Ein Hof und elf Geschwister - Ewald Frie - E-Book + Hörbuch

Ein Hof und elf Geschwister Hörbuch

Ewald Frie

0,0

Beschreibung

Die stolze bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit ist im Laufe der Sechzigerjahre in rasantem Tempo und doch ganz leise verschwunden. Ewald Frie erzählt am Beispiel seiner Familie von der großen Zäsur. Mit wenigen Strichen, anhand von vielsagenden Szenen und Beispielen, zeigt er, wie die Welt der Eltern unterging, die Geschwister anderen Lebensentwürfen folgten und der allgemeine gesellschaftliche Wandel das Land erfasste. Zuchtbullen für die monatliche Auktion, Kühe und Schweine auf der Weide, Pferde vor dem Pflug, ein Garten für die Vorratshaltung – der Hof einträglich bewirtschaftet von Eltern, Kindern und Hilfskräften. Das bäuerliche Leben der Fünfzigerjahre scheint dem Mittelalter näher als unserer Zeit. Doch dann ändert sich alles: Einst wohlhabende und angesehene Bauern gelten trotz aller Modernisierung plötzlich als ärmlich und rückständig, ihre Kinder riechen nach Stall und schämen sich. Wege aus der bäuerlichen Welt weist die katholische Kirche mit neuer Jugendarbeit. Der Sozialstaat hilft bei Ausbildung und Hofübergabe. Schon in den Siebzigerjahren ist die Welt auf dem Land eine völlig andere. Staunend blickt man zurück, so still war der Wandel: "Mein Gott, das hab ich noch erlebt, das kommt mir vor wie aus einem anderen Jahrhundert." Ewald Frie hat seine zehn Geschwister, geboren zwischen 1944 und 1969, gefragt, wie sie diese Zeit erlebt haben. Sein glänzend geschriebenes Buch lässt mit treffsicherer Lakonie den großen Umbruch lebendig werden.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:5 Std. 24 min

Sprecher:Günter Schoßböck

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ewald Frie

Ein Hof und elf Geschwister

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland

C.H.Beck

Zum Buch

Die stolze bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit ist im Laufe der Sechzigerjahre in rasantem Tempo und doch ganz leise verschwunden. Der Historiker Ewald Frie erzählt am Beispiel seiner Familie von diesem stillen Abschied. Mit wenigen Strichen, anhand von vielsagenden Szenen und Beispielen zeigt er, wie die Welt der Eltern unterging, die Geschwister anderen Lebensentwürfen folgten und der allgemeine gesellschaftliche Wandel das Land erfasste. Sein glänzend geschriebenes Buch verwebt meisterhaft die eigenen Erfahrungen mit zeitgeschichtlichen Zusammenhängen und lässt so den großen Umbruch auf dem Land lebendig werden.

Über den Autor

Ewald Frie wurde 1962 als neuntes von elf Kindern einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland geboren. Er ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem der Bestseller «Die Geschichte der Welt» (4. Aufl. 2019, 2. Aufl. in C.H.Beck Paperback 2020).

Inhalt

1 •: Familie, Bauerschaft und Dorf

Elf Geschwister

Siebzehn Höfe

Viele im Dorf

2 •: Die Jahre meines Vaters

Züchten

Arbeiten

Glauben

Feiern

3 •: Die Jahre meiner Mutter

Ankommen

Gestalten

Anpassen

Entwerfen

4 •: Auszug

Siebzehn A

Elf

Zwei

5 •: Nachwelten

Dank

Die Geschwister

Anmerkungen

1 •Familie, Bauerschaft und Dorf

2 •Die Jahre meines Vaters

3 •Die Jahre meiner Mutter

4 •Auszug

5 •Nachwelten

Quellen

Literatur

1 •

Familie, Bauerschaft und Dorf

Elf Geschwister

Zweimal haben meine Eltern einen Fotografen beauftragt, ihre Familie ins Bild zu setzen. 1947 präsentieren sie in dunkler Festtagskleidung ihre beiden Ältesten. Glücklich wirkt die junge Familie nicht, eher pflichtbewusst und auch ein wenig angestrengt. Nur der kleine Kaspar fällt aus dem Rahmen mit seinem neugierigen, erwartungsfrohen Blick. Vielleicht sieht er aber auch nur schlecht, er wird zeitlebens eine Brille tragen müssen.

