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Ein Leben, viele Stimmen. Tag, Nacht, Anders. Autobiografie einer multiplen Persönlichkeit. Du fühlst Dich manchmal fremd in Deinem eigenen Körper? Als ob mehrere Personen in Dir wohnen? Dieses Buch bietet Betroffenen der dissoziativen Identitätsstörung einen sicheren Raum zum Verstehen und zur Selbstakzeptanz. Mit persönlichen Erfahrungen, Erkenntnissen und praktischen Übungen begleitet es Dich auf Deinem Weg. Hedda-Marie Schenker ist selbst von DIS betroffen und teilt ihre Erfahrungen auf authentische und einfühlsame Weise. Dieses Buch ist ein wertvoller Begleiter für alle, die auf der Suche nach Antworten und Unterstützung sind. Nicht nur für Betroffene. Erst hatte sie eine Depression. Dann kam die komplexe posttraumatische Belastungsstörung dazu. Und als ob das nicht schon reichen würde, ist sie heute eine multiple Persönlichkeit. Also, sie hat eine dissoziative Identitätsstörung.
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Seitenzahl: 240
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Hedda-Marie Schenker
Ein Leben, viele Stimmen.
Tag, Nacht, Anders.
Hedda-Marie Schenker
Ein Leben,
viele Stimmen.
Tag, Nacht, Anders.
Autobiografie
Es ist nicht leicht, ein verständliches Inhaltsverzeichnis in einem chaotischen System zu kreieren. Ich versuche aber, einen Überblick zu erschaffen.
Und zwischendurch ein Gedicht oder eine Alltagsgeschichte. Seid bitte nachsichtig. Es entspricht – genau wie wir – nicht der Norm.
Inhaltsangaben
Erklärungen
Ich stelle euch mal die Anteile vor:
Lütte / Ilka schreibt
Leines erwacht
Das rote Buch
Das Kommunikationsbuch
Leines nimmt Kontakt auf
Therapeutensuche und Ärztefund
Ilka – Der Heilungsweg mit Humanitas
Auf der Flucht aus der Isolation
Wandlungen
Klara, unsere Partnerin
Anteilsverlust – Ein Gedicht
Ilka
Alltagsgeschichte I
Alptraum Wunschtraum – Ein Gedicht
Kate heute
20 Seelen – Ein Gedicht
Dietmar beschreibt seine Innenwelt
Lönnes Alltag
NoNa heute
Alltagsgeschichte II
Alltagsgeschichte III
Alltagsgeschichte IV
Die Schatten mit Krawatten – Erklärung
Die Schatten mit Krawatten
Für Partner, Freunde & Co:
Alltagsorganisation & Werkzeugkoffer
Emma Sonnenschein
Die Stille und das Wissen – Ein Gedicht
Nachgedacht
Lebensverlauf – wen’s interessiert
ÜBER DIE AUTORINNEN
Impressum
Hast du das Gefühl, dass verschiedene Teile in dir
miteinander kämpfen? Das ist kein Kampf, das ist unser Leben.
Groß und stark und maskulin
so stellen ihn die anderen hin
Er ist immer ehrlich und schreibt begabt
hat eine Zeitlücke von neun Jahren gehabt
er ist ein Kerl, wenn’s ums Handwerken geht
hat sogar schon Laminat verlegt
Er achtet auf Gemüse, isst nur nach Punkten
Hält die Luft an, wenn wir ins Nutellaglas tunken
Tief im Herzen ist er aber fein
Bei Freunden wird er auch mal klein
Seine frechen Sprüche, der trockene Humor
Für Kritik immer ein offenes Ohr
Groß und stark und maskulin
So stellen ihn die anderen hin
Bei uns gibt es Leise, sie ist eine Laute
Sie war die erste, die sich zu wehren traute
Martha passt von innen auf alle auf
Haut bei Bedarf auch auf Autos drauf
Stand auf und machte sich groß
Legte ihre Hände nicht zurück in den Schoß
Seitdem wir sind in Sicherheit
Verblasst in ihr die Bitterkeit
Bei uns gibt es Leise, sie ist eine Laute
Sie war die Erste, die sich zu wehren traute
Zierlich und ordentlich und feminin
So stellt sich die Emma hin
Wird sie sauer, bleibt ihr lieber fern
Sie wird zur Furie. Wir haben sie trotzdem gern
Die Stimme mag sehr fein erklingen
Zur Not kann sie den Hammer schwingen
Laminat verlegen, Tapeten abreißen
Wäsche waschen, Haushalt schmeißen
Aus Rezepten kocht sie lecker Essen
Lässt sie die Kindheit schnell vergessen
Jugendlich und immer frisch verliebt
Klara sie als zuckersüß beschrieb
Zierlich und ordentlich und feminin
So stellt sich die Emma hin
Weiblich und freundlich und mit viel Sinn
So stellt sich die Ilka hin
