Ruf doch mal an - Bernharda May - E-Book

Ruf doch mal an E-Book

Bernharda May

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Beschreibung

Als die Callcenter-Agentin Julia ihren Mitarbeitern erzählt, sie sei eben am Telefon Zeugin eines Mordes geworden, will ihr zunächst keiner glauben. Aber tatsächlich findet man später am anderen Ende der Leitung eine Leiche: Ein pensionierter Professor wurde erschlagen! Von der Tatwaffe fehlt zwar jede Spur, doch an Verdächtigen mangelt es nicht. Kommissar Tork und sein Kollege Unger erfahren, dass der wohlhabende Tote nicht nur seine nahen Verwandten verprellte, sondern auch Feinde an der Universität hatte. Wird man unter ihnen rechtzeitig den Mörder finden, ehe der ein zweites Mal zuschlägt?

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ruf doch mal an

1. Mord am Mittwoch2. Dienst am Donnerstag3. Freitagsvernehmungen4. Suspektes zum Samstag5. Süßes zum Sonntag6. Montagsvermutungen7. Deduktionen am Dienstag8. Am achten Tage droht der Tod9. Schlusswort beim KaffeeschwatzImpressumDanksagung

1. Mord am Mittwoch

08.32 Uhr

Nachdem sie die Betten ausgeschüttelt, das Frühstücksgeschirr abgewaschen und ihre stattliche Anzahl von sechsundzwanzig Zimmerpflanzen gegossen hatte, nahm Frau Ottermayer das Zierkissen vom Sofa (das Almmotiv darauf hatte sie seinerzeit selbst gestickt) und legte es aufs Fensterbrett ihres Wohnzimmers. Jetzt begann der gemütliche Teil des Vormittags: Die Arme auf das Kissen gestützt und die Schultern in die gestrickte Stola gehüllt, würde sie am geöffneten Fenster das Geschehen auf der Straße verfolgen.

In der Wohnsiedlung gab es für eine alte Dame wie Frau Ottermayer immer etwas Interessantes zu beobachten. Von der Bachstraße, die parallel zur großen Hauptstraße verlief, bog der Steinweg ab und führte durch zwei einander gegenüberliegende Mehrfamilienblöcke auf einen dritten Block zu. Die drei Blöcke waren in den späten 50er Jahren gebaut und seitdem mehrfach innen und außen saniert worden. Zurzeit dominierte ein mattes Hellgelb die Hauswände. Frau Ottermayer empfand dies als wohltuend, da der Vorgänger ein ungemütliches Braungrau gewesen war.

Bachstraße und Steinweg galten als gute Lage, weshalb es viele Menschen dorthin zog und die Wohnungen regelmäßig vermietet waren. Die Siedlung war relativ zentrumsnah, für Leute ohne Auto (wie Frau Ottermayer) nur fünf Gehminuten von der nächsten Bushaltestelle entfernt und zwei Straßen weiter gab es einen Supermarkt mit Bäcker. Zudem war sie weit abgelegen von den Fakultäten und Studentenwohnheimen der hiesigen Universität. Es lebte sich recht ruhig hier, denn dank einer großzügigen Bewaldung zwischen Bach- und Hauptverkehrsstraße gab es wenig Lärm und kaum störenden Durchgangsverkehr. Die Hinterhöfe waren frei zugänglich und verfügten über kleine Spielplätze, Müllcontainer und Wäscheständer. Die Parkplätze lagen vor den frontalen Eingängen der Wohnblöcke und reichten gerade so für die Anwohner. Alles in allem handelte es sich um eine überschaubare Stadtidylle wie aus dem Bilderbuch. Eben passend für Leute in Frau Ottermayers Alter.

Sie wohnte im Erdgeschoss gleich neben dem Haupteingang des linken Blockes und konnte somit kontrollieren, wer hier alles ein- und ausging, und gleichzeitig dem Straßentreiben zuschauen. Das junge Paar aus dem Eingang schräg gegenüber war gerade dabei, Taschen und Koffer in ihrem Auto zu verstauen – offenbar ging es in den Urlaub, deshalb hatte man auch die Rollläden an den Fenstern auf halbe Höhe heruntergelassen. Oder war es nur ein Ausflug? Die Herbstferien begannen schließlich erst in einer Woche, glaubte Frau Ottermayer sich zu erinnern.

Im Stockwerk über der Wohnung des jungen Paares waren die Fenster noch immer leer, obwohl sie mit Bestimmtheit wusste, dass dort jemand lebte, denn fast jeden Abend brannte das Licht.

»Sicherlich ein Junggeselle, der keine Frau hat, die ihm Gardinen besorgt«, meinte Frau Ottermayer.

Mit Junggesellen kannte sie sich aus. Von ihren drei Brüdern war nur einer verheiratet und die Wohnungen der anderen zwei würden, davon war Frau Ottermayer überzeugt, sehr ungemütlich sein, schenkte die wohlmeinende Schwester ihnen nicht jährlich zu Weihnachten selbst bestickte Tischdecken, Kissenbezüge und Wandbilder. Ob sie dem Fremden einfach eine Gardine in den Briefkasten stecken sollte? So ein leeres Fenster zur Straßenseite – ihrer Straßenseite – sah wahrhaftig nicht schön aus.

Der dicke Herr aus dem anderen Eingang, der sonst um diese Zeit mit seinem kleinen Yorkshireterrier Gassi ging, schien heute auszubleiben. Womöglich war es ihm zu kalt, dachte Frau Ottermayer. Sie selbst mochte allerdings die frische, kühle Herbstluft und atmete tief durch.

