Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan - Latife Arab - E-Book

Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan E-Book

Latife Arab

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Beschreibung

Sie stehen für Raub, Schutzgelderpressung, Drogengeschäfte und Menschenhandel, betrachten den deutschen Staat als Selbstbedienungsladen, vor Polizei und Justiz haben sie keinen Respekt. Vor Frauen erst recht nicht. Latife Arab wurde in einen der größten Clans Deutschlands hineingeboren. Bereits als Kind war sie in die kriminellen Machenschaften involviert, musste als Kurierin herhalten oder Falschaussagen machen. Es folgten knapp dreißig Jahre, in denen sie ihrer Familie und ihrem Mann wie eine Sklavin zu dienen hatte, missbraucht und gedemütigt wurde. Nach sechs gescheiterten Versuchen schaffte sie es, sich und ihre Kinder zu retten. Latife Arab ist die erste weibliche Stimme, die aus dem inneren Kreis eines Clans berichtet und Einblicke in ein skrupelloses Familien- und Wertesystem gewährt. Es ist die Geschichte eines steinigen Neuanfangs und die einer Emanzipation, die noch immer andauert – denn die Großfamilie lauert überall.

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Sie stehen für Raub, Schutzgelderpressung, Drogengeschäfte und Menschenhandel, betrachten den deutschen Staat als Selbstbedienungsladen, vor Polizei und Justiz haben sie keinen Respekt. Vor Frauen erst recht nicht. Latife Arab wurde in einen der größten Clans Deutschlands hineingeboren. Bereits als Kind war sie in die kriminellen Machenschaften involviert, musste als Kurierin herhalten oder Falschaussagen machen. Es folgten knapp dreißig Jahre, in denen sie ihrer Familie und ihrem Mann wie eine Sklavin zu dienen hatte, missbraucht und gedemütigt wurde. Nach sechs gescheiterten Versuchen schaffte sie es, sich und ihre Kinder zu retten. Latife Arab ist die erste weibliche Stimme, die aus dem inneren Kreis eines Clans berichtet und Einblicke in ein skrupelloses Familien- und Wertesystem gewährt. Es ist die Geschichte eines steinigen Neuanfangs und die einer Emanzipation, die noch immer andauert – denn die Großfamilie lauert überall.

Latife Arab ist ein Pseudonym, das die Autorin schützen soll. 1980 in einem kleinen türkischen Dorf geboren, kam sie mit fünf Jahren nach Deutschland, wo sich ihre Familie zu einem der größten Clans in Deutschland entwickelte. Mit 28 Jahren kehrte sie der Familie den Rücken. Heute lebt sie mit ihren Kindern und ihrem deutschen Partner in der Nähe von Berlin.

LATIFE ARAB

Ein Leben

zählt nichts –

als Frau im

arabischen Clan

EINE INSIDERIN ERZÄHLT

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Dieses Buch ist ein Tatsachenbericht. Alles Beschriebene hat sich so ereignet. Aufgrund der konkreten Bedrohungssituation für die Autorin und für andere im Buch Vorkommende wurden einzelne Personen anonymisiert sowie biografische Daten und Örtlichkeiten in gebotenem Umfang verändert.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Originalausgabe 2024

Copyright © 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

ISBN 978-3-641-31621-1V001

www.heyne.de

Für meine kleine Familie.

Die Begegnung mit der wilden Frau lässt sich weder beliebig wiederholen noch beliebig herstellen.

Zunächst ist es eine Frage der Wahrhaftigkeit und des Mutes. Dann eine Frage der Sorgfalt und der Achtsamkeit. Zum Schluss ist es auch eine Frage der Bereitschaft zur Veränderung.

Der wilden Frau begegnet man nicht folgenlos.

Angelika Aliti

INHALT

Der Überfall

Almanya

Einmal Blut geleckt

Vom Regen in die Traufe

Zwischen Emanzipation und Unterdrückung

Das Licht in mir

Diesmal waren wir viele

Frauenbilder und Männerbekanntschaften

Das ganz normale Leben

Meine Freiheit ist Eure Freiheit

Danksagung

DERÜBERFALL

Brote schmieren, Schulmappen kontrollieren, frühstücken, anziehen und zwischendurch die ein oder andere Mädchenkatastrophe lösen. Das Kleid ist in der Wäsche, die Hose ist doof, die Haare sitzen nicht. Für alles findet sich eine gute Lösung. Irgendwann stehen wir alle sechs im Flur vor dem großen Spiegel und werden von meiner Tochter Ayla zum Selfie gezwungen. Um halb acht verlassen die Kinder und mein Freund glücklich und zufrieden das Haus.

Ich bleibe allein zurück und finde den Morgen und den ganz normalen Familienwahnsinn wunderbar. Nun bald fünf Jahre lebe ich ein völlig gewöhnliches Leben, zumindest, wenn man von gelegentlichen Polizeibesuchen und den nie ganz enden wollenden Kontaktaufnahmen meiner Herkunftsfamilie absieht.

Ich gehe ins Schlafzimmer und lege mich noch mal hin, seit ein paar Tagen habe ich einen Magen-Darm-Infekt, doch so langsam wird es besser. Am Nachmittag mache ich mich auf den Weg zum Bahnhof, um an meinem Arbeitsplatz die Krankmeldung abzugeben, die unbedingt noch heute eingereicht werden muss.

Hätte ich das Auto nehmen sollen? Wäre all das nicht passiert, wenn ich den gelben Zettel vom Arzt schon am Vortag mit der Post geschickt hätte? Die Fragen sind müßig und doch sind sie seit diesem Tag im September 2015 meine treuen Begleiter.