1960 präsentiert sich eine Großfamilie: Hermann, der zukünftige Hoferbe, 1944 geboren, wirkt dreizehn Jahre nach seinem ersten Familienbild beinahe erwachsen. Kaspar (geboren 1946) trägt ebenfalls schon Krawatte, hat aber eine andere Rolle. Er verbrachte die zweite Hälfte der 1950er-Jahre in einem katholischen Internat, lernte Latein und Griechisch und kam nur in den Ferien nach Hause. Wilhelm (geboren 1948) in Jackett und kurzen Hosen steht mit seinen zwölf Jahren am Ende der Kindheit. Er wirkt fast finster entschlossen. Mechthild (geboren 1950) hat ihren Platz ziemlich in der Mitte des Bildes gefunden. Sie weiß um ihre besonderen Aufgaben als älteste Tochter. Diese vier werden nachher von den Jahren meines Vaters berichten, die ihre Kinderjahre waren. 1960 waren sie aber nicht mehr allein. Katharina (geboren 1954) sieht stolz ihrer Einschulung entgegen. Gregor (geboren 1956) und Paul (geboren 1958) in Kleinkindpluderhosen orientieren sich an ihrer Mutter. Diese drei vor allem werden in der Mitte des Buches von den Jahren meiner Mutter erzählen, die ihre Kindheit prägten.[1]

•  Die Familie 1947

Ein drittes professionelles Familienportrait gibt es nicht. Letztmals kam 1968 ein Fotograf ins Haus, als meine Eltern Silberhochzeit feierten. Er lichtete die Festgesellschaft ab, und zusätzlich auch mich, ganz allein. Ich hatte den Fototermin verpasst und danach so lange und hemmungslos geweint, bis der Fotograf erneut erschien und ein Bild von mir vor unserem Bauernhof schoss. Leider hat es sich nicht erhalten. Als ein Jahr später meine kleine Schwester Martina geboren wurde, hatte das Fotografieren bei uns gerade den Alltag erreicht. Die meisten Bilder waren farbig, die Welt wurde bunt. Noch aber beherrschte die Technik nicht jeder. Auf dem dritten Familienbild, das erst- und letztmals unsere Eltern und elf Kinder zeigt, drängen sich alle Personen in der linken Bildhälfte vor dem Haupteingang unseres Hofes zusammen. Kaspar und Gregor haben es nur knapp und teilweise ins Bild geschafft. Dafür zeigt die rechte Seite Büsche. Zu ändern war das nicht. Fotografie war analog und kostete Geld. Es gab daher nur einen Versuch. Als das Bild Wochen später aus dem Fotoladen kam, war es zu spät für eine Wiederholung.

•  Die Familie 1960

Die hintere Reihe des Fotos zeigt Männerköpfe. Wilhelm erneut rechts außen, diesmal aber erwachsen und zuversichtlich. Daneben der Hoferbe Hermann, Vater und eine Gesichtshälfte von Kaspar. In der Mitte halten drei Frauen das Bild und die Familie zusammen. Mutter präsentiert die Hauptattraktion des Tages. Katharina ist den beiden am nächsten, sie wird an diesem Tag zur Patin von Martina. Mechthild hält Matthias, den Zweitjüngsten (geboren 1966), auf dem Arm, dessen Patin sie drei Jahre zuvor geworden war. Vorn sind die jüngeren, aber schon selbständigen Geschwister. Gregor ist nicht nur gleich alt wie Wilhelm auf dem letzten Bild, sondern hat auch dessen trotzige Haltung und die etwas unentschiedene Kleiderwahl übernommen. Paul scheint seine kleine Schwester Anna (geboren 1961) zur Seite schieben zu wollen, die aber mit mir (geboren 1962) im Vordergrund bleibt. Wir zwei haben ebenso wie die beiden Jüngsten die Jahre meines Vaters nicht mehr bewusst erlebt. Die Jahre meiner Mutter und der Auszug sind die Themen, zu denen wir uns nachher äußern werden.

