Ein klarer Fall von Schicksal - Madeleine Gray - E-Book

Ein klarer Fall von Schicksal E-Book

Madeleine Gray

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Beschreibung

 Hera ist in ihren Zwanzigern und hat gerade ihr Studium beendet. Als Online-Community-Managerin einer Zeitung hat sie einen langweiligen, aber auskömmlichen ersten Job. Ansonsten ist Hera auf der Suche nach Stabilität in einer Welt, in der die sozialen Medien das Sagen haben und alle immer erreichbar sind. Und so passt sie sich dem Ennui im Großraumbüro an, der nur unterbrochen wird durch das Aufleuchten des grünen Punktes, der anzeigt, wenn ihr älterer Kollege Arthur online ist. Wohlwissend, dass Arthur seine Frau niemals verlassen wird und alles nur schief gehen kann wie in den großen Romanen, die Hera alle kennt, stürzt sie sich dennoch Hals über Kopf in eine Affäre. Und alles kommt anders, als es kommen muss.

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Seitenzahl: 443

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Madeleine Gray

Ein klarer Fall von Schicksal

Roman

Aus dem Englischen von Hannah Hesse

Hoffmann und Campe

Für die »workers in song«.

Ich verliebe mich gerade und weiß nicht, was ich tun soll

Werft mich in eine Schubkarre voller Geister und zündet mich an

 

Hera Lindsay Bird, »Monica«

Mit Mitte zwanzig war ich einige Jahre lang sehr in einen Mann verliebt, der seine Frau nicht verlassen wollte. Ich hatte in dieser Beziehung immer jede nur erdenkliche popkulturelle Darstellung einer solchen Verbindung vor Augen und wusste, welches Schicksal man mir dort voraussagte.

Da ich gut in Schule und Studium gewesen war, aber seither wenig Gelegenheit gefunden hatte, mich zu beweisen, war ich möglicherweise deshalb von dieser Beziehung so besessen, weil es mir eigentlich um den Glauben an mich selbst ging – daran, dass ich einen Mann dazu kriegen würde, mich so sehr zu lieben, dass er das, was er schon immer gekannt hatte, seine ganzen sogenannten Verpflichtungen, hinter sich lassen würde, schlicht und ergreifend, um für immer meine Gesellschaft genießen zu können. Denn ich hatte nun mal nur mich anzubieten. Ich war nicht reich, ich hatte kein Vermögen und war nicht gut vernetzt. Ich hatte keine Kinder und war im Grunde auch sonst an nichts gebunden. Er hingegen besaß das alles – er hatte es sich in seinem Leben schon so richtig gemütlich gemacht. Er war ein Mann mittleren Alters! Ich konnte von der Stabilität, die er ausstrahlte, nicht genug bekommen. In seinen Cargo-Shorts und seiner Kassengestell-Sonnenbrille lag ein Versprechen von Alltagsglück, das mich dahinschmelzen ließ. Ich war hin und weg davon, wie er in einem Hochleistungsjob bestehen und gleichzeitig die nervöse Schüchternheit eines Menschen an den Tag legen konnte, der in der Grundschule gemobbt worden war und inzwischen wusste, dass Zurückhaltung als liebenswerte Charaktereigenschaft gilt. Mein Gott, ich wollte ihn wirklich. Und ich wusste, wenn ich mich nur genug anstrengte, lange genug wartete, genug Verständnis zeigte, freundlich genug, lustig genug, geil genug, entgegenkommend genug wäre, würde ich ihn haben können. Und dann hätte ich ein Leben, das keine Entscheidungen mehr von mir fordern würde. Ich würde mich mit ihm so richtig gemütlich in seinem Leben einrichten. Kein Kopfzerbrechen mehr darüber, was ich tun oder wen ich treffen oder wie ich meine Abende verbringen sollte. Ich wäre die Seine, und das würde reichen, und ich würde zur Ruhe kommen.

Erster Teil

In der Highschool überlegten meine Mitschülerinnen gern, was ihr Traumjob wäre und welchen Abschluss sie bräuchten, um diesen Traumjob zu bekommen. In unserem letzten Schuljahr saßen wir in der Mittagspause häufig draußen auf der Terrasse, Mädchen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und auf unterschiedlichen Hierarchieebenen, Mädchen mit unterschiedlich langen Röcken, alle vereint darin, diesen unklaren hypothetischen Zeitabschnitt namens »nach der Schule« fassbarer zu machen. Da ich eine der Besten unseres Jahrgangs war, landete der Ball unweigerlich bei mir. Es wurde erwartet, dass ich einen tollen Beruf nennen würde, der sehr gute Schulnoten und einen hochrangigen Uni-Abschluss verlangte, und dann würde man nicken, weil das, was ich sagte, Sinn ergäbe.

Ich war zwar schlau, aber das große Einmaleins hatte ich nie auswendig gelernt, und auch sonst war ich keine Frau der Zahlen. Also blieb mir nur Anwältin, Journalistin oder Wissenschaftlerin. Anwältin: Kohle. Journalistin: spannend. Wissenschaftlerin: Ruhm und Ehre. Ich wusste, ich müsste einfach nur einen dieser Berufe nennen, und die Unterhaltung würde weitergehen: die Außenverteidigerin, die einen sauberen Pass zur Mittelfeldspielerin reingibt.

Aber es gelang mir nicht. Ich täuschte an, gab den Ball aber nicht ab. (So was machte ich in letzter Zeit ständig.) Mit herablassend monotoner Stimme sagte ich: »Ich will eigentlich gar nichts machen außer lernen oder lesen oder so, weil – alles andere ist irgendwie voll sinnlos. Wenn ich morgens im Bus die Leute auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit sehe – die wirken total depri.«

Meine Freundin Soph saß mit mir auf der Terrasse, und ich suchte bei ihr nach Unterstützung. Sie machte ein aufmunterndes Gesicht. Ich deutete das als Aufforderung, weiterzumachen, tiefer in die Sache einzusteigen.

Wenn ich nervös bin, habe ich die Angewohnheit, mich am Hals zu kratzen. Das soll meinen Worten was Beiläufiges geben und so was wie coole Nachlässigkeit demonstrieren. Logisch, dass ich das auch jetzt tat. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich war mir meines Körpers, meiner Haltung sehr bewusst – einer Haltung, die, so kriege ich immer wieder zu hören, abweisend wirkt. Als würde ich mich einigeln. Aber ist eine abweisende Haltung nicht letztlich ein stummer Schrei nach Hilfe? Ich war mir sicher, dass man mir früher oder später auf die Schliche kommen würde. Denn schließlich dienten meine ach so coolen Worte nur dazu, von meinen zitternden Händen abzulenken – und von meinen Oberschenkeln, die beim Gehen aneinanderrieben, da konnte ich noch so wenig essen, noch so viel Sport treiben.

Außerhalb der Schulmauern hatte ich Mühe, mich zu behaupten. Meine Probleme im Umgang mit dem anderen Geschlecht versetzten meinem Ego da draußen in der Welt regelmäßig einen gehörigen Dämpfer. Aber innerhalb der Schulmauern, wenn ich mit Worten und mit Mädchen zu tun hatte, war ich für gewöhnlich obenauf und ließ alle nach meiner Pfeife tanzen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Publikum noch nicht verloren. Ich konnte sehen, wie die anderen an ihre eigenen morgendlichen Schulwege dachten, ich konnte sehen, wie sie sich die bedrückten Gesichter der traurigen Gestalten, die in Bleistiftröcken und Turnschuhen zum Bus sprinteten, vor Augen führten. Aber eine der Internatsschülerinnen, entnervt, so etwas Einfaches auch noch erklären zu müssen, krähte: »Also, mein Dad sagt, wenn man seinen Beruf liebt, wird man die Arbeit niemals als Arbeit empfinden.«

Zustimmendes Gemurmel im Chor der Internatsschülerinnen.

Ich wusste, dass ich jetzt gemein werden würde, ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Die Aussicht auf einen Gegentreffer war zu verlockend.

»Was macht dein Vater denn?«

»Er ist Landwirt.« Verschränkte Arme vor Polyesterkaro, der Rücken gegen die Beine einer Bank gelehnt, klar abgestecktes Territorium.

Ich blickte zwecks Rückversicherung zu Soph, wollte ihr Okay haben, weiterzumachen, vom Leder zu ziehen. Ihr Blick war undurchdringlich. Ganz offensichtlich hatte sie beschlossen, einfach nur dazusitzen und zu verfolgen, wie das Unheil seinen Lauf nahm. Im Gegensatz zu mir wusste Soph, wann Schluss war.

