Ein Jahr in Tel Aviv - Christiane Wirtz - E-Book

Ein Jahr in Tel Aviv E-Book

Christiane Wirtz

4,6

Beschreibung

Die "Stadt, die niemals schläft", steckt voller Kontraste: Schick und mondän, mit legendärem Nachtleben, ein Strandparadies – und doch voll der jüdischen Tradition. Ein Leben in der Ausnahmesituation – Christiane Wirtz ist der Faszination verfallen.

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Christiane Wirtz

Ein Jahr in Tel Aviv

Reise in den Alltag

Impressum

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2009

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80265-2

ISBN (Buch): 978-3-451-05928-5

Inhalt

Vor dem Jahr

August

September

Oktober

November

Dezember

Zwischen den Jahren

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

Nach dem Jahr

It’s always the people,

who make a place worth living.

Vor dem Jahr

An jenem Abend, kurz bevor ich an Bord der El Al ging, sagte ich Frau Fröhlich den Kampf an. Genau genommen war Frau Fröhlich das Fräulein Fröhlich, auch wenn das keiner so sagte, und wahrscheinlich hatte unser Kampf schon vor einer Ewigkeit begonnen, aber das wusste ich erst in dem Augenblick, in dem der Flug LY 352 zum ersten Mal aufgerufen wurde.

„Ich kann deinen Vater jetzt nicht stören“, sagte sie, während ich mein Mobiltelefon fest an mein Ohr presste. „Herr Dr. Lindemann ist gerade bei ihm.“ Um mich herum redeten alle wild durcheinander, ich konnte kaum ein Wort verstehen und suchte mir eine ruhige Ecke am Fenster. Neben der Maschine hatte die Bundeswehr zwei Panzer bereit gestellt, die uns über das Rollfeld begleiten würden, bis wir deutschen Boden verlassen hatten. Ich ließ meine Augen durch den Raum gleiten, auf der Suche nach einer Toilette. Mein Magen-Darm-Trakt hielt mich schon seit Tagen auf Trab. Ich hatte mir inzwischen abgewöhnt, feste Nahrung zu mir zu nehmen, und eine Vorratspackung Imodium in die Reiseapotheke gepackt.

„Ich bin schon in Schönefeld. Könnten Sie ihm das bitte ausrichten“, sagte ich zu Fräulein Fröhlich und sah, wie sie am anderen Ende des Telefons ihre akkurat gezupften Augenbrauen in die Höhe zog. Sie arbeitete schon seit mehr als dreißig Jahren in der Kanzlei meines Vaters. Ihre Gewichtigkeit war parallel zu seiner Karriere gewachsen, während sie mich noch immer für die Fünfjährige hielt, die, es war einmal, auf ihrem Schoß sitzen und mit der Schreibmaschine spielen durfte. Einen Moment, den sie perfekt zu setzen wusste, hörte ich nur ihr Schweigen in der Leitung.

„Augenblick“, sagte sie dann, immerhin, soviel Absolution hatte selbst sie noch nötig, und hängte mich in die Warteschleife. Draußen sah ich zwei Soldaten, die mit schweren Stiefeln über das Rollfeld liefen und in die beiden Panzer kletterten.

„Es geht jetzt wirklich nicht“, sagte Fräulein Fröhlich, als sie zurück zu mir in die Leitung kam, und ich bildete mir ein, eine gewisse Befriedigung in ihrer Stimme zu hören. „Du weißt doch, Herr Dr. Lindemann. Sie besprechen sich in einer wichtigen Sache.“

Herr Dr. Lindemann, selbstverständlich, Herr Dr. Lindemann, oberste Priorität, Herr Dr. Lindemann, absolute Diskretion. Dieser Name war mir seit frühester Kindheit vertraut. Die Familie Lindemann hatte vor Generationen ein Verlagshaus am Rhein gegründet, ein renommiertes, versteht sich von selbst, und Herr Dr. Lindemann genoss das Privileg, als einziger Klient meines Vaters sogar am Wochenende bei uns zu Hause anrufen zu dürfen.

„Wir melden uns dann bei dir“, hörte ich Fräulein Fröhlich sagen. – „Mein Flug geht in zwanzig Minuten.“ – „Na, dann wollen wir mal hoffen, dass da bei dir alles gut geht“, sagte sie in einem Tonfall, der mich augenblicklich an Mahmud Ahmadinedschad und Hassan Nasrallah, Mord und Todschlag, Kain und Abel denken ließ. Wenn ich länger darüber nachdachte, war ich mit Unruhen im Magen-Darm-Trakt eigentlich noch glimpflich davon gekommen. Aber ich wollte nicht länger darüber nachdenken. Den Gefallen tat ich ihr nicht.