Ich laufe durch das Naturschutzgebiet, einen lindengesäumten Weg zwischen Wiesen und Wasser entlang und freue mich über die Sonne und darauf, später meine Kinder über ihren Tag auszufragen. Zur Bahn sind es vielleicht zehn Minuten. Am Bahnhof angekommen, stelle ich fest, dass ich mein Portemonnaie vergessen habe, in dem mein Monatsticket steckt. Also schnell die Treppen wieder runter und auf dem kürzesten Weg zurück. Auf der anderen Straßenseite fällt mir ein Mann auf. Ich habe ihn bereits auf dem Hinweg gesehen, doch ich ignoriere mein ungutes Gefühl. Als ich mitten auf einem Feldweg bin, höre ich Schritte hinter mir. Ich mache etwas Platz, um den eiligen Fußgänger vorbeizulassen.

Doch in diesem Moment bleibt jemand neben mir stehen und greift nach meinem linken Arm. Ich schaue erst auf meinen Arm, auf die fremde Hand und dann nach oben. Es ist der Mann vom Bahnhof. Er ist einen Kopf größer als ich und riecht furchtbar nach Schweiß und Zigaretten. Mir wird übel. Ich versuche, meinen Arm zurückzuziehen, ohne Erfolg. Meine Angst hält sich zuerst in Grenzen: Es ist heller Nachmittag, dieser Feldweg ist eigentlich gut besucht, es wird uns sicher schon bald jemand entgegenkommen. Doch es kommt niemand und langsam kriecht Panik in mir hoch. Als ich anfange zu schreien, wird er grob, packt mich am Hals und bohrt mir einen spitzen Gegenstand in die Seite.

»Sei leise«, sagt er, »dann passiert dir auch nichts. Wenn du schreist, steche ich dich ab, jetzt und hier. Geh einfach weiter.«

Ich bin leise. Ich schreie nicht. Ich gehe einfach weiter. »Wenn du meine Tasche willst, dann nimm sie«, sage ich. »Ich habe kein Geld.«

Er drückt fester zu.

Von Weitem sehe ich ein Pärchen auf uns zukommen. Das ist meine Gelegenheit.

»Denk dran. Ich steche erst dich ab und dann die beiden, wenn du schreist.«

Diese Wahl ist mir vertraut: Bei dem Versuch, mich selbst in Sicherheit zu bringen, würde ich nicht nur mein eigenes Leben aufs Spiel setzen, sondern auch das anderer Menschen. Ich muss an den armen Kerl denken, mit dem ich damals im Theater war und den mein Vater dafür fast umgebracht hätte.

»Sei ruhig, dann passiert dir nichts.«

Die irrationale Hoffnung, dieser Mann würde sich an sein Versprechen halten, lässt mich still bleiben.

Die zwei gehen direkt an uns vorbei. Ich fixiere ihre Gesichter und hoffe so sehr, dass sie mich sehen. Dass sie begreifen, in was für einer Situation ich mich befinde. Doch sie schauen mich nicht an. Sie laufen einfach an uns vorbei. Mein Herz schlägt so schnell, dass es mir fast aus der Brust springt. Ich kann den Gestank des Mannes nicht ertragen, er ekelt mich an.

Ich denke an meine Kinder. Der Kleine ist bei seiner Oma, der Mutter meines Freundes. Die beiden Großen kommen allein zurecht. Aber Dunya ist beim Handball. Was ist, wenn ich meine Tochter nicht rechtzeitig abholen kann? Sie wird vor der Turnhalle stehen und auf mich warten. Dann wird es dunkel werden, sie bekommt Angst, und wer weiß, was ihr passieren kann. Ich muss hier weg. Ich fange an zu weinen und versuche mit aller Kraft, mich loszureißen. Es gelingt mir nicht.

Er packt mich wieder am Hals und drückt zu, so fest, dass mir schwarz vor Augen wird. Als er von mir ablässt, werde ich plötzlich ruhig. Meine Knie sind weich und zittern. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Laufe weiter. Etwas in mir hat die Waffen gestreckt, ich wehre mich nicht mehr. Am Ende des Feldweges kommen wir an einem Fußballfeld vorbei, es geht drei Stufen runter, die er mich schon schleifen muss. Alles dreht sich, ich muss mich fast übergeben. Am Fußgängerüberweg zweigt links ein etwas längerer Weg wieder zum Bahnhof ab. Rechts liegt der Ort. Vor uns befindet sich eine kleine Brücke, die über ein Flüsschen führt, direkt in das Naturschutzgebiet hinein. Da sind nur Bäume, Wiesen und Sträucher, kaum jemand nimmt diesen Weg.

Er bleibt stehen. Zaghaft flammt die Hoffnung in mir wieder auf. Auf den Wegen rechts und links sind immer viele Jogger und Radfahrer unterwegs. Ich bin mir, so irrational das ist, plötzlich sicher: Er wird einen dieser beiden Wege nehmen und jemand wird auftauchen und mir helfen. In Gedanken plane ich schon das Wiedersehen mit meiner Tochter.

Doch natürlich wählt er den Weg über die Brücke mitten in den Wald hinein. Keine Spaziergänger, keine Aussicht auf Rettung. Es beginnt zu dämmern.

Dunya wird vergebens vor der Turnhalle auf mich warten. Wieder sind am Ende meine Kinder die Leidtragenden. Hätte ich das hier vorausahnen können? Was habe ich die letzten Wochen, Monate und Jahre übersehen? Habe ich zu vielen Menschen vertraut? Ist das vielleicht sogar eine Strafe Gottes, weil ich meine Religion verraten habe? Ich habe gelebt wie eine Ungläubige. Kein Kopftuch, keine Gebete. Ist es jemand im Auftrag meiner Familie, meines Exmannes, der mich daran erinnern soll, woher ich komme und wer ich bin? Wo ich eigentlich hingehöre, wo mein Platz ist? Aber warum jetzt, nach so vielen Jahren, in denen sie mich mehr oder weniger in Ruhe gelassen haben?

