Ein Land für Kinder? - Heidelore Diekmann - E-Book

Ein Land für Kinder? E-Book

Heidelore Diekmann

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Beschreibung

Das Reich der Großen Erdmutter schreitet ein, weil es die Verhältnisse, in denen Kinder aufwachsen, nicht mehr erträgt. Magst du gern in der Natur sein? Wunder erleben? Dann folge Max ins Erdreich. Hier bekommt er den Auftrag, den vierjährigen Steffen mit Hilfe von Marie-Sophie zu retten. Sie gewinnen noch Paul dazu. Eine Monsterleiter wächst heran. Gelingt die Befreiung? Wohin bringen sie Steffen? Was erleben sie im Erdreich? Wollen sie dort bleiben? Was wollen die Eltern? Geht der Wunsch von Max, die Erdmutter zu sehen, in Erfüllung? Traum und Wirklichkeit berühren sich.

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Heidelore Diekmann

Ein Landfür Kinder?

Max und das Reich der Erdmutter

Für meine Schüler

INHALT

Für Max erweitert sich die Welt

Marie Sophie fehlt es eigentlich an nichts

Neue Freunde für Max

Wie Kinder leben und sterben

Der Auftrag

Nachforschungen

Kann Paul überzeugt werden?

Rettungsaktion oder Entführung?

Zeitungsberichte

Drei Mütter werden aktiv

Im Erdreich

Ein langer Weg bis zum Erscheinen des Menschen

Steffen

Auf dem Weg zur Zentralstelle des Erdreiches

Natura

Wie viel Zeit ist vergangen?

Was ist wirklich?

Die Eltern fordern ihre Kinder zurück

Welche Macht hat Frau Fröhlich über das Erdreich?

Die Entscheidung

Elternsorgen

Beim Rat der Knorrigen Alten

Forderungen aus dem Erdreich

Neue Kleider

Die Große Erdmutter

Die Suche nach dem Zugang zum Erdreich

Am See

Zeitungsberichte

Die Verbindung bleibt erhalten

Zeitungsbericht

Zu den Personen

Max Nabel:

11 Jahre, verbringt jede Minute seiner Freizeit in der Natur, ist oft tagelang allein unterwegs

Marie-Sophie Banner:

11 Jahre, genießt alle materiellen Vorteile gut verdienender Eltern, bekommt ihre Eltern selten zu sehen

Steffen Seibold:

4 Jahre, vegetiert in seinem Bett völlig geschwächt dahin

Paul Fröhlich:

12 Jahre, lebt in einer heilen Familie mit zwei Schwestern

Frau Nabel:

hat ihren Sohn mit 18 geboren und ist allein erziehend

Herr u. Frau Banner:

leben für ihren Beruf und glauben zunächst nur an reale Dinge

Frau Fröhlich:

quicklebendig, lebt mit ihrer Umgebung in Harmonie, übernimmt eine führende Rolle in den Verhandlungen mit dem Erdreich

Herr Fröhlich:

glaubt nicht an übernatürliche Kräfte

Herr u. Frau Seibold:

überfordert damit, ihren Sohn zu lieben

Weitere Personen:

Lehrer, Schüler, Polizisten, Reporter …

Personen des Erdreichs

Mercuriamam:

Vorzimmerdame des Erdreichs, zuständig für Belange der Menschen, verkörpert Mütterlichkeit und Liebe durch ihre Formen und ihre Ausstrahlung

Herr Klarsicht:

Kundschafter auf der Erde, dokumentiert Elend der Kinder

Natura:

leitet die Zentralstelle des Erdreichs, zuständig für in Not geratene Lebewesen

Rat der Knorrigen Alten:

zuständig für Kinder, will Land für Kinder im Erdreich errichten

Große Erdmutter:

Wie kann sie aussehen? Max weiß es – oder doch nicht? Welche Fähigkeiten besitzt sie?

Weitere Mitspieler:

Riesenleiter, Leuchtsteine, Lichtschleier, Steinmännchen …

Für Max erweitert sich die Welt

„Kommt alle her zu meinem Konzert, hier spielt Max der einzige, der auf Müll spielen kann.“

Er schwenkte einen Eisenstab hin und her und schlug dabei links auf ein altes Fass und rechts auf eine Felge. Auf dem Rückweg zum Fass tippte er verschiedene aus dem Gras ragende Metallteile an. Zufrieden lauschte er den Tönen. Eifrig steigerte er seine Schnelligkeit.