Die anderen Anteile halten sie auf Trab
Gibt die Zügel nur in Sicherheit ab
Muss den Überblick im Chaos behalten
Und Süßigkeiten in Gläsern verwalten
Präsentiert unseren Körper den ganzen Tag
Auch wenn sie manchmal nicht mehr mag
Heute ist sie offen, neugierig und froh
Leider war das nicht immer so
Geplagt von Medikamenten und Depressionen
Wollte sie im Körper nicht mehr wohnen
Weiblich und freundlich und mit viel Sinn
So stellt sich die Ilka hin
Intelligent und nüchtern, sie ist die Bestimmerin
So stellt sich Kate nicht selber hin
Sie regelt die Finanzen, ist unsere Arbeitsmaus
Redet nicht mit Fremden, geht selten raus
Sie spielt Golf nicht des Sportes wegen
Sondern findet im Regelwerk ihren Segen
Eiswagen und Karussell kann sie widerstehen
Auch wenn die Kinder von Innen laut flehen
Sarkasmus kann sie nicht verstehen
Muss die Welt ohne Lachen bestehen
Sie ist loyal, praktisch und sehr ehrlich
Macht dir die Steuererklärung jährlich
Intelligent und nüchtern, sie ist die Bestimmerin
So stellt sich Kate nicht selber hin
Kindlich, verspielt und mit Frohsinn
So stellt sich die NoNa hin
Jeden Morgen wacht sie auf
Kommt beim Singen immer gut drauf
Freudvoll trällert sie: guten Morgen Sonnenschein
Lässt durch das Ritual die gute Laune rein
Sie nuckelt noch am Daumen herum
Das nehmen die Großen ihr richtig krumm
Beim Karussell kann sie nicht widerstehen
Muss erstmal Pferde und Autos ansehen
Kind sein können in einer alten Frau
Findet NoNa so gar nicht so schlau
Kindlich, verspielt und mit Frohsinn
So stellt sich die NoNa hin
Humorvoll trifft auf Blödsinn
So stellen wir den Lönne hin
Er lacht sehr gerne und sehr viel
Liebt Bagger und kennt die Blumen von Pril
Bring den Müll runter, nennt es aber Kinderarbeit
Schokolade nicht zu teilen bedeutet großes Leid
Er glaubt an Elfen, Wünsche und Magie
Böse Worte hörst du von ihm nie
Seine Währung sind Eiskugeln Sorte Stracciatella
Wenn Gefahr droht, ist er weg immer schneller
Er liebt die Wagen der Straßenreinigung sehr
Aber den Eiswagen mit der Klingel noch mehr
Humorvoll trifft auf Blödsinn
So stellen wir den Lönne hin
Neugierde und Tierliebe sind drin
So stellt sich die Marie hin
Sie fährt gerne Auto und kommt gerne gucken
Muss sich vor Fremden schützend wegducken
Sie liebt es, die Katze zu herzen
Und über Lönnes Gesang zu scherzen
Sie ist ein Engel, so ein herrliches Kind
Sie ist allen Menschen so wohlgesinnt
Marie mag es, Tränen zu lachen
Mit Paule, dem Stofftier, wilde Sachen machen
Mit der Bettdecke auch auf der Couch zu liegen
Und mit Klara über die Blumenwiese fliegen
Neugierde und Tierliebe sind drin
So stellt sich die Marie hin
Kell begegnet anderen sehr verständnisvoll
Wir finden Kell seit dem Teambuilding toll
Er kann nicht gut sehen und ist meistens blind
Und das erst seit ihm übel geschah als Kind
Er ist die gute Seele im Haus
Kommt leider nur selten nach draußen raus
Er ist so tiefgründig, feinfühlig und gescheit
Andere verpassen dir Schubser, er gibt dir Geleit
In der Kindheit war er der große Proll
Rauchte stark und war meistens voll
Er wünschte sich sehr den Tod der Täter
bereute seine Tat zutiefst bis später
Kell begegnet anderen sehr verständnisvoll
Wir finden Kell seit dem Teambuilding toll
Dietmar lacht und ist immer herzlich
Sein Geheimnis: er spricht nicht
Niemand weiß, was ihm geschehen
Er lässt sich auch nichts ansehen
Wohnte lange Zeit nur drinnen im Baumhaus
Kam zum Fußballspielen plötzlich raus
Hat nun oft Besuch in seinem schönen Nest
Organisiert den anderen mit Getränken und Essen ein Fest
Liebt Fußball gucken und Chips essen
Mag Würfelspiele und dabei alles vergessen
Er erzählt Geschichten mit Händen und Füßen
Lässt niemanden für die Vergangenheit büßen
Dietmar lacht und ist immer herzlich
Sein Geheimnis: er spricht nicht
Walter ist Gott, dachte ich immer
Er weckt mich, werden die Träume schlimmer
Die Stimme sanft, dunkel und klar wie die Nacht