•  Die Familie 1969

Überinterpretiere ich das Bild, wenn ich eine Mischung aus Freude und Erleichterung in den Gesichtern vor allem der Frauen entdecke? Unter den großen Geschwistern hatte es Unbehagen und auch Sorge wegen der immer neuen Schwangerschaften meiner Mutter gegeben. War das verantwortbar? Zeitgemäß? Doch nun war Martina da. Dass alle überlebenden Kinder gesund geboren und aufgewachsen sind, hat Mutter in Gesprächen immer wieder als großes Glück bezeichnet.

Als Martina getauft und das Foto geschossen wurde, waren wir laut amtlicher Statistik keine Familie. Ihren Kriterien folgend sind wir nie eine Familie mit elf Kindern gewesen, denn die Statistik zählt nur ortsanwesende Kinder eines Elternpaares. Nie aber haben alle elf Kinder gleichzeitig an einem Ort gewohnt. Kaspar und Wilhelm teilten sich 1969 bereits eine Studentenwohnung in Münster. Immerhin aber haben wir von 1969 bis 1971 den Heiligen Abend gemeinsam am Herdfeuer und im Besten Zimmer unseres Bauernhofes gefeiert. Dreimal waren elf Kinder und ihre Eltern in Gesang und Gebet vereint. Dann heirateten Hermann und Mechthild. Sie feierten nun für sich. Die anderen Kinder würden das nach ihrer Heirat ebenfalls tun. Allmählich nahm die Kinderzahl am Heiligen Abend wieder ab.

Meine Mutter rettete die Familie mit dem Heiligenkalender. Am ersten Sonntag nach Weihnachten wird seit der Liturgiereform 1969 in der Katholischen Kirche das Fest der Heiligen Familie gefeiert. An ihr orientierten wir uns, trotz unserer ungleich höheren Kinderzahl. Am Fest der Heiligen Familie kamen alle Kinder mit ihren Kindern bei meinen Eltern zusammen. Es gab Kuchen, anschließend einen Spaziergang. Dann wurden die Kerzen am Weihnachtsbaum entzündet und so viele Weihnachtslieder aus dem katholischen Gebetbuch gesungen wie eben möglich. Enkelkinder trugen Gedichte und Lieder vor. Das Abendessen war ebenso wie der Kuchen am Nachmittag eine Gemeinschaftsproduktion der Gäste. Anschließend bildeten sich Gesprächs- und Doppelkopfgruppen. Um Mitternacht löste sich das Fest auf. Wer noch zu Hause wohnte, spülte nun eine Weile Geschirr. Eine Spülmaschine gab es nicht. Irgendwann am Spätnachmittag wurde meist ein Foto der Weihnachtsgemeinschaft geschossen, mit immer mehr Enkelkindern darauf. Ein Bild der Geschwister allein, wie noch 1969, kam erst nach dem Tod meiner Eltern wieder zustande. Bis dahin verstanden wir uns als immer weiter wachsende Großfamilie, nicht als Geschwistergruppe.