„Wäre nett, wenn Sie es vor dem Abflug noch einmal versuchen könnten“, sagte ich mit einem Poker Face in der Stimme und drückte auf die rote Taste meines Telefons. Ich versuchte es noch einmal unter „Papa mobil“, doch auch dort meldete sich nur die Stimme einer Frau, die mich aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Draußen vor dem Fenster krochen die beiden Panzer schwerfällig unter die Tragflächen – einer rechts und einer links – und brachten sich neben der Maschine in Position. Dann wurde der Flug LY 352 zum zweiten Mal aufgerufen.

Ich behielt mein Telefon bis zur letzten Minute in den Händen. Im Grunde hatte ich mich von meinem Vater nur verabschieden wollen, bevor ich el al ging, was so viel hieß wie nach oben. Wobei … Natürlich ging es um weit mehr als nur um einen Abschied, seinen Segen für diese Reise wollte ich mir abholen, doch den verweigerte er mir hartnäckig. Seit einigen Wochen vermied er es so gut es ging, mit mir zu reden. So in ganzen Sätzen meine ich. Erst als die Stewardess durch den Gang lief, um die Anschnallgurte zu kontrollieren, schaltete ich das Telefon aus und ließ es in meiner Handtasche verschwinden. Dann meldete sich der Kapitän aus dem Cockpit und wünschte uns eine angenehme Reise.

Diese Reise hatte an einem Karfreitag begonnen. Ich war wie jeden Tag in die Kanzlei gegangen. Offiziell hatte ich mich darüber beschwert, dass ich arbeiten musste, aber was will man machen, eigentlich war ich darüber gar nicht so unglücklich. Immerhin waren Ostern vier freie Tage und meine Freunde waren allesamt in den Schnee gefahren. Um mich selbst von meiner Unabdingbarkeit zu überzeugen, hatte ich einem wichtigen Klienten versprochen, dass unser Vertragsentwurf am Dienstag nach Ostern bei ihm sein würde.

Von meinem Schreibtisch aus sah ich die Lichter Berlins, die Kuppel des Reichstags und den neuen Hauptbahnhof, es war inzwischen dunkel geworden. Ich druckte den Vertrag noch einmal aus, um ihn Korrektur zu lesen, und checkte zum hundersten Mal an diesem Tag meine Mails. Ich konnte kaum glauben, dass ich heute noch keine einzige bekommen hatte. Dabei wartete ich auf nichts bestimmtes, ich sehnte mich einfach nach einem verschlossenen Umschlag in meinem Postfach. Meine Hand führte die kabellose Maus immer wieder auf „Senden/Empfangen“, worauf mein Computer gebetsmühlenartig wiederholte, dass er die angeforderten Aufgaben erfolgreich ausgeführt habe. Ohne allerdings eine Nachricht zu hinterlassen. Nichts geschah. Im Grunde geschah schon seit Jahren nichts. Geschweige denn etwas Positives. In der Woche nach meinem Zweiten Staatsexamen hatte ich mein Büro in der 10. Etage bezogen, seitdem sammelte ich täglich billable hours und wartete darauf, endlich Partnerin in der Kanzlei zu werden. Vor einem halben Jahr hatte meine Internistin eine chronische Magenschleimhautentzündung diagnostiziert, seitdem ging ich einmal in der Woche zum Yoga, was es auch nicht viel besser machte. Nachts träumte ich von einem Flugzeug, das ich zu verpassen drohte, die riesigen Zeiger einer Bahnhofsuhr, mir fehlte das Ticket, ich steckte im Stau fest oder fand meine Autoschlüssel nicht. Morgens wusste ich nie, ob ich das Flugzeug tatsächlich verpasst hatte. Ich wachte jedes Mal auf dem Weg dorthin gestresst auf.

Mein Blick grub sich immer tiefer in den Bildschirm des Computers, während das Postfach vor meinen Augen langsam verschwamm. Keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen hatte, jetzt kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Irgendwann nahm ich meinen Mantel aus dem Schrank und ging die Treppen hinunter auf die Straße. Ich lief über die Potsdamer Straße nach Hause, in Berlin war es noch einmal kalt geworden, die Luft brannte in meinen Lungen. Als ich den Winterfeldmarkt erreichte, bauten die Händler dort ihre Obst- und Gemüsestände für den nächsten Morgen auf.

Am Dienstag nach Ostern rief meine Sekretärin an und sagte, dass sie den Vertragsentwurf nirgends finden könne. Der Mandant habe schon ein paar Mal angerufen. Ich fuhr sofort ins Büro. Und änderte mein Passwort. Jeden Morgen, noch bevor ich den Mantel in den Schrank gehängt hatte, schrieb ich „raus&hier“ in die Maske auf dem Bildschirm und der Computer setzte sich in Bewegung. Ein gutes Zeichen, wie ich fand. Es vergingen einige Wochen, in denen ich mein kleines Geheimnis nur mit der EDV-Hotline teilte. Mit sonst niemandem.