Mein Angreifer zerrt mich nach vorn, mechanisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Jedes Gefühl für Zeit und Raum habe ich verloren. Er stößt mich in ein Gebüsch und ich falle zu Boden. Stehe aber sofort wieder auf und versuche ein letztes Mal, wegzulaufen. Er packt mich an den Haaren und hält mich fest. Ich trete um mich, schlage mit den Fäusten auf ihn ein, es hilft nichts. Er schlägt zurück, ich schreie, so laut ich kann. Mit beiden Händen drückt er mich gegen einen Baumstamm und presst mir die Kehle zu. Ich verliere das Bewusstsein, sacke zusammen. Als ich zu mir komme, rappele ich mich mit Mühe auf. An den Baum gelehnt, um nicht umzufallen, versuche ich, ihn anzuschauen, um mir zu merken, wie er aussieht. Er schlägt mir mit voller Wucht ins Gesicht. Mir laufen die Tränen über die Wangen, doch ich fühle nichts, keinen Schmerz, keine Angst. Da ist nur ein Gedanke: der an meine Tochter, die allein in einer dunklen Ecke der Stadt auf mich wartet.

Ich flehe ihn an, mich gehen zu lassen, weil meine Kinder mich brauchen. Wieder wirft er mich zu Boden und setzt sich mit seinem ganzen Gewicht auf meinen Rücken. Seine Knie bohren sich in meine Wirbelsäule. Mit der einen Hand hält er meinen rechten Arm, mit der anderen drückt er meinen Kopf fest auf den Waldboden. Mein Mund füllt sich mit feuchter Erde, meine Augen sind voller Sand. Mit der freien Hand bohre ich mir einen Weg zu meinem Mund, versuche, meinen Kopf ein wenig zu drehen, um nach Luft zu schnappen. Meine Beine sind noch frei, also trete ich um mich, so fest ich kann. Es bringt nichts, außer dass ich mit solcher Wucht auf einen liegenden Baumstamm treffe, dass es in meinem Fuß einen lauten Knacks macht. Der Schmerz schießt wie tausend Nadelstiche durch meinen Körper, erneut werde ich ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir komme, ist es dunkel. Sand und Schmutz brennen in meinen Augen. Ich spucke Erde aus und versuche, langsam und ruhig zu atmen. Er ist noch immer da. Dreht mich auf den Rücken und setzt sich jetzt auf meine Beine. Wie aus vielen Kilometern Entfernung höre ich seine Stimme. Ich verstehe kein Wort. Liege regungslos da. Keine Kraft mehr, keine Hoffnung, nichts und niemand außer der Dunkelheit, den Bäumen, ihm und mir.

Wie lange es wohl dauern wird, bis jemand meine Leiche findet? Wer wird zu meiner Beerdigung kommen? Werden sie mein Grab schänden, wie die Gräber der anderen Frauen und Mädchen, die unter dem Deckmantel der Familienehre ermordet wurden?

In wenigen Augenblicken ist es vorbei, ich werde meiner Großmutter begegnen, ihr in die Arme fallen und erzählen, was sie mir angetan haben. Wenn es einen Gott, Allah oder sonst jemanden im Himmel gibt, setze ich mich zu ihm und frage ihn, ob das hier sein Wille war. Ob er sich auch nur eine Sekunde das Leid der Frauen auf der Welt angeschaut hat. Warum er es zulässt, dass wir in gewalttätige Strukturen hineingeboren werden, in denen wir Unterdrückung erfahren und die manche von uns das Leben kosten.

Doch noch bin ich am Leben. Ich bin nackt. In meiner Panik kriege ich Atemnot. Ich taste nach meiner Handtasche, um an mein Asthmaspray zu kommen. Aber er ist schneller als ich, schnappt sich die Tasche, schüttet den Inhalt auf den Boden. Ich bettele ihn an, dass ich mein Spray brauche. Nur schemenhaft sehe ich in der Dunkelheit das kleine Döschen in seiner Hand, das mir jetzt helfen könnte. Er wirft es ins Gebüsch. »Das brauchst du gleich sowieso nicht mehr.«

Mir bleibt die Luft weg, ich kann nichts mehr tun. Mein Körper gibt auf, mein Gehirn schaltet sich ab. Ich bleibe einfach liegen, mein Atem ist ganz flach. Dunkelheit umschließt mich. Mich gibt es nicht mehr.

Doch dann drückt auf einmal kein Gewicht mehr auf meinen Körper. Da sind keine Geräusche mehr, es riecht nicht mehr nach Zigaretten und Schweiß. Vielleicht dachte er, ich sei tot, und ist abgehauen.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dort liege, mich totstelle und hoffe, dass mein Peiniger nicht zurückkehrt. Irgendwann drehe ich den Kopf in beide Richtungen. Ich versuche, auf die Beine zu kommen. Ich schaffe es nicht. Doch ich gebe nicht auf. Mit aller Kraft, die ich aufbringen kann, robbe ich ins Gebüsch, dorthin, wo ich mein Spray vermute. Mitten in einen Brennnesselstrauch. Später wird mein Körper deswegen vor Schmerzen brennen, aber jetzt schießt Adrenalin durch mein Blut, und ich spüre nichts außer der Atemnot. Während ich noch suche, höre ich plötzlich Schritte. Ich krieche wieder in meine alte Position, bleibe reglos liegen und atme so leise, wie ich kann.

