Ein Herz für Muffins - Dana Bate - E-Book

Ein Herz für Muffins E-Book

Dana Bate

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Beschreibung

Ein charmanter Roman über Liebe, große Chancen und die besten Muffins der Welt – für alle Fans von Meg Cabot

Sydney Strauss liebt Essen – besonders, darüber zu schreiben. Doch da Jobs im Food-Journalismus so heißbegehrt sind wie die berühmten Cronuts®, bezahlt Sydney ihre Rechnungen, indem sie für einen der größten Egomanen der Fernsehgeschichte arbeitet. Bis dessen neueste Eskapade sie den Job kostet und sie plötzlich gezwungen ist, den grantigen Boss ihrer besten Freundin Heidi um Schichten auf dem Farmer’s Market anzubetteln. Dann, gerade als ihr Privatleben einen erfreulichen Aufschwung erlebt, erhält sie die Chance, die ihre Karriere herumreißen könnte. Doch dafür muss sie es riskieren, alle vor den Kopf zu stoßen, die ihr am Herzen liegen …

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Seitenzahl: 522

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Buch

Sydney Strauss ist besessen von Essen. Nicht damit, es zu sich zu nehmen – obwohl sie das auch gern tut –, sondern vor allem damit, darüber zu schreiben. Doch da Jobs im Food-Journalismus heiß begehrt und spärlich gesät sind, bezahlt Sydney ihre Rechnungen, indem sie für einen der größten Egomanen der Fernsehgeschichte arbeitet. Bis dessen neueste Eskapade sie den Job kostet und sie plötzlich gezwungen ist, Rick, den grantigen Boss ihrer besten Freundin Heidi, um Schichten auf dem Farmer’s Market anzubetteln.

Am Stand der Wild Yeast Bakery Muffins aufzustapeln wird ihr sicher keine journalistischen Preise einbringen, doch bald schon verfasst Sydney den Newsletter des Bauernmarkts, und ihre lebendigen, scharfsinnigen Storys ziehen die Aufmerksamkeit eines berühmten Food-Kolumnisten auf sich. Und nachdem sie in den vergangenen Jahren nur an ihre Karriere gedacht, nonstop gearbeitet und keinen Gedanken an eine Beziehung verschwendet hat, erfährt sogar ihr Liebesleben einen Aufschwung, als sie auf dem Markt den attraktiven Jeremy kennenlernt und die beiden sich nach und nach näherkommen. Doch dann erfährt sie von Jeremys dunkelstem Geheimnis – und erhält gleichzeitig die Chance, die ihre Karriere herumreißen könnte. Soll sie sie ergreifen, auch wenn sie damit riskiert, alle vor den Kopf zu stoßen, die ihr am Herzen liegen, und sie vielleicht sogar ihre Beziehung zu Jeremy und ihren Ruf als Journalistin aufs Spiel setzt?

Autorin

Dana Bate ist eine amerikanische Schriftstellerin und ehemalige Reporterin. Sie studierte Molekularbiophysik und -biochemie in Yale, machte aber ihren Master schließlich in Journalistik an der berühmten Medill School of Journalism, wo sie eine Auszeichnung für ihre hervorragenden Leistungen bekam. Dana Bate lebt in der Nähe von Philadelphia. Nach Aber bitte mit Liebe ist EinHerz fürMuffins ihr zweiter Roman.

Dana Bate

Ein Herz für Muffins

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Claudia Geng

Die Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel A Second Bite at the Apple

bei Kensington Books, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe April 2016

bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright der Originalausgabe © 2014 by Dana Bate

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Getty Images/Catherine Lane

Redaktion: Carolin Franzen

Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-16119-4V001

www.blanvalet.de

Kapitel 1

Gerade habe ich noch gedacht, dass dieser Morgen nicht seltsamer werden kann, da sehe ich Charles Griffin auf Skiern die Siebzehnte Straße entlangfahren. Auf Skiern, als wären wir in Aspen. Oder in Vermont. Aber wir sind in Washington, D.C., und im Gegensatz zu den restlichen Bewohnern dieser Stadt, die an diesem verschneiten Dezembermorgen einen heißen Kakao trinken und sich unter ihre flauschigen Decken kuscheln, müssen Charles und ich uns den Launen von Mutter Natur und der Inkompetenz des städtischen Räumdienstes aussetzen.

»Hey!«, ruft Charles, während er zwischen den Schneehaufen hindurchgleitet und mit seinen Skistöcken planlos im Boden stochert. Seine Stimme, obwohl gedämpft durch einen Schal, hallt mit der tiefen Erhabenheit eines TV-Korrespondenten wider.

Ich winke und kämpfe mich durch eine hüfthohe Schneeverwehung bis zur Straßenecke, mein Notebook an die Brust gedrückt. Charles presst die Knie zusammen und schafft es, neben mir zum Stehen zu kommen.

»Was für ein Wetter«, sagt er und tupft sich mit seiner behandschuhten Hand die Stirn ab. »Wann hatten wir das letzte Mal im Dezember so viel Schnee?«

»Laut dem Chronicle 1932. Die nennen es Snowzilla.«

Charles lacht. »Wo ist Tony?«

»Oben, die Ausrüstung holen. Er wird gleich hier sein.«

Ich ziehe meine graue Fleecemütze tiefer über meine Ohren und schaue die Siebzehnte Straße hinunter. Normalerweise würde sich um diese Uhrzeit der Berufsverkehr in Richtung Süden wälzen zur K Street, der berüchtigten, stark befahrenen Durchgangsstraße von Ost nach West, die für ihre Lobbyfirmen und großen Denkfabriken bekannt ist. Aber statt eines dichten Stroms aus Fahrzeugen und Taxis und Bussen sehe ich heute nur Schnee. Als jemand, der einmal davon träumte, Artikel über Soufflés und berühmte Köche zu schreiben, muss ich mich fragen, wie ich hier gelandet bin, in Schneestiefeln und halb erfroren, um für einen Außenreporter auf Skiern eine Liveaufnahme zu produzieren.

»Ich komme nicht darüber hinweg, wie leise die Stadt ist«, sage ich. »Ich habe die Straßen noch nie so leer gesehen.«

Charles klopft mit der Spitze seines rechten Skistocks auf seine Skier. »Ich kann nur jedem empfehlen, sich ein Paar von diesen heißen Brettern zuzulegen.«

Ich rolle mit den Augen. »Wie wäre es, wenn wir dich von diesen heißen Brettern runterholen und in Position bringen?«

Charles hebt die Hand, um mich auf Abstand zu halten. »Die Skier bleiben an.«

»Charles …«

»Nein, hör mir zu. Ich habe mir überlegt, wir fangen mit einer Nahaufnahme von mir an, während ich dieses Stück hier auf der Siebzehnten noch einmal runterfahre, und Tony blendet dann nach und nach in die Totale, je näher ich der Kamera komme. Um den Leuten eine Ahnung davon zu vermitteln, wie viel Schnee hier liegt.«

»Hast du das mit New York abgeklärt?«

»Das brauche ich nicht mit New York abzuklären.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ich schon.«