Noch gab es die Möglichkeit, kein Arsch zu sein, doch ich machte weiter.

»Okay, dann ist dein Dad leider entweder ein Idiot oder ein Lügner. Ziemlich ätzend für dich.« Und dann verzog ich das Gesicht zu einer lustigen Grimasse, um deutlich zu machen, dass es mir keine Freude bereitete, ihr diese schlechte Nachricht überbringen zu müssen, aber irgendwer musste es ja tun.

Wie man sich vorstellen kann, kam das nicht sonderlich gut an. Einige beliebte Mädchen lachten kurz auf, aber die meisten schwiegen, denn auch wenn das, was ich gesagt hatte, lustig war, war es trotzdem nicht okay, ein Arsch zu sein. Das wusste ich. Ich hatte schon meine Erfahrungen damit gemacht. Aber mein Ärger darüber, einer geregelten Arbeit nachgehen zu müssen, musste wohl kurzzeitig meinen sozialen Selbsterhaltungstrieb verdrängt haben. Oder, das trifft es vielleicht eher: Ich hatte die Gelegenheit gehabt zu widerlegen, zu verletzen, zu verwirren und sie beim Schopfe ergriffen, weil ich wütend auf die Welt war und nicht wusste, an wem ich meinen Ärger auslassen sollte, wenn nicht an Menschen, die in ihrem Leben anscheinend zufriedener waren als ich.

Die Internatsschülerin war aufgebracht. Ich konnte sehen, dass ich ihre Gefühle verletzt hatte. Soph sah mich liebevoll und mitleidig zugleich an. So deutete ich jedenfalls ihren Blick. Sie schien zu denken: Ach, Hera, wann wirst du es jemals lernen?

Ich versuchte halbherzig, mich bei der Internatsschülerin zu entschuldigen, hatte aber den Begriff »systemisch« noch nicht internalisiert, und so fehlte meiner Entschuldigungs-Erklärung die rhetorische Überzeugungskraft, die mir einige Jahre später zu Gebote gestanden hätte. Genauer: Ich wusste zwar, was Selbsthass, aber nicht, was Demut war. Und so sagte ich eigentlich nur, dass es mir leidtat, recht zu haben.

Sofort bereute ich, was ich gesagt hatte, aber es war zu spät, es zurückzunehmen. Die Schulglocke klingelte, noch bevor die Unterhaltung in eine neue Runde gehen konnte. Wir mussten dem Signal gehorchen, das so unerbittlich unseren Tagesablauf strukturierte, mussten unseren Spinden zustreben, unaufhaltsam wie Sushi-Gerichte auf einem Laufband, um Ordner und Mappen für die fünfte und sechste Stunde zu holen. Die Internatsschülerin weinte lautlos vor sich hin, als sie an mir vorbeiging, und ihre Internatsfreundinnen funkelten mich wütend an. Ich senkte meinen Blick, denn die Selbstsicherheit, mit der ich meine Attacke geführt hatte, war verflogen. Aber die Szene sollte wenigstens anständig zum Abschluss gebracht werden, deswegen blieb ich sitzen, bis alle von der Bühne abgegangen waren.

Am Nachmittag hörte ich im Vorbeigehen, wie meine Lieblingsgeschichtslehrerin im Lehrerzimmer einer jungen Vertretung eine gar nicht mal so inakkurate Version unseres Schlagabtauschs präsentierte, aber statt ablehnend oder ernst zu reagieren, gackerten beide los, deswegen fiel es mir schwer, ein angemessen schlechtes Gewissen zu bewahren. Am Ende des Tages hatte sich meine grausame Attacke in eine lustige Anekdote verwandelt, die ich meinen Freunden erzählte. Nur Soph stimmte nicht in das allgemeine Gelächter mit ein, und ich fragte mich, was sie eigentlich in mir sah. Ich wollte so gesehen werden, wie ich war, und fürchtete zugleich, von ihr durchschaut zu werden.

Als Teenager habe ich gedacht, dass es in meinem Leben später sehr viel interessantere Zimmer geben würde als das Lehrerzimmer zur Mittagspause, aber bisher hat sich das nicht bewahrheitet. Jeder einzelne Lehrer, jede einzelne Lehrerin, selbst die Vertretungen mussten irgendeine Form von Leben gehabt haben, bevor sie hier aufschlugen. Und trotzdem hatten sie alle beschlossen, dass sie in genau diesem Zimmer landen wollten. Ich wollte meine Lehrer damals nicht nur beeindrucken. Ich hätte gern mehr über sie gewusst. Wer innerhalb des Lehrkörpers mit wem konnte und welche Schülerinnen keiner von ihnen mochte. Ich wollte Zugriff auf alle Schulhofanekdoten aus der Perspektive derjenigen haben, deren Sozialleben nicht von diesen Anekdoten abhing. Ich wollte wissen, warum Mrs Vale von Irland hierhergezogen war und warum sie immer so traurig dreinblickte, wenn sie unsere allgemeine Leistungsbewertung wie einen passiv-aggressiven Rorschachtest aufs Whiteboard kritzelte. Ich wollte wissen, warum Mr Simmons so verrückt nach e e cummings war – wer hatte ihn verletzt? Ich wollte, dass sie mir alle geradeheraus sagten, was sie von der Welt da draußen hielten und ob sie es empfehlen würden, sie jemals zu betreten.

Damals war es schwierig, anderen verständlich zu machen, dass ich es tatsächlich ernst meinte, keine Karriereabsichten zu haben. Ich wollte keinen Beruf ergreifen. Natürlich würden wir alle Geld brauchen, wenn wir nach der Schule irgendetwas essen und irgendwo wohnen wollten, schon klar. Und für die meisten von uns würde das bedeuten, irgendetwas für irgendwelche Unternehmen zu tun oder wie auch immer die Arbeitswelt eigentlich funktionierte. Performance? Targets? Wo sehen Sie sich in zwei Jahren …? Warum redeten wir so? Als ginge es nicht nur ums Geldverdienen, sondern als würden wir uns geradezu danach sehnen, auf unbestimmte Zeit den Großteil unseres Tages etwas zu tun, das sehr wenig mit unserem eigenen Wachstum, unserer eigenen Bildung zu tun hatte – einer Bildung, die uns von unseren Lehrern und Eltern bisher doch als so superwichtig angepriesen worden war? Warum sollte auch nur irgendwer davon träumen, einen Job zu haben? Ich hatte das Gefühl, die Welt wollte mir einen Streich spielen. Ich hatte das Gefühl, die Zielscheibe eines Witzes zu sein, den ich nicht verstand.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass manche von uns eine furchtbare Schulzeit haben, und die Aussicht, das Leben nach den eigenen Regeln gestalten zu können, ist in einem solchen Fall sehr vielversprechend. Aber ich muss gestehen, mich von Schuluniformen und Stundenplänen und einem Schultor, dass ab Viertel vor neun allen Nachzüglern den Einlass verwehrte, alles andere als eingeengt gefühlt zu haben. Ich fühlte mich auf dieser kleinen Insel der Seligen sehr wohl. Hier bestand unsere einzige Verpflichtung darin, uns zu bilden. Natürlich war das System so aufgebaut, dass unser Wissen über Sparta sich am Ende in eine Abschlussnote verwandeln würde, die uns wiederum Zugang zu einem vielversprechenden Uni-Abschluss verschaffte. Aber im Hier und Jetzt, wenn wir uns diesen Teil unseres Lebens mal ganz abstrakt anschauten, ging es einzig und allein um die Phalanx der Hopliten, die sozioökonomischen Schichten in der Antike, um Metaphern in der australischen Lyrik und um den Zusammenhang zwischen den verschlüsselten Siglen bei Anselm Kiefer und der deutschen Kollektivschuld. Wir waren eine Mädchenschule: Kein Junge konnte uns von unseren seltsamen Vorlieben und Eigenarten ablenken. Wir waren eine Mädchenschule: Wir waren verrückt und genial.

Zur Bestürzung meiner Tutorin, die sich damit brüstete, jeder Schülerin mittels fünf Fragen zu ihren Interessen klipp und klar sagen zu können, welcher »Traumberuf« zu ihr passte, strengte ich mich in der Schule an, weil es mir Spaß machte zu lernen und weil die Schule für mich der ideale Ort für intellektuelle Leistungsschauen und Konkurrenzkämpfe war, bei denen ich herausfinden konnte, wo ich stand. Ich wollte meine eigene Annahme bestätigt sehen, jede Mitschülerin schlagen zu können, wenn ich mich nur ernsthaft dazu entschloss. Ich wollte klare Beweise dafür, dass ich nicht wie die anderen war und dass spätere finanzielle oder berufliche Misserfolge kein Zeugnis meiner Unfähigkeit wären, sondern Ausdruck dessen, dass ich mich dazu entschieden hatte, nicht Teil eines Systems zu werden, das eine berufliche Karriere als Belohnung verstand.