Er kommt zurück, ich kann seinen Gestank riechen. Er packt meine Haare, hebt meinen Kopf daran hoch, schaut mich kurz an und ist wieder weg. Was soll ich jetzt tun? Durch den Wald robben? In welche Richtung?

Nach einer gefühlten Ewigkeit finde ich irgendwo noch ein wenig Kraft in mir und stütze mich an einem Baumstamm ab. Jetzt nehme ich alles überdeutlich wahr. Den Schmerz im Bein, auch in der Hand, das Brennen auf der nackten Haut und die Atemnot, die mir Denken und Handeln fast unmöglich macht. Mir ist furchtbar kalt. Nicht mal einen Schritt schaffe ich. Die Angst, dass er seinen Fehler erkennt und wieder zurückkommt, lähmt mich. Doch ich muss etwas tun. Wo sind meine Kinder? Direkt neben mir liegt meine Jacke, in der Tasche ist mein Handy. Es hat die ganze Zeit über nicht einmal geklingelt oder einen Ton von sich gegeben, obwohl meine Kinder mich sonst ständig mit Anrufen und Nachrichten bombardieren.

Mein Spray und meine anderen Sachen hat dieser Mörder – und als nichts anderes empfinde ich den Mann in diesem Moment – irgendwo im Wald verstreut, aber mein Handy ist einfach da. Als ich es aus der Jackentasche ziehe, fließen mir die Tränen wie einem kleinen Kind.

Doch wen kann ich anrufen? Ich schäme mich so sehr für meine Nacktheit und meine Hilflosigkeit. Wer kann mich hier rausholen, wem kann ich mich so zeigen? Niemand, den ich kenne, soll mich so sehen.

Mit zitternden Händen wähle ich schließlich 110.

Ein Mann ist am Telefon. »Wie kann ich Ihnen helfen, wo sind Sie und wie ist Ihr Name?«

Ich weine. Bin so froh, dass ich mit jemandem reden kann. Ich spreche ganz leise, aus Angst, dass mein Angreifer zurückkommt. Bitte um ein Asthmaspray. Darum, einen Streifenwagen zur Turnhalle zu schicken und nach meiner Tochter zu schauen.

Er braucht die Adresse der Turnhalle, ich soll mir keine Sorgen machen. Ich höre, wie er die Daten weitergibt, und merke, wie sich meine Anspannung ein wenig löst.

Es dauert eine Weile, bis ich meinem Gesprächspartner erklärt habe, wo in etwa ich bin. Das Asthma macht das Sprechen noch komplizierter. Ich liege am Boden, kann mich nicht bewegen. Mein Körper ist schwer wie Beton, mir ist kalt. Doch der Mann bleibt am Apparat und spricht beruhigend auf mich ein. Irgendwann kommt die Nachricht: Die Beamten haben das ganze Gelände der Turnhalle und der nahe gelegenen Grundschule abgesucht. »Sie konnten deine Tochter nicht finden«, sagt er. »Wo könnte sie noch sein?«

Dunya ist weg. Ich bin ganz sicher: Irgendjemand hat sie ins Auto gezerrt, nachdem sie vergebens auf mich gewartet und furchtbare Angst ausgestanden hat. Ich möchte sterben.

»Hörst du die Sirenen?«, fragt mich der Mann.

Ich höre nichts.

»Was ist mit meiner Tochter?«

»Wir finden sie, bleib ruhig, sie braucht dich, wenn du wieder zu Hause bist.«

Ich konzentriere mich auf seine Worte.

Dann höre ich doch etwas. Die Sirenen werden lauter, kommen näher und entfernen sich wieder.

Ich heule. Sie sind weg.

»Nein«, sagt er am Telefon, »die kommen wieder.«

Und dann höre ich es lauter: erst eine, dann die zweite Sirene, dann noch eine und noch eine, und alle so laut.

Am Telefon bereitet er mich darauf vor, dass die Polizei jetzt durch den Wald laufen und mich suchen wird. Ich soll so laut schreien, wie ich kann. Wir legen auf.

Ich kann nicht schreien, ich habe keine Kraft mehr.

Als ich ein Rascheln im Gebüsch höre, habe ich Todesangst, dass der Mörder zurückkommt. Und in diesem Augenblick kann ich endlich schreien. Mit den letzten Luftreserven brülle ich die Angst und die Wut auf mich selbst aus meiner Lunge. Laut. Noch lauter. Und dann das Licht, wie ein Hauch von Wärme in diesem Wald, und eine Frauenstimme, die sagt: »Oh mein Gott, ich habe sie gefunden.« Jemand leuchtet mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

Die Frau beugt sich zu mir, streicht mir ein paar Insekten vom Körper, Laub und Dreck aus dem Gesicht und sagt: »Du bist jetzt in Sicherheit, wir haben dich gefunden. Alles wird gut.«

In diesem Moment klingelt mein Handy. Die Polizistin geht ran, ich kann nicht reden. Es ist der Handballtrainer meiner Tochter. Er hat nach dem Training vor der Halle mit ihr gewartet, und als ich nicht aufgetaucht bin, hat er sie persönlich nach Hause gefahren. Dort war auch niemand. Nun ist viel Polizei bei uns in der Wohnung und er macht sich Sorgen. Ich bin so dankbar und erleichtert, dass Dunya in Sicherheit ist, jetzt kann ich mich auf mich konzentrieren.

Im Naturschutzgebiet stehen nach wenigen Minuten jede Menge Polizisten um mich herum. Ich liege in den Lichtkegeln ihrer Taschenlampen, es fühlt sich an, als schauten sie auf mich herab wie auf ein Stück Vieh.

Die Polizistin ruft nach einer Decke und legt sie über meine nackte Haut. Sie hat ein Spray in der Hand und hält mir das Mundstück an die Lippen. Endlich füllt sich meine Lunge mit Luft. Ich kann wieder atmen.