Er ist derjenige, der über uns wacht
Über Walter gibt es nicht viel zu berichten
Außer das Feuer um das rote Buch zu vernichten
Nur einmal hat er schlimm agiert
Hat unser Buch auf dem Balkon flambiert
Es gibt keine Geheimnisse mehr zu lüften
Wollte die Gemeinschaft vor Verrat beschützen
Walter ist Gott, dachte ich immer
Er weckt mich, werden die Träume schlimmer
Bei uns gibt es laute, sie ist eine leise
Was nicht weiter schlimm ist, denn sie ist eine Weise
Ist unendlich alt und auf verschiedene Arten da
Nimmt sie doch jeder von uns anders wahr
Mal ist sie Traumwächterin, mal freundliche Helferin
Steckt sie nicht immer in unserem Körper drin
Sie sorgt für uns, wie eine Ma für ihr Kind
Egal, was wir machen, egal wo wir sind
Wird sie gebraucht, steht sie für uns ein
So sollte es in einer Familie auch sein
Bei uns gibt es laute, sie ist eine leise
Was nicht weiter schlimm ist, denn sie ist eine Weise
Kurvenreich an den Hüften, sexy und feminin
So stellt sich Hettie selbstbewusst hin
Ihr ist wichtig, die Sinnlichkeit und der (dazugehörige) Verkehr
Möchte davon einfach mehr
Sie ist unbedarft und hingebungsvoll
Macht die Erotik und Verführung vollends toll
Sie macht sich zurecht und deckt auf das Bett
Macht zum Vollzug wirklich alles akribisch und nett
Überlässt nichts dem Zufall und richtet alles her
Liebt unsere Klara von ganzem Herzen sehr
Kurvenreich an den Hüften, sexy und feminin
So stellt sich Hettie selbstbewusst hin
Bei uns gibt es schüchterne, er ist aber mutig
Wird es dem System zu viel, kratzt er die Arme blutig
Das macht er nicht mutwillig und nicht mit böser Absicht
Er ist jemand, der nicht mit uns anderen spricht
So kam es oft in der Vergangenheit zu kaputten Armen
Klara hat ihn gesehen, angehört und durfte ihn umarmen
Nun ist er der, der die Tür kontrolliert und das Licht ausmacht
In brenzlichen Situationen, die Heda hält im Schacht
Er versteht nun das System und hat eine Aufgabe bekommen
Hat den Dienst des Einräumens der Spülmaschine übernommen
Bei uns gibt es schüchterne, er ist aber mutig
Wird es dem System zu viel, kratzt er die Arme blutig
Hedda ist die Liebe und der Sonnenschein
Unser Kern strahlend hell im ganzen Sein
Ihr Herz ist offen und versprüht Liebe pur
Sie berührt dein Herz mit ihrer Anwesenheit nur
Immer freundlich und zart, mit jedem einzelnen Wort
Lebte sie lange an einem uns verborgenen Ort
Viel mehr können wir nicht von ihr berichten
Vielleicht erzählen wir von ihr noch in Geschichten
Hedda ist die Liebe und der Sonnenschein
Unser Kern strahlend hell im ganzen Sein
Groß, unnahbar und ungemein stark
Von dem System absolut autark
Sie hat funktioniert und war gehorsam
Legte durch Angst das ganze System lahm
Sie dirigierte den Körper, wenn die Schatten es wollten
Opferte Hettie, die Regeln der Schatten hatten gegolten
Abgrundtief böse und unheimlich düster
So war Heda drauf seit Kindheit frühester
„He – da kommt ja die Kleine“, feierten die Schatten
Mit ihren Anzügen und den Krawatten
He – da kommt ja die Kleine
Den Namen gab sie sich alleine
Früh schon gehörte sie zu den Großen
War von uns lange ausgestoßen
Wir hatten Angst und wollten ins Licht
Doch die Schatten wollten das nicht
Groß, unnahbar und ungemein stark
Von dem System absolut autark
Mal weiblich, mal männlich, aber meistens gut drauf
So stellt sich das System der Hedda-Marie Schenker auf
Das System ist komplex und nicht leicht zu beschreiben
Bei den fehlenden Namen gilt es am Ball zu bleiben
Diese anderen Anteile sind noch blinde Flecken
Aber wir wollen auch nicht schlafende Hunde wecken
Jeder braucht einen Moment um Sicherheit zu bekommen
Aus dem Sumpf der stehenden Zeit zu entkommen
Jeder einzelne erwacht nach und nach, Schritt für Schritt
Jeder ist willkommen, ganz egal, was er erlitt
Mal weiblich, mal männlich, aber meistens gut drauf
So stellt sich das System der Hedda-Marie Schenker auf
Unsere innere Landkarte
Manchmal benehme ich mich anders.