»Nein, brauchst du nicht. Es ist okay. Vertrau mir. Ich mache so was ständig.«

Das ist wahr. Charles ist im Grunde der Trottel vor Ort für die Morning Show, obwohl sein offizieller Titel »Korrespondent im Außendienst« lautet. Charles besitzt eine geradezu unheimliche Fähigkeit, sich zum Mittelpunkt jeder Geschichte zu machen, und als seine Aufnahmeleiterin gehört es unter anderem zu meinem Job, Charles immer wieder aus der Patsche zu helfen, als Folge seiner dämlichen Einfälle. Ich würde dieses Verhalten ja seiner Midlife-Crisis zuschreiben, aber nach dem zu urteilen, was ich mitbekommen habe, führt er sich schon seit Jahren wie ein Idiot auf. Als wir letztes Jahr eine Farm in Loudoun County besuchten, um einen Bericht über Agrarsubventionen zu machen, beschloss Charles wieder einmal, den Komiker zu mimen, indem er einen Mähdrescher fuhr – eine Maschine, die er noch nie zuvor bedient hatte und die vermutlich größer war als meine erste eigene Wohnung. Noch dazu ist Charles ein miserabler Fahrer. Ich flehte ihn an, einen anderen Standort für seine Moderation zu wählen (es gibt einen Grund, warum er mich »Spießer-Sydney« nennt), aber wenn Charles sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist es unmöglich, ihn zur Vernunft zu bringen. Er stieg in den Mähdrescher, und die Aufnahme endete damit, dass er den Zaun des armen Bauern umpflügte. Es war nicht gerade einer meiner vergnüglichsten Nachmittage.

Während Charles seine Ski vor- und zurückschiebt, kommt Tony auf uns zugestapft, mit der Kameraausrüstung in seinen großen Bärenpranken. Tony hat die Statur eines Schranks – breite Schultern, kräftiger Hals, und dazu ein permanenter Bartschatten. Er schleppt regelmäßig eine tonnenschwere Ausrüstung von Drehort zu Drehort, die er in Rekordgeschwindigkeit auf- und abbaut, und er hebt Kisten mit Scheinwerfern und Akkuboxen, als wären sie mit Federn gefüllt.

Tony bereitet die Aufnahme vor, indem er die Kamera auf das Stativ steckt und das kabellose Mikrofon an Charles’ Jacke befestigt. Ich ziehe Charles den Schal vom Gesicht und trage eine dicke Schicht Grundierung auf seine wettergegerbte Haut auf, bevor ich anschließend versuche, die pfirsichfarbene Schmiere aus den Falten um seine Augen und seinen Mund zu streichen. Von seinem Gesicht, umrahmt von Fleece und Wolle, ist nicht viel zu sehen, aber seine unverwechselbaren großen Augen schauen unter der Wollmütze hervor, und hier und da ragen ein paar Strähnen seiner ergrauenden kastanienbraunen Haare heraus.

»Bereit für einen Testlauf?«, fragt Tony.

Charles richtet seine Mütze. »Ich habe den ganzen Weg von meiner Wohnung in Kalorama auf Skiern zurückgelegt. Ich brauche keinen Testlauf.«

»Okay, Mann. Wie du willst.«

Tonys entspannte und ruhige Art muss eine Grundvoraussetzung für seinen Job sein. Entweder beschweren sich Reporter wie Charles bei ihm über ihr Kamerabild, oder er wird von Aufnahmeleitern wie mir angebrüllt, weil das Material nicht reicht. Aber Tony schafft es irgendwie, das alles wegzustecken, ohne dabei jemals die Stimme zu erheben oder ein böses Wort von sich zu geben. Mir ist schleierhaft, wie er das macht.

»Wann gehen wir auf Sendung?«, fragt Charles.

»Die erste Schalte ist um sieben Uhr fünfundzwanzig, danach alle dreißig Minuten bis um zehn. Außer es kommt eine Sondermeldung rein.«

Charles wedelt mit seinen Skistöcken in der Luft. »Was kann schon wichtiger sein als das hier?«

Dieser Satz steht im Grunde sinnbildlich für Charles’ Lebenseinstellung: Wenn er selbst nicht beteiligt ist, wie wichtig kann es dann schon sein? Eine intergalaktische Explosion, ein abtrünniger Spitzenpolitiker, die Auslöschung der menschlichen Rasse – alles irrelevant verglichen mit der Aussicht, Charles dabei zuzusehen, wie er sich auf alten Langlaufskiern durch den Schnee quält.

Um sieben beginnt Charles, sich die Siebzehnte Straße hochzubewegen, wobei er sich an seiner schmalen Abfahrtsspur orientiert. Als er seinen selbsternannten Startpunkt erreicht hat, dreht er sich um. Ich wähle mich in die Leitung nach New York ein und höre Bridget, die Produktionskoordinatorin der Morning Show, aufstöhnen, als sie Charles auf ihrem Vorschaumonitor erblickt.

»Hat Charles sich wirklich Skier angeschnallt?«, fragt sie.

Ich seufze in mein Handy. »Ja. Leider.«

»Sydney …«

»Das war nicht meine Idee. Ich habe ihm gesagt, er soll es sein lassen.«

Bridget schnalzt mit der Zunge und erwidert nichts. Sie weiß, dass es nicht meine Idee war. Ich bin Spießer-Sydney. Livemoderationen auf Skiern gehören nicht zu meinem Vokabular.

Ich halte mein Handy an die Brust und brülle zu Charles hoch. »Fünf Minuten!«

Tony schüttelt den Kopf, während er seine Kamera ausrichtet. »Ist dieser Kerl zu fassen? Was für ein Clown.«

Dreißig Sekunden bevor wir live gehen, bewegt Charles seine Skier abwechselnd vor und zurück, als wäre er Bode Miller und würde sich auf das Abfahrtsrennen seines Lebens vorbereiten. In jeder olympischen Saison bekommt Charles ziemlich heftiges olympisches Fieber, und in diesem Jahr war es ganz besonders schlimm. Seit Jahren ist er erpicht darauf, als Teil des Sendeteams zu diesem Großereignis zu reisen, und seit Jahren, das aktuelle inbegriffen, wird er zugunsten eines anderen Reporters übergangen. Ich bin mir sicher, dass diese Skier sein Mittel sind, wie bescheiden auch immer, den Senderverantwortlichen symbolisch den Mittelfinger zu zeigen, weil sie ihn immer in Washington zurücklassen.

»Das ist richtig, Diana«, sagt Charles nun und starrt in Richtung Kamera, während er sich von seinem Standort direkt unterhalb der M Street abstößt. »Genau so bin ich heute zur Arbeit gekommen. Ich musste mir auf Skiern einen Weg durch die Schneemassen bahnen, die die ganze Stadt zu einem lähmenden Stillstand gebracht haben.«

Während Charles in die Kamera spricht, beziehungsweise mit unserer Studiomoderatorin Diana Humphrey, gewinnt er ordentlich an Fahrt, da seine Ski in der Spur seiner ersten Abfahrt dahingleiten. Er entwickelt immer mehr Schwung, bis er, zu seiner eigenen Überraschung und der unserer Zuschauer, in einem ziemlich rasanten Tempo auf die Kamera zurauscht, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Er stochert mit seinen Skistöcken nach Halt, aber die Schneeberge, die den Bordstein säumen, reißen ihm die Stöcke aus den Händen, und er verliert sie beide.

»Scheiße, bitte sag mir sofort, dass er weiß, wie man anhält!«, schreit Bridget durch mein Handy, das fest gegen mein Ohr gedrückt ist.

Ich wünschte, ich hätte eine Antwort für sie, aber ich bin voll und ganz damit beschäftigt zu beobachten, wie Charles in Panik gerät, als ihm klar wird, dass er direkt auf die Kamera zuschießt.

