Ein Heiliger kann jeder werden - Hubert Gaisbauer - E-Book

Ein Heiliger kann jeder werden E-Book

Hubert Gaisbauer

4,8

Beschreibung

Papst kann jeder werden. Der beste Beweis bin ich, lautet ein bekannter Ausspruch von Johannes XXIII., der am 27. April 2014 heiliggesprochen wird. Es mag anmaßend klingen, aber damit geht ein Kindheitstraum von Angelo Roncalli in Erfüllung, denn als Bub hatte er den kindlichen Entschluss gefasst, ein Heiliger zu werden. Aber wie wird man ein Heiliger? In diesem Buch geht Roncalli-Experte Hubert Gaisbauer der Frage nach, was das für ein Glaube war, der den Bauernbub aus Norditalien trotz einer etwas holprigen geistlichen Karriere an sein Ziel brachte. Gaisbauer identifiziert Vertrauen auf die göttliche Vorsehung, Zuwendung zu den Menschen, Friedensgesinnung, aber auch Humor und Realitätssinn als wesentliche Elemente. Mit dem Kopf hier bei mir sein und nicht weiß wo. Immer und überall den Willen Gottes suchen und nicht den meinen drückte es Angelo Roncalli selbst aus, und: Glauben, das ist die Heiterkeit, die von Gott stammt. Der Akzent des Buches liegt auf den frühen Jahren, der Zeit des Lernens, bei den Anregern und Vorbildern des späteren Papstes. Die Leserin, der Leser wird spüren, wie Roncalli glauben lernte und wie seine überzeugende Frömmigkeit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Heute des 21. Jahrhunderts transponiert und vielleicht sogar nachvollzogen werden kann.

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Hubert Gaisbauer

Ein Heiliger

kann jeder werden

Lebendig glauben mit Johannes XXIII.

Inhalt

Vorwort

Il chierichetto – Angelino, das Pfarrerlein

Lebensregeln für junge Männer

Mamma Marianna

Gott ist alles, ich bin nichts. E per oggi basta!

Chiamami il Santo Ufficio!

Der Mantel des Elija

Man muss die Freiheit aller Menschen achten. Gott tut es auch!

Wir Kinder des einen Vaters

Oboedientia et Pax – Gehorsam und Friede

Exerzitien mit Papst Johannes – I

Exerzitien mit Papst Johannes – II

Roncallis Freunde

Der Turm des Johannes

Nachwort

Anhang

Personenverzeichnis

Zeittafel

Quellen

Literatur

Herzlichen Dank

an meine Frau Renatefür ihre Freude an meiner Arbeit,für viele Gespräche undwichtige Entscheidungshilfen.

Vorwort

»… übereilt euch nicht so, beginnt damit,recht entsprechend eurer Berufung zu leben,sachte, einfach und demütig;dann setzt euer Vertrauen auf Gott,der euch heilig machen wird,wann es ihm gefällt.«Franz von Sales

Mit sechs Jahren fasste Angelo Giuseppe Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII., den kindlichen Entschluss, »ein Heiliger« zu werden, und zwar nach dem schlichten und wahrhaften Vorbild seines Dorfpfarrers. Was dann folgte, war der genau vorgezeichnete Weg eines jungen Menschen, der sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts entschlossen hatte, Priester zu werden. Eine weltabgewandte Seminarerziehung und die anschließende, streckenweise etwas holprige geistliche Karriere haben ihn nicht daran gehindert, eine Heiligkeit zu erlangen, wie sie der jetzige Papst Franziskus auch den Priestern von heute als Ziel vor Augen stellt: »Heiligkeit bedeutet ein in den Heiligen Geist ›eingetauchtes‹ Leben, die Öffnung des Herzens für Gott, beharrliches Gebet, tiefe Demut, brüderliche Liebe im Umgang mit den Kollegen. Heiligkeit bedeutet auch Apostolat – ein mit Eifer und in direktem Kontakt mit dem Volk Gottes ausgeübter taktvoller, treuer seelsorglicher Dienst.«

Roncalli hatte das Glück und die Gnade, immer Menschen begegnet zu sein, die ihn, den Seminaristen und dann den jungen Priester, gefördert, ermutigt, aber auch gefordert haben. Bei frühen pastoralen Erfahrungen wurde ihm der Blick geöffnet für die Zeichen der Zeit und für die Bedürfnisse der Menschen in der Welt. Im vorliegenden Buch wird daher an seine wichtigsten Lehrer, Anreger und Vorbilder erinnert und an seine frühen historisch-wissenschaftlichen Arbeiten, die keinen geringen Einfluss auf seine spätere Entwicklung zum »Konzilspapst« hatten. Während der Jahre im Dienst der vatikanischen Diplomatie lernte er, den neutralen Status des politischen Beobachters mit dem des Seelsorgers im tatkräftigen Einsatz für Notleidende zu verbinden. Orientierung und Ermutigung fand Roncalli auch bei großen Persönlichkeiten der Kirchengeschichte, jenen vor allem, die ihre Aufgabe in der Umsetzung der Reformen des Konzils von Trient gesehen haben.

Zu Roncallis Auffassung von Heiligkeit gehörten vor allem Güte, Humor, Realitätssinn und sein sprichwörtlicher »Geist der Einfachheit«, der es gestattet, seinen Ausspruch »Papst kann jeder werden« in den Titel dieses Buches zu verwandeln: »Ein Heiliger kann jeder werden.« Ohne große Mühe lässt sich bei Roncalli auch hier der wichtige Zusatz des Originalzitates anhängen: »Der beste Beweis bin ich.« Das Leben von Johannes XXIII. kann als heiligmäßig empfunden werden, weil es nicht nur »eingetaucht« war in den Heiligen Geist, sondern auch in die Schwächen und Nöte seines Charakters, seiner Herkunftsfamilie und in seine Schwierigkeiten mit einer oft unverständigen und überheblichen Umgebung.