Ich werde kurz untersucht und gleich von den Beamten befragt. Im Krankenwagen geben sie mir eine Wärmeinfusion und ein Beruhigungsmittel. »Ihren Kindern geht es gut«, sagt der Arzt, »sie sind jetzt zu Hause, Ihr Freund und seine Mutter sind bei ihnen.«

Mir wird warm und ich schlafe ein.

*

Nach dem 30. September 2015 war nichts mehr wie vorher. Nie wieder habe ich seitdem eine Nacht durchgeschlafen, keinem Menschen konnte ich mehr vertrauen. Vorsichtig und in jeder einzelnen Sekunde auf der Hut zu sein, ist zu meinem Lebensinhalt geworden.

Mit dem Überfall war auf einen Schlag alles wieder da, was ich viele Jahre lang so erfolgreich verdrängt hatte. Von dem ich geglaubt hatte, es hinter mir gelassen zu haben. Was mich an diesem Nachmittag überfallen hatte, war kein einzelner Mann gewesen, sondern meine komplette Vergangenheit. Mit fünfunddreißig Jahren musste ich einsehen, dass meine Geschichte immer Teil meines Lebens sein wird.

Ich stamme aus einer arabischen Großfamilie. Die Namen meiner Verwandten liest man in der Zeitung, ihre Gesichter sieht man im Fernsehen. Meine Familie steht für Menschenhandel, Schutzgelderpressung, Drogengeschäfte, Raub, Geldwäsche. Vor der Polizei haben sie keinen Respekt, die »Ehre« der Familie steht über allem.

Das, was im deutschen Kontext etwa seit Beginn der 2000er als Clan bezeichnet wird, besteht immer aus über einem Dutzend Großfamilien, alle verwandt und durch Hochzeiten noch stärker miteinander verwoben, die nach ihren eigenen Regeln leben. Die Gesetzgebung wird ignoriert, vielmehr wird der Staat als eine Art Selbstbedienungsladen gesehen; man nimmt sich, was man braucht. Um es mit einem Wort zu sagen: Sozialbetrug. In diesem verzweigten System (»je mehr Kinder, desto mehr Geld«) ist die Rolle der Frau damit bereits klar definiert. Gleichzeitig erklärt es, gemeinsam mit den Phänomenen der Importbräute und des Familiennachzugs, wie die sogenannten Clans – nicht nur unserer, auch andere – in Deutschland ab den 1970ern so schnell so groß werden konnten. Warum es heute Strukturen gibt, die parallel zum Rest der Gesellschaft existieren. Wenn ich es aufschreibe, kommt es mir selbst unfassbar vor, jedoch: Meine Familie darf man getrost als Keimzelle eines dieser toxischen Haufen verstehen.

Die Großfamilie ist eine verschworene Gemeinschaft, selbst kleine Kinder werden rücksichtslos in die Machenschaften involviert, wie meine Geschichte zeigt. Auch ich wurde als Kurier eingesetzt und musste Falschaussagen machen; Straftaten, die längst verjährt sind, falls ich überhaupt strafmündig war.

Bei ihren kriminellen Geschäften erbeuten meine Verwandten Millionen, die weltweit angelegt werden. Doch es geht längst nicht mehr nur um Geld. Sie genießen es, dem deutschen Staat zu zeigen, wer das Sagen hat.

Seit dem Überfall bin ich einen langen Weg gegangen. Es hat viel Zeit gebraucht, wieder Vertrauen zu fassen, mich wieder aufzurichten. Mir sind Narben geblieben, doch ich habe zurück ins Leben gefunden, meine Herkunftsfamilie hat keine Macht mehr über mich. Ich habe meine eigene Stimme gefunden und will mich nicht mehr verstecken. Mein Buch ist keine Investigation, keine Abrechnung mit meiner Familie, kein theoretischer Diskurs zu Clan-Strukturen in Deutschland. Es erzählt meine Geschichte. Mein Leben mit diesen Menschen, die vielen Versuche, mich von ihnen zu befreien, und wie mir das schlussendlich gelang.

Ich möchte leben. Ich bin fest davon überzeugt, dass es sich lohnt, dieses Leben. Ich bin schon so oft wieder aufgestanden. Ich will nach vorn schauen. Doch ich weiß, dass das für mich nicht möglich ist, ohne zuerst einen Blick zurückzuwerfen und den Gespenstern meiner Vergangenheit ins Auge zu sehen. Dabei werde ich Dinge erzählen, die meine Familienangehörigen nicht gerne hören. Aber wenn jede unterdrückte Frau sich aus Angst versteckt und schweigt, dann wird sich nie etwas ändern.

ALMANYA

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wann ich auf die Welt gekommen bin. Das Datum, das sich in meinem deutschen Personalausweis findet, ist der 28.5.1980. Es steht dort wie ein unverrückbarer Fakt, in gedruckten Lettern, direkt unter meinem Namen. Auch der Name ist nicht der, mit dem ich geboren wurde. Ich weiß nicht mehr, der wievielte Name es ist, den ich heute trage. Irgendwann hört man einfach auf, darüber nachzudenken, und wechselt die Identität wie ein Kleidungsstück. Irgendein Erwachsener aus meinem Heimatdorf hat das Datum bestimmt, weil er zufällig an diesem Tag irgendwo in einer Behörde in der nächsten, weit entfernt gelegenen Stadt etwas Wichtiges zu tun hatte. Diese Reise hat er genutzt, um gleich alle Kinder anzumelden, die in den letzten Jahren im Dorf geboren worden waren. So kommt es, dass einer meiner Brüder, meine Cousins und Cousinen alle den gleichen Geburtstag haben wie ich, nur das Jahr ist ein anderes. Diese Mühe haben sie sich immerhin gemacht: grob zu schätzen, wie alt das jeweilige Kind wohl sein mochte. Zu gerne würde ich wissen, wann ich wirklich geboren wurde.