»Und wie Sie sehen können, ist der Untergrund hier ziemlich tückisch …«

Er ist vielleicht noch fünf Meter von der Kamera entfernt, und nichts deutet darauf hin, dass er demnächst anhalten wird. Stattdessen saust er weiter auf Tony zu, während er mit rudernden Armen versucht, sein Gleichgewicht zu halten, und die Knie zusammendrückt, um zu bremsen. Vorhin hat es funktioniert, jetzt jedoch sind seine Ski in den Furchen seiner eigenen Spur gefangen, sodass er wie ein Güterzug auf Tony und mich zugerast kommt. Als er nur noch zwei Meter von uns entfernt ist, kapituliert er und verschränkt die Arme schützend vor dem Gesicht.

»Oje!«, schreit er und kracht mit voller Wucht in die Kamera. Tony und das Stativ fallen um, und Charles landet auf ihnen.

Das ist genau die Art von Schwachsinn, auf die ich bei Charles mittlerweile gefasst bin, und wenn man nach den bisherigen Fällen gehen kann – und das kann man, glaube ich –, wird das alles meine Schuld sein.

Nach dem Ende der Sendung schleppe ich mich hoch in den vierten Stock unseres Gebäudes, mit Fingern so kalt und steif wie dünne Eiszapfen und mit einer Nase in der Farbe einer Maraschinokirsche. Da mir vor ungefähr zwei Stunden die Taschentücher ausgegangen sind, ist der linke Ärmel meines gesteppten schwarzen Skiparkas mit verkrustetem Schnodder bedeckt, und es kann gut sein, dass ich einen Rotzbart trage. Manche Tage sind in diesem Job definitiv besser als andere.

Als ich meinen Schreibtisch erreiche, schäle ich mich aus meinem Parka und mache mich dann auf den Weg zu Melanie, der hauptverantwortlichen Producerin der Morning Show hier in unserem Washingtoner Büro, die am anderen Ende des Redaktionsraums sitzt. Melanie tippt gerade etwas in ihren Computer und spricht dabei in gedämpftem Ton in den Telefonhörer, der zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter klemmt. Als sie sieht, dass ich mich ihrem Tisch nähere, nimmt sie abrupt eine aufrechte Haltung ein.

»Ich muss auflegen«, bellt sie in den Hörer. Sie knallt ihn auf die Gabel und lehnt sich in ihrem Bürosessel zurück. »Was zum Teufel sollte das?«

»Das war Charles.«

Mit einer schwungvollen Bewegung nimmt sie ihre schwarz gerahmte Brille ab und lässt sie an einem Bügel baumeln. »Bridget sagt, New York ist angepisst.«

»Charles sagt, New York ist von seinen Aktionen begeistert.«

»Die Ski?«

»Seine Idee. Ich habe ihm gesagt, er soll darauf verzichten. Aber er hat sie ja nach der ersten Liveschaltung weggelassen.«

»Um danach eine alte Frau mit einem Schneeball zu bewerfen«, sagt Melanie.

»Zu seiner Verteidigung kann ich sagen, dass die Frau wirklich wie ein Kind aussah, so dick vermummt, wie sie war.«

Melanie schüttelt den Kopf und fährt mit den Fingern durch ihre kastanienbraune kurze Bobfrisur. Melanie hat die Haare, die ich mir immer gewünscht habe – superglatt und immer genau gleich fallend, egal wie windig oder feucht es draußen ist. Vor ein paar Monaten hat sie sich einen Pony schneiden lassen, etwas, das ich seit der fünften Klasse nicht mehr ausprobiert habe wegen meiner dicken, widerspenstigen Wellen. Ich bin heute noch traumatisiert von einem Klassenfoto, auf dem es aussieht, als wäre meiner Stirn spontan ein Plüschpudel entwachsen.

»Ach komm – das mit dem Schneeball war doch ganz lustig«, sage ich.

Melanie reißt eine Schublade an ihrem Rollcontainer auf und nimmt einen Proteinriegel heraus. »Lach, so viel du willst. Du wirst das alles nicht mehr so lustig finden, wenn die Schlipsträger ihre Ankündigung machen.«

»Was für eine Ankündigung?«

Melanie, die gerade ihren Kashi-Riegel auspackt, hält abrupt inne und sitzt wie erstarrt auf ihrem Stuhl. »Hast du es nicht gehört?«

»Was gehört?«

Sie beißt ein großes Stück von ihrem Riegel ab. »Es reicht wohl zu sagen, dass tiefgreifende Veränderungen anstehen.«

»Tiefgreifend im Sinne von …«

»Im Sinne von einer Umstrukturierung.« Sie schluckt ihren Bissen hinunter und schüttelt den Kopf. »Hör zu, ich kenne keine Details. Ich hätte nichts sagen sollen.«

Das ist typisch Melanie – zuerst ein saftiges Gerücht streuen, aber dann einen Rückzieher machen und erklären, sie habe bereits zu viel gesagt und welches Glück man gehabt habe, sie in einem schwachen Moment zu erwischen.

»Die werden doch so kurz vor Weihnachten nichts unternehmen, oder?«

Sie zuckt mit den Achseln. »Wer weiß? Wie gesagt, ich hätte es gar nicht erwähnen sollen.«

»Ich bin froh, dass du es erwähnt hast«, sage ich. »Könntest du mir Bescheid geben, wenn du Näheres erfährst?«

»Sicher. Vorausgesetzt, ich höre was. Bis dahin … würde ich an deiner Stelle vorsichtig sein. Es sind gefährliche Zeiten.« Sie nimmt ihre Kaffeetasse, und als sie sie an die Lippen führt, werden ihre Augen schmal. »Übrigens«, sagt sie, »dir läuft Rotz aus der Nase.«

Dieser Tag kann eigentlich nur noch besser werden.

Kapitel 2

Melanie mag eine Klatschtante sein, aber sie hat auch eine ziemlich gute Erfolgsbilanz, wenn es darum geht zu wissen, was hinter den Kulissen unseres Senders alles geschieht. Sie weiß, welche Moderatoren auf der Abschussliste stehen, welche Reporter befördert werden und welche Korrespondenten mit den Führungskräften schlafen. Wenn sie also sagt, dass tiefgreifende Veränderungen anstehen, dann ist das auch so.

Ich eile zurück an meinen Schreibtisch, der zwischen eine eckige Säule und eine Wand gequetscht ist. Ein suboptimaler Standort für einen suboptimalen Job. Ich weiß, ich weiß – ich sollte mich nicht beschweren. Es ist immerhin ein ganz gut bezahlter Job, und für die meisten Außenstehenden klingt er fantastisch. Aufnahmeleiterin für eine landesweite Frühstückssendung – wer würde diesen Job nicht haben wollen? Na ja … ich, um ehrlich zu sein. Es ist nicht so, dass ich meinen Job hasse. Er ist in vielerlei Hinsicht toll. Ich produziere Beiträge, die jeden Morgen von Millionen Menschen gesehen werden, ich arbeite regelmäßig mit TV-Persönlichkeiten wie Charles Griffin und Diana Humphrey zusammen, und ich treffe ständig interessante Leute, vom Politiker bis hin zum Erfinder. Aber die Wahrheit ist, dass ich nur zufällig hier gelandet bin, und dass ich lieber, hätte ich die Wahl, Beiträge für den Kochsender produzieren oder Gastrokritiken für den Washington Chronicle schreiben würde. Aber das tue ich nicht. Stattdessen bin ich hier und arbeite für einen Korrespondenten, dessen Beitrag zum professionellen Journalismus eine Livemoderation auf Skiern einschließt.

