geschmückt. Louise schaltete es an und zeigte dem Kommissaren die Homepage mit besagtem Rezept. Und was da stand, ließ mich vollends erschauern.

›Für ein besonders schmackhaftes Vergnügen nutze man einen Strauß Maiglöckchen auf folgende Art: Zunächst stelle man die Blumen einen Tag lang ins Wasser. Hernach zerstoße man die Blätter und Blüten in winzige Teilchen und mische sie unter den Teig. Das übrig gebliebene Blumenwasser träufele man nach dem Backen schön gleichmäßig über die Sachertorte. Das Maiglöckchen verstärkt den süßen Geschmack.‹«

»Das ist ja ungeheuerlich«, rief Cornelia aus. »Jeder weiß doch, dass Maiglöckchen hochgiftig sind!«

»Na, jeder wohl nicht«, widersprach Kay trocken. »Sonst wäre diese Tragödie nicht passiert.«

»Wer stellt denn so eine Fehlinformation online?«, fragte Hans-Georg. »Das muss jemand sein, der Leuten grundlos schaden will, ja sogar unbekümmert in den Tod schickt!«

Allgemeine Unruhe entstand am Tisch und die Gefahren des Internets wurden heiß diskutiert. Beinahe wäre Herrmanns Schilderung in Vergessenheit geraten, wenn Judith Strasser sich nicht geräuspert hätte.

»Als Krankenschwester habe ich bisher schon einige Vergiftungsfälle erlebt, aber keine mit Maiglöckchen«, erzählte sie. »Ich will die Gefährlichkeit dieser Blumen keineswegs kleinreden. Nichtsdestotrotz sind Todesfälle durch Maiglöckchengift höchst selten.«

»Außerdem haben alle von der Torte gegessen, und nur Daniel starb«, gab Ronald zu bedenken. »Sein Tod muss irgendwie anders herbeigeführt worden sein.«

»Kehren wir also zu jenem Augenblick zurück, als Tork und ich die Homepage entdeckten«, ergriff der ehemalige Kriminaldirektor endlich wieder das Wort. »Der Kommissar und ich glaubten, die Ursache des Todesfalls gefunden zu haben.

›Ich werde den Webmaster dieser Seite ermitteln lassen‹, sagte Tork, ›und der muss wegen fahrlässiger Tötung dran!‹

Uns war beiden klar, dass die kleine Louise keine Schuld traf. Sie hatte nicht wissen können, dass ihr Geheimrezept ein tückischer Angriff auf menschliche Gesundheit war. Während Tork mit Kollegen auf seinem Revier telefonierte, erzählte ich Ruth von der Internetseite. Sie war natürlich schockiert, ließ sich ihrer Tochter gegenüber aber nichts anmerken und brachte sie zu Bett.

Derweil gesellte ich mich zu Agnes und Sahin, die sich beide verpflichtet fühlten, Ruth in dieser schweren Zeit zur Seite zu stehen. Vom Flur aus sahen sie den Beamten zu, die noch immer dabei waren, das Wohnzimmer nach weiteren Hinweisen zu durchsuchen. Ich weihte sie in die neuesten Erkenntnisse ein und beide waren fassungslos. Noch fassungsloser waren sie, als Tork mit dem rosafarbenen Netbook auf uns drei zukam und fragte, ob wir wüssten, wo das Gerät ursprünglich her sei.

›Dieses Netbook hat mal mir gehört‹, sagte Agnes. ›Als ich es nicht mehr benötigte, fragte ich Ruth und Daniel, ob sie eines bräuchten, und sie nahmen es mir ab.‹

›Daniel hatte es mal mit ins Büro genommen‹, fügte Sahin hinzu. ›Er bat mich, es kindersicher zu programmieren, damit es seine Tochter für die Schule und dergleichen verwenden könne. Warum fragen Sie?‹

Tork antwortete nicht darauf, sondern reichte Sahin das Gerät mit der Bitte, er solle im Internet mithilfe einer beliebigen Suchmaschine nach einem Rezept für Sachertorte stöbern. Der IT-Fachmann gehorchte und nach nur wenigen Klicks runzelte er die Stirn.

›An Ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass Ihnen die gleiche Ungereimtheit auffällt wie mir‹, sagte Tork. ›Ich bin froh, mich durch einen Experten bestätigt zu sehen.‹

Da Agnes und ich im Gegensatz zu den beiden nicht wussten, worum es überhaupt ging, bat ich Tork, etwas ausführlicher zu werden.

›Als ich die Chronik der aufgerufenen Internetseiten aufgerufen habe, fiel mir auf, dass Louise nur eine einzige Homepage mit einem Rezept für Sachertorten gefunden hatte‹, sagte der Kommissar, ›obwohl es viel mehr gibt. Sehen Sie, wenn ich über mein Handy nach Rezepten suche, werden mir in jeder Suchmaschine Ergebnisse im vierstelligen Bereich gezeigt.‹

Ich verstand schnell, worauf Tork hinaus wollte: Jemand musste an dem Netbook herumgedoktort haben, damit Louise zwangsläufig das Rezept mit den Maiglöckchen finden würde. Dass sie diese Homepage aufgerufen hatte, war kein Zufall gewesen!«

»Ein Beweis dafür, dass jemand Daniel bewusst vergiften wollte«, unterbrach Ronald, »und in Vorbereitung darauf für die manipulierte Torte gesorgt hatte.«

Zum zweiten Mal während der Schilderung des Falles schaltete sich Wilma Voigt ein.