Schwungvoll wippte seine braune, lockige Löwenmähne mit, die seinen Kopf beträchtlich vergrößerte, weil sie in alle Richtungen abstand. Ton auf Ton schepperte heraus.

Begeistert hielt er einen Augenblick inne, begann von Neuem und änderte nun den Rhythmus. „He, will keiner kommen, dann spiele ich eben nur für mich! Und ich finde das toll, was ich spiele! Megatoll!“

„Geht’s vielleicht ein bisschen höher oder tiefer? Oder scheppernd oder leise? Meine Musikvorführung kann noch unendlich ausgedehnt werden, und ob mir immer noch etwas Neues einfällt!“

Und dann fand er, dass ein Stab allein nicht genügte.

Während sein Arm noch Bewegungen ausführte, schaute er schon umher und musterte das alte Fabrikgelände.

Neben dem roten schäbigen Backsteinbau, in dem vor langer Zeit Metallfässer hergestellt wurden, wucherten Gras, Wildkräuter und kleine Büsche. Hier war sein Paradies. Stundenlang konnte er in dieser Umgebung zubringen, ihm wurde nie langweilig.

Heute am Sonnabend war er schon um sechs Uhr aus der Wohnung geschlichen. Seine Mutter schlief noch, und ihren Freund hörte er leicht schnarchen. Dieser Tag gehörte wieder nur ihm. Keiner würde ihn vermissen. Seine Mutter wusste, dass er gern in der Natur herumstreifte. Wenn er fort war, konnte sie am Wochenende endlich lange schlafen. Sie hatte keine Angst, dass er nicht wieder auftauchen würde. Er steckte sich zwei trockene Brötchen ein, die er aus dem Einkaufskorb der Mutter fischte, und biss vor der Wohnungstür in einen der beiden Äpfel, die er sich in seine Jackentasche zu den Brötchen gestopft hatte. Zum Schluss hängte er sich noch den Wohnungsschlüssel um den Hals, und dann ging er gemächlich zu seinem Fahrrad, schloss es auf und radelte davon. Eine Schirmmütze bändigte seine Haarpracht.

Sie war ihm etwas peinlich, gern hätte er etwas männlicher ausgesehen, aber was sollte er gegen seine Naturlocken ausrichten? Glatze und kurze Haare fand er doof. Außerdem konnte er sein Gesicht, wenn er es für nötig hielt, gut mit seinen Haaren verdecken.

Tief einatmend nahm er die Gerüche des Morgens wahr – Gras, feuchte Erde, Frische.

Jedes fremde Auto in der Straße fiel ihm auf, jeder versetzte Mülleimer und jeder verschlossene Rollladen. Es war seine Straße, und er kannte sich sehr genau aus. So früh am Morgen konnte er selbst hier im Vorort unvermutet Tiere antreffen.

Ein Kaninchen hoppelte im Garten von Stelters herum und fraß genüsslich Blumenknospen. „Na, du Racker, schmeckt es dir?“ Das Kaninchen beobachtete ihn aufmerksam und ließ sich nicht stören. Er konnte gut mit Tieren umgehen.

Wenn es nach ihm ginge, würde er es am schönsten finden, in einer selbstgebauten Hütte irgendwo allein zu leben. Eigentlich fand er, sollte er es langsam tun.

Und so geschah es, dass er manchmal schon zwei bis drei Tage von zu Hause fortblieb. Nur wenn er großen Hunger hatte, kehrte er zurück. In der Woche gab es leider auch Ärger, wenn er die Schule schwänzte. Dann konnte selbst seine Mutter unangenehm werden, wenn sie wieder einmal zur Rektorin kommen musste. Heute aber lag das Wochenende vor ihm. Niemand würde ihn vermissen.

„Wo finde ich jetzt einen zweiten Eisenstab? Hier liegt doch genug Schrott rum!“ Seine Augen streiften umher. Er klopfte und stocherte im Gras herum. Eilig hatte er es nicht, er hatte Zeit, viel Zeit.

Sein Blick wanderte zu den Wolken am Himmel. Schwer und grau hingen sie dort. Die Sonne bemühte sich, die graue Schicht zu durchdringen, schaffte es aber kaum. Graugelbes Licht strahlte auf ihn und seine Umgebung herab und ließ alles etwas unscharf erscheinen.