Wie in dem Buch »Ruhig und froh lebe ich weiter – Älter werden mit Johannes XXIII.« (Wien 2011) sind auch im vorliegenden Band die wichtigsten Quellen Briefe und Tagebücher von Angelo Roncalli. Möglichst viele Originaltexte aus seiner Feder werden herangezogen, um ein möglichst authentisches und lebensnahes Mosaik zu bieten. Während der Schwerpunkt im ersten Band, dem Untertitel entsprechend, vorrangig auf der zweiten Lebenshälfte lag, wird im vorliegenden Buch besonderes Augenmerk auf die prägenden frühen Jahre gelegt.

Der Untertitel »Lebendig glauben mit Johannes XXIII.« kann als Einladung verstanden werden, wie Roncalli auf seinem Weg vom sechsjährigen Angelino zu Johannes XXIII. »immer in Bewegung zu bleiben«, um in der Lebenswirklichkeit des Glaubens möglichst wahrhaftig einer immer fortschreitenden Entwicklung gerecht zu werden, ohne die »Substanz« zu verraten. Mit dem von Roncalli entdeckten und angewandten Prinzip der »historischen Differenzierung« soll spürbar werden, wie Roncalli glauben lernte und wie seine überzeugende Frömmigkeit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Heute des 21. Jahrhunderts transponiert und vielleicht sogar nachvollzogen werden kann. Es sind ja zeitlos gültige Qualitäten, die sein Profil bestimmten: Gleichmut, Klarheit und Ruhe gegenüber Ereignissen, Nachsicht und Verständnis gegenüber anderen Menschen, Freundlichkeit, Demut und Geduld. Wer will, kann bei Johannes XXIII. lernen, die eigenen Wünsche klar vom Willen Gottes zu unterscheiden und sich in »Gehorsam und Frieden« ruhig und froh der göttlichen Vorsehung zu überlassen.

Im Hause Roncalli, das mehr Köpfe zählte als jedes andere Haus der Ortschaft, gab es täglich dreißig Mäuler zu stopfen.

Am Abend eines jeden Tages war es der alte Onkel Zaverio, das Haupt der Familie, der den Rosenkranz anstimmte; und alle antworteten und bildeten dabei einen vielstimmigen Chor, dessen Nachklang in der Erinnerung, nach so vielen Jahren, die dazwischen liegen, noch immer ans Herz rührt.

Der Kinder waren es zwanzig, Geschwister und Cousins zusammen, und zwar genau zehn Knaben und zehn Mädchen.

Von den Knaben, die die beiden Vettern Battista und Luigi Roncalli der Reihe nach bekamen, war Angelino der erste und wurde sofort, dank seiner spontanen Vorliebe für kirchliche Dinge und seines unschuldigen und ruhigen Aussehens und Gehabens, der Bevorzugte und blieb auch weiterhin Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit. Außerhalb des Hauses nannten die Altersgenossen Angelino Roncalli il chierichetto, den ›kleinen Geistlichen‹. Mit 8 Jahren wurde er zur heiligen Kommunion zugelassen, an einem kalten Morgen der Fastenzeit und ohne besondere Feierlichkeit. Zugegen waren nur die Knaben und Mädchen mit dem Pfarrer und dem Hilfsgeistlichen. Der Papst erinnert gerne an die große Einfachheit dieser Zeremonie und an die folgende Einzelheit, die in seinem Gedächtnis haften blieb: Nach der Zeremonie begaben sich die Erstkommunikanten in das Pfarrhaus, um sich einzeln in die Vereinigung des Gebetsapostolates einschreiben zu lassen; und der Pfarrer Rebuzzini vertraute gerade dem Angelino die Aufgabe an, die Namen seiner Schulkameraden in eine Liste einzutragen. Das war die erste Anwendung der Schreibkunst, an die er sich erinnert, das erste Blatt, dem unzählige folgen sollten in über einem halben Jahrhundert fleißiger Arbeit mit der Feder in der Hand.

Aus »Stichworte für eine Biographiedes Roncallipapstes«, verfasst von Johannes XXIII.im ersten Jahr seines Pontifikats, dieseselbstbiographische Skizze wurdeleider nicht vollendet.

Il chierichetto – Angelino, das Pfarrerlein

Als am 25. November des Jahres 1881 – es war ein windiger, regnerischer, kalter Tag – im engen Schlafzimmer der Eltern Marianna und Giovanni Battista Roncalli ein neuer Erdenbürger geboren wurde, war die Freude groß: nach drei Mädchen endlich ein Bub! Und damit berechtigte Hoffnung auf eine zusätzliche Arbeitskraft auf den Feldern, die von der Familie gepachtet waren. Fünf Hektar Land, dazu im Stall sechs Kühe, Milch und Kälber mussten mit den Grundherren geteilt werden. Viele arme Bauern lebten so vor hundert, hundertfünfzig Jahren in Norditalien, man nannte sie mezzadri, Halbpächter. Während der ersten Lebensjahre des Neuankömmlings bewohnte die Großfamilie, die man mit bis zu dreißig Personen eigentlich schon eine Sippe nennen müsste, in Brusicco, einem Ortsteil von Sotto il Monte, ein für die Gegend typisches Wohn- und Wirtschaftsgebäude, das man in seiner Schlichtheit mit stolzer Ironie Palazzo nannte. Angelo Giuseppe, so sollte der neue Roncalli mit vollem Namen heißen, wurde noch am Tag der Geburt von Don Francesco Rebuzzini getauft. Nachdem der als Pate ausersehene Großonkel Zaverio gehört hatte, dass es ein Bub sei, rannte er zur nahen Kirche Santa Maria Assunta, um alles für die Taufe zu arrangieren. Aber der Pfarrer war auf einem Krankenbesuch. Barba Zaverio wartete drei Rosenkränze lang in der kalten Kirche. Mit Inbrunst murmelte er halblaut Ave Maria um Ave Maria – »Maria presenta Gesù al tempio di Gerusalemme« […] den du o Jungfrau im Tempel aufgeopfert hast […]« – und bat die Madonna, dass sie dieses Kind unter ihren ganz besonderen Schutz nehmen möge. Als der Pfarrer am späten Nachmittag endlich zurück war, holte Zaverio eilends den Täufling, gefolgt von Mutter Marianna und Vater Battista. Es war eine schlichte Zeremonie. Im Licht der Taufkerze fragte Don Rebuzzini: »Credi in Dio, Padre onnipotente, creatore del cielo e della terra? Glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde?« Und Barba Zaverio antwortete für den kleinen Angelo Giuseppe: »Credo. Ich glaube!«