Ihre Augen wanderten nun drei Wohnungen weiter. Links außen rauchte wie stets um diese Zeit Herr Burckhardt seine zwei Zigaretten, und in der Wohnung unter Burckhardts hatten es die Bewohner noch immer nicht für nötig gehalten, die verblühten Zierpflanzen vom Fensterbrett zu nehmen. Frau Ottermayers Überlegung, welche Probleme die Hausfrau von einer solch wichtigen Aufgabe abhalten könnten, wurde vom Lärm des anspringenden Motors unterbrochen: Das Paar hatte alles Gepäck glücklich verstauen können und fuhr nun los. Die alte Dame wollte den Vorbeifahrenden freundlich zunicken, doch würdigten die jungen Leute sie keines Blickes. Die Zeiten, als alle Nachbarn dieser Straße sich zumindest oberflächlich kannten und grüßten, waren lange vorbei. Frau Ottermayer bedauerte dies sehr, führte es doch dazu, dass ihr immer weniger Klatsch und Tratsch zugetragen wurde und sie für Unterhaltungszwecke vermehrt auf Illustrierte zurückgreifen musste.

Plötzlich bog mit rasanter Geschwindigkeit ein roter Flitzer von der Bachstraße in die Wohnblocksiedlung ein, bremste quietschend vor einer Parklücke und eroberte sie frech, ohne zu blinken. Normalerweise mochte Frau Ottermayer dermaßen rücksichtslose Fahrer nicht.

»Irgendwann wird es wegen solcher Raser noch einen bösen Unfall geben«, murrte sie und hoffte insgeheim, in einem solchen Falle rechtzeitig am Wohnzimmerfenster zu stehen, um zunächst der Polizei und hinterher, bei einer heißen Tasse Kaffee, ihren Freundinnen den Hergang detailgetreu berichten zu können.

Über die unangemessene Geschwindigkeit ausgerechnet dieses roten Flitzers sah die alte Dame allerdings gerne hinweg und sie lächelte sogar, denn es handelte sich um den Wagen von Herrn Robert…wie hieß er gleich? Egal, er war jedenfalls der sympathische Neffe von Professor Beumler, einem emeritierten Gelehrten der hiesigen Universität, der im gleichen Eingang wie sie lebte. Ihm gehörte die Wohnung schräg über ihr. Ein garstiger und unhöflicher älterer Herr, wie Frau Ottermayer fand, aber Robert besuchte ihn regelmäßig, und es schien ihr, als ob Onkel und Neffe sehr aneinander hingen.

Der junge Mann, heute mit schicker lederner Schirmmütze auf den wirren braunen Haaren, sprang mit leichten Schritten die Treppenstufen zum Haupteingang hinauf, grüßte fröhlich mit »Guten Morgen, Frau Ottermayer« und drückte auf den Klingelknopf.

»Grüß dich, Robert«, erwiderte Frau Ottermayer mit ihrer tiefen Altfrauenstimme, die so gut zu ihrem gutmütigen Bulldoggengesicht passte, und hob mit gespielter Strenge ihren Zeigefinger: »Bei solch kaltem Wetter wie heute solltest du den Mantel besser zuknöpfen!«

»Für den kurzen Weg vom Auto bis hierher?«, lachte Robert, aber weil er nicht unhöflich sein wollte, schob er schnell – nicht ohne spaßhaften Unterton – hinterher: »Auf dem Rückweg mache ich ihn zu und lege den Schal doppelt um den Hals, versprochen. Der Wagen wird sich nachher sicherlich abgekühlt haben. Dann befolge ich Ihren weisen Rat!«

Er zwinkerte ihr mit seinen hellblauen Augen zu.

»Mach dich nicht lustig. Ihr jungen Leute erkältet euch heutzutage viel schneller als unsereins damals.«

Aus der Gegensprechanlage der Klingel ertönte Professor Beumlers Stimme:

»Wer ist da?«

»Ich bin’s, Onkel, machste auf?«

Die Tür surrte, Robert lehnte sich an die Klinke und wurde eingelassen.

»Schönen Tag noch, Frau Ottermayer«, rief er, bevor die Eingangstür wieder zufiel.

So ein netter junger Mann, lächelte Frau Ottermayer vor sich hin. Er weiß noch, wie man grüßt und sich benimmt – anders als sein miesepetriger Onkel. Und immer zu einem Scherz aufgelegt…

Sie stand noch eine Weile da, aber als es zu nieseln begann, wurde es ihr zu ungemütlich und sie schloss das Fenster. Es mussten heute weder Einkäufe erledigt noch die Handtücher gewechselt werden, deshalb entschied sie sich, den restlichen Vormittag mit dem Fernseher und einer heißen Tasse Tee mit Honig zu verbringen. Als sie in der Küche das Wasser aufsetzte, klingelte es.

»Wer mag das sein?«, fragte sie laut, obwohl niemand da war, der hätte antworten können.

Sie nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab und rief:

»Ja, bitte?«

Es kam keine Antwort und Frau Ottermayer war kurz unsicher, ob sie sich das Klingeln vielleicht nur eingebildet hätte. Mit einem stolzen »Nein, für Halluzinationen bin ich noch nicht alt genug!« verwarf sie diesen Gedanken jedoch.

Möglicherweise war ja die Gegensprechanlage kaputt und die Post wartete draußen? Unter der Woche kam sie mitunter schon recht früh. Frau Ottermayer lief mit kurzen Schritten zum Wohnzimmerfenster und öffnete es, um hinaus auf den Haupteingang zu blicken. Keiner stand dort, und vorhin, erinnerte sie sich, hatte der Lautsprecher ja auch funktioniert, oder?