Meine Eltern hatten ihre Geschwister nie in vergleichbaren Konstellationen getroffen. Die Eltern meines Vaters und der Vater meiner Mutter waren früh gestorben. Die Geschwister besuchten sich gegenseitig. Sie machten anlässlich von Namenstagen, die im katholischen Münsterland wichtiger waren als Geburtstage, «Visiten». Seit das Auto in den 1950er-Jahren das Pferd ersetzt hatte, begannen Visiten mit dem Nachmittagskaffee. Tagelang waren zuvor Torten gebacken worden. Das Regiment in unserer Küche übernahm Tante Irene aus dem Dorf, in den 1950er-Jahren assistiert von ein oder zwei «Stützen», jungen Frauen, die bei uns wohnten und meiner Mutter im Haushalt halfen. «Da wurde sozusagen Hof gehalten», erinnert sich Katharina an den Aufwand, den sie als Kind noch miterlebt hat. Nach dem Kaffee gingen die Männer in den Stall oder auf die Wiese. Kühe wurden begutachtet, ihr Aussehen, ihre Milchleistung und ihre Vorfahren verglichen. Die Perspektiven von Rindern und Kälbern wurden diskutiert und mit ihnen die Zukunft des Hofes. Tagelang waren meine älteren Geschwister vor der Visite damit beschäftigt gewesen, Ställe auszumisten, Stallfenster zu putzen und Gänge zu schrubben. Am Mittag waren die Kühe ein letztes Mal gereinigt und gebürstet worden. Der äußere Eindruck zählte bei Bauern und Rinderzüchtern, auch wenn sie Brüder und Schwäger waren. Einzige Ausnahme war die Familie der ältesten Schwester meines Vaters. Als Einzige im Geschwisterkreis meiner Eltern hatte sie mehr als die Volksschule besucht und eine Zeitlang jenseits der Landwirtschaft gegen Geld gearbeitet. Sie hatte einen Lehrer und späteren Schuldirektor geheiratet. Der wohnte in der Stadt, ging in den Zoo und interessierte sich für Tiere aus Afrika, wenn sie von Professor Grzimek und anderen in Radio und Fernsehen vorgestellt wurden. Er wusste nichts über Rinder und wollte möglicherweise auch nicht allzu viel darüber wissen. Meine Tante erschien irgendwann ohne ihn zur Visite, was alle Männer vernünftig gefunden haben dürften.

Meine Mutter ging derweil mit Schwestern und Schwägerinnen durch den Garten. Von seinen Erträgen lebten wir bis in die 1960er-Jahre. Fleisch kam von unseren Schweinen, für die ebenfalls Frauen und Kinder verantwortlich waren. Anschließend ging’s in den Keller. Äpfel- und Kartoffelvorräte sowie eingekochtes Obst in blank geputzten Einweckgläsern wurden begutachtet. Das anschließende Abendessen bereitete meinen Eltern weniger Sorgen als die Rundgänge zuvor. Tante Irene und die Stützen würden gute Arbeit leisten. Nach dem Essen tranken die Frauen Wein und Likör. Die Männer spielten Doppelkopf bei Bier und Schnaps. Meine Geschwister waren fasziniert und auch ein wenig erstaunt. Geld wechselte schnell und scheinbar bedenkenlos den Besitzer – dabei war es immer knapp und wurde gut gehütet. Doch ohne Geld, so mein Vater lakonisch, fehle dem Spiel die «Andacht». Das Ende des Abends bestimmten die Männer. Ihr letztes Spiel musste zwei Bedingungen erfüllen: Der Hausherr musste gegeben und die Kreuz-Damen mussten gewonnen haben. Das konnte dauern. Der Alkoholkonsum beider Geschlechter war beträchtlich, nahm aber über die Jahre ab. Einerseits wurden alle älter. Andererseits fanden die Autos, anders als die Pferde, im Notfall den Weg nach Hause nicht allein.

Aus Fotografien, raren Schriftzeugnissen, Wikipedia und den Erinnerungen meiner Geschwister habe ich diese Familienszenen rekonstruiert. In ihnen spiegelt sich die Geschichte der Bundesrepublik, aus dem ungewöhnlichen Blickwinkel einer katholischen Bauernfamilie jenseits des Dorfes. Elf Geschwister erleben Wandel: von Familie und Bauerngesellschaft, von Arbeit und Fest, von Katholizismus und Alltagsreligiosität, von Essen und Trinken, von Spiel und Schule. Jedes Kind hat sein Leben: Hermann wurde im Zweiten Weltkrieg geboren, Martina knapp zwei Monate vor der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler. Bei Hermanns Geburt war der Vater mit 34 Jahren etwas älter, die Mutter mit 22 Jahren deutlich jünger als in dieser Zeit üblich. Die schnell wachsende Geschwisterzahl war während seiner Kindheit nicht ungewöhnlich. Martina hatte in einer Zeit, als frühe Heirat und Mutterschaft modern waren, geradezu greisenhafte Eltern: Vater war bei ihrer Geburt 59, Mutter 47 Jahre alt. Die Zahl ihrer Geschwister lag außerhalb des Vorstellungshorizonts ihrer Freundinnen. Jedes Kind musste sich mit seiner Familiengeschichte in einer anderen Umwelt positionieren und daraus Sinn machen. Die Familiengeschichte, die Sinngebung und ihre Rahmen aber wandelten sich, und das interessiert mich.