Angelo Roncallis Geburtshaus in Brusicco, Sotto il Monte; vor 1900

Barba Zaverio

Zaverio Roncalli war die unantastbare Autorität innerhalb des vielköpfigen Familienclans und auch innerhalb der Gemeinde. Er war fromm und für einen Bauern überdurchschnittlich interessiert und gebildet, besaß sogar einige Bücher und hatte eine religiöse Zeitschrift abonniert, den Bollettino salesiano, der kirchliche Themen auch aus weltweiter Sicht behandelte, dann katholische Zeitungen aus der Region und Diözese Bergamo, wo bereits damals die Ideen und ersten Aktivitäten der Katholischen Aktion lebendig waren, ja in mancher Hinsicht sogar ihren Ausgang nahmen. Daher war Zaverio auch aufgeschlossen: Mit großer Aufmerksamkeit und Sympathie verfolgte er 1878 den Pontifikatswechsel von Pius IX. zu Leo XIII., dem Papst, der in wichtigen Ansätzen bereits begonnen hatte, die Kluft zwischen Kirche und moderner Welt zu überbrücken. Ein Bild von Leo XIII., das Onkel Zaverio aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte, prägte dem kleinen Angelino sehr früh die charakteristischen Gesichtszüge des »Vaters der katholischen Soziallehre« ein.

Großonkel „Barba“ Zaverio Roncalli

Barba Zaverio nahm seine Patenpflicht sehr ernst: Als Angelino nach achtzehn Monaten im Ehebett der Eltern dem nächsten Bruder weichen musste, nahm er sein Taufkind in seine Kammer – und in seine geistliche Lehre. Man bedenke, wie besonders prägend die ersten drei Jahre im Leben eines Kindes für seine spätere Entwicklung sind. Der achtsame Umgang mit den frühen Bindungsgefühlen eines Kindes hat neben der Sorge um körperliche Unversehrtheit oberste Priorität. Zu einem großen Teil lag diese Obsorge für Seele und Leib des kleinen Angelo in den Händen des Großonkels Zaverio. Er las ihm aus dem Leben der Heiligen vor, erzählte ihm von Jesus und den Aposteln und betete mit ihm. Jeden Morgen beim Aufstehen war Barba Zaverios Morgengruß das gemeinsame Beten des Angelus: L’Angelo del Signore portò l’annuncio a Maria. Und Angelino – noch schlaftrunken – hatte zu antworten: Ed ella concepì per opera dello Spirito Santo. Dann war es für die beiden auch an den Wochentagen Zeit, in die Frühmesse nach Santa Maria Assunta zu gehen. Angelino zuerst noch am Arm oder auf den Schultern des Großonkels, doch bald schon auf eigenen Füßen und als fleißiger und gewissenhafter Ministrant des Pfarrers Don Francesco Rebuzzini.

Diese Erziehung war so prägend, dass sich – mehr als siebzig Jahre später – der Roncallipapst daran erinnern wird. In der fragmentarischen autobiographischen Skizze nennt er Großonkel Zaverio »ein so wirksames Vorbild, dass der Vorrat an Erbauung nicht nur für einen Priester, sondern auch für einen Bischof und Papst ausreichen konnte.« Als Zaverio Roncalli im Mai 1912 im Alter von achtundachtzig Jahren starb, war sein Patenkind längst Sekretär des Bischofs von Bergamo. In Dankbarkeit und Liebe schrieb Don Angelo, der »liebste Großneffe«, den Text für das Erinnerungsbildchen: »Das heilige Licht des Lächelns Gottes belebe im Himmel ewig seine gepriesene Seele […]. Er war der Gerechte der Heiligen Schrift. Ehrlich, gottesfürchtig, in der Niedrigkeit seiner Herkunft und im bescheidenen Leben auf den Feldern hatte er lebendig und eindringlich die Gesinnung Christi und die Weisheit der himmlischen Dinge gelernt im Gebet und in der unablässigen Lektüre bester geistlicher Bücher.«

Heilige Priester

Zu den wichtigsten frühkindlichen Erinnerungen des späteren Papstes gehört auch, wie er als kaum Fünfjähriger seinen Pfarrer Don Rebuzzini eines Tages bei der Frühmesse über den eben verstorbenen Priester Don Luigi Palazzolo predigen hörte. Von dieser Predigt hat sich bei ihm ganz tief eingeprägt, wie der Pfarrer voll ehrfürchtiger Bewunderung von der Kanzel rief: »Der Priester Don Luigi Palazzolo ist jetzt bei Gott. Er war und ist ein Heiliger.« Von nun an waren die Worte »Priester« und »heilig« im Gedächtnis und im Herzen Angelos nicht mehr voneinander zu trennen. Vielleicht war dieser 15. Juni 1886 der Tag seiner Berufung zum Priestertum. Damals hätte es sich der kleine Bauernbub nicht träumen lassen, dass er selber siebenundsiebzig Jahre später – am 19. März 1963 – diesen Priester Don Palazzolo, den Gründer der »Gesellschaft der Schwestern der Armen« und Pionier kirchlicher sozialer Einrichtungen in der Diözese Bergamo, mit den Worten seligsprechen werde, sein Leben »war ein wahres Gedicht der Demut, der Verborgenheit eines Opfers, das heute in vollem Licht erstrahlt.«