Eine Woche nach meinem 35. Geburtstag ließ ich mir endlich einen Termin bei meinem Chef geben. Auf einmal hatte ich es wahnsinnig eilig. Das Risiko schien mir zu groß, dass ich mit der Zeit auch den Mut verlieren würde.

Mein Chef war ein alter Freund meines Vaters, sie hatten gemeinsam in Heidelberg studiert, und ich hatte schon mein erstes Praktikum in seiner Kanzlei gemacht. Als ich in sein Büro kam, ließ er zwei Tassen Tee bringen.

„Nun, wie geht es dir?“, fragte er sichtlich gut gelaunt. Offensichtlich gab es in seinem Leben keinen Grund zur Klage. „Hmm … ganz gut“, murmelte ich. „Aber ich kündige.“

Damit war es erst einmal raus. Alles was danach kam, waren hilflose Erklärungen dessen, was er ohnehin nicht verstehen würde. Ich verstand ja selbst nicht alles. Für einen Augenblick kam ich mir vor wie in einer Filmszene, ich sah mich vor seinem großen Schreibtisch sitzen, hinter ihm die Regale mit den Gerichtsentscheidungen der vergangenen hundert Jahre. SIE redete und redete und redete, war in einem Redefluss versunken, während ER unendlich langsam mit dem Löffel in seiner Teetasse rührte.

Als ich wieder auftauchte, war es still.

„Und was sagt dein Vater dazu?“, fragte er schließlich. „Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.“ – „Hast du denn schon eine Vorstellung davon, wie du dein Geld verdienen willst?“ – „Ein paar Ideen. Aber genau weiß ich es noch nicht.“ Das schien ihn erst einmal zu beruhigen. Jedenfalls legte er den Löffel auf seine Untertasse und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Was meinst du. Vielleicht nimmst du erst einmal ein bisschen Urlaub. Sechs Wochen, wenn du willst. Dann kannst du dir über alles klar werden.“ Noch vor drei Monaten hätte ich jetzt einfach „ja“ gesagt, mich bedankt und glücklich sein Büro verlassen. Doch inzwischen war ein Teil von mir bereits losmarschiert, hatte sich selbständig gemacht und war nicht mehr aufzuhalten. „Das ist nett, vielen Dank. Aber ich glaube nicht, dass ich danach zurückkommen würde.“ – „Ich schlage vor, du gehst jetzt nach Hause und denkst noch einmal nach“, sagte er mit der Zuversicht dessen, der mich als ein vernunftbegabtes Wesen kennengelernt hatte. „Wir sprechen dann morgen wieder.“

Was darauf folgte, war eine grauenvolle Nacht. Ich lieferte mich selbst der Inquisition aus, gab allen Parteien noch einmal die Möglichkeit der Stellungnahme und suchte nach glaubhaften Beweisen. Am Ende blieb mir nur der Gedanke an das Flugzeug. Eines Morgens, der nicht mehr allzu fern lag, würde ich aufwachen und es tatsächlich verpasst haben.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte ich am nächsten Tag. Ich starrte in die undurchdringliche Miene meines Chefs, die schwere Bücherwand dahinter, und traute mich kaum zu atmen. „Ich hätte dich gerne zu meiner Partnerin gemacht“, sagte er endlich und damit war klar, dass es dazu nie mehr kommen würde. Diese Tür in meinen Leben hatte ich gerade mit Vollkaracho zugeschmissen. Und zwar genau vor seiner Nase. „Nun. Ich hoffe, du weißt, was du tust.“ Dann stand er auf, um mich heraus zu bitten.

Kaum war ich durch die Tür, ließ er sich mit meinem Vater verbinden.

Einer Schlafwandlerin gleich ging ich über den Gang zurück in mein Büro. Das alles schien auf einmal nicht mehr real zu sein: meine Kollegen, meine Akten, mein Computer, mein Stuhl, auf dem ich täglich gesessen hatte. Ich schenkte meiner Sekretärin die Orchidee von meinem Schreibtisch und fuhr zwei Wochen später zu meinen Eltern nach Köln. Doch das war im Grunde nur noch ein Anstandsbesuch. Mein Vater sagte mir nie, was er von meiner Kündigung hielt. Er ließ es mich nur spüren.

Der Pilot meldete sich noch einmal aus dem Cockpit und sagte, dass wir pünktlich um 2.15 Uhr in Ben Gurion landen würden. Durch das Fenster sah ich in die Nacht über Tel Aviv, sie war dunkelblau, der Himmel floss übergangslos ins Meer. In der Ferne sah ich die Lichter der Stadt. Als wir in unsere Parkposition rollten und meine Mitreisenden schon aufsprangen, um ihr Handgepäck aus den Fächern über uns zu holen, hörte ich eine Stimme aus dem Off: „We know, you have the choice. Thank you for choosing EL AL.“

August Erster Monat, in dem ich Luftballons sehe, an einen gelben Ascona denke und am Ende ein Alef geschenkt bekomme.