Die Heimat meiner Eltern, in den anatolischen Bergen im Süden der Türkei, ist, von oben betrachtet, wunderschön. Von den Hügeln sieht man die weiten Felder, Nuss-, Feigen- und Mandelbäume ragen in den Himmel, überall stehen bunte Obstbäume mit so vielen Früchten, dass jeder deutsche Obstbauer mit seinen mickrigen Apfel- und Kirschbäumen vor Neid erblassen würde.

Dieses Dorf war viele Jahre meine Welt. Hier lebten etwa zwei- bis dreihundert Menschen. Irgendwie waren wir alle miteinander verwandt. Unsere Sprache war Arabisch, wobei wir eigentlich Türken waren. Wer also waren wir? Türkische Araber, die in einem Kurdengebiet lebten und eigentlich auch kurdische Vorfahren hatten? Aber das durften wir nicht sagen, mit Kurden wollte niemand in Verbindung gebracht werden.

Die schlichten Häuser waren aus Lehm und Blocksteinen gebaut und hatten in der Regel zwei Ebenen. Auf der unteren lebten die Tiere, jeder Dorfbewohner hatte Kühe, Lämmer, Hühner oder Ziegen. Außen am Haus führte eine Treppe hoch in den Wohnbereich, der meist aus nicht mehr als einem Zimmer bestand, mit einem Holzofen in der Mitte und weiter nichts. In diesem Raum wurde gelebt, gekocht, gegessen und geschlafen, im Winter versammelten sich alle um den Ofen und es wurde wild diskutiert. In der warmen Jahreszeit, wenn es im Haus zu heiß war, spielte sich ein Großteil unseres Lebens im Hof, auf der Terrasse oder dem Dach ab. Fernsehen oder Spielsachen kannten wir Kinder nicht.

Das Haus meiner Großeltern galt mit seiner großen Terrasse als Zentrum des Dorfes. Mein Großvater war sehr angesehen und mit seinem gepflegten Schnurrbart der schönste Mann im ganzen Ort. Er hatte sogar gesunde Zähne, was auch nicht selbstverständlich war. Als junger Mann hatte er im Libanon für britische Diplomaten gearbeitet, hatte für sie eingekauft und sich um Haus und Garten gekümmert. Meine Großmutter war seine dritte Ehefrau, zusammen hatten sie zwölf Kinder. Sie war die wichtigste Frau im Dorf. Ich liebte sie über alles, sie war mein Vorbild, in ihrer Nähe hatte ich als Kind nie Angst.

Meine Mutter, ihre Tochter, wurde im Libanon geboren. Als Mitte der 1970er-Jahre der Bürgerkrieg begann, floh die Familie in die Türkei und ließ sich in diesem Dorf nieder. Mit vierzehn Jahren wurde meine Mutter verheiratet, ein Jahr später kam ich zur Welt. Mein Vater ist in der Türkei geboren, im gleichen Dorf wie ich. Er und meine Mutter sind verwandt: Cousin und Cousine. Anders als die Familie meiner Mutter war seine Familie jedoch verarmt und genoss im Dorf keinen besonders guten Ruf. Verheiratet wurden die beiden trotzdem. Zwischen ihren Familien waren seit Generationen Rechnungen offen, es gab ein altes Versprechen und Versprechen darf man nicht brechen. Mein Vater war fast nie zu Hause, er machte Geschäfte in Jordanien. Manchmal, wenn er von seinen Reisen zurückkam, brachte er Dinge mit, die ich nie zuvor gesehen hatte. Am meisten beeindruckt hat mich ein Stück weiße Schokolade in Glitzerfolie.

Meine Großmutter war überglücklich, als ich geboren wurde. Sie hatte meiner Mutter gewünscht, dass ihr erstes Kind ein Mädchen sein würde. Ein Mädchen konnte ihr zur Hand gehen. Schon im Alter von vier Jahren musste ich auf zwei jüngere Geschwister achten, mit dem Vieh, auf den Feldern und in der Küche helfen. Den Jungen gegenüber hatten wir Mädchen Respekt zu zeigen, daran erinnerte unser Vater uns jeden Tag.

Mir war also bereits früh klar, was meine Aufgaben waren. Meine Mutter hat mir nie etwas erklärt, sie wies mich einfach an, was ich zu tun hatte. Ich hatte zu gehorchen, meine Pflichten im Haushalt zu erledigen, durfte nichts hinterfragen, egal wie seltsam und unfair es mir erschien. Meine Großmutter hingegen sprach mit uns Mädchen. Sie bläute uns ein, immer wachsam zu bleiben und für unsere weiblichen Körper zu sorgen, damit wir eines Tages möglichst gut verkauft werden konnten. Waren unsere Körper unversehrt und rein, würden wir unseren Eltern viel Geld einbringen. Die Worte meiner Oma, von denen ich damals natürlich noch nicht viel verstand, habe ich bis heute im Ohr: »Betrachte das Ganze als Geschäft. Man kann ein Mädchen nur weiterverkaufen, wenn es unbeschädigt ist.«

Das Leben im Dorf war rau und hart, aber es war mein Leben. Ich kannte nichts anderes und wie wohl jedes Kind nahm ich es hin und machte das Beste daraus.