»Seltsam«, murmelte sie.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie den dicken Herrn mit seinem Terrier, wie er um die Hausecke bog und anscheinend doch von einem seiner üblichen Spaziergänge zurückkehrte. Da öffnete sich der Hauseingang und Frau Ottermayer erschrak: Eingehüllt in einem zugeknöpften Cordmantel, den Schal über die Nase geschoben und die Schiebermütze tief in die Stirn gezogen, kam eine Gestalt heraus, zwinkerte der alten Dame zu, winkte und lief die Treppen hinab. Frau Ottermayer musste lachen.

»Ach, Robert, jetzt übertreibst du aber!«

Sie wollte gerade zurückwinken, als es erneut klingelte.

»Wer ist das denn nur?«, fragte sie, mittlerweile nicht mehr verwundert, sondern ärgerlich.

Sie nahm wieder den Hörer ab und erhielt abermals keine Antwort. Diesmal schaute sie in den Innenhof, ob vielleicht jemand am Hintereingang stand, doch ergebnislos.

»Wer hat mir kürzlich was von Klingelstreichen irgendwelcher Nachbarskinder erzählt? Sollten die es jetzt auf mich abgesehen haben?«

Das Wasser kochte mittlerweile. Sie goss es – noch immer verärgert – auf den Tee, vergaß vor Aufregung den Honig und setzte sich in ihren Wohnzimmersessel. Durch die Gardine sah sie noch den roten Flitzer davonrasen, dann schaltete sie pünktlich zu den Nachrichten das Fernsehgerät an. Sie ahnte nicht, dass diese kurze Aufregung der harmloseste Teil ihres Tages werden sollte.

09.12 Uhr

»Es tut mir leid, Frau Happ, das Wetter hat mich aufgehalten«, entschuldigte sich Julia im Vorbeigehen.

Völlig außer Atem hastete sie durch das Großraumbüro zu ihrem Platz, schaltete den PC ein, setzte sich das Headset auf und machte sich für ihre Arbeit bereit. Frau Happ warf ihr einen Blick durch ihre Brille zu, der unverkennbar bedeutete:

»Ich dulde kein Zuspätkommen!«

Ihr Mund dagegen erwiderte nur:

»Wir sprechen nachher darüber, Fräulein Holten.«

Julia seufzte. Dies war bereits das zweite Mal innerhalb einer Woche, dass sie sich verspätet hatte. Gewiss würde ihr Frau Happ während der Pause ein Gespräch über Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und – das war das Gemeine – Ersetzbarkeit aufzwingen. Julia wusste nur zu gut, wie viele Studentinnen es gab, die sich um einen Nebenjob im Call-Center bemühten, um sich ihr Taschengeld aufzubessern. Frau Happ würde es nicht schmerzen, sie hinauszuwerfen.

»Die Ausrede mit dem Wetter wird sie dir nicht abkaufen«, flüsterte ihr Katharina vom Nachbartisch zu, »schließlich ist es keine Überraschung, dass es heute regnet. Wieso bist du nur so durch den Wind?«

Julia ließ sich missmutig auf den Stuhl fallen.

»Heute ist einfach nicht mein Tag.«

Sie warf Katharina einen vielsagenden Blick zu. Die andere nickte verstehend und beide konzentrierten sich auf ihre Arbeit.

Das neu-installierte Programm war einfach zu bedienen. Nachdem sie den PC hochgefahren und nebenbei ihr vom Wind zerzaustes blondes Haar geordnet hatte, musste Julia nur auf den Startbutton klicken und ihrem Arbeitsplatz wurde eine Liste von Telefonnummern zugeordnet, von der jede nacheinander automatisch angewählt wurde, bis jemand abhob. Erst dann begann ihre eigentliche Tätigkeit.

»Guten Tag, mein Name ist Julia Holten und wir führen zurzeit eine Umfrage im Auftrag von…«

»Danke, kein Interesse.«

Aufgelegt. Julia zuckte mit den Achseln. Unhöflichkeit und schnelle Gesprächsabbrüche war sie mittlerweile gewohnt und sie konnte auch verstehen, dass Leute ungefragten Anrufen eher feindselig gegenüberstanden.

»Guten Tag, mein Name ist Julia Holten und wir führen zurzeit eine Umfrage im Auftrag von…«

»Einen Augenblick bitte, junge Dame, ich habe noch Besuch. Zwei Sekunden.«

Julia fragte sich während der zwei Sekunden, ob sie diesmal dazu kommen würde, den Namen ihrer Auftraggeber zu nennen. Plötzlich horchte sie auf. Am anderen Ende der Leitung schien es eine Meinungsverschiedenheit zu geben.

»Ich bitte dich, Robert, stell dich nicht so an«, sagte die Stimme, die eben abgehoben hat, eindringlich.

»…Geizha…ange…ug…arte…«, hörte Julia eine andere Stimme im Hintergrund antworten.

Sie zog die Augenbrauen zusammen – das war aber unangenehm! Noch nie hatte sie während eines Outbound-Calls fremden Privatdiskussionen zuhören müssen.

Katharina hatte indessen bereits drei Anrufe erfolgreich absolviert, atmete kurz durch und schaute sich im Großraumbüro um. Frau Happ war nicht zu sehen, also konnte man schnell mit Julia an deren Ausrede feilen, damit es keinen allzu großen Ärger geben würde.

Als sie jedoch ihre Kollegin ansah, erschrak sie: Julia saß blass und mit weit aufgerissenen Augen vor ihrem PC; die rechte Hand hielt zitternd das Headset fest, die andere umgriff die Stuhllehne mit solcher Anspannung, dass die Fingerknöchelchen durch die Haut schimmerten.