Als ich die Maschine über die Gangway verließ, schlug mir die feuchte Hitze einer Waschküche entgegen. Der Pilot hatte eben etwas von 26 Grad gesagt, dabei war die Sonne noch nicht einmal aufgegangen. Der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn, schon bevor ich das Flughafengebäude erreicht hatte, und ich hatte das Gefühl, als würden sich meine Eingeweide schlagartig verflüssigen. Meine Füße drückten in das enge Leder meiner Schuhe. Und mein Kreislauf zeigte mir die rote Karte.

Ich steuerte die nächste Toilette an, stützte meine Hände auf die Ränder des Waschbeckens und sah im Spiegel mein bleiches Gesicht, dahinter eine Frau mittleren Alters, die mit ihrem Telefon am Ohr in einer Toilettenkabine verschwand. Ich schaufelte mir kaltes Wasser ins Gesicht, roch das Chlor darin, die Wimperntusche lief mir über die Wangen, und ich versuchte sie mit dem harten Papier aus dem Spender davon abzuhalten. Kurz darauf öffnete sich die Toilettentür in meinem Rücken, im Spiegel sah ich die Frau wieder aus der Kabine kommen. Sie hatte ihr Telefon immer noch am Ohr.

Langsam fand ich wieder zu mir. Ich schaltete mein Telefon ein, das sich sofort mit einer SMS meldete, die ich allerdings nicht verstand. Am Anfang stand eine +52, der Rest waren hebräische Zeichen. Das war alles. Dafür, dass wir noch nicht einmal drei Uhr morgens hatten, waren hier ziemlich viele Menschen unterwegs, was allerdings nicht weiter störte, weil der neue Terminal groß genug war. Bombastisch groß sogar, wenn man bedachte, dass Israel gerade mal doppelt so viele Einwohner hat wie Berlin. Erst in dem Raum vor der Passkontrolle fanden wieder alle Passagiere zusammen, es wurde enger, hier war das Nadelöhr auf dem Weg ins gelobte Land.

Unsere Schlange kroch unendlich langsam voran, die Frau von der Sicherheit schien ihren Job ernst zu nehmen. Ich hätte mich gerne noch einmal gesetzt, in meinem Körper schwamm schon wieder alles, doch dafür war ich in der Reihe schon zu weit fortgeschritten. Endlich stand ich vor dem Schalter, die Frau von der Sicherheit blickte mir ernst ins Gesicht und fragte, was ich in Israel vorhabe. „Holidays“, sagte ich, was es für beide Seiten erst einmal leichter machte, und ließ mir ein Touristenvisum in meinen Reisepass stempeln. Auf dem Gepäckband drehten meine 32 Kilogramm bereits ihre Runden. Ich stemmte sie auf einen Wagen und ging durch die große Schiebetür nach draußen, in die Empfangshalle.

Das erste, was ich sah, als ich wieder zu mir kam, waren die Luftballons. Sie klebten unter der hohen Decke, viele, bunt und glänzend. Herzen mit Händen, Delphine und Smileys, die in der Wiedersehensfreude entglitten waren. Hinzu kam das Licht, das mir grell in die Augen stach. Verschwommen sah ich die vielen Gesichter über mir, hörte Stimmen, aber verstand nicht, was sie sagten. Jemand legte etwas Weiches unter meinen Kopf. Alles schien ganz weit weg zu sein, bis sich durch den Schleier hindurch ein Wort den Weg zu mir bahnte. „Ambulanz“, hörte ich, es wurde immer klarer, bis es endlich in meinem Kopf Gestalt annahm. „Ambulanz.“ Langsam wurde mein Blick schärfer, ich sah schon die roten Davidsterne vor mir, Magen David Adom, die man aus dem Fernsehen kannte, auf den großen weißen Krankenwagen, die heulenden Rotlichter. Augenblicklich kehrte das Blut zurück in meinem Körper, schoss zurück in seine Bahnen und ich war wieder voll da. Setzte mich auf.

„Nein. No. Lo. Lo Ambulanz.“

Das schien erst einmal zu helfen. Jedenfalls hielten meine Retter einen Moment in ihrer Geschäftigkeit inne. Zu meinem Glück sah ich im Hintergrund das Gesicht von Alón, das immer wieder über den Schultern der anderen auftauchte. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge, zu mir nach vorne. „Ich will keinen Krankenwagen“, sagte ich, als er endlich bei mir war. „Ma kará … was ist passiert?“, fragte er einigermaßen erschrocken, so viel Dramatik war er von mir nicht gewohnt. „Ich will keinen Krankenwagen.“ Jemand reichte mir eine Plastikflasche mit Wasser, Alón legte meine Beine auf die Reisetasche und ein Dritter fühlte den Puls an meinem Handgelenk, sah mir prüfend in die Augen. „Ambulanz?“, fragte er, an Alón gewandt. Was wiederum zu hektischen Zuckungen meinerseits führte. Endlich versprach mir Alón, wenn auch nach einigem Hin und Her, dass meine Ankunft in Israel nicht in einem Krankenwagen enden würde.

