Ein Häufchen Glück - Lenja Uhrich - E-Book

Ein Häufchen Glück E-Book

Lenja Uhrich

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Beschreibung

Gerade wollte sie sich die Kopfhörer überziehen, als ein wahnsinnig lautes Geräusch sie aus ihren zusammenreimten Entschuldigungen riss und furchtbar zusammenzucken ließ. Es klang halb nach einem verzerrten Schrei und halb nach einer Blechtröte. Es war auf jeden Fall laut und alle Kinder und Erwachsenen schauten sich nach diesen komischen Lauten um. Diese Schreie gingen ihr durch Herz und Bein. Julia stand auf, drehte sich im Kreis und versuchte herauszufinden, was oder wer diese verzweifelten Rufe von sich gab. Sie konnte nichts ent-decken und auch alle die anderen Parkbesucher zuckten nur mit den Schultern und sahen sich fragend an. Dann ging Julia einige Schritte weg von der Bank auf den See zu. Sie sah einen Schwan. Er taumelte aus dem Wasser, sah aus, als ob er betrunken wäre und schwankte auf die Wiese. Sie rannte durch das Eingangstor zum Spielplatz. Blieb bei ihrem Bruder stehen und hockte sich hin. "Luka, du bleibst hier auf dem Spielplatz. Ich komme auf jeden Fall und hol dich ab. Ein Tier ist verletzt und ich muss ihm helfen. Versprich, dass du mir nicht hinterher rennst. Bleib hier, bis ich wieder da bin. Versprich es mir!!" "Gehen wir danach Eis essen?", war die kindliche Ant-wort. Wie schön war es doch, erst sechs Jahre alt zu sein. Die Gelassenheit und Ruhe in Person, mit der Aussicht und dem Versprechen auf eine Mörderportion Spaghettieis. Sie hätte Luka gerade alles versprochen. Mit Angst und dem Gefühl von Hilflosigkeit rannte Julia zu dem Schwan. Der schrie immer noch, als ob er To-desqualen durchlitt. Man konnte beobachten, wie der linke Flügel hektisch flatterte, aber der rechte hing leblos und abgeknickt am weißen Körper. Mit einem großen Abstand hatten sich mittlerweile viele Leute um das arme Tier versammelt. Sie waren anscheinend genauso rat- und hilflos wie Julia.

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Seitenzahl: 74

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Copyright: © 2019 Lenja UhrichVerlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Produktion: EBookoutlet

Titelbild: Tamara Birgin

2. Auflage 2020

Alte ISBN: 978-3-7375-1812-3

Copyright: © 2019 Lenja UhrichVerlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Produktion: EBookoutlet

Titelbild: Tamara Birgin

2. Auflage 2020

Alte ISBN: 978-3-7375-1812-3

Ein Häufchen Glück

Lenja Uhrich

E

s war Samstag. Ein schulfreier Samstag. Und Julia wollte einfach nur ausschlafen. Sie schwebte noch in ihrem Traum. Wie sie nach dem Konzert von Bad Religion mit einer backstage-Karte hinter die Bühne durfte. Die Band war locker und witzig und begrüßte sie wie eine alte Freundin. Sie machten Fotos, signierten LPs und antworteten auf alle Fragen. Der Bassist Jay Bentley hatte Geburtstag und sie wurde ganz cool zur Party eingeladen.

Sie hatten getanzt, gelacht und wollten gerade ihren neuesten Song, der noch unveröffentlicht war, vorspielen, da machte es ‚Bumm – Bumm – Dröööhhn – Dröööhhnn – Bumm’.

Viel zu laut, viel zu realistisch. Komischer Song, dachte Julia und wurde aus dem Schlaf gerissen.

Ihre Mutter hatte anscheinend beschlossen, dass sie lange genug geschlafen und nun aufzustehen hatte. Anstelle von einem netten, geflüsterten „Guten Morgen, mein Schatz. Wie hast du geschlafen?“ und einem Frühstückstablett in den Armen, riss Julias Mutter ihre Tür auf und polterte mit dem Staubsauger ins Zimmer. Klar, war ja ganz normal und lebenswichtig, am schulfreien Samstag um, Julia schielte auf ihren Wecker -halb zehn-, zu saugen. Da sie so früh weder in der Stimmung, noch stimmlich in der Lage war, einen Streit anzufangen, schleppte sie sich mit einer grottenschlechten Laune ins Bad. Eins zu Null für Mutter!