Meine Finger sind immer noch rot und rau von unseren drei Stunden draußen im Schnee, also setze ich mich an meinen Schreibtisch und reibe mir die Hände, um sie aufzutauen. Während ich meine Handflächen aneinanderpresse, beginnt mein Handy auf meinem Schreibtisch zu summen. Es ist Libby, meine Schwester. Ich kann mir denken, worüber sie um diese Uhrzeit mit mir reden möchte.

Libby ist vor Kurzem mit ihrem Freund in eine Wohnung im Zentrum von Philadelphia gezogen, nur zwanzig Minuten von dem Haus am Stadtrand entfernt, in dem wir aufgewachsen sind, und sie hat es sich angewöhnt, mich regelmäßig in »Krisensituationen« anzurufen, die mit Deckenabschlussleisten oder Wandfarben zu tun haben. Ich spiele zunächst mit dem Gedanken, ihren Anruf zu ignorieren, beschließe dann aber, dass es besser ist, mit meiner Schwester über die Farbe »Lavendelflüstern« zu diskutieren, als mit Charles zu reden, der gerade in einer langen Unterhose durch das Büro spaziert.

»Syd, hi«, sagt Libby in angespanntem Ton. »Sitzt du gerade?«

Wie auf Kommando nehme ich auf meinem Stuhl eine gerade Haltung ein. »Ja … warum?«

»Ich habe Neuigkeiten.« Sie holt tief Luft. »Matt und ich haben uns verlobt!«

Mein Magen krampft sich zusammen. Mir ist bewusst, dass das keine angemessene Reaktion ist, aber trotzdem reagiere ich so. »Was?«

»Ich bin verlobt«, wiederholt sie. Ein kurzer Moment Stille. »Hallo? Bist du noch da?«

»Ja … sorry. Wow. Gratuliere, Lib. Das sind … tolle Neuigkeiten.«

»Das klang fast aufrichtig«, erwidert sie.

»Tut mir leid, ich bin nur … Wie lange kennt ihr euch nun? Sechs Monate?«

»Sieben«, sagt sie. »Und es waren die wunderbarsten sieben Monate meines bisherigen Lebens. Ich dachte, du würdest dich für mich freuen.«

»Das tue ich. Sorry. Ich freue mich. Wirklich. Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke«, sagt sie. Ich kann hören, dass sie zufrieden lächelt.. »Und dabei dachten immer alle, dass du und Zach euch als Erste verloben würdet!«

»Ja. Dachte man.«

»Tut mir leid … ich wollte nicht … Das ist nur komisch, mehr nicht.«

Unsere Vorstellung davon, was »komisch« ist, gehört zu den vielen Dingen, die Libby und mich total voneinander unterscheiden. Wir sind nur drei Jahre auseinander, aber wenn man uns zusammen sieht, würde man nicht mal auf die Idee kommen, dass wir miteinander verwandt sind. Meine Schwester hat die honigblonden Haare unserer Mutter geerbt, die blauen Augen und die helle Haut, während ich nach meinem Vater komme: dicke braune Haare, so dunkel, dass sie beinahe schwarz erscheinen, grüne Augen und Sommersprossen, dazu ein drahtiger Körper. Im besten Fall kann ich süß aussehen – das klassische nette jüdische Mädchen aus gutem Hause –, aber Libby ist und war schon immer eine richtige Schönheit. Sie hat nie eine peinliche Phase durchgemacht, im Gegensatz zu mir, die fast die gesamte Teenagerzeit wie ein mutierter chinesischer Schopfhund aussah.

Auch wenn man sich mit uns unterhält, würde man nicht denken, dass wir Schwestern sind. Libby war in der Schule die beliebte Sportskanone, dazu prädestiniert, Kapitänin der Mädchenhockeymannschaft zu werden und später an der Uni Präsidentin ihrer Studentinnenverbindung. Sie datete mit einer solchen Häufigkeit und Begeisterung, dass ich den Überblick über ihren jeweiligen Favoriten des Tages verlor. In der einen Woche war es James Soundso, und in der nächsten Mike Wie-hieß-er-noch-gleich. Mit ihrem perlenden Lachen und ihrer aufgeschlossenen Art wurden die Männer von ihr angezogen wie Bienen von einem Honigtopf. Sie hatte kein Interesse daran, eine langfristige Beziehung einzugehen, aber nur weil sie wusste, dass sie immer ein Date in Aussicht haben würde, selbst wenn es jedes Mal mit einem neuen Verehrer war. Sie musste sich nicht einmal bemühen.

In der Zwischenzeit hatte ich Zach. Wir lernten uns in unserem ersten Jahr an der Lower Merion Highschool kennen, als wir beide bei der Schülerzeitung mitmachten, und ich war sofort von seinem linkischen, schiefen Lächeln und seinen großen braunen Augen angezogen. Die anderen Mädchen lachten wahrscheinlich über seine glatten braunen Haare, die vorne dank eines kräftigen Wirbels hochstanden, aber ich fand ihn hinreißend. Zach muss wohl dasselbe von mir gedacht haben, denn innerhalb einer Woche nach unserem Kennenlernen waren wir unzertrennlich. Wir waren wie zwei schwarze Jelly Beans in einem Meer von roten, zwei Nerds, die nirgendwo richtig dazupassten. Wir waren keine Außenseiter, wir waren nur … anders. Alte Seelen. Statt uns am Wochenende im Wald an einem Lagerfeuer zu betrinken, bekochten wir uns lieber gegenseitig und schauten uns die japanische Originalfassung von Iron Chef an. Als ich auf die Northwestern University ging und Zach nach Princeton, hielten wir während der gesamten Studienzeit eine Fernbeziehung aufrecht. Alle nahmen an, wir würden eines Tages heiraten. Auch ich dachte das. Doch dann belog Zach mich und brach mir das Herz.

»Du wirst natürlich die Trauzeugin sein«, sagt Libby.

»Bist du sicher?«

»Das ist deine Antwort? Ob ich sicher bin?«

»Es ist nur so, dass es hier auf der Arbeit drunter und drüber geht, und du weißt ja, dass ich wirklich schlecht bin im Organisieren von Festen. Ich möchte, dass du die Trauzeugin hast, die du verdienst.«

Libby grummelt in den Hörer. »Du bist die Trauzeugin, die ich haben möchte, okay? Aber wenn es dir lieber ist, dass ich jemand anderen aussuche, brauchst du es nur zu sagen.«

Realistisch betrachtet wäre es mir tatsächlich lieber, dass sie jemand anderen nimmt – nicht weil ich Libby nicht bei ihrer Hochzeit unterstützen möchte, sondern weil es nach allem, was ich durchgemacht habe … zu viel ist. Aber das kann ich ihr nicht sagen. Nicht wenn ich einen tränenreichen hysterischen Anfall vermeiden möchte und einen strengen Anruf von unserer Mutter.

»Natürlich werde ich deine Trauzeugin sein«, sage ich. »Ich fühle mich geehrt.«

Libby kreischt in den Hörer. »Fantastisch! Was hältst du davon, wenn du morgen Vormittag hierherkommst, und wir suchen die Kleider für die Brautjungfern aus?«

»Jetzt schon? Gibt es denn überhaupt schon einen festen Hochzeitstermin?«

»Der sechste August«, sagt sie.