Andere hätten Geld, aber ich die Musik in meinem Leben oder irgendwas in der Richtung.

Schaffte ich es, in der Highschool alle Gleichaltrigen zu schlagen, dachte ich mir, würde ich, wenn im Laufe der Jahre unsere Einkommensunterschiede immer größer würden oder die anderen vielleicht glücklich und zufrieden wären und ich nicht, immerhin Trost darin finden, dass ich um meine intellektuelle Überlegenheit wusste. Genauso wie beim Tennis (oder eigentlich jedem Spiel, das ich als Kind spielte), wenn ich zwar verloren hatte, aber nur deswegen, weil ich mich nicht ordentlich ins Zeug gelegt hatte.

Als jemand, der weder Geld noch ein Spotify-Abo sein Eigen nennt, während er diese Zeilen schreibt, würde ich – wäre ich jetzt gemein oder wenigstens pragmatisch veranlagt – meinem siebzehnjährigen Ich wohl die Warnung mit auf den Weg geben, dass einem eine solche Logik weder Reichtum noch Musik beschert. Aber ich bin nicht gemein, und pragmatisch veranlagt bin ich auch nicht, und mein siebzehnjähriges Ich wird das alles schon noch früh genug herausfinden, mit oder ohne meine Hilfe. Es wäre vielleicht auch nicht schlecht, ihm zu sagen, dass es in »Dance Me to the End of Love« um den Holocaust geht und man das Lied deswegen lieber nicht auf irgendwelchen Partys den Jungs als verführerische Anmache vorsingen sollte.

Aber lassen wir das. Das Mädel wird es schon noch kapieren.

Als ich meinen verheirateten Mann zum ersten Mal treffe, habe ich noch nichts kapiert. Ich habe bereits einiges an Leid erfahren und bin planlos und ausgelaugt, obwohl erst Mitte zwanzig, was für die meisten Menschen sehr jung ist, aber nicht für diejenigen, die Mitte zwanzig sind. Ich fühle mich, als hätte ich schon wahnsinnig lang gelebt, und die Aussicht, bis zu meinem Tod weiterleben zu müssen, geht über meine Kräfte. Ich wohne in Sydney, meiner Geburtsstadt, und lebe bei meinem Vater, weil ich wegen der Entscheidungen, die ich bisher getroffen habe, über keine eigene Kohle verfüge. In den Jahren seit meinem Schulabschluss habe ich mit Händen und Füßen versucht, einen Lebensstil zu entwickeln, der zu mir passt, den man hegen und pflegen und ausbauen könnte. Ich habe jemanden geliebt, aber nicht genug, um für immer mit ihr zusammenbleiben zu wollen, und sie verdient mehr als das und ich auch. Ich bin in verschiedene Städte gegangen und habe verschiedene Abschlüsse gemacht. Aber jetzt, wo ich sie habe, weiß ich nicht, was sie sonst noch sein sollen außer – Abschlüssen, Urkunden auf Papier. Meine Abschlüsse sind die Jahre der Freiheit, ohne Erwerbsarbeit, die ich mir mit Geld in Form von Darlehen erkauft habe. Leider kann man nur eine begrenzte Zahl von Abschlüssen machen, bevor es den Mitmenschen auffällt, dass man weniger ein Faible für bestimmte Studienfächer hat als vielmehr dafür, nicht arbeiten zu müssen. Eine Doktorarbeit kann man schreiben, aber bei einer zweiten fangen die Leute an, sich zu fragen, was los ist.

Nach einem weiteren Tag, den ich damit verbringe, vierundzwanzig Jahre alt zu sein und bei meinem Vater zu wohnen und seine Platten zu hören und mich zu fragen, wann er von der Arbeit zurückkommt, weil ich mich darauf freue, mit ihm zu reden, beschließe ich, die unsterbliche Frage der Smiths zu beantworten: soon ist tatsächlich now. Ich muss mir im Internet einen Job suchen und diesen Job dann auch machen und dann ein »Leben beginnen«. Ich wüsste nicht, wie ich es noch länger hinauszögern sollte, und Morrisseys eindringlich schleppender Gesang geht mir inzwischen auch auf die Nerven. Unser Hund Jude, für den ich in Dads Abwesenheit als stellvertretende Rudelführerin fungiere, folgt mir vom Wohnzimmer in Dads Arbeitszimmer. Mit meinem Laptop setze ich mich an Dads Schreibtisch. Jude legt seine Schnauze auf meine Füße.

Leuten, die das Glück hatten, niemals Jobbörsen im Internet durchforsten zu müssen, kann man nur schwer verständlich machen, wie niederschmetternd eine solche Erfahrung ist. Stellt euch vor, ihr seid seit Jahren in jemanden verliebt, und eure Beziehung lässt euch auf Wolke sieben schweben, und ihr findet noch die kleinste Kleinigkeit, die die andere Person sagt, interessant, und sie zu umarmen, vermittelt euch ein Gefühl der Geborgenheit, wie ihr es nie für möglich gehalten hättet. Dieser Mensch ist die Verkörperung all eurer Träume und gibt eurem Leben in jeglicher Hinsicht einen Sinn. Jetzt stellt euch vor, dass man euch diesen Menschen aus irgendeinem nichtigen Grund entreißt, und stattdessen drückt euch irgendein Unbekannter einen Stein in die Hand und sagt: »Nimm diesen Stein. Du hast jetzt keinen Partner mehr, du hast jetzt diesen dreckigen Stein.«

So in etwa ist es, wenn man Jobbörsen im Netz durchforstet, nur ist der Stein dort – warum auch immer – ein ganz heißes Teil, das jeder haben möchte, und dann kriegst du ihn noch nicht einmal. Auf jeden Stein kommen zweitausend andere Leute, die diesen Stein haben wollen. Und am Ende des Tages bekommt die eine Person, die den Stein bekommt – einen Stein.

Da ich drei verschiedene geisteswissenschaftliche Abschlüsse aus meinem fadenscheinigen Ärmel schütteln kann, kann ich einigermaßen lesen und schreiben und verfüge über rudimentäre Kenntnisse in verschiedenen schöngeistigen Fachbereichen. Früher hätte ich die drei wichtigsten antiken Säulenarten nennen können. Mit vierundzwanzig – die Einführung in die Kunstgeschichte liegt schon ein paar Jahre zurück – kriege ich vielleicht noch zwei hin. Ich sitze am Schreibtisch meines Vaters und arbeite mich durch die Homepage der Jobbörse und weiß, dass der Zoroastrismus sehr alt ist und irgendetwas mit Dualismus zu tun hat. Ich weiß, dass das »Weichensteller«-Gedankenexperiment alle, die sich damit beschäftigen, in den Wahnsinn treibt und dass Utilitarismus mir Bauchschmerzen bereitet. Aber würde man mich nach einer besseren oder geeigneteren Alternative fragen, wüsste ich keine. Ich weiß, dass es nicht meine Berufung ist, »Inhalte« zu produzieren. Doch zu diesem Zeitpunkt sieht es so aus, als hätte ich nur die Wahl zwischen »Content-Produktion« und der Arbeit im Callcenter. Und ich weiß, dass ich nicht im Callcenter arbeiten kann, weil ich mich vor einigen Jahren bei einem beworben habe, das Spenden für die Feuerwehr sammelte, und der Personalleiter hat mich nicht genommen, weil er fand, dass mein Tonfall auf Durchschnittsverbraucher ein bisschen hochnäsig wirken könnte.

Also schön. Content-Produktion, ich komme!, sage ich zu mir selbst und lege meine Finger wie Mr Burns zusammen.