Behutsam sammelte er eine haarige Raupe auf und ließ sie über seinen Handrücken kriechen. Unermüdlich begann sie immer erneut mit ihrem Aufstieg zu seinen Fingerspitzen, nachdem er sie wieder auf sein Handgelenk zurückgesetzt hatte. Mit kleinen Wellenbewegungen bewegte sie sich vorwärts und richtete ihren Körper auch hin und wieder auf. Dabei sah er ihre sechs Bein. Sie waren an der Spitze mit kleinen Krallen versehen und saßen am vorderen Teil ihres Körpers.

Aber irgendwann fiel ihm der zweite Eisenstab wieder ein. Sanft setzte er die Raupe auf ein Blatt und schaute sich prüfend um.

„Was war das?“ Dort im Gras, da lag doch etwas bräunliches Langes. Das musste Eisen sein. Mit seiner Stange versuchte er, unter das Eisen zu gelangen, um es aus der Erde zu heben.

Es bewegte sich nicht. Es musste entweder tief in der Erde stecken oder sehr groß sein. Wenn es ein richtig gutes Eisenstück sein sollte, könnte er es auch zum Schrotthändler bringen. Mit Eifer machte er sich an die Arbeit, seinen Fund freizulegen. „Nun komm schon! Dich muss ich kriegen!“

Eine Grassode setzte sich an seinem Stab fest.

„Ha, was ist das für eine schöne Fahne! Folgt mir“, schrie er und marschierte los. Stampfend und laute Töne von sich gebend, marschierte er am Hauptgebäude vorüber. Der Stab wurde dabei zum Dirigentenstab und unterstützte das Stampfen und Trompeten. Leider fiel die Grassode irgendwann ab.

Er hielt inne.

„Pech!“ Was sollte er nun tun? Nur einen kurzen Augenblick bedauerte er das Ende seines Musikumzuges. Dann rannte er zurück zu dem in der Erde steckenden Eisen. „Das wollte ich doch haben!“ Er bohrte, er stocherte, er grub. Es widersetze sich all seinen Bemühungen, es freizulegen. Es gelang ihm einfach nicht, unter das Eisen zu kommen, um es anzuheben. Aber so schnell gab er nicht auf.

„Mit mir nicht!“ Unermüdlich bohrte er Stück für Stück von dem Gras ab, schleuderte es, wenn es wieder einmal am Stab hängen blieb, so lange herum, bis es abfiel, und geriet vor lauter Eifer ins Schwitzen. Die Arbeit machte ihm Spaß. Nach und nach legte er ein immer größeres Stück frei.

Es war auf jeden Fall kein Stab, es war breiter.

„Aha, du bist was Besonderes!“ Seine Neugier war geweckt. Er wollte wissen, wie groß dieses Stück war. Da die Grassoden sehr ineinander verfilzt waren, kam er nur langsam voran. Mühsam bohrte und stocherte er weiter. Seine Bewegungen verlangsamten sich. Nach einer Weile wurde es ihm einfach zu anstrengend. Er hatte genug!

Missmutig warf er seinen Stab auf das Eisenstück, das er nicht freilegen konnte.

Ein dumpfer Laut ertönte, hallte und hallte tief unter ihm und hörte gar nicht auf. Er legte sein Ohr auf das Eisen, sprang aber sofort wieder auf, weil es zu sehr dröhnte.

„Komm, komm, mach weiter, ein bisschen anstrengen musst du dich schon!“ Hörte er etwas raunen, oder bildete er sich das nur ein? Was ging da vor?

Noch einmal ergriff er seinen Stab und versuchte, unter das Ende des Eisenstückes zu gelangen, um es hochzudrücken.

Es knirschte, es bewegte sich, und eine Platte hob sich von der Erde ab. Mit beiden Händen griff er zu und drückte sie weiter hoch. Wie leicht es plötzlich ging!

„Eine Öffnung, eine Treppe!“

Nun war seine Neugier völlig geweckt. Er beugte sich hinab und sah hinunter. Die Treppe verschwand im Dämmerlicht. Wohin sie führte, musste doch erforscht werden!

„Alle mutigen Krieger aufstellen“, brüllte er, ergriff seinen Eisenstab, steckte auf die Spitze noch eine Grassode und stieg aufrecht marschierend die Treppe hinunter. Sie schien sehr tief hinunterzuführen.