D

ie Badezimmertür wurde zugeschmissen und die Kleider sorgsam auf den Boden verstreut. Die zwei Meter zum Wäschekorb waren so früh am Morgen einfach nicht zu schaffen. Sie waren auch um zwölf oder abends zu mühsam, aber nun ja, Mutter war ja eh gerade am Putzen.

Julia befüllte erst einmal die Wanne mit einer halben Flasche Badeschaum und heißem Wasser, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und quälte ihr Trommelfell zum tausendsten Mal mit dem Song ‚Suffer’ (dt. leiden).

Vor fünf Jahren hatte Ihr Vater die ganze Familie sitzen gelassen. War mit zwei Koffern, dem Auto und einer blonden Bankangestellten abgehauen. Ihre Mutter, der kleine Luka und sie mussten sich von da an alleine auf die Nerven gehen. Seine Plattensammlung war die kümmerliche Erinnerung an seine Existenz. Aber Julia liebte je einzelne von ihnen. Die Sammlung bestand unter anderem aus Alben von The Clash, Bad Religion, Ramones und Blondie. Das war natürlich eine Ironie, die zum Himmel schrie. Aber Julia war mit dieser Musik aufgewachsen und liebte sie. Aus dieser vorgeprägten Kindheit hatte sie einen wilden und  punkigen Musikgeschmack entwickelt. Sie konnte kein Verständnis für ihre Klassenkamerden aufbringen, die bei Rihanna, Justin Bieber oder One Direction dahinschmolzen. Auf ihrem I-Pod oder Smartphone suchte man nach dem üblichen Teeniegesülze vergeblich. Da hätte sie lieber komplett auf Musik verzichtet.

Aber nicht nur bei den alten LPs von ihrem Vater konnte sie denken und abschalten. Genauso entpannend war für sie The Prodigy, Beastie Boys oder Extreme. Möglichst schön laut, damit die Gehörwindungen auch noch lange etwas davon hatten. Ihre Mutter behauptete immer, dass die Musik aggressiv und nervös machen würde. Julia bestand darauf, die wären für ihre gute Laune verantwortlich.

Als sie nach fast einer Stunde so gut es ging das Badezimmer unter Wasser gesetzt hatte, ihre Haut sich fast vom Körper pellte und Dampfschwaden keine Sicht weiter als drei Zentimeter zuließen, stieg sie aus der Wanne. Das Badewasser blieb da, wo es war, das triefendnasse Handtuch gesellte sich auf dem Boden zu Shorts, Socken und T-Shirt und der dichte Dunst durfte seine Freiheit nur durch ein geschlossenes Fenster genießen.  

Mit einem akzeptablen Wochenendgefühl steuerte Julia auf die Küche zu. Das Baden hatte sie hungrig gemacht und ihre Mutter saugte immer noch. Es blieb ihr also noch ein wenig Zeit, bis das Gemecker über die Klamotten und die Wanne ins Rollen kommen würde.

J

ulia hatte Glück. Auf dem Tisch lagen warme, leckere, kleine Hefezöpfe. Genau das, was sie brauchte. Mit einer Hand kramte sie im Kühlschrank nach der Butter und mit der anderen nahm sie sich ein Stück vom Backblech. Dann setzte sie sich an den Küchentisch, verzichtete auf Teller und Messer, tauchte den Hefezopf direkt in die Butter, und biss ein großes Stück ab. Das Stück wurde in hohem Bogen wieder ausgespuckt.

„Moooooom??!! Moooom??!“ Oben wurde der Staubsauger ausgemacht. Julia besaß ein derart lautes und durchdringendes Organ, dass kein Sauger der Welt es mit ihr aufnehmen konnte. Die Mutter kam angerannt.

„Ist was passiert? Was ist los?“ Ihr Kopf war rot und verschwitzt.

„Mom, was ist denn das für ein Mist?!“ Julia zeigte auf den angebissenen Hefezopf, den sie angewidert auf den Tisch geworfen hatte.

„Julia, drück dich anständig aus. Das ist Salzteig. Nach dem Auskühlen werden sie noch  bemalt. Ist für den Trödelmarkt nächste Woche. Die kann man nicht essen.“

„Das habe ich gemerkt! Haben wir irgendetwas im Haus, was genießbar und nicht giftig ist?“

„Ja, haben wir. Brot, Marmelade und Wurst. Dafür müsstest du allerdings aufstehen, die Schränke aufmachen und die Brote selber schmieren. Falls es dich nicht umbringt.“

„Das wäre dir ja schon beinahe gelungen. Mit diesen Drecksdingern.“

„Julia! Pass auf, was du sagst! Also, du weißt, wo alles steht. Und wenn du fertig bist, räum bitte alles weg. Und nimm bitte einen Teller!“ Zwei Minuten später wurde der Staubsauger wieder angeschmissen.