Es gibt viele »Content-Creator«-Stellen, denn soweit ich das beurteilen kann, ist im Grunde alles Content. Aus den Stellenbeschreibungen, die ich mir durchlese, schließe ich, dass der Hauptunterschied zwischen Content-Produktion und Journalismus der ist, dass Ersteres ein bisschen mehr Geld einbringt und, anders als im Journalismus, explizit gewünscht wird, dass die produzierten Inhalte nicht die Feder ihrer Schöpfer erkennen lassen. Ein Content-Creator ist für die Bildbeschaffung zuständig (googelt nach Fotos und lädt sie auf der Firmen-Website hoch). Ein Content-Creator schreibt mitreißende Texte (paraphrasiert Werbemails und streut hier und da das Wort »dynamisch« ein). Ein Content-Creator analysiert mit Hilfe von Social-Media-Monitoring das User-Verhalten und passt die Inhalte entsprechend an (schaut sich an, welche Schlagwörter gerade auf Twitter beliebt sind, und benutzt sie dann als SEO-Tags in Firmenmitteilungen zum Thema Optimierung).

Die Jobbörse will wissen, ob ich über gute Photoshop-Kenntnisse verfüge. Ich weiß, worum es sich bei Photoshop handelt, und googeln kann ich auch, also: ja. Nach derselben Logik setze ich bei »Notwendige Voraussetzungen« fast überall mein Häkchen.

Macht es mir Spaß, im Team zu arbeiten? »Spaß«, »Arbeit«. Diese beiden Wörter in einem Satz – ein Widerspruch in sich! Mir macht die Arbeit im Team genauso wenig Spaß wie die Arbeit allein, aber das kann ich schlecht schreiben, wenn ich eine Stelle in einem agilen, interdisziplinären Team in einem transformativen Umfeld ergattern will. Als ich bei dieser spezifischen Stellenausschreibung auf »Details« klicke, wird klar, dass mit »agilem, interdisziplinärem Team in einem transformativen Umfeld« eigentlich eine Stelle in einem Bezirksamt auf dem Land gemeint ist.

Kennt ihr das, wenn ihr übermüdet seid und um elf Uhr morgens am Drehkreuz eines Bahnsteigs steht und immer und immer wieder eure Karte an das Lesegerät haltet und nichts passiert und ihr die Technik und euer Leben verflucht und euch eine alte Dame irgendwann darauf aufmerksam macht, dass die Karte, die ihr immer frustrierter und lauter fluchend an dieses Scanner-Dings haltet, eure Krankenversicherungskarte ist und dass das vielleicht erklären könnte, warum sich das Drehkreuz nicht bewegt? So fühle ich mich, wenn ich Motivationsschreiben für Content-Creator-Jobs aufsetze, ausgerüstet mit meinem halben Dutzend Fakten im Bereich Kunstgeschichte, Religion und Philosophie und der Fähigkeit, mit drei statt der üblichen zehn Finger zu tippen.

Trotzdem finde ich irgendwann rein. Der Schlüssel ist, wie so oft, sich von allem zu lösen. Der Schlüssel ist, wie Buddha vor dem Laptop zu sitzen – wenn Buddha arbeitslos wäre und im Netz nach Jobs suchen würde. Man muss sich in einen Zustand zenartiger Unbestimmtheit versetzen und Schlagworte durch sein Innerstes und dann auf die weiße Seite des Dokuments fließen lassen, ohne sich jemals wirklich bewusst zu werden, was man da gerade tippt. Während sich die Seite mit Geblubber füllt, das man anscheinend gerade selbst verfasst, kann man sich an Virginia Woolfs Mantra halten: Ich bin verwurzelt, aber fließe. Ich bin verwurzelt, aber fließe. Ich bin verwurzelt, aber fließe. Verdammt, ich gebe mir gleich die Kugel. Ab und an drängt sich eine Art Gedanke auf. Lass ihn ziehen! Kehre zu deinem Mantra zurück, tippe.

Mein Po tut weh, weil ich schon so lange auf dem Holzstuhl meines Vaters sitze. Meine schlechte Haltung hilft auch nicht gerade. Ich habe die Uhrzeit aus der Task-Leiste meines Desktops entfernt, und mein Handy liegt umgedreht und im Flugzeugmodus außerhalb meiner Reichweite. Nichts um mich herum darf mich ablenken.

Es klopft an der Tür, und ich seufze erleichtert. Jude steht auf und bellt, erledigt seinen Job. Ich fühle mich wie Bernard Black in der Szene, wo er keine Lust hat, die Steuern zu machen, und sich die Zeugen Jehovas ins Haus holt, um mit ihnen einen zu heben und über Jesus zu reden. In diesem Augenblick würde ich jeden ins Haus lassen. Ich würde die betreffende Person nach ihrer Kindheit fragen und kleinteilige Anschlussfragen folgen lassen. Ich würde Tee kochen ich würde einen Kuchen backen ich würde zusammen mit ihr ihre Oma per FaceTime anrufen ich würde ihr das gesamte Wörterbuch mit irischem Akzent vorlesen und dann schauen, ob sie es noch mal hören will, diesmal eher mit Oxford-Einschlag.

Ich rase die Treppe runter zur Haustür, Jude neben mir, und sehe gerade noch den Briefträger verschwinden. Das Paket auf der Fußmatte ist für meinen Vater, was einleuchtet, da ich kein Geld habe für derlei Bestellungen. Enttäuscht von diesem Nichtereignis, wäge ich ab, ob ich mir einen Kaffee holen soll oder nicht.

Kaffee: gut. Geld: nicht vorhanden.

Ich bin vierundzwanzig und surfe im Netz, um eine Möglichkeit zu finden, Content zu produzieren, um im Gegenzug dafür Geld zu bekommen, sodass ich bei meinem Vater ausziehen kann, um mehrere Hundert Dollar die Woche dafür zu zahlen, dass ich wo wohnen kann, wo es längst nicht so schön ist, um den Leuten erzählen zu können, dass ich unabhängig bin und mein Leben der hinlänglich bekannten Dramaturgie eines Bildungsromans folgt. Ich setze mich wieder an den Schreibtisch, höre mir – um mich zu motivieren – einen Song von Taylor Swift an und lade die Seite neu. Ganz oben, noch über den Anzeigen für Content-Produktion bei einer Hilfsorganisation für Krebskranke und Content-Produktion für die Abteilung »Digitale Transformation« eines Ministeriums, prangt eine neue Chance.

Moderatorin einer Online-Community: Das ist es!

Hatte ich jemals Bestrebungen, Moderatorin einer Online-Community zu werden? Nicht dass ich wüsste. Allerdings stammt diese Ausschreibung von einem Medienunternehmen, das einen guten Ruf und intelligente Inhalte hat, und ich gehe davon aus, dass das wahrscheinlich der einzige Weg für mich sein wird, in diesen heiligen Hallen des Journalismus jemals an ein Bewerbungsgespräch zu kommen – bedenkt man, dass ich aufgrund meiner bereits erwähnten Unwilligkeit, einen Beruf auszuüben, keine Berufserfahrung außerhalb des Einzelhandels habe. In einem Anfall von Masochismus, wie wenn man einen Pickel ausdrückt, der noch zu tief unter der Haut sitzt, denke ich: »Perfekt.« Ich denke: »Das wird es mir ermöglichen zu beobachten, wie die anderen Menschen leben, wie sie Tag für Tag in ihren Büros sitzen, sich nach der Arbeit auf ein Glas Wein treffen, am Wochenende Zimmerpflanzen kaufen und darauf hoffen, ›befördert‹ zu werden. Wenn ich diesen Job kriege, werde ich genug Geld zum Leben haben und meine Tage damit verbringen können, andere zu beurteilen, denen im Gegensatz zu mir daran gelegen ist, sich ins System einzufügen.«

Als ich die Stelle googele, um herauszufinden, ob es auf Reddit oder Arbeitgeber-Bewertungsseiten etwas gibt, das mir helfen könnte, das perfekte Motivationsschreiben zu formulieren, stoße ich stattdessen auf einen oft geteilten Beitrag von jemandem, der einmal als Moderator einer Online-Community gearbeitet hat. Der Text trägt die Überschrift »Nach zwei Jahren als Online-Community-Moderator wollte ich mich umbringen«. Der Rest des Artikels ist, wie einer meiner alten Lehrer zu sagen pflegte, »genau das, was auf der Packung steht«. Der Autor beschreibt, wie es seine Aufgabe war, am laufenden Band rassistische Kommentare zu löschen und Trolle zu sperren, um wenigstens die schlimmsten Auswüchse zu verhindern, und dass er nach einer Weile dachte, sich in seinem Mazda mit Kohlenmonoxid zu vergiften, Willy-Loman-mäßig, sei eine bessere Wahl.