Ich schreibe hier ganz persönlich und aus eigener Erfahrung und eigenem Erleben. Nichts beschreibe ich aus meiner Vergangenheit, die ursächlich für die dissoziative Identitätsstörung ist, aber hinten auf den Seiten 196 bis 198 gibt es einen kleinen Lebensverlauf – wen’s interessiert. Ich beschränke mich auf den Heilungsprozess. Nein, geheilt bin ich nicht, aber glücklich – meistens! Wie die Heilung am letzten Ende aussieht, weiß ich nicht. Wer will das beurteilen? Bis hierhin war das alles eine lange harte Arbeit, ein steiniger Weg mit vielen Höhen und Tiefen. Und mal ehrlich! Sind wir nicht alle bis zu einem gewissen Grad verrückt? Meine letzte Erkenntnis ist tatsächlich, dass ich einzigartig bin. Also, ich kann mich gar nicht mit anderen Menschen vergleichen. Klar hört und liest man das ständig, aber ich habe es nie richtig verinnerlicht. Das, was ich weiß, ist noch lange nicht, was mich auch ausmacht. Wissen und Anwendung sind zwei verschiedene Dinge. Nur weil ich weiß, dass ich einzigartig bin, heißt es nicht, dass das Gefühl auch innen angekommen ist. Wissen ist nicht gleichzusetzen mit Fühlen.
Mit meinen Erfahrungen möchte ich dich ermutigen und dir zeigen, dass das Leben verschiedene Wege hat, gelebt zu werden. Ich freue mich, wenn ich einem Menschen weiterhelfen kann. Ich freue mich, wenn du meine Tipps ausprobierst und für dich nutzen kannst. Lass es mich gerne wissen.
Mein Name ist Hedda-Marie Schenker, ich bin laut Personalausweis 50 Jahre alt und lebe in Dortmund. Ich habe eine multiple Persönlichkeitsstörung, also genauer gesagt: eine dissoziative Identitätsstörung, aber ich sage lieber, dass ich Viele bin. Für mich fühlt sich das an, als wenn sich 23 Seelen einen Körper teilen. Ich bin die Seele Ilka. Meine Therapeutin würde jetzt die Hände über den Kopf zusammenschlagen und „Nein!“ ausrufen.
Damit hat sie natürlich recht. Denn in einem Körper wohnt immer nur eine Seele. Meine Seele ist in viele Teile zersprungen. Wie ein Puzzle, das aus mindestens 23 Teilen besteht. Jedes Puzzleteil ist eine bestimmte Erinnerung. Für mich ist eine Erinnerung verbunden mit einem bestimmten Ereignis, Geschlecht, Fähigkeiten, einer Emotion und einem eigenen Charakter, sogar mit eigenem Alter und Stimmlage. Nur, dass sich die Erinnerungen nicht wie meine anfühlen. Ich weiß heute, dass sie zu mir gehören, aber kann sie trotzdem nicht als erlebt abrufen. Sie gehören immer zu den jeweiligen Puzzleteilen. Und jedes Puzzleteil ist bei uns eine Seele. Du kennst das sicher auch, wenn du zum Beispiel zur Arbeit fährst oder zum Sport gehst, dass du dich nicht mehr an den Weg erinnerst, weil das automatisiert abläuft. Bei mir ist das früher ständig der Fall gewesen. Nur sehr viel ausgeprägter. Mir fehlten manchmal Stunden und Tage. Früher lebten die Seelen oder Anteile autark. Kaum jemand wusste von den anderen. Jeder machte sein eigenes Ding. Wenn ich auf Autopilot fahre, fährt bei mir ein Puzzleteil und weiß genau, was es da macht. Nur ich bekomme es nicht mit. Ich dachte ja, dass alle Menschen so sind wie ich. Steht natürlich nirgends beschrieben, wie ein Mensch tickt.