»Ich bin wirklich nicht sehr klug, was solche kriminologischen Schritte angeht«, sagte sie, »aber sollte der Kommissar nicht erst einmal überprüfen, ob Louise die Torte wirklich allein gebacken hat? Die Mutter, diese Ruth, muss doch mitbekommen haben, dass das Mädchen ein falsches Rezept ausgesucht hat. Oder hat sie das Kind alles völlig allein machen lassen? Wie unverantwortlich! Und faul dazu!«

»Tatsächlich hatte Ruth die kleine Louise mehrmals unbeaufsichtigt in der Küche gelassen, um den Kaffeetisch zu decken und Sahin zu begrüßen, der sehr zeitig eingetroffen war«, sagte Herrmann. »Sie vertraute auf die Selbständigkeit ihrer Tochter. Einzig beim Stürzen und Zerschneiden des Tortenbodens half sie ihr.«

»Unverantwortlich«, fand Wilma.

»Derjenige, der das Internet manipuliert hat, muss gewusst haben, dass Louise unbeaufsichtigt backen würde«, warf ihr Bruder Bert ein.

»Guter Punkt!«, lobte Herrmann.

»Und er muss sichergegangen sein, dass sie die Maiglöckchen auch ja nicht vergisst«, setzte Cornelia hinzu. »Wenn wir erfahren, woher Louise die Blumen hatte, kommen wir vielleicht auf den Mörder!«

»Wie sich herausstellte, hatte Louise die Maiglöckchen am Tag zuvor in Agnes’ kleinem Garten pflücken dürfen«, erzählte Herrmann. »Tork hatte das aus dem kurzen Gespräch mit dem Kind erfahren, und darauf angesprochen bestätigte die Apothekerin diese Information.

›Das ist alles, was in meinem winzigen Gärtchen zurzeit wächst‹, rechtfertigte sie sich uns gegenüber, ›und ich habe schließlich nicht wissen können, was die Kleine damit vorhatte.‹«

»Da haben wir’s!«, rief Cornelia fröhlich aus. »Die Apothekerin war’s!«

»Noch haben wir gar nichts, liebe Tante«, widersprach Ronald. »Schließlich wissen wir nicht, wie Daniel nun wirklich vergiftet worden ist. Die ganze Maiglöckchenangelegenheit diente ja nur als Ablenkung!«

»Was die wirkliche Ursache der Vergiftung anging, kam dank der Spurensicherung schnell Klarheit auf«, ergriff Herrmann wiederum das Wort und alle lauschten gespannt. »Die Beamten hatten unterm Tisch eine Schachtel Tabletten gefunden. Es handelte sich um ein Medikament mit dem Wirkstoff Digoxin, welcher bei Überdosis Herzprobleme verursachen kann – bis hin zum Tod. In meiner Laufbahn bin ich bereits öfter mit dieser ›Tatwaffe‹, wenn mir diese Bezeichnung gestattet ist, konfrontiert worden, und auch Tork war sie nicht fremd.

Als man ihm die Schachtel zeigte, erledigte er sofort zwei Telefonate: Eines mit dem Krankenhaus, wo Daniels Leiche geblieben war, und eines mit dem Polizeirevier. Die Ärzte sollten den Toten auf Spuren von Digoxin prüfen, die Kollegen hingegen einen Experten hinzuziehen, der die Website hacken konnte. Sie wissen schon, die IP-Adresse des Programmierers herausfinden und damit der Verursacher jenes Maiglöckchenstreichs orten. Solange die Website online war, blieben ja noch viele andere User gefährdet!

Erst nach den Anrufen begutachtete er die Tablettenschachtel genauer. Er fragte uns alle der Reihe nach, ob uns das Medikament gehöre und falls nicht, ob wir die Schachtel am Nachmittag gesehen hätten. Wir alle, auch Ruth, verneinten. Tork zog sich einen Gummihandschuh über die Finger, öffnete die Packung und zog eine dieser Plastikstreifen heraus, in denen normalerweise die Tabletten in einzelnen Hülsen versiegelt sind, bis man sie jeweils für die Einnahme herausbricht. Die Hülsen dieses Plastikstreifens waren bereits allesamt geleert.