Ich werte diesen Artikel als gutes Zeichen, dass es nicht allzu viel Konkurrenz geben wird, so wie wenn in einem Haus ein Mord stattgefunden hat und es dann deutlich unter seinem Marktwert verkauft wird. In diesem Fall ist es wohl eher so, dass man zwar ein billiges Haus kauft, sich der Mörder aber noch darin aufhält und man nicht weiß, ob er überhaupt je abhauen wird. Aber egal, wer hat nicht gern ein bisschen Adrenalin im Blut und Geldscheine in der Tasche? Ich setze mein Motivationsschreiben auf.

 

Ich heiße Hera Stephen, und ich interessiere mich leidenschaftlich für die Moderation von Online-Communitys. Angesichts der Tatsache, dass sich die Gräben in der Welt immer weiter vertiefen, ist es zunehmend wichtig, die Nutzung von Diskursplattformen zu erleichtern, damit Online-Communitys sinnvoll über tagesaktuelle Nachrichten diskutieren und debattieren können. Mir ist es ein Anliegen, in einem geschützten Online-Umfeld, in dem Meinungsfreiheit garantiert, aber Hass und Häme nicht toleriert werden, offene politische Debatten zu ermöglichen. Ich verrichte meine Arbeit stets zuverlässig, habe ein gutes Auge fürs Detail und arbeite sowohl gern im Team als auch allein. Ich bin nicht nur hochmotiviert, sondern auch davon überzeugt, die ausgeschriebene Stelle mit anhaltender Energie optimal ausfüllen zu können.

 

Verflucht. Es ist beunruhigend, wie ich das ohne mit der Wimper zu zucken runtertippe. Als bestünde ich geradezu aus diesem Scheiß, und sobald ich schreibe, sind alle Schleusen geöffnet.

Am Ende der Bewerbung klicke ich auf »Absenden« und klappe meinen Laptop entschlossen zu, als hätte ich gerade was geleistet.

Um die Stunden totzuschlagen, bis Dad nach Hause kommt und ich ihm berichten kann, wie unglaublich abwechslungsreich mein farbloser Tag war, lese ich im Wohnzimmer ein Buch. Als Studentin habe ich die meiste Zeit in schäbigen WG-Zimmern gehaust, und es ist ein Vergnügen, in einem Haus mit einem gefüllten Kühlschrank und einem Elternteil, der sich für einen interessiert, zu wohnen – auch wenn ich in puncto Lebenslauf eindeutig hinter meinen Freundinnen herhinke.

Dad kommt nach Hause, geht nach oben, um seinen Anzug auszuziehen, dann in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Ich schwirre wie eine gutmeinende, aber wenig hilfreiche Biene um ihn herum. Jude schenkt ihm einen Dackelblick, ein schamloser Versuch, ein Leckerli abzustauben.

Während Dad sich die Schürze umbindet, fragt er mich, wie mein Tag war, und ich erzähle ihm, dass ich mich auf eine aufregende Journalistenstelle beworben habe und dort mit großer Wahrscheinlichkeit den Nahostkonflikt lösen werde.

»Wusste ich’s doch«, bemerkt er. »Das ganze Schulgeld zahlt sich am Ende aus. Könntest du dich als Nächstes bitte um mein Golf-Handicap kümmern?«

»Kommt drauf an«, sage ich. »Kannst du denn überhaupt noch besser werden?«

»Ich habe dich nicht großgezogen, um mir Gemeinheiten anhören zu müssen.« Er wirft mir einen gespielt verletzten Blick zu und holt ein Glas Nudelsoße aus der Speisekammer.

»Und doch bin ich hier!« Ich drehe mit zuckenden Schultern eine wilde Pirouette und bewege meine Arme wie ein fleischgewordener Flaschenöffner auf und ab.

»Und wie war dein Tag?«, frage ich.

»Na ja, ich habe meinen finalen Entwurf für das wohl hässlichste Atrium, das je ein Bürogebäude gesehen hat, eingereicht und nicht zum ersten Mal in diesem Jahr überlegt, ob ich zum Gärtner umschulen sollte.«

»Ein ganz normaler Tag also?«

»Ein ganz normaler Tag.«

Ich sage ihm, dass ich erst nach oben gehen und duschen werde, aber gleich zurück bin.

»Was soll man da machen?«, beschwert er sich bei Jude, und Jude sieht mich anklagend an. Ich habe seinen Lieblingsmenschen verletzt, wenn auch nur im Scherz.

Als ich wieder unten bin, decken Dad und ich den Tisch und setzen uns. Er hat Nudeln gemacht. Genauer, er hat Nudelsoße gemacht. Genauer: Er hat Soße aus einem Glas in einen Topf geschüttet und sie aufgewärmt. Und er hat die vorgefertigte Teigware heiß gemacht. Wir sind hier nicht in Italien.

Er begann, dieses Gericht zu kochen – wenn man eine aufgewärmte Soße über ein paar Ravioli ein Gericht nennen kann –, als sich meine Eltern scheiden ließen und er nach einem langen Gerichtsstreit das ausschließliche Sorgerecht für mich als junge Teenagerin erhielt. Dad kam aus einer Bergarbeiterstadt in England, wo die Verteilung der Geschlechterrollen dazu führte, dass er mit Küche und Kochen nie in Berührung gekommen war. Aber dann zwangen ihn die Umstände dazu, wenn wir beide nicht verhungern wollten. Als ich jünger war, besuchten uns manchmal wohlmeinende Tanten und über drei Ecken mit uns verwandte ältere Frauen, und Dad servierte Variationen seines »Gerichts«. Und sie sahen ihn an, und sie sahen mich an, und man sah das Mitleid in ihren Augen, nach dem Motto: Schaut nur, was dem armen Mädchen geblieben ist. Schaut nur, wie sie mit einem alleinerziehenden Vater zusammenwohnt, der nicht kochen kann. Schaut nur, was das Leben ihr schon jetzt alles genommen hat.

Sie begriffen nicht, dass ich dieses Gericht liebte. Ich liebte, wie einfach es war. Ich liebte, wie es freimütig bekannte: »Da war ein Mann vom riesigen Supermarkt einfach überfordert.« Ich liebte es wie meinen Vater. Nicht gegen eine Million Gourmetgerichte würde ich Spinat-Ravioli aus der Tiefkühltruhe und diesen Mann hergeben. Nicht gegen eine Million Mütter würde ich die Zeit, die ich mit diesem Mann verbracht habe, hergeben. Diesem guten Mann, der mein Vater sein wollte, selbst als die Welt das anders sah. Der durch die Hölle gegangen war, um mich zu behalten.

Und so sitze ich mit meinem Vater am Tisch und esse diese Nudeln wie schon tausendmal zuvor, und obwohl ich arbeitslos bin und die Welt ganz klar ihrem Ende entgegengeht und meine Kinder, sollte ich je welche haben, wahrscheinlich nicht wissen werden, was Pflanzen sind, und ich mir überlegen muss, mit welchen Worten ich einen bestimmten Grünton beschreibe, den es früher gab und jetzt nicht mehr, wie ich für sie das Geräusch von Meeresstränden heraufbeschwöre – obwohl ich das alles weiß, spendet mir dieses Nudelritual mit Dad auf eine unbestreitbare Weise Trost und erinnert mich daran, dass es Zeiten gab, in denen ich mich sicher gefühlt und hoffnungsfroh in die Zukunft geblickt habe, und dass es auf dieser Welt gute Menschen gibt, auf die man sich verlassen kann, und dass es nicht ganz ausgeschlossen ist, dass ich vielleicht eines Tages wieder Hoffnung schöpfen werde.

Ich erzähle ihm mehr von der Stelle – dass es eigentlich nicht um Journalismus geht, sondern darum, Kommentare zu moderieren. Dass ich nicht gerade begeistert bin, aber das Gefühl habe, irgendetwas tun zu müssen, und dass so etwas vielleicht besser sei, als wieder in irgendeinem Geschäft zu arbeiten.

Dad sieht mich über den Tisch hinweg mit viel Liebe an, aber ich erkenne in seinen Augen auch ein wenig Sorge, eine Sorge, die er immer weniger verbergen kann, je weniger ich meine Traurigkeit verbergen kann – oder vielleicht werde ich einfach immer trauriger. Wenn wir wie jetzt, beim Abendessen, zusammen sind, bin ich für ihn fröhlich und er für mich, aber es gibt Pausen – es gibt immer welche –, in denen ich eine Sekunde lang keine Energie habe und zu lächeln vergesse, kurz ruhig bin, und dann muss ich wieder ins Hier und Jetzt finden, lustig sein, lebhaft.