Ich kann mich an eine Situation erinnern, die mich stark geprägt hat. Eine meiner Cousinen war einem Cousin versprochen. Am Abend vor der Hochzeit saßen die Frauen der Familie zusammen und redeten auf das junge Mädchen ein, sie war vielleicht dreizehn Jahre alt. Ich erinnere mich an ihr Weinen, ihre Bitten an die Mutter, dass sie Angst habe und zu Hause bleiben möchte. Es half nichts. Die Frauen bereiteten sie darauf vor, was am nächsten Tag passieren würde: die Feier, die Hochzeitsnacht, das Leben als verheiratete Frau. Ich saß auf dem Schoß meiner Großmutter und lauschte fasziniert den unerklärlichen Dingen, die ich erst Jahre später zusammensetzen konnte.

Eine andere Geschichte, die ich niemals vergessen werde, ist die, wie eine meiner vielen entfernten Tanten sich in ihrem Haus mit Benzin übergoss und sich anzündete, nachdem sie über Jahre von ihrem Ehemann gequält worden war. Ihr Mann schrie um Hilfe, wir alle rannten hin und sahen sie lodern wie einen Feuerball. Ich kann mich an den Geruch von verbranntem Fleisch erinnern, daran, wie das lange Synthetikkleid an ihrem Körper klebte wie Gummi und sie dennoch keinen Ton von sich gab. Keinen Schrei, kein Jammern, keinen Schmerzenslaut. Diese Genugtuung gönnte sie ihrem Mann nicht. Ich sehe die vollen Brüste noch vor mir, die sie zu dieser Zeit hatte, da sie noch ihr jüngstes Kind stillte. Wie verzweifelt muss sie gewesen sein, ihrem Leben auf diese grausame Art ein Ende zu setzen. Als ihre Geschwister das Feuer mit Decken gelöscht hatten, war nicht mehr viel zu machen, meine Tante starb wenige Stunden später. In dieser Nacht schlief ich keine Sekunde. Das ganze Dorf war in Aufregung, jeder stellte sich lautstark entweder auf ihre oder auf die Seite ihres Mannes.

Ebenso deutlich steht mir noch vor Augen, wie ein entfernter Onkel von mir ein kleines Mädchen mit dem Traktor überrollte; ob absichtlich oder aus Versehen, das kommt darauf an, wen man fragt. Als Wiedergutmachung gab er ihrer Familie eines seiner Felder – so viel war in meiner Heimat das Leben eines Mädchens wert.

Das war das Frauenbild, mit dem ich aufgewachsen bin: Eine Frau ist eine Ware, ihr Wort hat kein Gewicht, ihr Leben keinen Wert. Und auch wenn ich es mit fünf Jahren noch nicht im Detail verstand, so hat es doch meine Vorstellung davon, was es heißt, eine Frau zu sein, bis in die tiefsten Schichten meines Unterbewusstseins geprägt. Bis heute begegne ich manchmal Gedanken und Gefühlen in mir, die ich hoffte längst hinter mir gelassen zu haben. Fühle, dass auch ich nichts wert bin, denke, dass es mir nicht zusteht, ein neues, freies Leben zu leben.

Wie alle Frauen im Dorf schuftete auch meine Mutter von früh bis spät. Nach dem Aufstehen versorgte sie die Tiere, dann ihre Familie, anschließend die Familie meines Vaters, und danach ging es auf die Felder. Abends wartete wieder der Haushalt. Dieser Kreislauf kannte keine Pause, sie arbeitete von morgens bis abends, jeden verdammten Tag. Die Männer waren für das Organisatorische zuständig, sie verkauften die Ernte und erteilten Befehle. Der Mann, Bruder, Vater oder Onkel bestimmt in dieser Kultur über alles, auch über dein Leben als Frau.

Manchmal, wenn ich darüber nachdenke, woher wir kommen, kann ich meiner Mutter ein wenig verzeihen. Kann sie ein bisschen verstehen, ihre Herzlosigkeiten, ihre Wut nachvollziehen. Aber letztendlich hatte sie die Wahl, als sie nach Deutschland kam. Sie hatte die Möglichkeit, sich für ein Leben in Freiheit zu entscheiden. Sie hatte die Möglichkeit, sich zu bilden, lesen und schreiben zu lernen. Diese Chance hat sie nicht genutzt, hat sich immer tiefer in die neu wachsenden Strukturen hineinziehen lassen. Sie hat unser Dorf zwar verlassen, es aber niemals erlaubt, dass das Dorf sie verlässt.

Einige Zeit schon machten damals Geschichten bei uns die Runde: Einer aus dem Nachbardorf ist nach Almanya gegangen. Er hat sein Vieh verkauft und alle haben ihm Geld für die Reise geliehen. In Almanya gibt es Maschinen, die die Wäsche waschen, das Geld liegt auf der Straße. Sobald er dort ist, wird er sein ganzes Dorf nachholen, einen nach dem anderen.

Als meine Eltern beschlossen, ebenfalls nach Almanya zu gehen, war ich fünf Jahre alt und hatte bereits drei Geschwister. Am Tag unserer Abreise regnete es furchtbar. Das ganze Dorf stand unter Wasser. Trotzdem waren alle gekommen, um uns zu verabschieden. Ich war traurig, meine Großeltern zurückzulassen, meine Tanten und Cousinen, die Tiere, die Felder und alles, was ich kannte. Aber ich war auch gespannt und freute mich auf das wunderbare Almanya, das Geld, das ich von der Straße sammeln würde, um meinen Cousinen Geschenke ins Dorf zu schicken, und die neuen Menschen, denen wir begegnen würden.

Über Izmir, Istanbul und Ankara, wo wir bei Verwandten auf gefälschte Papiere warteten, ging es mit dem Flugzeug nach Almanya.