Ein heiligmäßiger Priester war auch Don Francesco Rebuzzini selber, Angelinos Taufpriester. Er hatte in dem aufgeweckten Buben, der sich gerne in seiner Nähe aufhielt und ein eifriger Ministrant war, mit prophetischem Gespür einen zukünftigen guten Priester gesehen. Spaßhalber und doch voller Ernst reagierte er auf dessen bewunderndes Aufschauen zu ihm mit der vieldeutigen Warnung: »Angelino, ich sag’ dir, werd ja kein Priester! Schau auf unser steifes Kollar, wie es am Hals einschneidet und uns würgt!« So wollte er dem Buben klarmachen, dass das Leben eines Priesters aus vielen Entbehrungen und Zwängen besteht. Angelo sah aber nur, wie die Dorffrauen den Pfarrer ehrerbietig grüßten. Den eifrigen Ministranten nannten die Kameraden in der Volksschule bald spöttisch il chierichetto, »das Klerikerlein« oder »den kleinen Pfarrer«, vielleicht auch, weil er sich immer gerne etwas hervorgetan hatte. Als einmal ein Schulinspektor die Kinder fragte, was wohl schwerer sei, ein Doppelzentner Stroh oder ein Doppelzentner Eisen, schrie die Klasse »Eisen«, aber Angelino soll etwas überheblich geantwortet haben, Doppelzentner bleibe Doppelzentner, gleich ob Stroh oder Eisen. In den Pausen hatte ihm solche Besserwisserei manchen Fußtritt eingetragen, wie Klassenkameraden später bezeugten. Und der Klassenlehrer, ein antiklerikaler Freigeist, habe diesem Mobbing vielleicht sogar mit Befriedigung zugeschaut, jedenfalls ohne einzugreifen.

Steiniger Beginn

Der Vater hielt nichts von den Plänen Don Rebuzzinis, Angelino zum Pfarrer von Carvico zu schicken, damit ihm dieser die Grundzüge des Lateinischen beibringe. Eine gute Note in Latein war ja merkwürdigerweise das wichtigste Kriterium, ob sich ein Bub für den Priesterberuf eignet. Eine heimliche Allianz von Pfarrer, Mutter und Patenonkel Zaverio schaffte es schließlich, den Widerstand des Vaters so zu mildern, dass Angelo zum Pfarrer von Carvico geschickt werden konnte. Dieser Pfarrer, Don Pietro Bolis, war eine mächtige Erscheinung und hatte Hände wie der homerische Riese Polyphem – und er gebrauchte sie nicht nur für geistliche Handlungen, sondern nur allzu gerne auch für kräftige Ohrfeigen und Kopfnüsse. Besonders schwere grammatikalische Verstöße wurden mit öffentlichem Knien vor dem Pfarrhaus geahndet. Als aus Angelino sechzig Jahre später der ehrwürdige Patriarch von Venedig geworden war, erinnerte er sich mit Schmunzeln daran, aber die Pädagogik von damals lehnte er kategorisch ab: Schläge würden alles nur schlechter machen, man müsse erklären und nicht verdammen – si deve spiegare e non spregiare! In der visionären Eröffnungsansprache zum II. Vatikanischen Konzil wird er Ähnliches sagen. Irrende wird die Kirche nicht mehr »mit größter Strenge verurteilen«, sondern »eher das Mittel der Barmherzigkeit« gebrauchen und in der Lehre lieber argumentieren als strafen.

Als Angelo noch keine zehn Jahre alt war, entschieden Pfarrer und Eltern, ihn als externen Schüler an das Bischöfliche Kolleg von Celana zu schicken. Das Internat konnten sich die Roncallis nicht leisten, also wurde Angelo bei Verwandten untergebracht, hatte aber noch immer einen Schulweg von drei Kilometern, täglich zweimal. 1942 erinnerte sich Erzbischof Roncalli in einem Brief an seine Nichte Enrica an die Härte dieses Schulbesuchs: »Nach den Weihnachtsferien begleitete mich unser Vater zu den Wäldern von Faida hin, oberhalb von Villa d’Adda, und ließ mich dann allein nach Pontida weitergehen, wo ich im Haus unserer Verwandten wohnte. Wie ich da allein im Wald und in der Kälte stand und an die Wärme daheim zurückdachte, da weinte ich.«

Das Schuljahr 1891/92 war ein Jahr des Horrors. Täglich drei Kilometer zu Fuß ins Kolleg und drei zurück. Im Haus der Verwandten war ständig Streit wegen irgendwelcher Erbangelegenheiten. Die Mitschüler im Kolleg waren verwöhnte Knäblein aus der ortsansässigen Oberschicht, die den schlecht gekleideten und der italienischen Hochsprache anfänglich nur dürftig mächtigen Bauernbuben ausgrenzten und sogar mutwillig falschen Verdächtigungen aussetzten. Und der Lateinlehrer im Kolleg? Roncalli erinnert sich später: »Er verstand vielleicht etwas von Latein, aber von Pädagogik hatte er keine Ahnung. Alles was ich in Carvico unter so vielen Schmerzen gelernt hatte, war wie weggeblasen!«

Seminarist und Kleriker

Um der Quälerei im Konvikt von Celana ein Ende zu bereiten und vielleicht auch, um einem Verweis von der Schule wegen schlechter Lernerfolge zuvorzukommen, entschied die tatkräftige Mutter, ihren Buben von der Schule zu nehmen. Der Vater schöpfte wieder Hoffnung auf die Arbeitskraft in der Landwirtschaft und Angelo schlich mit hängendem Kopf zur Feldarbeit. Aber wann immer er konnte, verzog er sich mit einem Buch in einen Winkel, wo ihn niemand sah. Hätten Don Rebuzzini – und mit ihm Mutter Marianna – damals aufgegeben, Kirche und Welt hätten nie einen Johannes XXIII. und vermutlich auch kein II. Vatikanisches Konzil bekommen. Aber der Pfarrer und mit ihm die Mutter glaubten an Angelos priesterliche Berufung und trieben in der Person des Bergamasker Domherrn Morlani einen Wohltäter auf, der sich bereit erklärte, die notwendigen Mittel dafür bereitzustellen, dass Angelo das Kleine Seminar in Bergamo beziehen konnte. Die Grafen Morlani waren die Besitzer der von den Roncallis gepachteten Liegenschaften. Am 3. November 1892 trat also der elfjährige Angelo Roncalli ins Kleine Seminar von Bergamo ein. Tags darauf besuchte er mit Freunden das Grab von Don Palazzolo, der ihm seit jener Predigt Don Rebuzzinis vor fünf Jahren als Priester und als »Heiliger« im Gedächtnis geblieben ist, um davor zu beten.