Das Gute daran war, dass es mir schlagartig besser ging. Ich war zwar erschöpft, aber mein Körper hatte wieder an Kontur gewonnen. So als hätte das System nur einmal runtergefahren werden müssen, um neu starten zu können. Redo and come back again. Alón saß der Schrecken offensichtlich tiefer in den Knochen als mir, und so nahm er die Sache gleich in die Hand. Was ganz praktisch erst einmal hieß, dass er meine 32 Kilogramm in seine Wohnung schleppte, dritter Stock, ohne Aufzug. Er überließ mir sein Bett, und weil ich zu müde war, um zu widersprechen, schlief ich auf der Stelle ein. Als ich am nächsten Mittag erwachte, hatte ich keinen blassen Schimmer, wo ich war.

Ich stand vorsichtig auf und tastete mich durch die Wohnung. Im Flur stand ein hoffnungslos überladener Wäscheständer, die Zimmer waren voll von Umzugskisten, und in der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr. Ich griff nach der Wasserflasche im Kühlschrank, nahm einen tiefen Schluck und schmeckte eine unvorstellbar süße Flüssigkeit auf meinem Gaumen, die ich augenblicklich auf die Nudelteller vom Vorabend spuckte. Ich spülte mit Kaffee nach und sah auf dem Küchentisch einen Stadtplan und einen Haustürschlüssel. Daneben klebte einer von Alóns gelben Zetteln: „Sim lev … pass auf“, womit er offensichtlich auf die vergangene Nacht anspielte.

Diese kleinen gelben Zettel hatte Alón schon immer geliebt. Als wir zusammen in unserer Berliner WG wohnten, klebten sie überall. Am Computer, am Spiegel im Badezimmer, an der Wohnungstüre. Meist schrieb er deutsche Vokabeln darauf, daneben gab es aber auch einige to-do, to-visit und not-to-do-Listen. Alón war damals für zwei Semester nach Berlin gekommen, wir hatten in einer Vorlesung nebeneinander gesessen, und nach ein paar Wochen war er bei uns in der Nostizstraße eingezogen.

Inzwischen war er Dozent an der juristischen Fakultät in Jerusalem. Er lehrte Strafrecht und Kriminologie. Auch wenn er es sich selten eingestand, so war dieser Job doch das Beste, was ihm passieren konnte. Alón liebte es, Fallkonstellationen zu diskutieren, Argumente hin- und herzuschieben und sich in Schuldtheorien zu verlieren. Am Ende lagen alle Aspekte auf dem Tisch, fein säuberlich geordnet, allein für eine Lösung konnte er sich nicht entscheiden. Ich hätte mir Alón beispielsweise niemals als Strafrichter vorstellen können. Bevor er einen Angeklagten ins Gefängnis geschickt hätte, wäre er wahrscheinlich eher selbst eingefahren, hätte sich in die Fesseln seiner endlosen Pro- und Contra-Listen gelegt.

Immerhin hatte Alón sich, im Gegensatz zu mir, vor zehn Jahren für eine Ehe entschieden. Nach einer längeren Erprobungsphase, die mit einigen schmerzhaften Trennungen einherging, hatte er geheiratet, einen Sohn bekommen und die vergangenen fünf Jahre über eine Trennung nachgedacht. Vor einem Jahr hatte er sich scheiden lassen. „Endlich“, hatte ich dazu am Telefon nur gesagt. Das war möglicherweise etwas grob, denn natürlich war so eine Scheidung eine traurige Angelegenheit. Aber beim besten Willen: Ich hatte es nicht mehr hören können.

Seit wir uns kannten, war ich häufig nach Israel gekommen, hatte Alón besucht, war durchs Land gefahren und jedes Mal mit dem Gefühl wieder abgereist, nichts verstanden zu haben. Meine Berliner Freunde sagten, mit dir und dem Land, da ist doch was, so als hätten wir eine heimliche Affäre. Ich beteuerte immer wieder, dass zwischen Alón und mir nichts war, und suchte nach anderen plausiblen Erklärungen für meine stetige Wiederkehr. Vielleicht hätte ich einfach sagen können, dass Israel für mich wie ein großes Labor war, in dem ich etwas über mich herausfinden konnte. Aber irgendwie kam mir das zu schwergewichtig vor. Schließlich war Israel auch Tel Aviv. Die Boulevards, die Kioske, der Strand und das Meer. Die Surfer, die in Gummihäuten an der Fußgängerampel standen, während ihnen das Wasser aus den Haaren tropfte. Die Frauen, die mit Alufolie in den Haaren im Straßencafé vor dem Friseur saßen und frühstückten. Der riesige Typ auf Rollschuhen, der sich für den Messias hielt. Und niemand wunderte sich. Irgendwie war Tel Aviv immer ein bisschen drüber, eine Stadt am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ich konnte mir nicht helfen. Aber ich mochte das. Am Ende antwortete ich meinen Berliner Freunden meist nur: „Keine Ahnung, es zieht mich einfach immer wieder dort hin.“

Eine heimliche Affäre begann schließlich auch aus keinem anderen Grund.