»Aber das ist, was, in acht Monaten? Wozu die Eile? Ist da nicht bereits jede Menge ausgebucht?«

»Matt kennt die Hochzeitskoordinatorin vom Rittenhouse persönlich, und sie war ihm noch einen Gefallen schuldig. Wir hatten auch Glück mit dem Floristen und dem Fotografen, also sind wir ziemlich gut gerüstet.«

Das Rittenhouse. Eins der nobelsten Hotels in Philadelphia. Der Ort, von dem ich immer dachte, dass dort meine eigene Hochzeit mit Zach stattfinden würde. Nicht dass ich mir unsere Hochzeit im Detail ausgemalt hätte. Es war nicht gelogen, als ich zu Libby sagte, dass das Organisieren von Festen nicht meine Stärke sei. Aber einmal während der Highschoolzeit, als Zach und ich ein Picknick im Rittenhouse Square machten, sahen wir ein Brautpaar, das sich vor dem Hotel fotografieren ließ. Und während ich in mein Sandwich von Di Bruno Brothers biss, dachte ich: Wer weiß? Vielleicht werden wir dort eines Tages als Brautpaar posieren.

Natürlich verblasste diese Fantasie immer mehr, während die Jahre vergingen und mir klar wurde, was eine Hochzeit im Rittenhouse kosten würde. Und dann zerbrach die Beziehung mit Zach, also spielte es ohnehin keine Rolle mehr.

»Im Rittenhouse? Und Mom und Dad sind damit einverstanden?«

»Klar«, erwidert Libby. »Warum sollten sie nicht damit einverstanden sein?«

»Du weißt, dass sie seit einiger Zeit den Gürtel enger schnallen müssen …«

»Ja, aber es geht hier um meine Hochzeit. Und so wie es aussieht, wird es die einzige sein, die sie jemals ausrichten werden.«

»Danke, Lib…«

»Ich meine ja nur. Egal, also, kannst du morgen kommen?«

»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Züge überhaupt fahren. Der Schnee hat alles zum Erliegen gebracht. Und da ich kein Auto habe … Warum nehmen wir uns das nicht für ein anderes Mal vor?«

Sie seufzt. »Na schön. Trotzdem benötige ich Hilfe bei der Farbzusammenstellung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich für die Brautjungfernkleider jadegrünen Chiffon nehmen werde. Dann wäre die logische Farbergänzung für die Blumen Weiß und Gelb. Aber der Florist findet, dass ich eine dritte Akzentfarbe brauche, und ich habe keine Ahnung, was ich nehmen soll.«

Libby macht eine Pause, und es folgt ein langes Schweigen. Ich nehme mein Handy kurz vom Ohr weg, um mich zu vergewissern, dass ich sie nicht versehentlich weggedrückt habe. Sie ist noch dran. Und wartet scheinbar darauf, dass ich etwas sage.

»Syd? Hallo?«

»Ich bin da«, sage ich.

»Also, was soll ich tun? Was passt zu Gelb, Weiß und Grün?«

Die einzige Person, die weniger geeignet wäre als ich, um diese Frage zu beantworten, wäre wohl jemand, der zum einen farbenblind ist und zum anderen einen Penis hat. Meine Arbeitsgarderobe beschränkt sich auf fünf Paar Hosen – zwei schwarze, zwei graue und eine khakifarbene – und auf eine limitierte Auswahl von soliden Oberteilen in diversen Farben, von denen das »wildeste« ein roter Pullover ist. Mode war noch nie meine persönliche Stärke.

»Lib, du erzählst mir immer wieder, dass meine gesamte Garderobe ein modisches Verbrechen ist. Ich denke, du bist besser bedient, wenn du deine anderen Brautjungfern fragst. Oder Mom.«

»Mom ist noch unentschlossener als ich, und meine anderen Brautjungfern machen sich zu viele Gedanken um ihre eigene Hochzeit. Du bist die Einzige, die übrig ist.«

Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und schüttle den Kopf. »Okay … Wie wäre es mit … Lavendelblau? Oder Violett?«

»Matt hasst lila Blumen.«

»Augenblick, Matt hat eine Meinung zu Blumen? Welcher Mann hat eine Meinung zu Blumen?«

»Sydney, hör auf. Hilf mir lieber.«

Ich balle meine Hand zu einer Faust und beiße auf meinen Fingerknöchel. »Wie wäre es mit einem knalligen Pink? Das ist fröhlich und sommerlich.«

Libby bleibt stumm, während sie vermutlich über diese sehr wichtige Entscheidung nachdenkt, von der das Schicksal der menschlichen Rasse abhängt.

»Pink ist perfekt!«, sagt sie schließlich. »Siehst du, du hast ja doch ein Gespür für Mode. Man muss nur ein bisschen danach bohren.«

»Freut mich, dass ich dir von Nutzen sein konnte.«

»Du bist meine Trauzeugin«, erwidert sie. »Es ist dein Job, mir von Nutzen zu sein.«

»Ah«, sage ich. »Richtig.«

Diese Hochzeit wird mich umbringen.

Als ich auflege, kommt Melanie zu meinem Schreibtisch herübergestürmt und verschränkt die Arme vor ihrem Oberkörper.

»Hey, Popelgesicht«, blafft sie mich an. »Endlich fertig mit Telefonieren?«

In Zeiten wie diesen muss ich daran denken, dass Melanie als Nesthäkchen mit fünf Brüdern aufgewachsen ist. Feingefühl liegt nicht jedem im Blut. Witze über Aa und Popel scheinen allerdings mit Leichtigkeit zu fließen.

»Ja, was gibt’s?«

»Check mal deinen Posteingang. Ein Memo vom Senderchef. Es ist so weit.«

Ich scrolle durch meinen Posteingang und entdecke eine Nachricht vom Vorsitzenden des Senders, Andrew Halliday, mit dem Betreff »Umstrukturierungsmaßnahmen im Sender«.

Das lässt nichts Gutes ahnen.

Liebe Mitarbeiter,

die letzten zehn Jahre haben unserer Branche massive Veränderungen gebracht – sowohl was die Art der Berichterstattung betrifft als auch die Herausforderungen, mit denen wir durch andere Nachrichtenquellen konfrontiert sind. Bisher haben wir uns der Situation gewachsen gezeigt und unserem Publikum gut gedient. Unsere Berichterstattung ist heute stärker denn je zuvor. Das verdanken wir Ihnen allen.

Trotzdem ist nun der Zeitpunkt gekommen, an dem wir diese Veränderungen in unserer Branche direkt angehen müssen – nicht indem wir nur reagieren, sondern indem wir einen Plan umsetzen, mit dem wir einen Schritt voraus sind. Die digitale Nachrichtenwelt bietet Chancen und Herausforderungen zugleich, und um diese Herausforderungen zu überwinden und die Chancen wahrzunehmen, müssen wir überdenken, was wir tun und wie wir es tun.

Zu diesem Zweck werden wir unseren Sender auf eine möglichst kosteneffiziente Weise umorganisieren, um in diese neue Ära einzutreten …

Die E-Mail geht noch weiter und enthält Begriffe wie »Konsolidierung«, »Effizienzförderung« und »Abbau von Überkapazitäten«. Das Fazit? Sie werden Büros schließen, Jobs zusammenlegen und Leute entlassen.

»Heilige Scheiße«, sage ich, als ich die E-Mail zu Ende gelesen habe.

»Ich habe dir ja gesagt, dass das kommt.«

»Ja, aber mir war nicht bewusst … Ich meine, ich hätte nicht gedacht, dass es heute passieren wird. Beziehungsweise dass es so weitreichend sein wird.«

Melanie schiebt ihre Brille auf ihrer Nase hoch. »Niemand ist sicher. Jeder einzelne Job steht auf dem Prüfstand.«

»Wie viele Stellen werden sie abbauen?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Du wusstest schließlich auch von der Umstrukturierung, oder nicht?«

Sie streicht eine glatte Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Ich habe gehört, mindestens vierhundert Stellen.«

Meine Augen weiten sich. »Vierhundert?«

»Scheinbar spricht Halliday heute mit den Bürochefs. Um zu delegieren.«

Mein Herz schlägt schneller. Das hier mag vielleicht nicht mein Traumjob sein, aber ich bekomme dafür ein ansehnliches Gehalt und habe eine anständige Krankenversicherung. Und angesichts der Tatsache, dass ich mit der Miete im Rückstand bin und einen kniehohen Stapel von Rechnungen zu bezahlen habe, ist jeder Job besser als kein Job.