Alle meine Geschwister haben nach den Maßstäben ihrer Zeit die Schule gut überstanden und wurden beruflich erfolgreich. Mein ältester Bruder hat die Veränderung der ländlichen Welt mitgestaltet. Wir anderen haben sie verlassen, ausgestattet mit der neuen Währung, die nicht mehr Vieh und Land, sondern Bildung hieß. Die meisten von uns haben studiert. Ich bin der Einzige, der die Universität nicht hat verlassen können. Mit meiner professionellen Kompetenz als Historiker blicke ich auf meine Geschwister und mich selbst. Ich verstehe uns als Tor zu einer Geschichte der Bundesrepublik. Ich erzähle sie aus transkribierten Interviews, die ich im Sommer 2020 geführt habe. Ich habe eine Rundreise durch die Republik unternommen: von Tübingen, wo ich wohne, durch das Rheinland und Westfalen, wo die meisten meiner Geschwister heute leben, bis zur Ostsee. In jedem Zuhause habe ich einen Nachmittag und einen Vormittag verbracht und ein leitfadengestütztes Interview geführt. Natürlich sind die Gespräche nicht einfach Geschichte. Meine Geschwister und ich erinnern uns zwar nicht im Modus von «Früher war alles besser!». Aber unsere Erzählungen folgen auch einer Logik: «Wie war das möglich?», fragen wir, oder: «Wie wurde ich trotzdem Ich?» Doch die Logiken machen die Erzählungen nicht wertlos. Sie weisen hin auf den Wandel von Normen und Gewohnheiten. Und die verarbeiteten Geschehnisse, Momente des Arbeitens und des Außeralltäglichen, des Streits und der Versöhnung, weisen hin auf Lebenswelten, die auf- und untergegangen sind.

Ich erzähle eine Geschichte, in die ich selbst verstrickt bin. Das ist schwierig. Ich weiß mehr, als ein Fremder wissen könnte. Aber ich bin voreingenommen. Und ich werde nicht alles erzählen, was ich weiß. Schließlich will ich mit meinen Geschwistern weiterhin Feste feiern und Doppelkopf spielen. Ich habe ihnen in diesem Text neue Namen gegeben. Sie sind dadurch noch mehr «meine» Geschwister, die Familie ist noch mehr «meine» Familie geworden, eine Familie, wie sie niemand sonst von meinen Geschwistern im Kopf hat. Die Familie ist mir sehr nahe. Aber ich versuche sie auf Distanz zu halten, um sie beobachten zu können: durch erlernte geschichtswissenschaftliche Techniken, durch Interviews und deren Vergleich, durch Archivrecherchen, durch die Lektüre des Landwirtschaftlichen Wochenblatts und anderer zeitgenössischer Literatur, durch die Sichtung von dem, was die Forschung zu den nachher angesprochenen Themen hergibt. Dennoch bleibe ich ein betroffener Beobachter. Ich bemühe mich um Detailtreue und Objektivität: Ich zitiere mit Anführungszeichen, ich schreibe Fußnoten, es gibt ein Quellen- und ein Literaturverzeichnis. Und doch kann nur ich diesen Text so schreiben, wie er jetzt hier steht. Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn. Meine Hoffnung ist, dass er Gutes aus beiden Welten zusammenbringt, um ein besonders Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu werfen.