Wenn ich eines nicht ertragen kann, dann, dass meine Traurigkeit ihn traurig macht. Mein Lachen gilt vor allem ihm. Ich wache jeden Tag vor allem für ihn auf und lebe weiter, weil ich weiß, dass mein Tod ihn umbringen würde. Und die Tatsache, dass er auf dieser Welt existiert, gibt mir die Kraft, das Gleiche zu tun. Ich glaube, wir haben beide Angst vor der unvermeidlichen Zukunft, wenn er nicht mehr da sein wird, und machen uns Sorgen, wie ich damit zurechtkommen werde, oder eher, ob ich damit zurechtkommen werde. Er würde diese Angst niemals zugeben, er betont immer, wie stark ich bin, wie ich es mit allem und jedem aufnehmen könne. Manchmal glaube ich ihm, und manchmal denke ich, dass er nur prahlt. Und natürlich werde ich alles überstehen. Ich übertreibe. Oder doch nicht? Ist es wirklich übertrieben, seine Angst zu äußern, etwas nicht ertragen zu können? Wer weiß denn schon, ob wir alles überstehen werden. Für mich fußt diese Angst also auf einer realistischen Annahme. Es ist absurd, dass wir das nicht alle zugeben können. Diese Lügen, die wir uns gegenseitig am Küchentisch erzählen, sind absurd.

Wir essen zu Ende, ich mache den Abwasch, Dad trocknet ab. Ich zwinge ihn, Popmusik zu hören, und er behauptet, sie nicht zu mögen. Wir scherzen rum, er tut so, als glaubte er, jedes Lied, das ich ihm vorspiele, wäre von Britney Spears, und ich wiederum tu so, als nähme ich ihm das ab. Wir sind gut darin, wir haben jahrelange Übung. Es ging los mit Kassetten, dann kamen CDs, und jetzt treiben wir den gleichen Scherz mit Sonos-Lautsprechern.

Meine Ex sagte immer, dass es im Leben darum gehe, »sich dem bisschen voll hinzugeben«, und sollte das stimmen, lebe ich wahnsinnig intensiv.

Eine Woche nach meiner Bewerbung kriege ich einen Anruf von einer mir unbekannten Nummer. Ich bin für die Stelle als Kommentar-Moderatorin zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Sie sind sehr beeindruckt von meinem Lebenslauf (drei Abschlüsse in Geisteswissenschaften?!).

Vorstellungsgespräche haben mir noch nie gelegen, und ich glaube, das hängt damit zusammen, dass ich als Kind keine Freunde hatte: In jeder Gesprächssituation wird sofort deutlich, dass ich alles darauf anlege, gemocht zu werden. Leider führt dieser zwanghafte Drang, alle Gesprächspartner für mich gewinnen zu wollen, dazu, dass ich mich verhaspele, absurde Gesten mit den Händen vollführe und überhaupt ziemlichen Blödsinn von mir gebe, den ich selbst nicht eine Sekunden lang glaube.

Mir ist klar, dass jedes Vorstellungsgespräch etwas von einer Verzweiflungstat hat, insofern als eine Person den Stein hat, auf den eine andere Person scharf ist. Aber wie gesagt, ich wollte bislang eigentlich gar keinen Job – nur dass man ihn mir anbietet. Ich möchte wissen, dass ich ihn haben könnte, wenn ich wollte, und dann will ich ihn ablehnen können.

Allerdings ist es im Leben nun mal so, dass man für Dinge bezahlen muss, und deshalb bewarb ich mich als Studentin auf unzählige furchtbare Jobs, von denen ich die meisten nicht bekam.

Ich erinnere mich, wie ich im zweiten Studienjahr einen fünfzehnminütigen »Plausch« mit Diane hatte, Personalleiterin einer Firma, die Konferenzen organisierte. Sie suchten einen »Rezeptionisten« beziehungsweise Bürosklaven (w/m/d), keine Berufserfahrung nötig. Die Firmenzentrale nahm die ganze Etage eines grauen Innenstadtgebäudes in der Nähe des Hafens ein. Ich war zu spät gewesen, weil ich immer zu spät bin. Es war heiß und stickig. Die kleinen Locken an meinem Haaransatz klebten wie verschwitzte Schamhaare an meiner Stirn, und mein Make-up tropfte vom Gesicht auf den Kragen meines bauchfreien Tops. Sobald ich aus dem Aufzug in die Empfangshalle trat, wusste ich, dass ich den Job nicht bekommen würde. Es lag nicht an der Büroumgebung, auch wenn die wenig überraschend furchtbar war, sondern daran, wie die toten Blicke der Angestellten verwirrt an mir hängenblieben. Als könnten sie den Wahnsinn spüren, der mich bis in die Spitzen meiner nicht rasierten Beinhaare elektrisch auflud. Sie konnten spüren, dass bereits meine Anwesenheit diesen traurigen, gedämpften Ort aus dem Gleichgewicht brachte. Es war glasklar, dass ich noch nie mit Excel zu tun gehabt hatte.

Kaum hatte ich mich gesetzt, wurde ich auch schon von Diane aufgescheucht. Sie tauchte hinter einer Schiebetür auf und bedeutete mir, ihr ins Jenseits zu folgen – was ich tat: Ich sprang mit einem Übereifer auf, der schon mich selbst abstieß, wie sollte es da erst anderen gehen.

Diane stellte sich nicht vor, aber ihr ganzes Gebaren und der Name auf dem Absageschreiben, das ich ungefähr eine halbe Stunde später erhalten sollte, ließen mich vermuten, dass sie es war.

Sie führte mich in eine hell erleuchtete Höhle und fragte mich, was ich studiert hatte. Ich sagte Kunstgeschichte, auch wenn »Zusammenfassungen von Standardwerken« ehrlicher gewesen wäre. In ihrem Gesicht regte sich daraufhin etwas. Sie erzählte mir, dass sie Architektur hatte studieren wollen.

Ich fragte sie, ob diese Hoffnung unerfüllt geblieben sei, weil sie es sich anders überlegt hatte oder weil etwas passiert war, dass sie davon abgehalten hatte. Rückblickend war diese Frage von jemandem in meiner Position ziemlich dämlich.

Sie sagte, dass ihr Schnitt nicht gereicht habe, um Architektur zu studieren. Sie sah traurig aus.

Ganz eindeutig vollkommen unfähig, die Stimmung im Raum richtig einzuschätzen, grätschte ich mit falschem Lob dazwischen. Ich rief: »Na und schauen Sie mal, was aus Ihnen geworden ist!«

Diane blickte an sich hinunter, ich auch. Wir waren beide nicht begeistert von dem, was wir sahen.

Diane mochte mich nicht, und ich würde diese Stelle nicht bekommen. Trotzdem spielten wir das Spiel weiter.

Diane fragte mich, ob ich gut organisieren könne, und ich sagte ihr, dass ich sehr organisiert sei. Jetzt blickten wir an mir hinunter: Meine ungebügelte Bluse strafte mein angeblich gutes Zeitmanagement Lügen, gleichfalls die verschmierte Mascara.

Und dann kam der Hammer – der schlagende Beweis meiner Unfähigkeit, mich in Arbeitsumgebungen einzufügen. Diane schaute mir in die Augen, sie wusste genau, dass ich mich jetzt in die Scheiße reiten würde. Selbstgefällig wie ein Mathegenie, das ein Kleinkind darum bittet, die Riemannsche Hypothese zu erklären, fragte sie: »Und wenn Sie ein Tier wären, welches wären Sie dann und warum?«

Ich geriet in Panik. Ich zögerte meine Antwort hinaus, indem ich Diane für ihre geniale Frage lobte. Ich wusste, was von mir erwartet wurde: Ich wusste, dass ich eigentlich sagen sollte, ich wäre ein Golden Retriever, weil ich ergeben bin und Befehle gut ausführe. Oder ein Biber, weil ich fleißig bin und Durchhaltevermögen habe. Oder ich hätte sagen können, dass ich ein Vogel bin, um dadurch meine Fähigkeit zu betonen, immer den Überblick zu behalten, von ganz oben. Aber das alles sagte ich nicht: Ich wählte etwas anderes.

»Ich wäre ein Erdmännchen«, sagte ich, »weil ich gut herumschnüffeln kann und nachtragend bin.«

Ich würde gern sagen können, dass diese Antwort ein Resultat kapitalismuskritischer Eigensabotage war, doch das wäre leider gelogen. In diesem Augenblick erschien mir meine Antwort richtig. Ich wollte Diane damit vermitteln, dass ich mir als ihre Angestellte die Hände schmutzig machen würde, skrupellos wäre, ihre Parteisoldatin, ihre kleine Privatsklavin. Wenn schon, denn schon, dachte ich wohl.