»Was ist los?«, fragte Katharina.

Julia starrte auf den Monitor. Erst als Katharina erneut fragte, drehte sie sich zu ihr.

»Da… da hat jemand…«

Julia musste schlucken, kniff kurz die Augen zusammen und fasste sich. Langsam formulierte sie so sachlich wie möglich:

»Ich glaube, jemand hat meinen Klienten erschlagen.«

Katharina war sprachlos. Julia erklärte langsam, aber ernsthaft:

»Es gab eine Diskussion am anderen Ende der Leitung. Dann einen Schrei und ein dumpfes Geräusch, und jetzt antwortet mir keiner mehr, obwohl nicht aufgelegt wurde. Ich glaube, jemand ist erschlagen worden.«

»Das klingt ja unglaublich!«, rief Katharina aus, so laut, dass die anderen Kolleginnen von ihren Plätzen aufschauten.

Julia aber löste sich aus ihrem Schock, öffnete den Internet-Browser und kopierte die Telefonnummer, mit der sie eben verbunden war, ins Suchfenster.

»Hoffentlich gibt es einen Eintrag«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Katharina. »Da! Beumler, Steinweg 4! Das ist nicht weit von hier. Verständige die Polizei, Kati, sie soll dorthin kommen. Ich muss zu ihm, irgendwas ist da los!«

Sie sprang von ihrem Sitz auf, schnappte sich ihre Handtasche, rannte beinahe Frau Happ um, die ins Büro zurückkehrte, und hetzte fort.

Frau Happ sah Katharina durch ihre Brille fragend an. Die aber hatte bereits ihr Smartphone hervorgekramt und die Nummer des Polizeinotrufs gewählt.

»Noch nie zuvor hab ich gesehen, dass Julia etwas aus der Fassung bringt«, sagte sie. »Frau Happ, ich fürchte, es ist etwas Schreckliches geschehen.«

09.34 Uhr

Verärgert schaltete Frau Ottermayer ihr Fernsehgerät aus. Im Anschluss an die Nachrichten wurde ein liebevoller Heimatfilm aus den fünfziger Jahren ausgestrahlt, aber konnte sie ihn genießen? Nein, denn schon wieder glaubte jemand, sie mit Klingelstreichen wahnsinnig machen zu dürfen.

»Diesen Blagen werde ich jetzt aber gehörig die Meinung sagen«, knurrte sie.

Es klingelte mittlerweile Sturm, doch sie lief nicht zur Gegensprechanlage, sondern geradewegs ans Wohnzimmerfenster. Mit raschen Griffen öffnete sie es und brüllte mit ihrer tiefen Stimme:

»Sagt mal, spinnt ihr?«

Erst dann sah sie, dass es sich mitnichten um freche Kinder handelte. Eine junge Frau, für diese Jahreszeit viel zu dünn angezogen, stand blass und aufgeregt vor der Haustür und stotterte:

»Guten Tag, es ist dringend! Ich muss zu Herrn Bleumer oder Beumler oder… Ach, können Sie mich reinlassen?«

»Professor Beumler wohnt schräg über mir, Sie haben die falsche Klingel gedrückt.«

»Nein, verstehen Sie bitte, er kann nicht aufmachen. Ich muss zu ihm, es ist etwas passiert und…«

Weiter musste die junge Frau nicht sprechen. Ihre Hände krampften sich um den Henkel einer ungewöhnlich großen Handtasche. Sie zitterten so sehr, dass die Tasche regelrecht zu schwanken schien.

Frau Ottermayer erkannte es schnell, wenn eine Geschlechtsgenossin in Not war. Sie lief schnell zur Gegensprechanlage und drückte auf den Türöffner. Sie hörte, wie die Fremde in den Hausflur trat, nahm sich ihren Schlüssel und fragte, während sie ihre Wohnung verließ:

»Nun, meine Liebe, was ist denn los? Etwas Schlimmes?«

»Danke, dass Sie mir geöffnet haben. Schräg gegenüber, sagten Sie?«

»Ja, ein Stockwerk höher.«

Gemeinsam stiegen sie die Treppe zur nächsten Etage hinauf.

»Rechts wohnen Ebermanns, die sind aber zurzeit nicht da«, erklärte Frau Ottermayer, die das Gefühl hatte, irgendwas sagen zu müssen. »Hier links wohnt…«

Sie stockte. Die Wohnungstür zu Prof. Beumler stand halb offen. Die fremde Frau fasste sich an die Brust und atmete schwer. Sie hob den Arm, um die Tür ganz zu öffnen, da zögerte sie und sah Frau Ottermayer unsicher an.

»Ich… Ich glaube nämlich, dass ihm was passiert ist…«

Frau Ottermayer verstand zwar noch nicht alles, aber sie wusste, dass diese junge Frau sich fürchtete. Sie drängte sich vor sie und rief forsch in die offene Wohnung hinein:

»Professor Beumler? Sind Sie da? Ihre Tür steht offen! Und hier ist jemand für Sie, eine Frau…«

Sie blickte fragend zur Fremden.

»Julia Holten«, antwortete jene reflexartig, fügte aber hinzu: »Ich bin nicht wirklich auf Besuch da. Ich führte ein Telefongespräch mit ihm und… d-da hörte ich…«

Sie begann wieder zu stottern.

Irgendwas ist hier faul, dachte sich Frau Ottermayer, öffnete die Wohnungstür ganz und trat ins Innere.