Ich bin Hedda-Marie, aber manchmal sage ich: „Ich bin Ilka.“ Ich bin Seele Nummer eins. Dann spreche ich von mir ganz alleine. Ich sage manchmal: „Ich bin Hedda-Marie.“ Dann spreche ich für alle zusammen. Wenn wir mit Hedda angesprochen werden, ist das normal für uns. Aber manchmal nervt es mich, weil ich in dem Moment nur mich fühle. Das sieht nur niemand. Das sind Tage, an denen ich mich ohnehin schon mies fühle. Kennst du diese Tage auch? Wo du morgens wach wirst und schon schlecht gelaunt bist, bevor du überhaupt aufgestanden bist. Ich bin dann total gerädert, halte mich für grässlich und könnte heulen. Da schaffe ich es gerade aus dem Bett auf die Couch und hoffe, dass der Tag schnell vorbeigeht. An diesen Tagen nervt mich das Viele sein. Dann will ich Ilka sein und niemand anderes. Diese Tage hatte ich eine ganze Weile, na ja, fast ein ganzes Jahr. Das war meine ganz persönliche Depression. Da wusste ich noch nicht von den Anderen. Und die meisten nicht von mir.
Das erste Mal, dass ich die Anderen wirklich wahrnahm, war auf dem Weg zu meiner Ärztin. Ich wusste: Ja, DIS. Aber mein Schlüsselerlebnis war erst später: Kennst du diese Momente, wo du vor anderen Leuten herläufst und ihr Gespräch ungewollt mit anhörst? So ungefähr musst du dir die Situation vorstellen. Ich also aus dem Bus raus und über die Straße. Dann führte mein Weg über eine sechsspurige Autobahnbrücke. Ich schaute geradeaus, weil ich ein Problem mit Höhe habe und hörte: „Ich würde mich hier vor die kommenden Autos fallen lassen.“ Die Antwort: „Ich würde mich rückwärts fallen lassen. Mit dem Blick in den Himmel.“ Unwillkürlich schaue ich durch das Geländer nach unten auf die fahrenden Autos. Die beiden unterhielten sich weiter: „Auf die kommenden oder wegfahrenden Autos?“ Ich wurde neugierig und schaute mich verstohlen um. Aber da war niemand. Ich drehte den Kopf, blickte mich um, drehte mich im Kreis, wurde nervös. Aber es war niemand außer mir auf der Brücke. Die Stimmen verstummten und ich fühlte mich beobachtet. Die Stimmen waren so klar und deutlich. Ich hätte schwören können, die zwei laufen direkt hinter mir her. Da begann mein Heilungsweg der DIS.
Ich habe vor Jahren ein Buch von einer Betroffenen über Multiple Persönlichkeit gelesen. Das hat mich schockiert, weil da viel von ihrer Vergangenheit drin stand. Mich interessieren aber keine schrecklichen Geschehnisse von früher. Die hatten wir ja alle, sonst wären wir nicht, wie wir sind. Mich interessiert die Gegenwart und Zukunft. Wie leben andere mit ihrer Besonderheit? Verstecken oder offen leben? Wie klappt die Kommunikation mit der Innen- und Außenwelt? Wie ist das Zusammenleben mit den Partnern? Haben sie Freundschaften? Noch gestern fand ich ein Buch von einer Frau mit dem gleichen Erscheinungsbild. Das könnte so eines sein. Ich bin ganz gespannt, es mal zu lesen, aber ich möchte erst mein eigenes Buch schreiben, bevor ich noch ein anderes lese. Ich möchte mich nicht beeinflussen lassen, in meinem Schreibstil oder Aufbau.
Die Entstehung von Vielen liegt in der Kindheit und wird dann zum Selbstläufer. Durch Hilflosigkeit im frühen Kleinkindalter entstehen Anteile und helfen, Qualen und Ängste zu überstehen. Was dazu führt, dass sich viele Persönlichkeiten innerhalb eines Körpers bilden bzw. einziehen. Ich will gar nicht darüber berichten, wie es dazu kam, dass so viele Persönlichkeiten bei uns eingezogen sind. Viel mehr nehme ich euch mit auf die Reise durch unseren Alltag. Wir erzählen euch, wie es ist, so zu sein. Und wie wir es gemeinsam geschafft haben, in so einer Gemeinschaft zu leben.
Ich beabsichtige nicht, mit Altem abzurechnen. Ich will auch nicht klugscheißen. Ich will für Betroffene, Angehörige und Interessierte die MPS – Multiple Persönlichkeitsstörung oder wie es neuerdings lautet: DIS – Dissoziative Identitätsstörung, in Worte fassen. Ohne Fach- oder Fremdwörter und ohne Formeln. Einfach wie es sich lebt, als einer von vielen, also als ein Anteil von einer Gesamtpersönlichkeit.