Julia versuchte, den salzigen Geschmack mit einem Honigbrot herunterzuwürgen. Klappte nicht. Es folgten ein Leberwurst- und Nutellabrot und drei Tassen Kaffee. Dann war das Salzige zwar beseitigt, aber allein bei der Erinnerung an diesen ersten Bissen musste sie immer noch würgen. Sie hinterließ den Tisch mitsamt dem Chaos und Gekrümel und ging in ihr sauber geputztes, gesaugtes Kinderzimmer.

Salzgebäck. Das hatte wirklich noch gefehlt. Und das war nicht nur so dahingedacht. Julia überlegte lange, welchen VHS-Kurs ihre Mutter in den letzten fünf Jahren noch nicht ausprobiert und besucht hatte. Tatsächlich, Salzgebäck war neu.

Von den hundert unterschiedlichen und manchmal auch skurillen Hobbies waren Töpfern, Nordic Walking, Trockensträuße binden, Mandarin lernen, Fotografieren, Wahrsagen oder Kochen wie die Römer noch die harmlosesten.

Nach einer Pilzwanderung hätte sie die anderen Kurteilnehmer beinahe vergiftet, das Yogaexperiment endete mit einem Archillessehnenriss und beim Seife sieden hätte sie um ein Haar das Haus in die Luft gesprengt. Ja, da war Salzgebäck backen und bemalen noch ganz akzeptabel.

J

ulia verteilte etwas Gel in ihren kurzen, noch nassen Haaren und strubbelte sie durch, bis sie schön unordentlich und wild abstanden. Dann klopfte es an der Zimmertür.

„Jule, spielst du was mit mir?“ Ihr sechsjähriger Bruder Luka stand hinter ihr. Luka war der Einzige, der sie Jule nennen durfte. Er hatte immer schon Schwierigkeiten gehabt, ihren Namen richtig auszusprechen und vor einiger Zeit hatten ihre Mutter und sie ihn nicht mehr korrigiert. Sie drehte sich vom Spiegel weg, lächelte und sah in seine riesigen, blauen Kulleraugen. Sie liebte ihren kleinen Bruder. Das war schon immer so gewesen. Für ihn hatte sie immer Zeit. Passte auf ihn auf, wenn sich ihre Mutter in einen neuen Kurs verliebt hatte und selbst die mieseste Stimmung oder Stress in der Schule konnten sie nicht davon abhalten, sich mit ihm zu beschäftigen. Julia fand, dass der kleine Kerl schon genug durchmachen musste. Mit zwei Weibern im Haus, ohne Vater.

„Hey, kleiner Hosenscheißer. Ähem, ich meinte Luka, auf was hast du denn Lust?“ Das musste sie sich schleunigst abgewöhnen. Ihre Mutter kollabierte jedes Mal, wenn sie ihn so ansprach. Und das war einer der wenigen Punkte, in denen Julia auch Verständnis zeigte. Insbesondere, weil Luka schon anfing, andere Kinder “Hosenscheißer“ zu nennen.

„Die Schlümpfe!!!“ rief er und warf seine kleinen Ärmchen in die Luft.

„Du möchtest an die Playstation?“ Julia war es sehr wichtig, seine Sprache zu fördern und ihm beizubringen, sich besser auszudrücken.

„Ja, spiel mit mir die Schlümpfe. Bitte.“ Sie wollte ihn einfach nur drücken, sich mit ihm vor den Fernseher hocken und sein Lieblingsspiel zocken. Sie empfand das Spiel trotz der FSK 0 Angabe noch zu schwer und schnell für ihn, aber Luka liebte es. Es war ein “Jump and Run”- Spiel und wenn er mal nicht weiter wusste oder seine Schwester an der Reihe war, schaute er mit Begeisterung den kleinen, blauen Männchen zu. Mittlerweile hatten sie ‚Die Schlümpfe’ schon sooft gespielt, dass Julia den Ton abdrehen musste, sonst würde ihr die Melodie noch den letzten Verstand kosten.

Es fiel ihr immer sehr schwer, ihrem Bruder etwas abschlagen zu müssen. Aber manchmal gewann die Verantwortung und Verstand über ihre Teenager-Trotzeinstellung.