Eintragung der Taufe in den Kirchenmatriken von Sotto il Monte

Ein Jahr später übersiedelten die Eltern Roncalli mit Großonkel Zaverio und dessen Bruder, dem Großvater Angelos, und anderen Verwandten in die angrenzende Colombera, ein Gut mit ca. 4 ha Land, das ebenfalls den Grafen Morlani gehörte.1 Angelo kam jetzt nur mehr in den Ferien nach Hause, der Fußmarsch von Bergamo nach Sotto il Monte nahm immerhin gut drei Stunden in Anspruch. Doch was alles hat er nicht schon als Kind auf sich genommen um der Erfüllung seines und vielleicht auch der Mutter sehnlichsten Wunsches willen, nämlich Priester zu werden: die Ohrfeigen von Don Bolis, Entbehrungen und Ungerechtigkeiten vieler Art, Mobbing und Spott von Schulkameraden.

In der geordneten Atmosphäre des Knabenseminars fiel es ihm dann allerdings leicht zu zeigen, was in ihm steckte: ein ausgezeichneter Schüler, der gerne lernte und leicht auffasste. Im Jahr 1895, mit vierzehn Jahren, war er seinem Ziel auch äußerlich sichtbar einen Schritt näher gekommen: Angelo trat vom Konvikt des Kleinen Seminars ins Große Seminar von Bergamo über. Er erhielt – man stelle sich vor: mit vierzehn und wahrscheinlich noch vor dem Stimmbruch – als verbindliche Kleidung Talar, breitkrempigen Klerikerhut und die sogenannte Erste Tonsur, bei der ihm ein Büschel aus dem Kopfhaar geschnitten wurde, als Zeichen des Eintritts in den geistlichen Stand. Wenn er in den Ferien nach Hause kam, begegnete man ihm im Dorf und in der Familie plötzlich mit einer merkwürdigen Hochachtung. Er bekam eine kleine Kammer zugewiesen, damit er auch in den Ferien »ungestört studieren« konnte. Er saß mit allen am langen Mittagstisch und aß die tägliche Polenta mit Kohlsuppe oder Bohnen; nur manchmal habe ihm die Mutter »etwas Besseres« zugesteckt, berichtete später einmal einer seiner Brüder. Hier, am heimatlichen Familientisch kam es immer wieder zu kleinen Unstimmigkeiten, da Angelo erst lernen musste, seinen Hang zur Besserwisserei zu erkennen und dann konsequent zu bekämpfen. Mit Beginn seines Lebens als Kleriker führt er auch ein Tagebuch, um seine geistliche Selbsterziehung, seine Frömmigkeitsübungen, seine Erfolge und Misserfolge festhalten zu können.

Das Ende der Kindheit

Der junge Kleriker mit seinen geistlichen Idealen, denen er nachzustreben sich heftig vorgenommen hatte, fand allerdings zuhause längst nicht immer das vor, was man sich unter einer geordneten christlichen Familie vorstellen mag.