Siebzehn Höfe

Bei den meisten Hausstättenschatzungen, Steuerlisten und Viehzählungen des 17. bis 19. Jahrhunderts, die erhalten sind, steht unser Hof am Ende der Bauerschaft Horst und trägt die Nummer 17. Das scheint praktische Gründe gehabt zu haben. Die Listen begannen mit dem Schulzen Eistrup, dessen Hof der größte war. Er trägt die Nummer 1. Dann können wir den schriftkundigen Listenführern gedanklich auf ihrem Weg durch die Bauerschaft folgen, von Hof zu Hof beziehungsweise, wie es im 18. Jahrhundert auch hieß, von Feuerstelle zu Feuerstelle, die mit immer höheren Zahlen bezeichnet wurden. Der Weg endete bei den Häusern, die dem Dorf Nottuln am nächsten lagen und wie auf einem gedachten Viertelkreis um ein nicht bekanntes Zentrum angeordnet waren. Die drei letzten waren Wedding (Nummer 15), Wegener (16) und schließlich Frie (17).

Bauerschaften sind lockere Siedlungsverbände aus landwirtschaftlichen Betrieben, die im Münsterland nicht im Dorf liegen, sondern einzeln in der Flur. Von unserem Hof sind es 150 Meter bis Wegener und 300 Meter bis Wedding. Bis zum Hof Büssing, der auf der anderen Seite am nächsten liegt, aber schon zu einer anderen Bauerschaft gehört, ist es ein knapper Kilometer. Die Kirche des Dorfes Nottuln ist gut zwei Kilometer entfernt. Zu den anderen Dörfern in der Nähe ist es mehr als eine Stunde Fußweg: Darup 5,5 Kilometer, Appelhülsen 6 Kilometer, Buldern 6 Kilometer, Rorup 7 Kilometer, Schapdetten 7 Kilometer. Die weiten Entfernungen zwischen den Häusern und Dörfern hatte schon 1771 der Vogt Händler in Nottuln beklagt und eine Zulage verlangt.[2] Wichtig für uns waren die etwas weiter entfernten Kleinstädte Coesfeld mit Jungenrealschule und Gymnasium (15 Kilometer) sowie Lüdinghausen mit der landwirtschaftlichen Realschule (20 Kilometer). Am wichtigsten aber war Münster: Stadt der Landwirtschaftskammer, des Zuchtviehmarktes, der Kreisverwaltung (bis 1974) und aller Schulformen und Geschäfte, die wir uns überhaupt vorstellen konnten (25 Kilometer). Alle drei Städte waren nicht umstandslos erreichbar. Nottuln hatte keinen Bahnanschluss, dafür fuhren Busse, bis in die späten 1970er-Jahre allerdings sehr unregelmäßig.

Bauerschaften waren einmal Gerichtsbezirke gewesen, aber das lag im 19. und 20. Jahrhundert schon sehr lange zurück und gehörte nicht mehr zum Wissen der Bauern. Auch wirtschaftlich spielte die Bauerschaft als Organisation keine Rolle mehr. Schon vor den Agrarreformen hatten die einzelnen Höfe unterschiedliche Grundherren gehabt. Ihre Felder lagen zwar gemischt in der Flur, wurden aber nicht bauerschaftsweise bewirtschaftet. Immerhin gab es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch Schützenfeste der Nottulner Bauerschaften. Die Bauern von der Horst schossen mit den Bewohnern der Nachbarbauerschaft Buxtrup gemeinsam auf einen Vogel. Ende des 19. Jahrhunderts verloren sich die meisten der Bauernschützenfeste. Die katholischen Antoni- und Martinibruderschaften im Dorf richteten nun die Schützenfeste für alle gemeinsam aus.[3] Für die Lokalverwaltung blieben die Bauerschaften aber wichtig. Viehzählungen wurden auf dieser Ebene organisiert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Bauernwehren auf Bauerschaftsebene eingerichtet, die in zwei Schichten nachts mit Schusswaffen patrouillieren sollten und das eine Zeitlang offenbar auch taten. Auf der Horst waren 24 Personen dabei, darunter mein Großvater und sein jüngerer Bruder.[4] Die dorfferneren Bauerschaften hatten bis in die 1960er-Jahre eigene Schulen. Meine Geschwister und ich wurden aber, wie vor uns schon unser Vater und seine Geschwister, in der Nottulner Dorfschule unterrichtet.