Tageslicht erhellte seinen Abstieg nur kurze Zeit. Dann wurde es dunkler. Seine Augen gewöhnten sich an die Dämmerung, und er konnte die Stufen weiter hinabsteigen. Doch sehr schnell wurde es zu dunkel. Sein Fuß ertastete nur noch die nächste Stufe, und wohin er abstieg, konnte er nicht mehr sehen. Entmutigt blieb er schließlich stehen und bemerkte, dass er seinen Eisenstab immer noch wie eine Fackel in der Hand hielt. „Na“, meinte er, „wozu trage ich dich überhaupt, du könntest wenigstens leuchten.“

Ein Glimmen erschien plötzlich über ihm und wurde heller und heller. Dort, wo das Grasbüschel am Eisenstab saß, breitete sich eine immer größere graugrüne Helligkeit aus.

„Huch, wie kommt denn das?“ Erstaunt bewunderte er sein Leuchtgras. Erklären konnte er es nicht. Aber dafür sah er nun, die nächsten zwölf Treppenstufen sehr deutlich. Sollte er weitergehen oder umkehren?

„Komm, komm, ein bisschen weiter musst du schon noch gehen.“ Hatte er da schon wieder eine Stimme gehört? Er war sich nicht sicher, ob er selbst gesprochen hatte.

Aber, wer anders sollte sonst mit ihm reden?

Wenn das Licht erlosch, konnte er auf jeden Fall auf allen Vieren die Treppe hochkriechen. Er musste einfach weitergehen.

Die Treppe war schmal, führte sehr gerade hinunter und hörte und hörte nicht auf.

Wie lange war er nun schon gegangen? Ging er überhaupt selbst, oder was bewegte seine Beine? Ein Zischen zeigte ihm an, dass seine Fackel verglomm. Was nun?

Einen kurzen Augenblick war alles um ihn herum finster, dann aber umgab ihn ein warmes, sanftes, gelbes Licht. Jegliche Anspannung fiel von ihm ab. Er fühlte sich geborgen.

„Komm schon her zu mir, wie lange soll ich dich bitten?“, hörte er eine Stimme sagen. Er blickte auf und nicht weit von ihm saß eine Frau. Das sanfte, gelbe Licht floss auf sie zu, umhüllte sie und strömte zu ihm zurück.

Beim genaueren Anschauen war er sich nicht sicher, ob es eine Frau war. Wo hörte ihre Gestalt auf, wo fing sie an? „So etwas habe ich noch nie gesehen!“ Ihre Form war unglaublich ausladend. Er wusste nur, dass er sich von diesem Wesen angezogen fühlte. Er beschloss zu glauben, dass es eine Frau war.

Nichts konnte ihn aufhalten, sich in ihre Arme zu werfen. Er versank in Weichheit, Wärme und fühlte sich einfach wohl.

„Wie schön, dass du zu uns gefunden hast, Max!“

Sie kannte seinen Namen? Er rappelte sich aus der weichen Umarmung heraus, schüttelte seinen braunen Lockenkopf und schaute sein Gegenüber mit groß aufgerissenen braunen Augen verblüfft an.

„Wieso weißt du, wer ich bin, und wieso habe ich keine Ahnung, wer du bist?“

„Du befindest dich im Vorzimmer der Großen Erdmutter, und ich bin ihre Empfangsdame, Kundschafterin, kurz: Mädchen für alles. Mein Name ist Merkuriamam.“

„Aber wieso kennst du mich, wo du so tief in der Erde lebst? Verlässt du diesen Ort denn öfter?“

„Ganz schön viele Fragen auf einmal. Bleibe bitte ganz still, dann wirst du auch Nachrichten aus deiner Welt empfangen.“

Max lehnte sich zurück. Wie gut das tat! Er war wunschlos glücklich. Hier wollte er bleiben.

Ob er eingeschlafen war oder träumte, wusste er nicht. Bilder umschwirrten ihn plötzlich, Bilder von vielen Kindern. Alle hatten unterschiedliche Hautfarben, waren sehr jung, aber auch schon älter, und schienen in vielen verschiedenen Ländern zu leben.

Ein Kind lag auf einem Stück Pappe und schien zu schlafen. Fliegen setzten sich auf sein Gesicht.

Ein Junge rannte keuchend mit einem großen Bündel hinter einem schwer bepackten Esel her. Andere saßen bettelnd auf der Straße.

Ein Kind saß völlig verschmutzt allein in einer Wohnung und wiegte sich hin und her. Ein Mädchen lag bis auf die Knochen abgemagert in seinem Bett. Es regte sich nicht.