»Er teilt es uns nicht persönlich mit?«

»Ich denke, er möchte es so rasch wie möglich hinter sich bringen. Raus mit dem alten Jahr, rein mit dem neuen.«

Bevor ich meine Angst mit weiteren Fragen verschlimmern kann, kommt Charles an meinen Schreibtisch, und der Anblick seiner langen Thermounterhose verstärkt meine Übelkeit noch.

»Was sollen denn die ernsten Gesichter?«, fragt er uns.

»Check mal deinen Posteingang«, sagen Melanie und ich gleichzeitig.

Charles wirft einen Blick auf sein Smartphone, und sein blödes Grinsen verwandelt sich in ein betroffenes Starren, während er das zweiseitige Memo durchscrollt.

»Wie lange wisst ihr das schon?«

»Ich habe es gerade erst erfahren«, sage ich.

Charles nickt und scrollt ein zweites Mal durch die Mitteilung und dann noch ein drittes Mal. In den vier Jahren, die ich hier arbeite, habe ich ihn noch nie so ernst erlebt. Selbst als der Dow Jones innerhalb eines Tages um achthundert Punkte fiel und unser aller Zukunft vor unseren Augen zu zersplittern schien, brachte Charles mit dem einen oder anderen schlechten Witz oder einem dämlichen Spruch Leichtigkeit in die Redaktion. Aber nicht heute. Heute ist Charles’ Gesicht so weiß wie der Schnee draußen, und er sagt kein einziges Wort.

Während er die E-Mail ein viertes Mal liest, kommt Linda McCoy – eine Frau, mit der ich in meinen vier Jahren hier insgesamt nur zweimal gesprochen habe – in den Redaktionsraum, sehr elegant in einem schwarzen Hosenanzug, einem babyblauen Mantel und mit Perlenohrringen. Sie lächelt nicht. Die gesamte Redaktion starrt Linda an, während auch von uns keiner lächelt. Wir wissen, warum sie hier ist. Es ist nicht nötig, sich dumm zu stellen.

Linda streicht mit der flachen Hand ihren honigblonden Bob glatt und zupft an ihrem Blazer. »Ich hatte gerade ein Telefonat mit Andrew. Ich gehe davon aus, dass Sie alle seine Mitteilung gelesen haben.«

Wir nicken, langsam und fast unmerklich. Niemand möchte auffallen. Niemand möchte offen seine Angst zeigen oder den Eindruck vermitteln: Ich bin nervös. Ich weiß, dass mein Job an einem seidenen Faden hängt. Aber genau das denken wir alle. Wir denken auch: Wirf mich nicht raus. Wirf sie raus. Oder ihn. Aber nicht mich.

»Ich halte es für das Beste, wenn ich mit jedem Einzelnen von Ihnen ein persönliches Gespräch führe, über Ihre Zukunft hier und die Zukunft der Morning Show.«

Sie lässt ihren Blick durch die Redaktion schweifen, bis er auf mich fällt.

»Sydney«, sagt sie, »warum unterhalten wir uns nicht in meinem Büro?«

Sosehr ich auch versuche, mir einzureden, dass alles in Ordnung ist – dass Linda mit mir über die neuen Aufgaben sprechen wird, die ich übernehmen soll, und über die Kürzung meiner Altersvorsorge –, sehe ich an dem mitleidigen Ausdruck in ihren Augen, dass wir nichts dergleichen besprechen werden. Wir werden etwas viel Schlimmeres besprechen. Und jeder in diesem Redaktionsraum weiß es auch.

Kapitel 3

»Nehmen Sie Platz«, sagt Linda und deutet auf den glatten grauen Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Ich lasse mich auf den Stuhl sinken und klammere mich an den kalten Metallarmlehnen fest.

»Wie Sie wissen, durchläuft der Sender gerade einige große Veränderungen«, sagt sie. »Und eine dieser Veränderungen ist, die Arbeitsabläufe in der Washingtoner Redaktion zu konsolidieren.«

Ich nicke ernst, während mein Hals beginnt, sich zusammenzuschnüren.

»Die Senderleitung hat beschlossen, etliche Producer- und Reporterstellen zusammenzulegen und unsere digitale Präsenz zu erhöhen. Von daher werden sämtliche Associate Producer und Producer der Morning Show entlassen.«

Eine Welle der Übelkeit übermannt mich. »Alle? Und … wer wird dann die Morgenbeiträge produzieren?«

Linda presst die Lippen zusammen und räuspert sich. »Charles.«

»Charles?« Linda nickt. »Was ist mit Melanie?«

»Melanie wird einige ihrer bisherigen Aufgaben weiterführen und nebenbei helfen, die digitale Präsenz der Morning Show zu pflegen. Dort liegt nämlich die Zukunft unseres Geschäfts.« Linda faltet die Hände und legt sie auf den Tisch. »Aber leider bedeutet das, dass Ihre Arbeitskraft hier nicht länger gebraucht wird.«

Eine zweite Welle der Übelkeit bricht über mich herein. Das darf alles nicht wahr sein.

Meine Kehle zieht sich immer mehr zusammen, und ich muss mich anstrengen, überhaupt noch einen Ton herauszukriegen. . »Ist es … ist es, weil ich Charles heute Morgen die Ski habe durchgehen lassen?«

Linda zerknittert die Stirn und starrt mich fragend an. »Ich … wie bitte?«

»Die Liveeinspielung heute Morgen. Als Charles die Kamera umfuhr.«

Linda schüttelt langsam den Kopf, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, vermute ich, dass sie Charles’ Stunt des Tages gar nicht gesehen hat. »Nein«, sagt sie. »Das ist eine rein geschäftliche Entscheidung. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

Ich versuche, darauf zu antworten, aber im Moment bin ich nicht fähig, ganze Sätze zu bilden. Außerdem, was soll ich schon sagen? Soll ich Linda zustimmen und sagen »Ja, natürlich verstehe ich das«? Das wäre eine Lüge. Ich verstehe es nicht. Ich habe mir hier vier Jahre lang den Arsch aufgerissen. Offen gesagt, wenn ich nicht gewesen wäre, hätte Charles den Sender wahrscheinlich in einen hässlichen Rechtsstreit verwickelt.

»Sie müssen innerhalb der nächsten Stunde Ihren Schreibtisch räumen und das Gebäude verlassen«, sagt Linda.

Ich sehe auf meine Uhr. »Innerhalb der nächsten Stunde?«

Sie seufzt. »Tut mir leid. Das ist nicht meine Entscheidung, sondern Firmenpolitik.«

Ich schicke mich an, von meinem Stuhl aufzustehen, aber dann fällt mir etwas ein, das ich für einen Bericht zum Thema Arbeitslosigkeit gelesen habe, den wir gemacht haben. »Mit was für einer Abfindung kann ich rechnen?«

»Aufgrund der finanziellen Belastungen des Senders fallen die Abfindungen leider nicht mehr so großzügig aus wie früher. Sie erhalten Ihren Lohn bis einschließlich heute plus ein Monatsgehalt – eine Woche für jedes Jahr, das Sie bei uns beschäftigt waren.«

Ich überschlage die Zahlen im Kopf. Das reicht nicht einmal, um meine Miete abzudecken, berücksichtigt man, dass ich mit den Zahlungen in Verzug bin wegen einer absurd teuren Kieferoperation vor zwei Monaten, die meine Versicherung nicht übernommen hat. Ganz zu schweigen davon, dass dann noch Geld für andere Dinge übrigbleibt wie Lebensmittel oder Heizung oder derartigen Luxus.