Aus Dianes entgleister Miene lernte ich allerdings, dass Personalleiter in Vorstellungsgesprächen nicht die Wahrheit hören wollen. Sie wollen im abstoßend süßlichen neoliberalen Business-Sprech eine Beziehung zu potenziellen Angestellten herstellen. Diane wollte von mir hören, dass ich Teil eines Teams, ihres Teams sein wollte, und ich ließ sie hängen. Tut mir leid, Diane. Es tut mir leid, was ich dir an diesem Tag angetan habe. Es tut mir leid, wenn ich dir dadurch deinen nachmittäglichen Pausenjoghurt verleidet habe. Es tut mir leid, dass du es nicht geschafft hast, Architektur zu studieren – aber eigentlich auch wieder nicht, weil du in deiner Absagemail eine richtige Zicke warst und ich in deinen spiegelnden Brillengläsern erkennen konnte, dass du sie bereits während des Gesprächs formuliert hast.

Aber das sind olle Kamellen. Diesmal, diesmal werde ich wissen, was ich sagen muss. Ich bin jetzt älter als damals, ich hatte mehr Zeit, mir die entsprechende Rhetorik draufzuschaffen, und außerdem interessieren mich an der Stelle als Community-Moderatorin ausschließlich die Einblicke, die sie mir gewähren. Und das zeichnet mich aus. Die Leute werden spüren, dass ich schlau bin, aber gleichzeitig keinen Drang habe, Journalistin zu werden. Ich kann mir vorstellen, dass die meisten Menschen, die dort vorsprechen und eingestellt werden, eigentlich höher hinauswollen im Unternehmen und dass das die Personalleiter, die einfach nur jemanden haben wollen, der tut, was ihm gesagt wird, nervt. Deswegen werde ich im Bewerbungsgespräch betonen, dass ich keinerlei journalistische Ambitionen habe, dass ich die Arbeit der Journalisten, von denen ich umgeben wäre, schätze, mein Herz aber für die Moderation von Online-Communitys schlage.

Ich habe Angst, dass ich mich für das Bewerbungsgespräch falsch kleide, da ich nichts Bürotaugliches besitze und immer, wenn ich etwas in der Richtung anprobiere, entweder wie ein Cosplay-Mädchen oder wie eine altbackene Matrone aussehe. Ich entscheide mich für ein ausladendes pinkes Kleid, was wahrscheinlich falsch ist, aber egal, das Vorstellungsgespräch meistere ich mit Bravour.

Das liegt zu großen Teilen daran, dass ich am Wochenende zuvor bei meiner Freundin Sarah bin, um Chardonnay zu kippen und mich vordergründig darauf »vorzubereiten«, durch die Mangel gedreht zu werden. Ich bin fest entschlossen, das Erdmännchen-Fiasko nicht zu wiederholen. Sarah ist meine kompetenteste Freundin. Sie besitzt einen eigenen Ständer für ihre Ohrringe. Und beim Kneipenquiz kommt sie so selbstbewusst mit irgendwelchen Fakten über Transitbestimmungen aus dem Jahr 1987 um die Ecke, dass der Rest von uns nur noch respektvoll nickt, nach dem Motto: Lasst sie machen, Sarah weiß das. Sarah macht PR und hat mir gegenüber noch nie das Wort »Pressearbeit« benutzt – sie macht PR.

In der Schule war zunächst Soph meine beste Freundin, in der Uni wiederum wurden Sarah und ich zusammen erwachsen, studierten beide Kunstgeschichte und waren uns einig, dass wir die meisten anderen Studis hassten. Wir verachteten vor allem die etwas älteren Semester unter ihnen, deren Redebeiträge in den Seminaren fast immer damit begannen, dass sie »im Folgenden den Advocatus Diaboli« spielen würden. Sarah und ich outeten uns ungefähr zur gleichen Zeit: sie, indem sie ihre engsten Freundinnen, als müsse sie ein ernstes Gespräch mit ihnen führen, zu sich ins Wohnzimmer einlud, ihnen dann erklärte, dass sie sich für Frauen und Männer, aber vor allem für Frauen interessiere, und ihnen danach Gelegenheit gab, Fragen zu stellen; ich, indem ich meine Freundin zu einer Party mitbrachte und daraufhin für die nächsten paar Jahre bei allen öffentlichen Veranstaltungen wild mit ihr rumknutschte.

Sarah weiß, dass ich schlau bin, aber sie weiß auch, dass ich genau genommen eine Vollidiotin bin, und so bietet sie gern ihre Hilfe an, wenn es darum geht, mich in die Welt der arbeitenden Bevölkerung einzuführen und deren Sprache in Konzepte zu übersetzen, die ich kapiere.

»Hera«, sagt sie, als wir beide mit unserem dritten großbäuchigen Weißweinglas auf dem Ledersofa ihres WG-Wohnzimmers sitzen, »du musst immer daran denken, dass diesen Leuten langweilig ist und sie einfach nur jemanden einstellen wollen, um mit ihrer Arbeit weitermachen zu können. Du musst lediglich einigermaßen kompetent und nicht komplett irrsinnig wirken. Und nicht lachen, wenn sie etwas über ihre Unternehmenswerte sagen, okay? Nicht lachen!

Googel, wer das Unternehmen gegründet hat. Erwähne den Namen dieser Person innerhalb der ersten drei Minuten und sag, dass du sie bewunderst.

Wenn sie dich fragen, wann du bei der Arbeit schon mal für strukturierte Verbesserungen gesorgt hast, dann erzähle nicht, wie du während der einen Woche, die du bei David Jones gearbeitet hast, haufenweise Gürtel ins Sozialkaufhaus gebracht hast, weil du meintest, es gebe viel zu viele in der Damenabteilung und dass die sich immer verhaken, wenn die Verkäuferinnen schnell einen für die Kundinnen in ihren Ted-Baker-Kleidern raussuchen müssen.«

»Und was soll ich sonst sagen?«

»Sag ihnen, dass du leidenschaftlich gern Listen führst.« Diese Autorität in Sarahs Stimme.

»Listen?«

»Listen. Sag ihnen, dass du, obwohl du selbstverständlich in deiner beruflichen Laufbahn bereits sehr viele komplexe Zeitmanagement-Maßnahmen implementiert hast, der festen Überzeugung bist, dass eine gute Struktur auf der Mikroebene beginnt, und dass das für dich bedeutet, sowohl die täglichen Aufgaben als auch längerfristige Projekte mittels verschiedener Listen zu organisieren, in denen du jeden abgeschlossenen Schritt entsprechend markierst.« Sie sieht mich bedeutsam an. »Vertrau mir, Büromenschen lieben Listen.«

Die Gute hat recht. Als ich zwei Tage später im Vorstellungsgespräch mein Faible für Listen erwähne, kriegen sich die Personalerinnen kaum ein.

»Ach! Mary-Alice ist auch verrückt nach Listen, nicht wahr, Mary-Alice?«

Mary-Alice, die auf der anderen Seite des Konferenztisches auf meinem Lebenslauf herumkritzelt, hebt den Kopf. »Das stimmt. Total.«

Volltreffer!

Zwei Wochen später, nachdem ich einen Haufen Steuerformulare ausgefüllt und viele freundliche E-Mails mit der Personalerin ausgetauscht habe, fange ich an. Die Personalerin rät mir, ein Halstuch mitzubringen, da die Klimaanlage im Büro sehr kalt ist.

Wir besitzen alle einen Büro-Schal! ;), schreibt sie mir, als wäre das eine lustige, situativ bedingte Gemeinsamkeit und nicht viel eher ein offenkundiger Beweis sexistischen Bürodesigns.

Um die Zeit bis zu meinem Karrierestart als Online-Community-Moderatorin totzuschlagen, lese ich ein dickes Buch über die Frauen modernistischer Schriftsteller und rege mich sehr darüber auf, wie man Zelda Fitzgerald behandelt hat. Erst stahl Scott ihre Ideen und ließ sie dann in die Psychiatrie einweisen?! In was für einer Welt leben wir?!

Zudem hat man eine firmeninterne Kettenmail gestartet, in der alle im Unternehmen, vom kleinen Moderator bis zur Chefredakteurin, gezwungen werden, mich schriftlich willkommen zu heißen. Sie tun mir alle leid und ich mir auch. Wie viele solcher E-Mails müssen sie pro Jahr schreiben? Muss ich jedem einzelnen Gratulanten persönlich antworten?