Wenn du selbst betroffen bist, zeigen wir dir Tipps, die uns geholfen haben, im Tagesablauf zurechtzukommen und ein Team zu werden. Ohne Fachausdrücke und wissenschaftliche Studien. Wir haben alles selbst erprobt und erlebt. Die erfolgreichen Sachen, die uns helfen, wollen wir mit dir teilen. Wenn du willst, nimm die Hilfe an und probiere sie aus. Vielleicht wird dir dadurch einiges leichter fallen und du kannst deinen Weg ein wenig abkürzen.
Natürlich hat jeder andere Vorlieben, weshalb du dich immer wieder ausprobieren solltest, um die für dich passenden Hilfsmittel zu finden. Wie immer bei solchen Tipps gilt, dass ich auf euren gesunden Menschenverstand vertraue. Professionelle Hilfe ist wichtig! Und ohne sie wären wir heute nicht hier. Suche dir eine Therapeutin oder einen Therapeuten mit dem Fokus auf DIS oder zumindest Traumabehandlung. Es gibt so viele unterschiedliche Therapeuten mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Vielleicht benötigst du eine ganz andere Therapieform als ich. Wenn du tiefenpsychologisch betreut werden möchtest, könntest du auch zunächst eine Verhaltenstherapie anfangen, um Wartezeiten beim Tiefenpsychologen zu überbrücken. Fang an und gib nicht auf. Beides ist unfassbar schwer. Das weiß ich nur zu gut. Das Anfangen.
Puh, wie oft habe ich das Handy in die Hand genommen und die Nummer von Therapeuten mit zitternden Fingern eingetippt?! Habe mir Texte zurecht geschrieben, die ich aufsage, wenn der Anrufbeantworter anspringt. Texte, die ich vorlese, wenn jemand dran geht. Jede erdenkliche Situation wurde durchgespielt und niedergeschrieben. Eigentlich brauchst du genau zwei. Einen für den AB mit Rückrufnummer. Und einen, falls jemand drangeht. Fang am besten damit an, wenn jemand dran geht, zu sagen, dass du den Text abliest, weil du nervös bist. Und selbst diesen ersten Satz kannst du aufschreiben. Wenn du es immer wieder aufschiebst, passiert leider nichts. Du kannst zum Beispiel auch deine Krankenkasse anrufen und um Mithilfe bitten. Beim Schreiben verziehe ich schon mein Gesicht zur Grimasse, weil ich weiß, wie unfassbar schwer es ist, um Hilfe zu bitten. Oder sprich mit deinem Hausarzt, einer Freundin oder einem Vertrauten. Dafür musst du viel Mut aufbringen. Das weiß ich, aber ich glaube an dich! Wir alle glauben an dich! Du wirst wahrscheinlich beim Therapeuten auf eine Warteliste eingetragen. Frage nach, ob du regelmäßig nachfragen darfst oder musst, um dein Interesse zu bekunden. Wann ist die beste Uhrzeit dafür? Trage dir im Kalender ein, wann du dich das nächste Mal wieder melden wirst. Am besten mit Name, Uhrzeit und Telefonnummer. Stell dir eine Erinnerung. Und melde dich ruhig bei mehreren an. Du kannst jeden Therapeuten erst einmal kennenlernen, bevor du dich entscheidest. Ich war bei vier verschiedenen. Das ist sehr nervenaufreibend. Aber es lohnt sich!
Wir sind seit ein paar Jahren stabil und nehmen auch keine Medikamente mehr. Aber anfangs hätten einige von uns ein Leben ohne Medikamente nicht geschafft. Sie sind keine Lösung, aber können unterstützend eingesetzt werden. Dafür ist eine Psychiaterin (oder auch Neurologe) wichtig. Diese ist für die Verschreibung von Medikamenten zuständig. Und für Krankschreibungen, wenn notwendig. Solche Fachärzte dürfen dich länger krankschreiben als dein Hausarzt und kennen sich besser mit Psychopharmaka aus. Natürlich gibt es bei uns auch heute immer wieder Hürden und Herausforderungen, aber früher waren es teilweise tiefe, lang anhaltende Krisen. Wir Anteile haben uns größtenteils kennengelernt und blicken gemeinsam in eine Richtung: Zukunft.
Nicht der Norm zu entsprechen, macht Angst. Nicht nur einem selbst, sondern vor allen den Anderen. Damit geht man nicht hausieren. Umso wichtiger für uns, offen damit umzugehen.
Es ist ein ernstes Thema, aber wir können sehr humorvoll sein. Wir sind keine Schriftsteller und bitten um Nachsicht, wenn dieses Buch nicht der dir bekannten Norm entspricht. Wir entsprechen auch nicht der Norm. Unser Hauptschreiber ist Leines.