Linda greift in ihre Schublade und übergibt mir ein dickes Bündel Unterlagen. »Hier drin finden Sie alle Informationen zu den Abfindungszahlungen sowie einen Leitfaden zu den Themen Arbeitslosenversicherung und Wiedereingliederungsmaßnahmen.« Sie schiebt ihre Schublade zu und schüttelt den Kopf. »Es tut mir wirklich leid. Keiner von uns hat sich das gewünscht.«

Ich blättere kurz durch den Papierstapel und schenke Linda dann einen letzten prüfenden Blick, in der Hoffnung auf die minimale Chance, dass Linda erkennt, dass sie einen Fehler gemacht hat. Aber sie starrt einfach nur zurück, während ihre Lippen einen schmalen Strich bilden.

Sie beugt sich über ihren Schreibtisch und gibt mir einen kräftigen Händedruck. »Alles Gute«, sagt sie. Dann deutet sie auf die Tür. »Bitte schicken Sie Abby zu mir, wenn Sie an Ihren Schreibtisch zurückkehren.«

Alles Gute? Alles Gute? Nein, Linda, es wird mir nicht gut gehen. Vielmehr wird es mir sehr, sehr schlecht gehen, herzlichen Dank auch. Ich hatte meine Bedenken bei diesem Job, aber irgendwie macht das die Tatsache, dass sie ihn mir weggenommen haben, sogar noch schmerzhafter. Das ist, als würde man von jemandem den Laufpass bekommen, den man nicht leiden kann. Und alles, was man denken kann, ist: Ich sollte diejenige sein, die DIR den Laufpass gibt.

Als ich in die Redaktion zurückkehre, verfolgen sämtliche Augen meinen Weg zu meinem Schreibtisch. Ich erhasche einen kurzen Blick auf Charles, der immer noch keine richtige Hose anhat und trotzdem einer von zwei Leuten in diesem Raum ist, die in einer Stunde noch einen Job haben werden. Das muss ein Vorzeichen der Apokalypse sein.

»Linda möchte dich sehen«, sage ich zu Abby, während ich mein Arbeitslosenpaket auf meinen Schreibtisch fallen lasse. Ich reiße meine oberste Aktenschublade auf und fange an, meine Mappen neben meinem Computer zu stapeln.

»Was ist da drinnen passiert?«, fragt Melanie.

»Ich habe eine Stunde Zeit, um meinen Schreibtisch zu räumen. Ich bin raus.«

Charles klopft mit einem Stift gegen sein Computergehäuse. »Hat Linda sich über den Rest von uns geäußert?«

»Es ist mir nicht gestattet, Details aus unserem Gespräch wiederzugeben.«

Melanie verdreht die Augen. »Oh bitte. Wir erfahren es doch ohnehin innerhalb der nächsten Stunde.«

Ich drehe mich zur Klatschkönigin um, der einzigen Producerin unter uns, die bleiben darf, und zucke mit den Achseln. »Dann könnt ihr auch solange warten.«

Die Einzelgespräche verlaufen kurz und planmäßig, und nachdem Linda mit der ganzen Belegschaft durch ist, kommt die Stimmung in der Redaktion der auf einer Beerdigung gleich. Selbst Charles und Melanie, die einzigen zwei von uns, die ihre Jobs noch haben, machen ein Gesicht, als hätten sie am selben Tag ihren Familienhund und dazu noch ihren besten Freund verloren. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Sie werden von nun an die Aufgaben von zwei oder drei Leuten für weniger Geld und weniger Zusatzleistungen übernehmen, und keiner der beiden hat sich das freiwillig ausgesucht.

Es gelingt mir, alle meine Papiere und meinen ganzen Krimskrams in einem großen Karton unterzubringen, den ich im Lager gefunden habe. Der einzige Nachteil ist, dass der Karton nun ungefähr sechshundert Pfund wiegt und dass draußen meterhoch Schnee liegt, dass ich zwölf Blocks von hier entfernt wohne und dass ich niemanden habe, der mir hilft.

»Würde es euch was ausmachen, wenn ich meinen Karton unter einem von euren Schreibtischen deponiere? Ich komme ihn dann abholen, sobald die Straßen einigermaßen freigeräumt sind.«

»Ich glaube nicht, dass du das Gebäude wieder betreten darfst«, sagt Melanie. Dann winkt sie mich zu ihrem Tisch. »Schieb ihn einfach hier rüber und ruf mich an, wenn du ihn abholen willst. Ich bringe ihn dir dann runter.«

Ich schiebe meinen Karton hinter ihren Schreibtisch und umarme sie und Charles unbeholfen, bevor ich mich von Tony und meinen paar anderen Freunden in der Redaktion verabschiede.

»Was hast du jetzt vor?«, fragt Melanie, als ich mir meine Jacke und meine Handschuhe anziehe.

Ich werfe einen letzten Blick durch das Büro, ziehe meine Fleecemütze auf und klatsche in meine behandschuhten Hände. »Mich besaufen.«

Kapitel 4

Das Problem, wenn man an einem der verschneitesten Tage in der Geschichte Washingtons mittags entlassen wird? Es gibt keinen Ort, wo man sich betrinken kann, außer der eigenen Wohnung. Und wenn der einzig genießbare Alkohol in dieser Wohnung aus einer halb leeren Flasche Wodka und ein paar Ginfläschchen aus dem Flieger besteht … na ja, sagen wir einfach, dann ist die Situation nicht gerade Erfolg versprechend.

Ein Hochgeschwindigkeitswind schlägt mir entgegen, während ich in meinen klobigen Stiefeln zwischen den Schneebergen hindurchstapfe, das Kinn fest an meine Brust gedrückt, und mir die Tränen über das Gesicht strömen. Eine Wohnung zu mieten, die zwölf Blocks von der Redaktion entfernt war, schien vor sechs Monaten, als ich den Mietvertrag unterschrieb, in den milden Tagen Anfang Juni, eine fabelhafte Idee zu sein. Zwölf Blocks: einen Tick zu nah, um öffentliche Verkehrsmittel zu rechtfertigen, aber mehr als ein zehnminütiger Fußweg. Ich sagte mir, dass mein Arbeitsweg mein täglicher Sport sein würde, als wäre Sport jemals eine Priorität von mir gewesen. Außerdem war die Miete erstaunlich günstig – aber offensichtlich nicht günstig genug in Kombination mit meinen Zahlungen an Doktor Larry Gopnik, seines Zeichens Kieferorthopäde. Nun wünschte ich, ich hätte etwas mehr Geld investiert und mir eine Wohnung in der Nähe einer U-Bahnstation genommen, denn vor lauter Wind und Schnee spüre ich mein Gesicht nicht mehr, und mein linker Zeigefinger ist vielleicht nie wieder zu gebrauchen. Außerdem wohne ich nun zwölf Blocks von einem Büro entfernt, das ich nie wieder aufsuchen werde.