Jungen tobten auf der Straße, rempelten andere Leute an. Ein Junge riss einer Frau die Handtasche weg. Auf einem Hinterhof prügelten einige Kinder auf einen Jungen ein.

Dann tauchte ein Gesicht von einem Mädchen mit langen blonden Haaren und nachdenklichen braunen Augen auf. Es kam ihm bekannt vor.

Dieses Mädchen war nicht ärmlich, sondern modisch und schick gekleidet. Glücklich sah es aber auch nicht aus. Dabei wohnte es sogar in einem supertollen Haus. Eine ältere Dame brachte ihm Essen und fuhr es dann mit dem Auto zum Geigenunterricht. Danach saß es in einem Sprachkurs und schließlich wieder zu Hause. Es lag schon im Bett, als die Tür aufging und es einen Gutenachtkuss von seinen Eltern bekam, die gerade nach Hause zurückkehrten.

Nun fiel ihm ein, wer dieses Mädchen war. Es war eine Mitschülerin von ihm, Marie-Sophie Banner. So eine eingebildete Pute, mit der hatte er bisher kaum ein Wort gewechselt.

Und dann sah er sich.

Sah, wie er frühmorgens das Haus verließ, sah sich am See in seiner Stockhütte schlafen, sah sich auf dem Fabrikgelände, hatte Hunger und wachte auf.

Er lag auf dem Boden. Um ihn herum war es dunkel und kalt.

Zögernd richtete er sich auf und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Wo war diese seltsame Frau geblieben? Hatte er sie sich nur eingebildet? Wo waren die Bilder, die er gesehen hatte? Warum war er wieder allein, wo er sich doch in der Gesellschaft von Merkuriamam so wohl gefühlt und gar nicht mehr fortgewollt hatte? Was hatte das alles zu bedeuten?

Tastend fuhren seine Hände über den Boden, sie stießen gegen einen runden Stein. Er fühlte sich sehr glatt an. Ohne nachzudenken steckte er ihn in seine Hosentasche. Langsam konnte er Umrisse erkennen und erblickte nicht weit von sich entfernt Treppenstufen. Er kroch darauf zu und bewegte sich aufwärts. Auf allen Vieren kroch er höher und höher. Endlos erschien ihm sein Aufstieg.

Als schließlich Licht die Treppe erhellte, fühlte er sich erleichtert, richtete sich auf und kam zurück ins Tageslicht.

Es regnete. Scharf zeichneten sich die Umrisse der Gebäude ab. Er trat einen Schritt von der Treppe weg und schaute sich prüfend um.

Ja doch, es war alles so, wie er es schon viele Male gesehen hatte. Zum Schluss drehte er sich noch einmal nachdenklich zur Treppe um. Sie war verschwunden. Das Eisenblech schaute kaum unter den Grassoden hervor, als hätte er nie den Versuch unternommen, es zu heben. War er wirklich hinabgestiegen und wieder hochgestiegen? Doch, es musste wahr sein!

Der Regen wurde stärker. Wohin sollte er gehen?

Als er seinen Hunger spürte, entschloss er sich, nach Hause zu fahren. Auch wenn niemand da sein sollte, würde er schon irgendetwas Essbares finden. Er schaute noch in seinen Jackentaschen nach, aber alles, was sich dort befunden hatte, hatte er schon aufgegessen.

Sein Fahrrad entdeckte er dort im Gebüsch, wo er es abgestellt hatte. Etwas lahm schwang er sich auf den Sattel, und radelte so schnell er konnte zur Wohnung der Mutter.

Es war niemand zu Hause, aber im Kühlschrank fand er Wurst, Käse und Joghurt. Kauend ging er in sein Zimmer und schaltete den Fernseher an.

Marie Sophie fehlt es eigentlich an nichts

„So, Marie-Sophie, ich gehe jetzt! Essen steht für dich bereit! Hab noch einen schönen Abend und geh nicht zu spät ins Bett! Bis morgen!“

Um 19.30 Uhr hatte sich Frau Sager von ihr verabschiedet, hatte ihr noch einige Schnitten hingestellt und war gegangen. Frau Sager war eine ältere Dame, die immer einsprang, wenn die Eltern zu lange in ihrer Anwaltskanzlei bleiben mussten, und die sie auch tagsüber betreute. Sie kochte das Mittagessen für sie und fuhr sie mit dem Auto überall dorthin, wohin sie zu Fuß nicht gelangen konnte. Sie betreute sie zuverlässig und erledigte leichte Hausarbeiten. Die Eltern, Herr und Frau Banner, waren sehr froh, eine so gute Betreuung für ihre Tochter gefunden zu haben. Ja, eigentlich fehlte es Marie-Sophie an nichts. Ihre Wünsche wurden sofort erfüllt. Sie besaß Unmengen von Büchern, Spielzeug und Kleidung.