Julia folgte ihr. Sie nahm den Geruch von altem Papier wahr, der durch die Wohnung schwebte und sie an die Keller der Uni-versitätsbibliothek erinnerte. Die Diele war mit Regalen vollgestellt, auf denen sich abgenutzte, antiquarische Bücher neben fast neuen, mitunter noch eingeschweißten Lektüren sammelten. Es war etwas dunkel, weil es kein Fenster gab, um Tageslicht einzulassen.

Frau Ottermayer bedauerte, dass kein einziger Junggeselle etwas vom Durchlüften zu verstehen schien, und hatte Mühe, nicht auf die Bücher zu treten, die auf dem Fußboden herumlagen.

»Hier muss etwas geschehen sein«, flüsterte Julia und zeigte auf einen umgefallenen Stapel.

»Ach was, hier sieht es immer so aus«, entgegnete Frau Ottermayer. »Professor Beumler ist ein viel belesener Mann, seine ganze Welt besteht aus Büchern. Wenn er im Urlaub oder auf einem dieser Kongresse ist und ich seine Blumen gießen soll, dann –«

Plötzlich hielt sie inne. Neben dem Telefontisch in der Ecke lag eine zusammengesackte Gestalt. Julia erschrak und hielt die Luft an, während sich Frau Ottermayer darüber beugte und Professor Beumler erkannte. Über seinem miesepetrigen, bleichen Gesicht baumelte der Telefonhörer. Sein Mund stand offen. Blut prangte auf seiner Stirn, welches langsam hinablief und auf die Auslegeware tropfte, wo es dunkle Flecken hinterließ. Beumlers miesepetriges Gesicht würde keinen anderen Ausdruck mehr annehmen können; die alten, kritischen Augen starrten ins Leere.

»Herr Beumler?«, fragte Frau Ottermayer, obwohl sie keine Antwort erwartete.

Julia hinter ihr kniff die Lider zusammen.

»Dann stimmt es wirklich«, hauchte sie.

Frau Ottermayer sah nachdenklich den Toten an, Sekunden der Stille verstrichen.

»Julia, bist du da? Kann mich jemand hören?«, klang es plötzlich aus dem Telefonhörer und die zwei Frauen zuckten zusammen. »Hallo? Hallo!«

Diesmal war es Julia, die zuerst reagierte. Sie nahm den Hörer in die Hand und antwortete:

»Kati, hier ist Julia. Ich bin in der Wohnung und… Nun, ich glaube, ich hatte recht. Er liegt hier.«

Sie sah zu Frau Ottermayer.

»Und er ist tot.«

Frau Ottermayer konnte nicht hören, was das Mädchen auf der anderen Seite der Leitung antwortete. Julia legte den Hörer auf das Telefon und sagte mechanisch:

»Katharina sagt, die Polizei sei unterwegs. Sie wird sicher bald hier sein.«

Sie wollte noch etwas hinzusetzen, blieb jedoch stumm. Frau Ottermayer steckte der Schreck zwar selbst noch in den Gliedern, aber wie sie die junge Frau dort ratlos bei dem Toten stehen sah, machte er dem Mitleid Platz.

»Wir müssen hier warten, also setzen Sie sich ruhig in sein Wohnzimmer«, sprach sie beruhigend. »Ich setze derweil Kaffee für uns und die Herren von der Polizei auf.«

09.59 Uhr

Der dicke Herr mit dem Terrier, dessen Morgenspaziergang man in der Steinweger Siedlung beinahe täglich beobachten konnte, hieß Bernd Achtelstädter, wurde aber von Freunden und Bekannten aufgrund seiner Liebe zu den kleinen Hunden Terry genannt. Als er das Polizeiauto vor dem Nachbareingang mit Blaulicht einfahren und die uniformierten Männer in den Eingang stürzen sah, hatte er Lilly, seine derzeitige hündische Wohnungsgenossin, erneut an die Leine genommen und sich mit ihr auf dem Gehweg positioniert.

Wichtigtuerisch winkte er ein zweites Polizeiauto in eine passende Parklücke. Ein Mann und eine Frau in Uniform stiegen aus, bedankten sich nickend und liefen ohne weitere Erklärung ins Haus. Terry nahm Lilly auf den Arm, kraulte sie hinterm Ohr und meinte:

»Na, meine Kleine, du platzt bestimmt vor Neugier, was da drin passiert ist. So viele Polizisten! Vielleicht ein Einbruch? Eine Razzia?«

Lilly reagierte auf diese Vermutungen nicht, sondern schnüffelte an Terrys Jacke, da sie wusste, dass dort irgendwo in einer Tasche die kleine Schachtel mit den Hundekeksen verborgen war.

Die Frau und einer der Männer vom ersten Polizeiwagen kamen wieder aus der Wohnung. Die Frau telefonierte und die Worte »SpuSi« und »Kripo« fielen. Terrys Herz pochte:

»Letztens haben wir den Tatort verpasst, Lilly, und heute passiert einer direkt vor unserer Nase!«

Der Polizist kam auf ihn zu.

»Guten Tag, Herr…«

»Terry.«

Der Polizist guckte ungläubig und Terry gab seinen richtigen Namen an.

»Sie fragen mich bestimmt, ob ich etwas beobachtet habe? Aber was ist denn überhaupt passiert?«

»Dazu dürfen wir noch keine Aussagen machen. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Sie waren doch gerade mit Ihrem Hund spazieren und…«

»Das ist Lilly«, verkündete Terry stolz.

Der Polizist beachtete diesen Einwurf nicht.

»…können mir bestimmt sagen, ob heute alles so war wie gewöhnlich? Oder ist Ihnen in der Umgebung irgendetwas aufgefallen?«

Terry holte tief Luft und begann – eher aus der Sicht Lillys als seiner eigenen – weitschweifig seinen heutigen Tagesablauf mit dem von gestern zu vergleichen, nur um festzustellen, dass bis auf eine Viertelstunde Verschlafen alles wie immer gewesen war.