Meine Wohnung befindet sich auf der Swann Street, zwischen der Vierzehnten und der Fünfzehnten Straße, in einem irgendwie undefinierten Wohnviertel, eingequetscht zwischen dem Logan Circle und dem Dupont Circle. Die Vierzehnte Straße war jahrelang, zumindest inoffiziell, als Washingtons Rotlichtmeile bekannt, die eher durch Drogenhandel und Prostitution von sich reden machte als durch Biomärkte und kleine Kunstgalerien. Aber während der letzten zehn Jahre oder so wurde das Viertel gentrifiziert, und heute ist die Vierzehnte Straße einer von Washingtons angesagtesten Orten, wo scheinbar jede Woche ein neues Restaurant oder Café eröffnet wird.

Meine Straße verläuft von Ost nach West und ist auf beiden Seiten von schmalen bunten Wohnhäusern gesäumt, die sich alle nahtlos aneinanderreihen wie Buntstifte in einer Box und die mit ihren kleinen Vorgärten direkt an den rot gepflasterten Gehweg grenzen. Im Gegensatz zu den hohen, dreistöckigen Reihenhäusern in Dupont Circle sind die Häuser auf meiner Straße niedriger und haben jeweils nur ein Obergeschoss, flache Dächer und schlichte Eingangstreppen. Bei manchen handelt es sich um Einfamilienhäuser, aber viele andere, wie auch unser Haus, wurden in separate Wohnungen aufgeteilt. Ich bewohne die obere Etage, während im Erdgeschoss ein drahtiger Einzelgänger um die vierzig namens Simon lebt.

Als ich mich unserem Haus nähere, mit seiner buttergelben Fassade, eingerahmt von einer bordeauxroten Häuserfront rechts und einer kobaltblauen links, entdecke ich Simon, der gerade den Gehweg vor unserem schmiedeeisernen Zaun freischaufelt und dabei etwas vor sich hin summt, das wie ein Trauergesang klingt. Nach dem Tag, den ich heute hatte, sollte ich wahrscheinlich mein eigenes Klagelied anstimmen.

»Hallo, Simon. Kann ich helfen?«

Er hebt den Kopf, mit blassem, ausdruckslosem Gesicht, und starrt mich hohläugig an. »Nein. Das schaff ich alleine.«

»Sicher?«

Er stößt seine Schaufel in den Schnee und wirft dann eine Ladung über seine Schulter. »Ja.«

Simon wohnte bereits im Erdgeschoss, als ich in das Haus einzog. Wir sehen uns kaum, da Simon seinen eigenen Wohnungseingang hat und ich einen privaten Zugang zur Treppe, die direkt in meine Wohnung führt. Unsere Begegnungen beschränken sich also meistens darauf, dass ich Hallo sage und Simon eine unverständliche Antwort brummt. Simon erinnert mich ein bisschen an ein Nagetier, mit seiner spitzen Nase, den blondierten Haaren und den Knopfaugen, die oft rot unterlaufen sind. Aber nachdem ich früher in Georgetown Tür an Tür mit einer Horde lauter Studenten wohnte, ist mir ein stiller Introvertierter jederzeit lieber als ein Burschenschaftler.

Ich gehe die Außentreppe hoch und checke meinen Briefkasten, in dem ich einen zusammengefalteten gelben Zettel finde. Als ich ihn auseinanderfalte, sehe ich, dass es eine Nachricht von Al ist, meinem Vermieter, in fetten Großbuchstaben:

BRAUCHEDIEDEZEMBERMIETESOSCHNELLWIEMÖGLICH. SIESINDINVERZUG. SCHONWIEDER.

Perfekt. Als wäre dieser Tag nicht bereits ein Tritt in die Eingeweide.

Ich stecke den Zettel in meine Jackentasche und schließe die Haustür und dann meine Wohnungstür auf, bevor ich die Treppe hochstapfe, die direkt in mein Wohnzimmer führt. Kaum bin ich oben, lasse ich meine Jacke und meine Tasche auf den Boden fallen, streife meine Stiefel ab, schnappe mir eine Handvoll Miniaturflaschen von meinem Schrank und lasse mich auf meine plüschige graue Couch plumpsen.

Ich lege meine Füße auf die Armlehne und trinke den Gin direkt aus den Spielzeugfläschchen, während ich über all die Arten nachdenke, auf die diese Situation total scheiße ist. Es war nie mein Wunsch, für das Frühstücksfernsehen zu arbeiten. Vielmehr wollte ich Journalistin werden und über Kulinarisches schreiben, über die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Kultur berichten, Köche und Bäcker und Feinschmecker interviewen, um mich über neue Kochtechniken und Ernährungstrends zu informieren. Das sind die Sachen, die mich reizen, über die ich tagelang lesen könnte. Einmal während meiner Collegezeit war ich in der S-Bahn nach Chicago so sehr in Die Heldin am Herd von Ruth Reichl vertieft, dass ich meine Haltestelle verpasste und wieder dort landete, wo ich losgefahren war, in Evanston. Ich liebte es, in Reichls Geschichten einzutauchen – so sehr, dass ich das Essen, das sie beschrieb, fast schmecken konnte. Und obwohl ich kein Interesse daran hatte, Restaurantkritikerin zu werden, wollte ich dennoch die Welt der Lebensmittel und ihre Zubereitung durch das Schreiben erforschen, so wie Reichl das tat.

Das Problem war natürlich, dass ich nach dem College keinen solchen Job finden konnte oder jedenfalls keinen solchen Job, in dem man Geld verdienen konnte. Die einzigen Angebote, die ich bekam, waren unbezahlte Praktika, die ich mir ohne die Unterstützung meiner Eltern nicht leisten konnte, und da ich wusste, dass meine Eltern nicht die Mittel hatten, um mich zu finanzieren, machte ich mir erst gar nicht die Mühe, sie zu fragen. Ich bewarb mich auf eine Stelle in einer kleinen neugegründeten Internetredaktion, aber das Büro war in Fort Lauderdale, was nach vier Jahren Fernbeziehung weiter weg war, als ich von Zach entfernt sein wollte, der damals kurz davor stand, auf die juristische Fakultät der Columbia University in New York zu wechseln. Ich frage mich oft, was passiert wäre, wenn ich diesen Job angenommen hätte – ob ich dann die journalistische Karriere eingeschlagen hätte, die ich mir immer erträumt habe, oder ob dieser Traum einfach nicht dazu bestimmt ist, wahr zu werden.

Da sich keine anderen Angebote für meinen Traumjob auftaten, nahm ich die beste Stelle im Medienbereich, die ich kriegen konnte, und malte mir aus, dass ich mit ein bisschen Geschick den Wechsel von der Fernsehbranche in den bezahlten Food-Journalismus schaffen konnte. Naiv? Wahrscheinlich. Aber ich dachte, ich könnte es hinbekommen. Ich führte ungefähr ein Jahr lang den Food-Blog fort, den ich im College begonnen hatte, und wann immer sich die Gelegenheit bot, produzierte ich für die Morning Show Geschichten, die mit Ernährung zu tun hatten, zum Beispiel einen Beitrag über Agrarsubventionen, der uns ins Loudoun County führte, oder einen Bericht über den Cupcakewahn, der die Hauptstadt der Nation erfasst hatte. Manchmal kam es mir vor, als versuchte ich, zwei Teile, die zu zwei völlig verschiedenen Puzzles gehörten, gewaltsam zusammenzufügen, aber ich tat trotzdem mein Bestes, um den Job für mich passend zu machen. Es war keine perfekte Verbindung, aber gut genug, zumindest solange, bis ich die Journalistenstelle gefunden haben würde, die ich immer wollte. Was natürlich nie passierte.

ENDE DER LESEPROBE