›Es ist davon auszugehen, dass der Inhalt der Schachtel dem Verstorbenen zugeführt worden ist und seinen Tod verursacht hat‹, sagte Tork ernst. ›Dem Fundort der Schachtel nach zu urteilen, muss die Zufuhr während Ihrer Kaffeerunde erfolgt sein. Es tut mir leid, aber ich muss Sie alle dazu befragen.‹

Ich glaube, es tat ihm wirklich leid. Er war ein Fremder mitten in einem Trauerhaus und uns allen sah man an, dass Daniels Tod uns nahe ging. Es war kein guter Augenblick für Vernehmungen, deshalb wies Tork sogleich in freundlicherem Ton darauf hin, dass die Kriminalpolizei die Beteiligten in den Folgetagen aufs Revier laden würde.

›Sie kommen zu uns, wenn Sie alle wieder bei Kräften sind‹, sagte er.

›Und solange bleiben wir verdächtig, wie?‹, entgegnete Agnes gereizt. ›Ihre Strategie sieht doch nur vor, dass wir uns alle gegenseitig beschuldigen, die Packung Tabletten heimlich hergebracht zu haben!‹

 Tork schüttelte den Kopf und wusste nicht recht, wie er auf die Apothekerin reagieren sollte. Ich versuchte die Situation zu entspannen, indem ich mich bereit erklärte, gleich an Ort und Stelle meine Aussage zu machen. Meinem jungen Kollegen war das sichtlich unangenehm, schließlich war ich sein Vorgesetzter. Als aber Ruth und Sahin bestätigten, dass ich fast als Letzter eingetroffen war und außer einem Blumenstrauß nichts bei mir gehabt hatte, schien Tork erleichtert.

›Ihr Sakko passt ohnehin nicht‹, meinte er.

Ich verstand nicht und fragte, was er meine. Da kramte er aus seiner Jackentasche eine Pinzette hervor, nahm die Plastiktüte mit der Tablettenschachtel in die linke Hand und tauchte mit der rechten die Pinzette hinein. Er erwischte einen dunkelblauen Faden, der sich an einer Ecke der Packung verfangen hatte, zog ihn aus der Tüte und hielt ihn uns allen vor die Nase.

›Dieser dünne Faden ist mir gleich aufgefallen. Sie werden ihn dagegen vermutlich übersehen haben. Es könnte sich dabei um einen losen Faden aus eben jener Tasche handeln, in der die Schachtel gesteckt hatte, bevor man sie, vollständig geleert, unter das lange Tischtuch fallen ließ. Möglicherweise wollte der Täter oder die Täterin die Schachtel zunächst dort verstecken und später abholen, um sie ganz zu entsorgen.‹

Tork wandte sich an Sahin.

›Ist das Ihr Sakko, das dort am Kaffeetisch über der Stuhllehne hängt?‹

Sahin nickte.

›Das ist mein Bürojackett‹, sagte er. ›Ich hab’s von der Firma bekommen. Wir tragen dort alle so eins.‹

›Quasi eine Einheitskleidung für alle Mitarbeiter?‹, fragte Tork und Sahin nickte abermals.

Der Kommissar ging auf besagten Stuhl zu, hielt den Faden daran und wir sahen, dass die dunkelblaue Farbe übereinstimmte. Alle wussten, was uns Tork damit sagen wollte.

›Wollen doch mal sehen, ob in den Innentaschen irgendwo eine Faser beschädigt ist‹, sprach er und untersuchte das Sakko.

Dabei glitt ein Umschlag aus der Innentasche.

›Sieh einmal an, ein Brief an Ihren Kollegen Daniel in Ihrem Jackett? Und sogar geöffnet!‹

Tork holte einen Bogen Papier aus dem Umschlag. Ich konnte an dem getippten Text erkennen, dass es sich um einen Geschäftsbrief handelte. Mein Kollege las ihn nicht laut vor, fasste aber zusammen:

›Es ist ein Angebot für eine Beförderung. Sahin, haben Sie diese Post an Ihren Kollegen absichtlich abgefangen?‹

Bevor der Befragte Antwort geben konnte, mischte sich Ruth ein:

›Ich weiß, was Sie denken, Herr Kommissar! Aber Sahin hat mit der Sache nichts zu tun. Seitdem er hier eintraf, war er nie allein im Wohnzimmer, um irgendetwas in Daniels Kaffee oder Kuchen oder sonstwohin zu tun. Er war immer – wie sagt man in Ihrem Metier? – unter Aufsicht! Ebenso wie Herr Herrmann hier. Ich empfing sie alle an der Tür und geleitete sie zu Tisch.‹

›Wie aber kam die Schachtel hierher, wenn sie keinem gehörte?‹, höhnte Tork. ›So, wie Sie es alle darstellen, müsste sie ja ungesehen von allein unter den Wohnzimmertisch gekrochen sein.‹

Der bisher so freundliche Kommissar wurde etwas rot im Gesicht und ich wunderte mich über seine plötzliche Grobheit. Tork musste meine Irritation bemerkt haben, denn er atmete tief durch und fuhr dann etwas ruhiger fort:

›Entschuldigen Sie bitte meinen Ausbruch. Mir scheint jedoch, irgendjemand hatte vor, ein kleines, naives Mädchen als Mörderin ihres Vaters darzustellen. Und das wühlt mich auf.‹