Die erste Maßnahme, die meine Eltern am Flughafen in Deutschland ergriffen, war, die falschen Ausweisdokumente zu zerreißen und die Toilette hinunterzuspülen. Wenn man nicht wusste, wer wir waren und woher wir kamen, konnte man uns auch nicht wieder abschieben. Unsere Verwandten in Ankara hatten sie gut vorbereitet. Nach zwei Tagen in einem kleinen Raum am Flughafen mit vielen anderen Menschen ließen uns die Polizeibeamten gehen. Bis dahin hatte ich kein Wort gesagt, immer voller Angst, meine Eltern würden mir etwas antun: Sie hatten uns Kindern gedroht, uns vom Balkon zu werfen, sollten wir es wagen, mit jemandem zu sprechen.

Für mich war alles wie ein Traum. Der Flughafen mit seinen riesenhaften Maschinen, Frauen in Hosen und ohne Kopftücher, und alles war so sauber.

In einem großen Gebäude in der Stadt sollten sich meine Eltern anmelden, um in ein Flüchtlingsheim aufgenommen zu werden. Im Wartesaal tobte ich mit meinen Geschwistern und anderen Kindern. Einige von ihnen sprachen unsere Sprache. Die Stühle im Wartesaal waren in einer Reihe aufgestellt. Ich kletterte darauf herum, vergaß mich und die Welt, und zack – blieb mein Kopf in einer Stuhllehne stecken. Als alle Versuche meiner Eltern scheiterten, mich zu befreien, tauchten ein paar Männer in Uniformen auf und schraubten den Stuhl auseinander. Heute weiß ich, dass das die Feuerwehr war.

An dem Abend gab es für mich das erste Mal in meinem Leben ordentlich Schläge für diese Aktion. Überhaupt wurden meine Eltern, von denen wir in unserem Dorf nie ernstlich Gewalt erfahren hatten, seit unserer Ankunft in Almanya immer strenger und unangenehmer. Wir bekamen langsam richtig Angst vor ihnen.

Später in der Flüchtlingsunterkunft erfuhr ich, dass Almanya eigentlich Deutschland heißt. Hier wurde uns ein Zimmer mit Hochbetten zugewiesen. Noch nie hatte ich bis dahin in einem Bett geschlafen, geschweige denn ein Hochbett gesehen. Niemand von uns traute sich, die Nacht in diesen Betten zu verbringen, zu groß war die Sorge, dass einer hinausfallen oder das Ganze einstürzen könnte. Meine Eltern legten die Matratzen auf den Boden, und dort schliefen wir, alle zusammen. An diesem Abend heulte ich mich leise in den Schlaf. Alles war so fremd.

Am Morgen muhte keine Kuh, kein Hahn krähte und es roch nicht nach tierischen Exkrementen. Niemand rief zur Arbeit auf den Feldern.

Zum Essen trafen sich alle in einem großen Saal. Man saß an Tischen, es gab Besteck, und das Essen wurde auf klebrigen Tabletts serviert, vor denen mich ekelte. Alles sah aus wie schon mal gegessen. Das Wasser war abgepackt, es kam nicht einfach aus dem Brunnen, wie im Dorf.

An den Fenstern waren Gitter, die Türen waren verschlossen. Ausgang hatte man nur, wenn es einen Grund dafür gab. Die Menschen waren gestresst, gelangweilt und frustriert. Die Kinder klammerten sich an ihre Eltern. Alles, was es in dieser Unterkunft gab, waren Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

Ab und zu tauchte die Polizei mitten in der Nacht auf und nahm irgendjemanden mit. In diesen Nächten wurde geschrien, gebettelt, sich aneinandergeklammert und bitterlich geweint. Erst viel später habe ich begriffen, dass die Menschen, die die Beamten mitnahmen, abgeschoben wurden.

Ich verstand überhaupt nicht, warum wir in dieser Unterkunft waren und warum wir nicht hinausdurften. Das hatte nichts damit zu tun, was wir uns ausgemalt hatten. Wieso hatten meine Eltern unser Leben im Dorf gegen das hier eingetauscht?

Im Mai 1986, nach fast acht Monaten in der Flüchtlingsunterkunft, wurde uns ein neues Heim zugewiesen. Ich war inzwischen sechs Jahre alt. Als Familie mit vier Kindern waren wir bereits zu viele für eine normale deutsche Wohnung und so teilte man uns zwei gegenüberliegende Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus zu. Hier wurde es etwas besser. Zumindest konnte meine Mutter nun selber kochen, und wir durften die Wohnung verlassen, ohne eine Erlaubnis einzuholen. Zu meiner Überraschung musste ich allerdings feststellen, dass kein Geld auf den Straßen lag.

Um Lebensmittel einzukaufen, bekamen meine Eltern einmal im Monat einen Gutschein vom Sozialamt. Ich weiß noch, wie sie diese Gutscheine gegen Geld eintauschten. Es gab immer irgendwelche Leute, die Einkaufsgutscheine nahmen und ihnen dafür Bargeld gaben, wenn auch sie dabei ein gutes Geschäft machten, die Gutscheine also etwas unter ihrem Wert bekamen. Oder meine Eltern kauften mit den Gutscheinen Dinge, die sie teurer weiterverkauften, um ein paar deutsche Mark zur Seite zu legen, damit die nächsten Familienangehörigen aus der Türkei nachkommen konnten. Später bekamen sie dann richtiges Geld. Jede Mark wurde gespart und in die Türkei geschickt. Dafür hatten sie schon damals Mittelsmänner, die das Geld in Koffern über die Grenze brachten. Alles, was wir an Essen, Kleidung oder Möbeln brauchten, holten wir uns bei einer christlichen Essensausgabe, aus der Kleiderkammer des Roten Kreuzes oder vom Sperrmüll.