Hallöchen! Ich bin ein erwachsener Anteil unseres Systems.
Wir möchten Euch einladen, in unsere Welt einzutauchen.
Wir sprechen mal in Wir-Form, dann ist die Gesamtpersönlichkeit gemeint, mal in Ich-Form, dann schreibt derjenige selbst oder ich für denjenigen. Und damit wir nicht ständig Überschriften wie Leines schreibt oder Ilka schreibt, werden wir das minimieren und schauen, ob es verständlich bleibt. Letztendlich schreibt natürlich Hedda-Marie Schenker. Dieses Buch ist ein Projekt mit allen Anteilen. Es ist über mehrere Jahre entstanden und half uns bei der großartigen Entwicklung. Ich erkläre erst einmal einige Begrifflichkeiten, die für mich ganz normal sind, aber für Außenstehende nicht zum täglichen Wortschatz gehören. Es gibt zahlreiche Worte, aber ich beschränke mich auf meine eigenen, die ich gebrauche.
Das System ist in unserem Fall die Gesamtheit aller Anteile. Wir nennen uns auch Alle, Viele oder Gesamtpersönlichkeit. Meine Freundin sagt auch gerne: „Hedda-Marie Schenker!“
Ilka hat es so schön als Puzzleteile beschrieben. Jeder DIS-Mensch hat unterschiedliches Erleben der Anteile. Es gibt so unterschiedliche Menschen wie auch DIS-Menschen. Wir haben alle die gleiche Grundproblematik, aber erleben das Erleben der Anteile anders. Es gibt welche, die Amnesien haben, welche, die alles mitbekommen, aber nicht eingreifen können … Anteile können im Innern leben und/oder im Außen agieren. Ich habe das Glück, andere DIS-Menschen mit der gleichen Diagnose zu kennen. Das macht es für mich normaler.
Trigger sind Auslöser oder Reize, auf die der Körper reagiert, ohne dass wir darauf Einfluss haben oder auch ohne, dass wir alle Trigger kennen. Ich (Ilka) kann insbesondere einen bestimmten Duft von Vanille nicht gut ertragen. Also kenne ich den Trigger. Dann wird mir flau und die Gegenwart verschwimmt und entfernt sich. Entweder ich erstarre oder es kommt zum Wechsel (Switch). Sogar in unserem System haben die Anteile unterschiedliche Auslöser. Trigger können auch gelesene Worte sein. Wo ich gerade dabei bin: Ich halte nicht viel von Triggerwarnungen im Text. Woher soll ich wissen, welcher Inhalt oder welches Wort dich triggert? Sorge gut für dich.
Wenn ich angetriggert werde, verfalle ich in Schockstarre. Nichts geht mehr. Das kann bei jedem anders ausgeprägt sein. Es kann das Denken, Fühlen und das Handeln betreffen. Alles auf einmal, aber auch einzeln. Hört sich verrückt an und ist auch sehr komplex. Aber bitte! Einfach kann jeder.
Mir ist es mal in einem Seminar mit vielen Teilnehmern passiert. Den Auslöser kann ich nicht benennen. Ich saß auf dem Stuhl und ich merkte noch, dass etwas nicht mit mir stimmt. Ich weiß noch, dass ich innehielt und versuchte, in mich zu hören. Aber zack! Weg war ich. Im Nichts gefangen. Es können Minuten oder Stunden vergangen sein. Ich hatte kein Zeitempfinden und auch sonst kein Empfinden mehr.
Die Dozentin hatte mein Dilemma erkannt und alle anderen Teilnehmer in eine Pause geschickt. Davon habe ich nur aus der Ferne etwas mitbekommen. Eine große Ferne.
Aus dieser Ferne hörte ich jemanden zu mir sprechen: „Frau Schenker? Sie sind in Sicherheit! Können Sie mich hören? Bewegen sie vielleicht einen Finger.“ Die Dozentin hat genau richtig reagiert: Niemand hat mich berührt, sie sprach mich direkt und bestimmt mit meinem Namen an. Außerdem sprach sie von Sicherheit und gab mir einen Lösungsweg (Finger bewegen). Ganz langsam kam ich wieder zurück. Zunächst konnte ich einen Finger bewegen, dann kam wieder Leben in mein Gesicht. Anschließend ging es mir richtig schlecht. Vielleicht war es meine Scham, dass mir das vor so vielen Menschen passierte. Oder das Bewusstwerden, dass ich die Kontrolle verloren habe.
Den Kontrollverlust beschreibt jeder anders. Grundsätzlich kann ich sagen, dass, wenn ich keine Kontrolle über das Jetzt habe, es für mich ein Kontrollverlust ist. Ebenso ist das Dissoziieren ein Verlust meiner Kontrolle. Ein Kontrollverlust kann aber auch zu einem Switch führen.