Drei Generationen auf gedrängtem Raum – da ist es nicht immer friedlich zugegangen, wie vielen Briefen und Tagebucheintragungen zu entnehmen ist. Je länger er von zu Hause weg war, umso größer wurde eine unübersehbare Entfremdung als Folge der Wahrnehmung verschiedener – auch hygienischer – Unzulänglichkeiten. Vor allem war es die stets prekäre finanzielle Situation der Familie, die gerade ihn, der privilegiert im Seminar keinerlei Entbehrung erleiden musste, besonders stark drückte. So wurden die Ferien oft als quälend empfunden. Dazu noch die alten Roncallibrüder, der Großvater und der Paten-Großonkel, sie lagen in unversöhnlichem Streit und sprachen kein Wort miteinander, sodass Angelo einmal seinen Bruder fragte, wie das wohl einmal im Himmel sein werde mit den beiden, wenn sie überhaupt einmal dahin kommen sollten. Dem Tagebuch vertraut er an: »Diese verflixten Ferien […]. Angesichts einer solchen Armut, inmitten solchen Argwohns, bedrückt von so vielen Sorgen, muss ich oft seufzen und manchmal kommen mir die Tränen.« Oft – so scheint es – brachte er seine Angehörigen mit den Ratschlägen eines auf seine Art pubertierenden neunmalklugen Seminarzöglings, was er zwar bald als Charakterschwäche erkannte, aber nur mit Mühe lassen konnte. Einmal, gegen Ende der Sommerferien, notierte er im Tagebuch: »Heute ist es mir wieder besonders aufgefallen: ich habe ein gehöriges Mundwerk – ho sciolto lo scilinquagnolo – und rede wohl zu viel; ohne es zu merken, fange ich an zu predigen – Sparsamkeit im Reden, das wäre ein Opfer!« Auf der anderen Seite wurde die gute Gesprächsbasis mit den Eltern zusehends schmäler. Die Mutter beklagte sich einmal bitter, dass er ihr kalt und gefühllos begegne. Schuld daran war sicher weniger mangelnde Sohnesliebe als vielmehr ein Prinzip priesterlicher Erziehung im 19. Jahrhundert, in dem Gefühlsregungen selbst innerhalb der Familie nicht gerne gesehen waren. Natürlich waren es auch das intellektuelle Milieu im Seminar von Bergamo und seine eigene fortschreitende Bildung, die ihn von den schwer arbeitenden Landleuten entfremdeten. Leise nagten Schuldgefühle an ihm, die viele Jahre später noch zu spüren sind, wenn er einmal bekennt, dass er zwar sehr viel in Büchern gelesen habe, das Wichtigste in seinem Leben habe er aber in seiner Familie, bei den Eltern und Geschwistern gelernt. Man wird nicht lange rätseln müssen, was das wohl gewesen ist. Zahllosen Briefen ist es zu entnehmen. Trotz aller menschlichen Schwächen war es die tiefe Gläubigkeit, die sich immer wieder auch als Großherzigkeit den Armen gegenüber erwies, auch wenn man selber nur über das Notwendigste verfügte. Dann war es die Geduld. Geduld, die er lernen musste vor allem im Umgang mit Menschen, die – wenn auch anfällig und schwach – doch seine Nächsten waren. Sicher war ihm die Jesaja-Stelle vom richtigen Fasten (Jes 58,7) geläufig, in der es heißt, dass es genauso wichtig ist, sich »seinen Verwandten nicht zu entziehen« wie mit den Hungrigen das Brot zu teilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, die Nackten zu bekleiden. Wie schwierig es sein kann, sich um des lieben Friedens willen mit der eigenen Meinung – oft wider besseres Wissen – zurückzuhalten, zeigen die ehrlichen Eintragungen im Geistlichen Tagebuch. Nachdem er in einer Diskussion wieder einmal den Mund zu voll genommen und die Eltern gekränkt hatte, schrieb er in sein Tagebuch von der Erkenntnis der Notwendigkeit des Schweigens. Sie wird für sein ganzes späteres Leben gültig sein, besonders schmerzhaft empfunden hat er sie als Papst. Er schreibt: »Ich erkenne, dass ich immer dafür leiden muss, wenn ich zu allem schweige, geschehe es auch in bester Absicht; ich muss alles in mir verschließen, auch wenn ich mich dem Ersticken nahe fühle.«

Der Sommer des Jahres 1898 liest sich in der Rückschau des Geistlichen Tagebuchs wie eine einzige endlose Reihe von Selbstbezichtigungen: Nachlässigkeiten im Gebet, Lieblosigkeiten in Gesprächen, Ablenkung mit Zeitunglesen, nicht eingehaltene Vorsätze, das Gefühl, mit Gott nur »zu spielen«, Angst vor dem Fegefeuer etc. Dann aber ein Schlag, der ihn wirklich trifft, der seine Skrupel und Seelenblähungen auf den richtigen Platz verweist. Am Morgen des 25. September, es ist ein Sonntag, betritt Angelo die Kirche Santa Maria Assunta, um bei der Frühmesse zu ministrieren – und findet seinen geliebten Taufpriester Don Francesco Rebuzzini tot auf den Stufen des Altares. »Er kam mir vor – den Mund offen und blutig, die Augen geschlossen – wie Jesus, als er tot vom Kreuz abgenommen wurde.« Alle Schwierigkeiten und Prüfungen in seinem bisherigen geistlichen Leben erschienen ihm mit einem Schlag nichtig. »Was soll ich nun, nach dieser wirklichen Prüfung, nach dem größten Schmerz meines Lebens tun?« Mit dem Tod seines geistlichen Vaters endet die Kindheit – aus Angelino ist endgültig Angelo geworden, der auf dem guten, dem richtigen Weg weitergehen wird, auf den ihn einst Don Rebuzzini unter so vielen Widrigkeiten gesetzt hatte.

 

Apropos

Man schließe die Augen, nehme sich fünf Minuten Zeit und denke an seine Kindheit zurück, so früh, wie die Erinnerung reicht:

Wer hat mir von Gott erzählt?

Wer hat mit mir gebetet?

Wer hat mir aus der Bibel vorgelesen?

Wem könnte ich von Gott erzählen, wem vorlesen, mit wem beten oder eine Kirche besuchen?

Man denke: Auch Jesus hatte Eltern, Großeltern und Verwandte, die ihn gelehrt haben, das Sh’ma Jisrael zu beten und in den Prophetenbüchern zu lesen.

1 Erst 1919 wurden Haus und Land von den Roncallis um 55.000 Lire mit Hilfe eines Bankdarlehens gekauft. Dank eines guten Ertrags aus der ebenfalls betriebenen Seidenraupenzucht konnte die Schuld noch im selben Jahr um 11.000 Lire vermindert werden. 1946 teilte sich die Großfamilie: In der Colombera blieben die Familien von Angelos Brüdern Zaverio, Alfredo und Giovanni. Bruder Giuseppe ließ sich mit Frau und zehn Kindern in einem neuen Bauernhof in der Ortschaft Le Geròle nieder.

Heute Morgen bei der Besinnung habe ich wieder die Eingebung vernommen, meine Gedanken, meine Kämpfe aufs Papier zu bringen, und diesmal soll mich wirklich nichts davon abbringen.

Ich habe wieder einmal festgestellt, dass mir noch sehr, sehr viel zu tun bleibt, um ein guter Kleriker zu werden.

Was die Demut betrifft, so sitzt im Inneren noch eine gute Portion Eigenliebe, die sich noch immer vordrängt. Nächstenliebe, ja, dafür habe ich Eifer, oder wenigstens scheint es mir so, aber die wahre Nächstenliebe der Heiligen, die Liebe, die jeder Erprobung standhält, die starke Liebe zu Gott, zum Herzen Jesu, ist noch weit entfernt. Hoffen wir aber, dass sie noch komme.