Alón war der erste gewesen, dem ich mich anvertraut hatte. Lange Zeit hatte ich Angst vor meiner eigenen Idee gehabt und kaum damit rausrücken wollen. Als wir am Telefon aber oft genug über seine Scheidung, meinen Alltag und das Leben danach gesprochen hatten, nahm ich mir ein Herz und versuchte dabei, so beiläufig wie möglich zu klingen. „Jetzt … nur mal so eine Idee … Was wäre denn, zum Beispiel, wenn ich eine Zeit lang nach Tel Aviv kommen würde?“, hatte ich ihn gefragt, ganz so, als würde ich ein neues Paar Schuhe anprobieren, irgendwelche Flippigen, Hochhackigen und ihn dann fragen: „Die sind schon ein bisschen zu abgefahren für mich? Oder (etwa nicht)? Was meinst du?“

Denn natürlich hatten Alóns Pros und Cons auch ihre positiven Seiten. Soweit sie mein Leben anbelangten, hatte ich sie im Laufe der Jahre als solide Entscheidungsgrundlage zu schätzen gelernt. Am Ende hatte man immer das Gefühl, an alles gedacht zu haben. Und der letzte Mut war ohnehin eine einsame Angelegenheit. „Ich wusste, dass du eines Tages hier sein würdest“, hatte Alón nur gesagt.

Zwei Wochen später fand ich ein Paket von ihm in meinem Briefkasten. Es war ein Stadtführer von Tel Aviv, darauf hatte er einen seiner gelben Zettel geklebt: „Wir warten für dich.“

Auf dem Küchentisch lag ein Stadtplan. Alón hatte darauf einen Bankautomaten, einen Telefon-Shop und einen Supermarkt eingezeichnet. Ich beschloss, seiner Route zu folgen, und steuerte als erstes den Bankautomaten auf der Ibn Gabirol an. Versuchte mit verschiedenen Tastenkombinationen an mein Geld zu kommen. Woran Alón nämlich nicht gedacht hatte, war, dass dieser Bankautomat nur hebräisch sprach. Ich gab immer wieder meine Geheimnummer ein, doch das einzige, was der Automat ausspuckte, war meine Kreditkarte. Immerhin. Langsam wurde ich nervös, genauso wie übrigens die Leute hinter mir, schließlich hatte ich keine Ahnung, in welche dunklen Kanäle ich mein Geld gerade leitete. Nach dem dritten Versuch gab ich meinen ganzen Stolz auf und vertraute mich dem Mann hinter mir an. Der schien es eilig zu haben, jedenfalls nahm er mir gleich meine Kreditkarte aus der Hand, drückte ein paar Tasten und fragte: „Five hundred?“, worauf ich nickte. „PIN?“, fragte er weiter, worauf ich gerade noch mit dem Kopf schütteln konnte und mich selbst der Tastatur zuwandte. Endlich hörte ich das Rascheln der Scheine. „Toda raba … vielen Dank“, sagte ich, doch der Mann war schon längst mit seinem eigenen Geld beschäftigt. Während ich mich auf den Weg zu meiner nächsten Station machte, versuchte ich, so beiläufig wie möglich, in den lässigen Gang der Tel Aviver zurückzufinden.

Der Sicherheitsmensch am Eingang des Telefon-Shops sah nur gelangweilt in meine Handtasche und sprach dann weiter mit seiner Freundin. Ich zog eine Wartenummer und sah in den Raum. So in etwa hatte ich mir Speed Dating immer vorgestellt. An den langen Tischen saßen sich Paare gegenüber, die Gespräche hatten Tempo, es ging hoch her, mal Lachen, mal Weinen, je nachdem, was es mit dem Telefon des Kunden gerade auf sich hatte. Dann machte es bling, die nächste rote Nummer leuchtete an der Wand und wieder fand sich für einige Minuten ein neues Paar.