»Danke«, antwortete der Polizist in einem Ton, der das Ende des Gesprächs anzeigen sollte.

Terry blieb dennoch bei ihm stehen, in der Hoffnung, etwas Wichtiges zu erfahren. Weder er noch seine Lilly hatten ein Gespür dafür, wenn andere Leute ihnen die kalte Schulter zeigten.

Zwei weitere Fahrzeuge, allerdings keine Polizeiwagen, bogen in die Straße ein und Terry sah den vielen ernsten Gesichtern an, dass hier kein Kavaliersdelikt vorlag.

»Na, Lilly, ist das nicht aufregend?«

Terrys Frage wurde mit einem fordernden Bellen beantwortet, was in Hundesprache wahrscheinlich bedeutete:

»Gib mir endlich einen Keks!«

10.06 Uhr

Kriminalhauptkommissar Tork war ein dunkelblonder, mittelgroßer Mann Anfang 40, der weit über den Bezirk hinaus geschätzt und geachtet wurde. Das lag nicht etwa an irgendwelchen raffinierten Tricks in seiner Ermittlungstätigkeit, sondern schlicht an seinem ruhigen, unaufgeregten Wesen. Wenn er Zeugen oder Verdächtige vernahm und sie mit seinen grauen Augen ansah, löste sich jede spannungsgeladene Atmosphäre – egal ob am Tatort, im Vernehmungszimmer oder im Büro.

Tork wusste um seine Ausstrahlung und hatte in seiner langjährigen polizeilichen Tätigkeit oft die Vorzüge derselben genießen können. Die Leute fühlten sich in seiner Gegenwart wohl aufgehoben und hatten das Gefühl, es mit einem sachlichen, aber verständnisvollen Mann zu tun zu haben. Deshalb kamen sie gern als Zeugen zu seinen Vernehmungen, sprachen detailreicher über ihre Beobachtungen während für den jeweiligen Fall wichtiger Zeiträume und brachten damit die Ermittlungen ein Stück weit voran.

Wenn Tork im Fernsehen all die fiktiven Polizeibeamten sah, wie sie schneidig und temperamentvoll die Bildfläche zu sprengen drohten und fast allein dadurch die Täter zu einem Geständnis animierten, war er nicht neidisch. Er wusste, dass solche Ermittler im wahren Leben die Bevölkerung nur verunsichern würden, sodass gar keine wichtigen Aussagen zu Protokoll kämen. Und Kommissare, die ihrer eigenen Persönlichkeit zu viel Raum gaben, so seine Erfahrung, übersahen schnell die anderen Menschen um sie herum, deren Charaktereigenschaften gerade in schweren Delikten so oft wichtige Anhaltspunkte liefern konnten. Tork zog es vor, zurückhaltend zu bleiben.

Einzig Kriminaldirektor Hummel blieb von ihm unbeeindruckt. Seitdem der nämlich an einer Fortbildung zu Kommunikation und Zeugenvernehmung teilgenommen hatte, schüttelte er immer wieder traurig den Kopf und seufzte:

»Kennen Sie die Erkenntnisse des Konstruktivismus? Zeugenaussagen sind nur Wiedergaben subjektiver Wahrnehmungen. Nicht mal ein Zehntel davon entspricht der Realität, weil wir Menschen gar nicht objektiv sein können. Und wenn wir kommunizieren, Herr Tork, dann schmücken wir unsere subjektiven Eindrücke aus. Es wäre besser, Sie konzentrieren sich in Zukunft mehr auf die Spuren am Tatort. Es ist sinnlos, sich an verzerrten Wiedergaben von Zeugen zu halten.«

Tork konnte in solchen Situationen nichts anderes tun, als verständnisvoll zu nicken. Insgeheim aber hinterfragte er die wissenschaftlichen Untersuchungen, die der Direktion da nahegebracht worden waren, sehr kritisch. Nur ein Zehntel aller Wiedergaben sei wahrheitsgetreu? Der Rest verzerrt und ausgeschmückt? Wenn das auf alle Schilderungen von Erlebnissen zuträfe, würde sich doch kein Mensch mehr die Mühe machen, um beispielsweise von einem Urlaub zu erzählen, geschweige denn, eine polizeiliche Aussage zu tätigen.

Tork fragte sich, mit welchem Ziel der Kriminalpolizei Fortbildungen mit solch desillusionierenden Erkenntnissen überhaupt angeboten wurden, und entschied sich, vorerst an seiner eigenen bewährten Art der Ermittlung festzuhalten.

Dies würde er auch im Steinweg 4 tun, wo er jetzt mit seinem Kollegen Unger in Professor Beumlers Wohnung stand. Egon von der Spurensicherung kniete, schräg über die Leiche gebeugt, auf dem Dielenboden und sah Tork kritisch an.

»Bin nicht begeistert davon«, sagte er und deutete auf das Wohnzimmer, wo Frau Ottermayer und Julia saßen. »Die sollten das Feld räumen. Können Spuren durcheinanderbringen.«

Tork aber beruhigte Egon mit den Worten, die zwei Damen hätten sehr viel Mut bewiesen, indem sie bis zum Eintreffen der Polizei bei der Leiche geblieben waren.

»Muss aber jetzt deren Fingerabdrücke nehmen. Haben sicher was angefasst.«

Tork stimmte zu und meinte, die Anwesenheit der zwei Zeuginnen könne für den besten Spurensicherungsbeauftragten der hiesigen Kriminalpolizei gewiss kein großes Hindernis sein. Egon ließ sich von diesem Kompliment etwas beruhigen und arbeitete weiter.