Was die Reinheit betrifft, so ist es wahr, dass ich dank der Unbefleckten Jungfrau keine lebhaften Versuchungen verspüre, muss aber zugeben, dass ich in meinem Kopf zwei Augen habe, die mehr als geziemend sehen wollen und bisweilen unbewusst, wie ich glaube, die Oberhand über den Geist gewinnen.

Was die Sanftmut, die Milde und die Ruhe anlangt, das heißt also alles, worin die sanfte Gewalt des heiligen Franz von Sales, meines besonderen Beschützers und ganz besonderen Vorbilds erstrahlt, so habe ich nichts Schlimmes zu verzeichnen, aber auch nicht das, was ich erreichen sollte. Manchmal erhitze ich mich zu sehr in der Diskussion, bisweilen bin ich im Umgang mit meinen Angehörigen nicht gerade angenehm, nicht gerade liebenswürdig, und unendlich viele solcher Dinge.

Von meinen Gebetsübungen will ich lieber nicht reden, z. B. mit dem Rosenkranz bin ich ganz und gar nicht zufrieden.

Und jetzt befassen wir uns mit dem »Tu autem [sequere me]. – Du aber: Folge mir nach!« So erneuere ich meinen Vorsatz, wahrhaft heilig zu werden, und bekenne nochmals vor dir, gütigstes Herz Jesu, dich lieben zu wollen, wie du es wünschst, und mich mit deinem Geist erfüllen zu lassen.

Übrigens habe ich heute früh festgestellt, dass es etwas anderes ist, leichthin Vorsätze zu fassen als sie wirklich durchzuführen.

Geistliches Tagebuch, Eintragung vom22. August des Heiligen Jahres 1900,anlässlich der monatlichen Einkehr

Lebensregeln für junge Männer

Bergamo, Città Alta, die historische Oberstadt: eine überschaubare Piazza mit der wunderbar vielgestaltigen Basilika Santa Maria Maggiore, daneben der architektonisch eher konventionelle Dom. Vernunft und Frömmigkeit kennzeichnen die Atmosphäre, kein großstädtisches Gehabe. Der Markuslöwe ist allgegenwärtig, war doch Bergamo 400 Jahre lang westlicher Vorposten der Republik Venedig – und in den unruhigen Jahren der Reformation das nördliche Bollwerk im Abwehrkampf gegen die vom Norden her einsickernden neuen religiösen Ideen. »Backofen des Heiligen Geistes« wurde die Bischofsstadt genannt, weil aus ihr, verglichen mit anderen italienischen Provinzhauptstädten, jahrhundertelang die meisten geistlichen Berufe hervorgingen. Rund ein Vierteljahrhundert verbrachte Angelo Roncalli in dieser geistlichen Meile der Oberstadt zwischen Santa Maria Maggiore mit der schönen Colleoni-Kapelle und dem Priesterseminar, zuerst als Student und Seminarist, dann als Sekretär des Bischofs und schließlich als Spiritual am Priesterseminar.

Das Seminar (wörtlich übersetzt »Samenbeet«) als verbindlicher Ort der Ausbildung zukünftiger Priester ist eine der wichtigsten Errungenschaften des Reformkonzils von Trient. In dem sogenannten Seminardekret ordnete das Konzil für jede Diözese die Errichtung eines Seminars an und dessen qualifizierte Leitung durch Regens, Subregens und Spiritual. So sollte der oft bedenklich niedrige Bildungsstand des Klerus gehoben werden, sollten geistlich und sittlich gefestigte Priester aus den Seminarien in die Seelsorge entlassen werden. Ein besonders eifriger Umsetzer des Seminargedankens war Carlo Borromeo, der heilige Erzbischof von Mailand. Alle seine Apostolischen Visitationsreisen hatten die Gründung oder, wenn eines schon existierte, die strenge Prüfung eines Priesterseminars auf dem Programm. So war auch das Seminar von Bergamo von seiner Gründung an eng mit Carlo Borromeo verbunden. Angelo Roncalli, ein großer Verehrer des heiligen Erzbischofs, hat 1910 als Bischofsekretär in »seinem« Diözesanblatt Vita Diocesana die schwierigen Anfänge des Seminars von Bergamo und die ernüchternde Bilanz der Visitation durch Carlo Borromeo beschrieben: mangelnde Disziplin, finanzielle Unregelmäßigkeiten, durchschnittliche Lehrer und schlechte Studienerfolge, wenig begeisterte geistliche Leiter, schließlich die Unfähigkeit des Bischofs, sich gegen den Stadtrat durchzusetzen und Jesuiten nach Bergamo zu verpflichten, die in anderen Städten bereits erfolgreich Priesterseminare leiteten. Ein recht engherziger Regelkanon für die Zöglinge und Alumnen geht ebenso auf den heiligen Karl Borromäus zurück wie die für lange Zeit charakteristische Gebäudeform von Seminarien.

Pädagogisch war Strafe verpönt, zum Lernen sollte eher Freude als Furcht motivieren, Zuspruch eher als Drohung. Jede Insultierung eines jungen Seminaristen, körperlich oder seelisch, wurde als Skandal angesehen, dem der biblische Mühlstein um den Hals gebührt. In ihren Grundzügen traf diese Beschreibung des tridentinischen Seminars auch noch 1895, als der vierzehnjährige Angelo Roncalli vom Knabenkonvikt des Seminars von Bergamo ins Seminar der Kleriker aufstieg.

Das Seelentagebuch

Bald nach seinem Eintritt ins Priesterseminar kaufte sich Angelo ein Notizbuch mit 64 karierten Seiten und steifem schwarzen Einband, auf dessen Innenseite der Vierzehnjährige schrieb: »Lebensregeln für junge Männer, wenn sie im religiösen Leben Fortschritte machen wollen.« Das war die erste Eintragung in einem »Giornale dell’ anima«, dem geistlichen Tagebuch, wie es Roncalli bis an sein Lebensende weiterführen wird – und dessen Veröffentlichung sechzig Jahre später, ein Jahr nach seinem Tod, weltweite Verbreitung finden wird. Offenkundig hatte sich Angelo während der drei ersten Jahre im Konvikt einen so guten Ruf erworben, dass er zu den wenigen Auserwählten zählte, denen der Spiritual die sogenannte Kleine Regel überreichte. Angelo erweiterte sie zu seiner individuellen Lebensregel und ging so auch auf erkannte Schwächen und Neigungen ein. »Er schrieb sie mit der Hand in kleiner Schrift ab, bewahrte sie immer bei sich auf und befolgte sie, auch noch als Papst«, berichtet sein ehemaliger Sekretär Capovilla.