Kann es kaum erwarten, dich als Teil des Teams zu begrüßen!

Ist jetzt nicht euer Ernst, oder? Was machen wir hier eigentlich?

Man hat Zelda in den Wahnsinn getrieben.

 

An meinem ersten Arbeitstag, einem Montag, der um halb neun Uhr morgens beginnen soll (irrsinnig), wache ich auf und bin sofort gereizt. Ich bin es nicht gewohnt, vom Wecker geweckt zu werden. Ich verabscheue das Geräusch. Dennoch bin ich entschlossen, gute Laune zu verströmen. Wenn ich mich in das Büroleben einschleichen und von meinem kleinen Arbeitsplatz aus über alle urteilen will, muss ich dafür sorgen, frisch und fröhlich aufzutreten. Ich freue mich, hier zu sein. Ich darf nicht so aussehen, als hasste ich alle und alles um mich herum.

Sarah sagte einmal, dass ich, wenn ich ganz normal gucke, so aussehe, als würde ich an einen weißen Mann namens Barry denken, der gerade befördert wurde. Und wie immer hat sie recht. Mein neutraler Gesichtsausdruck ist leer, ein düsterer, starrer Blick in eine Zukunft, die ebenso aussehen wird wie die Vergangenheit, nur ab und an erscheint ein kleines Grinsen, wenn ich zufällig an dieses Meme mit der gruseligen viktorianischen Puppe und dem Schriftzug »Du mein Papa?« denke.

Fest entschlossen, noch vor dem unvermeidlichen Büro-Schaulaufen die Geschichte, die mein Gesicht erzählt, neu zu schreiben, übe ich vor dem Spiegel, neutral zu lächeln. Im Bad klatsche ich mir Wasser ins Gesicht und sage: »Hau rein, Mädel.« Ich entscheide mich für ein dunkelblaues Kleid, glätte meine Haare. Pinsele mir Make-up ins Gesicht und Mascara auf die Wimpern. Ich besitze nur ein Paar Schuhe – alte Doc Martens –, und zugegebenermaßen unterminieren sie ein wenig mein Erscheinungsbild, aber immerhin habe ich sie gestern Abend auf Dads Geheiß hin geputzt, und jetzt starren sie nicht mehr vor Dreck. Sie glänzen geradezu. Ein weiteres Zugeständnis an den Mann aller Männer.

Ich googele die Nachrichten, und sie sind nicht schön.

Dann laufe ich zur Bushaltestelle und betrachte die anderen Pendler, frage mich, ob sie denken, ich wäre eine von ihnen, oder ob sie wissen, dass ich ein Haufen Chaos in einem dunkelblauen Kleid bin. Zwei Anzugträger neben mir spielen unabhängig voneinander Candy Crush auf ihren Handys, eine Frau ist auf Tinder. Sie sind total vertieft in ihre jeweiligen Tätigkeiten. Ein paar Schulmädchen drängen sich um die Sitzbank der Haltestelle und lästern über ihre sogenannte Freundin: Ist sie überhaupt noch eine Freundin, wenn sie sagt, sie würde wie die anderen ihren Zwölfte-Klasse-Schulpulli hinten mit dem Namen ihrer Vierer-Clique bedrucken lassen, und dann werden die Pullis geliefert und sie so, nee, doch nicht? Da steht einfach nur »Maddison« und so?

»Die Leute sind Ärsche«, erklärt ein Schulmädchen den anderen altklug. Sie stimmen ihr zu. Wir steigen alle ein. Wo sie recht hat, hat sie recht.

Alle im Bus sehen müde aus. Ein Geschäftsmann ganz vorn hört Ariana Grande, der Refrain hallt in seinen Kopfhörern wider, auch wenn er es tunlichst vermeidet, mit seinen Loafern im Takt zu wippen. Ich selbst höre »Eye of the Tiger«, ein kleiner Scherz nur für mich, und mache dabei ein ernstes Gesicht.

Wir fahren an Ladenschildern vorbei, die ich schon mein ganzes Leben lang kenne. Das Möbelgeschäft, das früher ein Birkenstock-Laden war und es bestimmt irgendwann wieder sein wird, weil sich alles kreisförmig bewegt, und die quirlige Oxford Street in Sydney ist da keine Ausnahme. Wir fahren an dem Kino vorbei, in das ich als Teenager immer gegangen bin, in der Hoffnung, jemand würde mich beachten. Ich erinnere mich, wie ich den Film Bobby dort das erste Mal sah. Er handelte von der Ermordung des siebten Kennedy-Kindes mit meinen damaligen Idolen Lindsay Lohan und Demi Moore in Gastrollen. Ich weiß noch, dass ich wochenlang jedem, der nicht bei drei auf den Bäumen war, erzählte, dass der Film einem »wirklich nahegeht«, eine Formulierung, die ich bei Margaret, der Blumenblazer tragenden großen alten Dame der australischen Filmkritik, gehört hatte. Und der Film ging einem tatsächlich äußerst nahe. Wussten die anderen das über die Kennedys? Was für ein Pech diese Familie hatte!

Der Bus hält, und die Mädchen steigen aus und hüpfen fröhlich in einen Schultag hinein, den ich meinem ersten Arbeitstag sofort vorziehen würde. Aber man kann nicht sofort wieder nach Hause fahren, und man kann nicht ewig zur Schule gehen, es sei denn, man wird Lehrerin – und selbst dann ist es nicht das Gleiche, nehme ich an. Ich denke darüber nach und weiß, dass ich durchaus wieder nach Hause fahren werde, in circa neun Stunden, und das werde ich dann jeden Tag für den Rest meines Lebens tun.

Community-Moderatorin. Kommentare. Sind Hunde besser als Katzen? Lasst uns darüber diskutieren.

Ich bin Mitte zwanzig: Es ist mir erlaubt, ja man erwartet es von mir, einen Bürojob zu haben. Aber als ich vor dem großen Gebäude stehe, in dem das Unternehmen, für das ich nun arbeiten werde, untergebracht ist, fühle ich mich fast schon absurd fehl am Platz, so als würde jede Sekunde jemand auf mich aufmerksam werden, wie ich da vor der Tür stehe, und lachen, nach dem Motto: Tut mir leid, aber keine Chance. Es ist nicht so, dass ich mich in Firmenumgebungen grundsätzlich als Hochstaplerin empfinde, wegen internalisierter Misogynie oder dergleichen. Ich kann nur beim besten Willen nicht verstehen, wie jemand auf die Idee kommen könnte, es wäre ganz natürlich, dass ich hier bin. Ich habe Angst, dass mein Gesicht mich verrät. Bestimmt werde ich die Augen verdrehen und damit mein einnehmendes Lächeln Lügen strafen.

Ich mache mich für meinen großen Eintritt in die Geschäftswelt bereit (gehe also durch eine stinknormale Tür in einer Seitenstraße des zentralen Geschäftsviertels), betrete das Gebäude und gehe zum Aufzug. Ich steige ein und lächle strahlend, als würde ich von einer Kamera beobachtet.

Die Türen öffnen sich, und da bin ich, schon fast im Inneren des sehr großen, kalten Raums, in dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde, so kommt es mir an diesem Morgen zumindest vor. Ich setze mich zu ein paar anderen in den Empfangsbereich. Wir ignorieren uns und warten darauf, ins innerste Heiligtum geführt zu werden. Der Raum ist beige und erinnert mich an das Wartezimmer einer Abtreibungsklinik, nicht nur wegen der Firmenflyer und des Linoleums, sondern weil alle traurig entschlossen wirken, Eintritt in einen Bereich zu erlangen, der ihnen etwas nehmen wird. Sie verzehren sich geradezu danach, sich vor einen Computer zu setzen oder von jemandem befragt zu werden, der vor einem Computer sitzt. Nach einer Abtreibung kann man das Gebäude wieder verlassen, und man ist vielleicht wahnsinnig niedergeschlagen – oder fühlt sich wahnsinnig frei. Aber immerhin hat man selbst über seinen Körper und sein Leben entschieden, man hatte eine Wahl. Doch wenn man hier arbeitet, muss man diesen Empfangsbereich jeden Tag von Neuem durchqueren, um sich Lebensstunden wegnehmen zu lassen, und wenn wir dann abends um sechs wieder gehen, wird keine einzige Entscheidung, die wir in den vergangenen neun oder zehn Stunden getroffen haben, wirklich in unserem Sinne gewesen sein.