Nachdem Frau Sager das Haus verlassen hatte, stellte Marie-Sophie sich an das große Fenster im Wohnzimmer und schaute hinaus in den Garten. Es war noch hell draußen. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf den Rasen und tauchten ihn in ein warmes Gelb. Eifrig sausten Vögel umher und zwitscherten um die Wette. Sie traute sich jedoch nicht, die Terrassentür zu öffnen, aus Furcht davor, dass jemand ins Haus eindringen könnte.

So schaute sie eine Weile einfach hinaus. „Was mache ich jetzt?“Als es ihr zu langweilig wurde und sie das Verlangen spürte, sich zu bewegen, legte sie eine CD auf und begann danach zu tanzen. Sie liebte Musik und tanzte einfach gern. Zunächst stand sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden und bewegte den Körper leicht schwingend hin und her, dann kreiste sie mit den Armen zum Rhythmus der Musik und schwebte leichtfüßig durch das ganze Zimmer. Schneller und schneller stampfte sie mit den Füßen, warf den Kopf mit den langen Haaren in den Nacken und ließ sich zum Schluss zusammenfallen.

Summend zog sie dann ins Badezimmer. Sie wollte ins Bett, dort konnte sie es sich so richtig gemütlich machen.

Als sie an ihrer ausgepackten Geige vorbeikam, spielte sie noch eine leichte Melodie. Da sie aber nicht sehr bei der Sache war, erklangen einige Töne reichlich schnarrend, und sie legte die Geige rasch weg.

„Nun wird es gemütlich!“ Leichtfüßig sprang sie ins Bett, schichtete viele Kissen hinter sich auf und begann, sich wohlig einzukuscheln. Lauschend setzte sie sich nach kurzer Zeit wieder auf und wartete darauf, ob sich nicht doch schon der Schlüssel im Türschloss drehte und die Eltern nach Hause kamen. Ohne die Eltern fühlte sie sich sehr allein. „Ach, es wird heute wohl wieder spät!“

Aus den vielen Büchern, die auf ihrem Nachtisch lagen, suchte sie sich eins aus und begann zu lesen. Sie las gern im Bett. Die vielen Kissen machten es schön kuschelig.

Auf ihren Nachttisch hatte sie einen Teller gestellt, auf dem zwei Gewürzgurken, mehrere Scheiben Schinken und einige Stücke Schokolade lagen. Ab und zu steckte sie sich ein Stück Schokolade in den Mund. Wenn der Geschmack im Mund zu süß wurde, schob sie eine Scheibe Schinken hinterher und biss anschließend genussvoll von einer Gewürzgurke ab. Diese Reihenfolge wiederholte sie einige Male, na ja, wenigstens so lange, bis ihr etwas übel war. Aber so weit war es heute noch nicht, denn das Buch erregte ihr Interesse so sehr, dass sie das Essen vergaß.

Das Buch hatte zur Leselektüre der Großmutter in ihrer Jugend gehört. Es handelt von einem dreizehnjährigen Mädchen, das nach dem Zweiten Weltkrieg allein mit seinem kranken Vater lebt und versuchen muss, Geld zu verdienen, als dieser ins Sanatorium kommt. Nach einigen Anfragen wird sie schließlich in einem Hotel angestellt und darf auch noch morgens in die Schule gehen. Diese Doppelbelastung führt natürlich zu Schwierigkeiten.

Gespannt verfolgte Mary-Sophie das Leben des Mädchens und atmete auf, als das Mädchen eine Frau, die keine Kinder hat, findet, die sie liebevoll aufnimmt und umsorgt. Umsorgen heißt, sie ist immer da, wenn sie Kummer hat, sie kocht für sie, und sie unternehmen vieles gemeinsam.

„Schön wäre es, wenn ich auch jemanden hätte, der immer bei mir ist“, dachte Marie-Sophie. „Nach dem Krieg waren die Lebensbedingungen schwierig, aber leicht sind sie heute auch nicht.“