Gleich nach der Überschrift findet sich ein Satz, der den schwatzsüchtigen Kleriker Roncalli, zumindest in seiner Selbsteinschätzung, ein Leben lang zu schaffen machte: »Leeres Geschwätz aus dem Munde von Weltmenschen ist nur Geschwätz, aus dem Munde von Priestern aber ist es Gotteslästerung. – Nugae quae in ore saecularium nugae sunt, in ore sacerdotum blasphemiae.«

Dann folgt ein Zitat aus dem Tridentiner Dekret über den »vorbildlichen Priester«, der überall einen »ernsten, maßvollen und gottesfürchtigen Eindruck« zu hinterlassen habe. Unverzichtbar auf »dem Weg der Frömmigkeit und der Studien« ist für den angehenden Priester, sich aus den vorbildlichsten und klügsten Männern einen geistlichen Führer zu wählen, dem er sich wirklich uneingeschränkt anvertrauen kann.

Angelo Roncalli, Stipendiat am Seminario Pontificio S. Apollinare, Rom 1901

Dann folgte die »geistliche Checkliste«. Sie enthält (1) zwölf Punkte für jeden Tag: geistliche Lesung, mehrere Male Gewissenserforschung, Besuch des Allerheiligsten, Gebete, wenigsten drei Akte der Selbstverleugnung; (2) sieben Punkte für jede Woche: beichten und kommunizieren, Freitag und Samstag fasten, jeden Samstag »ein Tugendbeispiel oder Wunder der Muttergottes erzählen«; (3) fünf Punkte für jeden Monat: Einkehr und Selbstprüfung, einen Studienkollegen um Kritik bitten, den geistlichen Vater zwecks Bekenntnis der Verfehlungen aufsuchen, monatlich einen besonderen Schutzpatron wählen; (4) vier Punkte für jedes Jahr: Exerzitien, Jahresbeichte, Verhaltensregeln für die Ferien erbitten; (5) und schließlich neun Punkte für jede Zeit: sich vor »schlechten Kameraden« hüten, mit Frauen auch die kleinste Vertraulichkeit meiden, Frauen »nicht ins Gesicht starren«, auf Karten- und Würfelspiele verzichten, sich nicht duzen oder mit den Händen anfassen, außerhalb der Mahlzeiten nicht essen oder trinken, oft darüber nachdenken, dass in unserer Seele Unwissenheit und Sünde herrschen, Beleidigungen ertragen, immer schicklich und mit dem geistlichen Gewand bekleidet sein.

Insgesamt also dreiundfünfzig Verhaltensregeln, die einzuhalten sich der Vierzehnjährige fest vorgenommen hatte. Wen wundert es da, dass in den folgenden Eintragungen über Jahre hinweg Selbstbezichtigungen der Untreue, der Unfähigkeit und der Unwürdigkeit den Ton angeben: »Mein Gott, ich schäme mich, Du hast mir so viele Gnaden geschenkt, dass ich ein Heiliger sein müsste, statt dessen bin ich ein großer Sünder.«

Und dann die Angst! Es kann allerdings auch sein, dass das Erschrecken vor dem Zorn Gottes, ja die Angst vor der Hölle, die sich in den frühen Tagebucheintragungen finden, nicht sosehr der eigenen Erfahrung entstammen, als dass sie viel eher dem Stil und dem Wortschatz der geistlichen Literatur der Jahrhundertwende nachempfunden sind. Denn andere Lektüre als aszetische und erbauliche Schriften ist den Alumnen um die Jahrhundertwende ja kaum unter die Augen gekommen, fiel doch auch das Lesen der Tageszeitung unter das Verdikt der dreiundfünfzig Regeln. Wenn Angelo in den Ferien doch einmal Zeit mit Zeitunglesen »vertrödelte«, nahm er es reumütig in das Sündenregister für die wöchentliche Beichte auf. Was hat er da nicht alles aufgelistet, wovon er, zumindest in der kleinlich übertriebenen Tagebuchführung, überzeugt war, dass es einmal »vor das Gericht kommt«: Zerstreuung im Gebet, geistreiche und selbstgefällige Bemerkungen, Tagträume, Luftschlösser und Kartenhäuser, während des Stillschweigens gesprochene Worte, Eitelkeiten, Hochmut und dergleichen. Die alterstypischen Versuchungen der erwachenden Sexualität scheint er erfolgreich bekämpft zu haben. Mit sechzehn Jahren widmet er ein ganzes Kapitel des Tagebuchs »der heiligen Reinheit.« Er berichtet einmal, wie er sie zu bewahren gedachte: »Abends vor dem Einschlafen will ich den Rosenkranz der heiligen Jungfrau um meinen Hals legen, die Arme auf der Brust kreuzen und versuchen, in der gleichen Haltung am Morgen aufzuwachen.« Er fasst auch den Vorsatz, niemals Plakate oder Schaufenster zu betrachten, »wenn sie schamlose Dinge darbieten«, selbst in den Kirchen will er »nie Kunstwerke betrachten, vor allem keine Malereien«, die als anstößig empfunden werden könnten. Beim Weintrinken will sich Angelo auch zurückhalten, »denn im Wein liegt die gleiche Gefahr wie in den Frauen« – offenbar wurde an die Seminaristen zum Essen auch Wein ausgeschenkt.

Ein Bericht des Wachsens