Neben mir auf der Bank saß eine junge Frau, sie beobachtete die Szene, so wie ich, und wendete dabei ihre Wartenummer nervös hin und her. „Wie ein emergency room hier“, sagte sie und lachte, offensichtlich auch über sich selbst. Dann erzählte sie mir, dass ihr Telefon erst gestern Abend den Geist aufgegeben hatte. Seitdem lebte sie in dem bedrückenden Gefühl, keine Freunde mehr zu haben und von der Welt abgeschnitten zu sein. Isolationshaft konnte nicht schlimmer sein. „Mit meinem Körper gehe ich frühestens nach einer Woche zum Arzt“, sagte sie. Aber so sei es immer noch besser, als am Ende monatelang den Psychiater zu bezahlen. „Ma la’aßot … was soll man machen?“, sagte sie. Dann machte es wieder bling und sie verschwand mit der Wartenummer in ihrer Hand.

Als ich mit vollen Plastiktüten in unsere Straße einbog, sah ich Alóns Sohn Orí vor der Türe unseres Hauses stehen. Er hatte den Klapptisch aus dem Badezimmer vor sich aufgestellt und ein großes Pappschild dazu. „Limonáda“, sagte er zu mir, offensichtlich wusste er noch, wer ich war, und zeigte mir die fünf Finger seiner Hand. Ich gab ihm fünf Schekel, nahm einen Schluck aus dem Plastikbecher und erkannte den Geschmack von heute Morgen wieder. „Hmm … tov … gut“, sagte ich, woraufhin Orí zufrieden nickte und mir gerne einen Nachschlag gewährte.

Ich hätte jetzt irgendetwas Tantenhaftes sagen können. „Mensch bist du groß geworden“ (was er tatsächlich war) oder einen ähnlich dämlichen Satz. Aber glücklicherweise hätte er mich ohnehin nicht verstanden. Orí musste jetzt ungefähr neun Jahre alt sein. Seit der Scheidung pendelte er zwischen den Wohnungen seiner Eltern hin und her. Er sprach ein paar Worte auf Hebräisch mit mir, die offensichtlich irgendetwas mit seiner limonáda zu tun hatten, und als ich mit den Schultern zuckte, ich verstehe nicht, sah er mich aus seinen großen braunen Augen an und bewegte seinen Mund ganz vorsichtig. So als würde es helfen, wenn ich die Worte von seinen Lippen ablas. Er gab sich alle Mühe, zu mir vorzudringen, legte den Kopf zur Seite und formte seine Lippen noch langsamer, doch vergebens. Schließlich verstummte er, ein bisschen verzweifelt, und ich nahm mir vor, mich noch am selben Nachmittag für einen Sprachkurs anzumelden.

Glücklicherweise war ich nicht die erste Neueinwanderin in Israel, sodass ich auf die lange Tradition des Ulpan zurückgreifen konnte. Auf dem Weg an die Uni musste ich an meinen ersten Schultag denken. Damals fuhr meine Mutter noch einen gelben Ascona, und ich saß auf dem Rücksitz hinter ihr, neben mir mein blauer Scout-Tornister. Dieses Mal saß ich in einem Taxi und sah draußen die vollen Busse, die im Berufsverkehr in Richtung Norden fuhren. Bislang war ich nie auf die Idee gekommen, in Tel Aviv mit dem Bus zu fahren. Die Taxen waren hier nicht so teuer wie zu Hause, außerdem war mein Vater immer gerne bereit gewesen, den Sicherheitszuschlag in meinem Reisebudget zu stellen. Aber jetzt lebte ich hier. Und mein Vater, nun ja. Seit ich hier war, hatte ich nicht mit ihm gesprochen. Fräulein Fröhlich hatte damals natürlich nicht zurückgerufen. Ein paar Tage hatte ich auf ihren Anruf gewartet. Darüber nachgedacht, es noch einmal zu versuchen. Mich am Ende über mich selbst geärgert. Schließlich war ich nicht nach Tel Aviv gekommen, um jetzt hier neben dem Telefon zu sitzen. Sollte er doch seinen Segen für sich behalten. Schließlich war ich erwachsen, alt genug, um meine Entscheidungen allein zu treffen. Hatte ich jedenfalls bislang gedacht.

Ich ließ mich in den Sitz des Taxis zurückfallen und spürte den warmen Fahrtwind in meinem Gesicht. In Berlin war ich immer mit der U-Bahn ins Büro gefahren. Meist saß ich einfach nur da, starrte in die vorbeiziehende Stadt und wurde langsam wach. Auf meinen letzten Fahrten in die Kanzlei hatte ich ausprobiert, wie es sich anfühlen kann, in einem israelischen Bus zu sitzen, und war dabei ziemlich nervös geworden. Nach und nach hatte ich mich von dem Luxus verabschiedet, im Alltag in Ruhe reisen zu können.

Vor dem Wegeplan auf dem Campus stand jemand, der ähnlich verwirrt schien wie ich. Er kaute auf seinem Kugelschreiber und sah mich ratsuchend an. „Ulpan?“, fragte er durch seine runden Brillengläser. Sein Name war Ryan. Er hatte dichte schwarze Locken und seine dünnen Beine steckten in beigefarbenen Shorts.