Frau Ottermayer kam auf Tork zu und fragte, ob es jetzt nicht besser sei, in ihre eigene Wohnung zu gehen und den Tatort zu verlassen. Ihr Gesicht erinnerte zwar noch immer an eine gutmütige Bulldogge, aber ihre Augen bewiesen Sorge und vielleicht ein bisschen Angst. Tork gab auf seine ruhige Art zu bedenken:

»Es wäre vielleicht besser, wir sprechen zunächst hier über den Vorfall, damit die junge Frau nicht nochmal an dem Verstorbenen vorbei muss, oder was meinen Sie?«

Der alten Dame erschien Torks Argument schlüssig und sie willigte ein.

Er ging mit ihr ins Wohnzimmer des toten Professors und setzte sich auf einen Stuhl. Seine grauen Augen ruhten auf den Händen Julia Holtens, die in einem bequemen Ohrensessel saß. Ihre Handtasche baumelte an dessen Lehne.

In seiner eigenen Hand hielt Tork die Notizen der Kollegen von der Schutzpolizei, die vor den Kommissaren eingetroffen waren. Dort fand er neben dem Namen des Opfers auch jene der Zeugen sowie deren Alter und die ersten Angaben zu den Umständen, die sie herführten.

»Holten ist Call-Center-Angestellte«, stand darauf, »hat den Vorfall am Telefon gehört, was der Anlass für sie war, um zum Tatort zu kommen. Frau Ottermayer wohnt im Haus, ließ Holten ein und folgte ihr. Beide bestätigen sich gegenseitig ihre Aussagen. Sie fanden die Leiche gemeinsam. Herr Achtelstädter wohnt gegenüber und hat vermeintlich nichts gesehen.«

Tork steckte die Notizen in seine Jackentasche. Derweil ging Frau Ottermayer mit Unger in die Küche und bereitete die zweite Portion Kaffee vor. Julias Hände lagen in ihrem Schoß, ihr Atem war normal. Offensichtlich ist der Schock vorbei, dachte der Kommissar bei sich, und es gibt keine Anzeichen von Hysterie. Dafür war er sehr dankbar, denn nichts war ihm unangenehmer als hysterische Zeugen.

»Sie haben hier angerufen?«, fragte er im beiläufigen Gesprächston.

»Ja, von der Arbeit aus. Ich bin in einem Call-Center beschäftigt, wissen Sie, und wir machen telefonische Umfragen.«

»Worum ging es denn bei der Umfrage?«

»Es sollte um Lebensmittelverbrauch gehen. Unser Auftraggeber, eine Supermarktkette, möchte das Angebot genauer auf die Kunden abstimmen. Aber zur Umfrage kam es nicht mehr.«

»Können Sie sich an den Gesprächsverlauf erinnern?«

Julia konzentrierte sich und kniff ihre blauen Augen zusammen.

»Ich rief zuerst – das heißt, der Computer rief zuerst bei einer anderen Nummer an. Dort legte man gleich wieder auf. Die meisten Leute mögen keine telefonischen Umfragen, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.«

Tork konnte sich das sehr gut vorstellen. Er zählte sich in diesem Fall selbst zu den meisten Leuten.

»Der Professor hier war der zweite Klient meines heutigen Dienstes. Ich begrüßte ihn und wollte ihm den Zweck des Anrufes erklären. Da unterbrach er mich und meinte, er bräuchte noch zwei Sekunden.«

»Zwei Sekunden? Wofür?«

»Offenbar war noch jemand in der Wohnung, mit dem er eine Unterhaltung führte oder beenden musste. Ich habe nur eine dunkle Stimme im Hintergrund gehört.«

»Haben Sie verfolgen können, worum es in der Unterhaltung ging?«

Julias Wangen röteten sich etwas. Tork lächelte freundlich:

»Ich gehe natürlich nicht davon aus, dass Sie während Ihrer Telefonate regelmäßig den Hintergrundgesprächen lauschen. Als solch eine Person schätze ich Sie nicht ein. Aber in diesem Fall – Sie verstehen – könnte es recht wichtig sein.«

Julia lächelte zurück. Der Kommissar wirkte vertrauenerweckend auf die junge Frau, und so redete sie weiter.

»Ich habe eigentlich nichts verstehen können. Wahrscheinlich hat der Professor seine Hand über den Hörer gelegt, könnte ich mir vorstellen. Das heißt, am Anfang habe ich Wortfetzen verstanden.«

Tork nickte kaum merklich, um Julias Redefluss nicht zu hemmen.

»Ich kann es nicht beschwören, aber mir schien es eine ärgerliche Unterhaltung zu sein. Ein Wort klang wie Geizhals. Und es ging wohl darum, dass er lange genug gewartet hätte.«

Der Kommissar runzelte etwas die Stirn und fragte ruhig:

»Entschuldigen Sie, Frau Holten, aber um genau zu sein: Wer benutzte von beiden Sprechenden das Wort ›Geizhals‹? Und wer konnte nicht mehr warten?«

»Ach ja, ich hab es nicht deutlich ausgedrückt, Verzeihung«, sprach Julia etwas hastig, doch Tork hob beruhigend die Hand.

Julia wählte ihre Worte nun mit Bedacht:

»Der Professor, er sagte, es dauere nur zwei Sekunden. Ich verstand es so, als ob er das Gespräch mit mir gleich fortführen wolle. Die ärgerlichen Bemerkungen kamen alle von dem Mann im Hintergrund. Was der Professor noch gesagt hat, habe ich nicht verstehen können. Es war alles wie ein dumpfes Murmeln.«

Tork notierte sich die Aussagen auf seinem Block und nickte wieder bestärkend.