Switche bekommen Außenstehende eher selten mit. Sonst würden DIS-Menschen viel früher auffallen. Switch bedeutet, dass ein Anteilswechsel stattfindet. Bei Außenstehenden gelten wir eher als sprunghaft in der Meinung. Auch als empfindlich. Und launisch hörte ich früher häufig. Jeder Anteil hat seine eigene Meinung. Zu allen möglichen Themen. Meine beste Freundin und Arbeitskollegin sagte immer: „Du bist auf der Arbeit ein gänzlich anderer Mensch.“ Da hatte sie mehr oder weniger recht. Für mich (Leines) fühlt sich ein Switch an, wie wegträumen. Kennst du diese Momente, in denen du einfach ins Leere starrst? Zack, bin ich weg. Für mich ist es wie traumlos schlafen.
Ich (Ilka) beschreibe es gerne als Schluckauf. Hicks, NoNa da, Hicks, Lönne da, Hicks, Ilka wieder da, mit Nutella an den Fingern und Kaugummi in den Haaren. Situationsbedingt kann ich einige Abläufe mitbekommen, andere wiederum gar nicht. Wenn ich nichts mitbekomme, hatte ich mal wieder einen Blackout oder Zeitverluste. Wenn der Schluckauf besonders stark ist, bekomme ich Kopfschmerzen im Stirnbereich. Auch wenn Heda vorne war, habe ich diese Schmerzen. Mit vorne meine ich, dass jemand anderes im Draußen agiert. Einige Anteile spüre ich, wenn sie sich annähern, andere wiederum gar nicht. In anstrengenden Situationen fühlt es sich an, als wenn von hinten eine Büffelherde auf mich zu rennt. Ich bin erstarrt, weil ich sie höre und fühle, aber ich drehe mich nicht um. Und PENG! Hat mich die Herde überrannt. Dann gibt es Situationen, in denen ich mir eine Büffelherde wünsche, und es kommt niemand, um mich aus der Situation zu befreien.
NoNa erwacht meistens morgens. „Ich mache die Augen auf und schon bin ich da.“ Wenn der Tag anstrengend ist, kommt NoNa mit der Koma-Kelle. Mein Körper wird sofort müde. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Hicks, NoNa geht zum Bett, holt sich ihr Stofftier und legt den Körper auf die Couch. 30 Minuten Powernapping und Hicks bin ich wieder da.
Switche werden durch Reize ausgelöst. Ich kenne nicht jeden Reiz. Es kann ein Geruch, ein Wort, eine Gegend, ein Gedanke sein. Alles ist möglich. Klara sagt etwa: „Wir sollten heute einkaufen gehen. Wir haben nichts mehr zu essen.“ Hicks, Luka: „Nichts mehr zu essen?“ Sofort fängt sie an zu weinen und bekommt Angst. Hicks, Ilka wieder da. „Habe ich geweint?“
Ich beherrsche den Alltag sensationell. Früher habe ich ihn mit Kate und Leines geführt, ohne von ihnen zu wissen. Ich wollte mir öfter das Leben nehmen und habe nie um Hilfe bitten können. Ich wusste nicht einmal, dass es Hilfen gibt. 2012 hatte ich meine erste diagnostizierte Depression, aber ich vermute, dass sie mich schon mein ganzes Leben lang begleitete. Mal mehr, mal weniger. Zurzeit gar nicht! :-)
Die anderen Anteile haben mich früher Lütte genannt. Deshalb wird manchmal von Lütte gesprochen, aber ich bin gemeint. Ich habe schlimme Erinnerungen mit 7 und 14 Jahren gespeichert und nicht abgespalten. Und im Erwachsenenalter bei der Firma, wo ich lange arbeitete. Das reicht mir auch. Ilka ist Alltag.
Kate ist ohne Gefühle, dafür sehr belesen. Ein Hauch vom Asperger-Autismus würde ich ihr zusprechen. Sie hat sofort die Notsituation im Kindesalter erkannt und entsprechend gehandelt. Sie hat funktioniert. Besonders in der Schule. Sie ist nicht kommunikativ. Gespräche sind auf das Nötigste beschränkt.
Kate selbst: Witze, Ironie und Sarkasmus verstehe ich nicht. Mit Klara rede ich mittlerweile. Ich arbeite. Ich bin heute keine Bestimmerin. Meine Therapeutin gab mir den Rat, dem System zu vertrauen. Das mache ich. Das war ein langer Prozess.
Kate ist (war) die Bestimmerin.