Ich zuckte mit den Schultern. Der Wegeplan half nicht wirklich weiter, weil wir Hebräisch ja erst noch lernen wollten, und so bahnten wir uns fragend den Weg über das Gelände. Was uns wiederum dazu führte, von Gebäude A nach B zu laufen, von dort zu F und wieder zurück zu D. Im Studentenbüro erklärte man uns schließlich, dass kita alef, also die erste Klasse, jetzt in Gebäude C sei, nicht wie geplant in D, weil dort die Klimaanlage ausgefallen sei. So ging es noch eine Weile hin und her, bis uns schließlich mitgeteilt wurde, dass sich unser Klassenraum gleich neben der Cafeteria befand.

Dort angekommen stellte ich fest, dass die Hot Pants an der Uni in den vergangenen Jahren noch kürzer und die Dekolletés entsprechend tiefer geworden waren, sodass ich mich in meinem Sommerkleidchen augenblicklich asexuell fühlte. Ryan setzte sich freundlicherweise trotzdem neben mich. Er erzählte mir, dass er aus Boston komme und gerade bei seiner russischen Großmutter lebe, die er seit seiner Bar Mitzwa vor fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ab dem nächsten Semester wollte er in Oxford Mathematik studieren. Er war gerade mit der High School fertig geworden. „Scheiße.“– Entschuldigung. Aber das war das einzige, was mir dazu einfiel.

Das war mehr als 15 Jahre her. 15 Jahre waren seit meinem letzten Schultag vergangen und ich hatte keine Ahnung, wo diese Zeit geblieben war. Ich versuchte mich an das Lebensgefühl von damals zu erinnern, dieses Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben, und fragte mich, wann es mir abhanden gekommen war. Die erste Erinnerung daran, dass es fehlte, stammte wohl aus der Phase vor meinem ersten Staatsexamen. Ich sah mich noch durch den Supermarkt rennen mit der Wut auf jeden Kunden, der vor mir an der Kasse stand und mir learnable minutes stahl. Später hatte das Gefühl auf mein Leben übergegriffen. Bis es sich so anfühlte, als würde ich unter einer großen Glasglocke leben, unter welcher der Druck ständig stieg und mir irgendwann die Luft zum Atmen nehmen würde.

Bevor ich weiter in meinen Gedanken versinken konnte, marschierte Liora in den Klassenraum. Sie inspizierte kurz die Lage, stellte ihre große Tasche auf den Tisch und sah uns aufmunternd an. „Shalom1, ani hamora … Friede, ich bin die Lehrerin“, sagte sie.

Zunächst einmal machte sie einen recht freundlichen Eindruck, wodurch man sich allerdings täuschen lassen sollte, denn sie konnte unerbittlich sein. Vor allem, wenn es um Lesen und Schreiben ging. Liora war nicht allzu groß, dafür aber kräftig gebaut, und auf ihrem Kopf trug sie jeden Tag einen anderen bestickten Hut. Mittags, wenn sie uns zu unseren Hausaufgaben entlassen hatte, stieg sie in einen weißen Minibus auf dem Parkplatz. Zu Hause standen sieben Kinder unter ihrem Kommando.

„Ivrit ist eine leichte Sprache“, pflegte sie zu sagen. Jeder, der etwas anderes behauptete, war eine Memme.

Ohne überflüssige Worte zu verlieren, machte Liora eine Runde durch die Klasse und schrieb unsere Namen in großen hebräischen Lettern auf Pappschilder, die sie vor uns auf die Tische stellte. Dann malte sie ein großes Alef an die Tafel. Von diesem Tag an schenkte sie uns jede Stunde einen neuen Buchstaben, den wir sorgfältig in unsere Hefte kopierten. Ich musste an Frau Schulmann denken, meine Grundschullehrerin und das große Buchstabenhaus, das an dem Kartenständer in unserem Klassenraum hing.

Nach dem Unterricht ging ich gemeinsam mit Ryan hinaus auf die Straße, wo er sich in Richtung Bushaltestelle verabschiedete. Ich druckste ein wenig herum und sagte dann, dass ich noch Bleistifte kaufen müsse. Jetzt, vor seinen Augen, in ein Taxi zu steigen, erschien mir einigermaßen uncool. Zumal, wenn ich mir vorstellte, ihn später in irgendeinem überfüllten Café wiederzutreffen. Auf dem Weg in den Schreibwarenladen beobachtete ich die anderen Studenten, die an die Bushaltestelle liefen. Sie machten nicht den Eindruck, als seien sie irgendwie beunruhigt. Im Gegenteil. Von ihnen konnte ich einiges für meinen Tel-Aviv-Gang lernen.

Schließlich rief ich Alón an. Er war nicht unbedingt bekannt dafür, ein Schwarzenegger zu sein, insofern hoffte ich auf seinen zuverlässigen Rat.