»Sie sind sicher, dass es eine weitere Männerstimme war?«

Julia hatte diese Frage nicht erwartet und es dauerte etwas, bis sie antwortete:

»Ja. Ja, doch. Mir kam kein anderer Gedanke bis jetzt.«

»Dann kann man Ihrem Eindruck sicher vertrauen«, meinte Tork liebenswürdig. »Und der Anruf wurde vom Computer wann genau initiiert?«

»Warten Sie, ich kam etwa zehn Minuten zu spät ins Center. Vielleicht viertel nach neun?«

Tork notierte sich das.

»Ich bin aber nicht sicher. Wissen Sie, ich war so fassungslos, als er plötzlich schrie. Und dann folgte dieser dumpfe Aufschlag und die Stille…«

»Wir können den genauen Zeitpunkt sicher in Ihrem Center feststellen«, meinte Tork. »Als Sie den Professor anriefen, meldete er sich mit seinem Namen?«

»N-Nein, ich glaube nicht«, antwortete Julia unsicher. »Ich sagte meinen Spruch – also die Standardbegrüßung – mir kommt es so vor, als ob er nur ›Hallo‹ oder ›Bitte?‹ gesagt hätte, als er abhob. Aber…«

Sie stockte, ihre Stirn runzelnd.

»Ja?«, ermutigte sie Tork so leise und sacht wie möglich.

»Er hat den anderen Mann mit einem Namen angesprochen. Robert oder Roland oder so etwas in der Art. Wahrscheinlich bin ich deshalb automatisch davon ausgegangen, dass es sich um Männer handelte.«

Tork notierte sich die Aussage. Er zeigte es Julia gegenüber nicht, aber er war sicher, dass dieser Name ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung war.

Kommissar Unger, Torks jüngerer und sehr ernsthafter Kollege, kam mit Frau Ottermayer aus der Küche. Beide hatten zwei Tassen in der Hand, die heiß dampften.

»Sie werden entschuldigen, Herr Inspektor«, sagte Frau Ottermayer, »aber ich habe der jungen Frau und mir etwas Schnaps in den Kaffee gegeben. Wir haben uns das nach dem Schock verdient, finde ich, und Ihr Kollege hier hatte nichts dagegen.«

Sie reichte Julia eine Tasse, die sie dankend annahm. Unger sagte nichts dazu. Sein Gesicht blieb hölzern, aber Tork erkannte den schelmischen Blick in dessen Augen. Offenbar schätzte er die alte Dame als rüstig genug ein, um vormittags Kaffee mit Schuss zu vertragen.

»Ein Glück, dass Sie alles gefunden haben, was Sie dafür brauchten?«, lächelte Tork.

Sein Satz war wie eine Frage formuliert, denn er wollte damit herausfinden, welche Rolle Frau Ottermayer im Haushalt des Toten spielte.

»Professor Beumler lässt unsereins nicht oft in seine Wohnung, aber jedes Mal, wenn er unterwegs ist, gieße ich seine Blumen und halte sie etwas in Ordnung. Da weiß man schnell, wo was steht.«

»Verstanden Sie sich gut mit Professor Beumler?«

Frau Ottermayer kniff die Lippen zusammen. Tork erfasste schnell, dass sie mehr zu dem Toten sagen könnte, als sie es im Moment wollte. Der Kommissar schob eine andere Frage hinterher:

»Sie sind sicher, dass es sich bei dem Toten um ihn handelt? Sie wissen schon, wegen der Identifizierung.«

»Natürlich ist das der Professor. Daran besteht kein Zweifel.«

Frau Ottermayers Ton war bestimmt, als sie die Identität bestätigte. Danach atmete sie hörbar aus und nahm einen großzügigen Schluck aus ihrer Tasse. Ihre Augen wanderten in Richtung Diele, wo der Polizeiarzt den Leichnam gerade einpacken ließ. Er winkte Tork zu sich. Der ließ die Frauen und Unger im Wohnzimmer und suchte sich mit dem Arzt eine Ecke, wo sie nicht zu hören waren.

»Es gibt nicht viel zu sagen«, flüsterte der Polizeiarzt, »Der Todeszeitpunkt liegt zwischen Punkt neun Uhr und halb zehn. Ich favorisiere momentan die Mitte dieses Zeitraums, aber genau beschwören kann man es nicht, du kennst das ja. Erschlagen wurde er von einem stumpfen Gegenstand, seine Haut war dünn, war ja schon älter, deshalb die starken Blutspuren. Da stecken Splitter in der Wunde, die muss der Rechtsmediziner nachher näher betrachten. Sie könnten was mit der Tatwaffe zu tun haben. Aber die SpuSi kann dir einen Hinweis geben.«

Er winkte den Kollegen von der Spurensicherung heran und verabschiedete sich gleichzeitig von Tork.

»Was habt ihr gefunden?«

»Tatwaffe scheint nicht mehr hier zu sein«, erwiderte Egon stichpunktartig, »aber zwischen den Büchern liegt ’ne Uhr. Muss auf dem Telefontisch gestanden haben. Batteriebetrieben. Offenbar vom Toten während des Sturzes auf den Boden gerissen. Batterie rausgefallen. Uhr steht auf fünf Minuten nach neun.«

Könnte ein Indiz für den genauen Todeszeitpunkt sein, dachte sich Tork. Aber Julia Holten hatte eben etwas von viertel nach neun gesagt. Er notierte sich beide Uhrzeiten und malte ein großes Fragezeichen dahinter.