12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Carlos, ehemaliger Anführer einer militanten Gruppe, führt mit Freunden ein Hotel bei Barcelona, in dem die polnische Mannschaft während der Fußballweltmeisterschaft wohnt. Ohne Wissen seiner Freunde versteckt er zwei Untergrundkämpfer, in Erinnerung an seine eigene aktive Zeit beim baskischen Widerstand. Doch im Hotel ist auch ein Verräter. Der Kreis von Polizisten zieht sich immer enger, die Bewachung der Polen wird zu einer Belagerung. Carlos will sich endlich von den bedrohlichen Schatten seiner Vergangenheit befreien und ein neues Leben beginnen – doch dafür muss er seine gesamte Existenz aufs Spiel setzen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 586
Veröffentlichungsjahr: 2022
Carlos, ehemaliger Anführer im baskischen Widerstand, führt mit Freunden ein Hotel bei Barcelona. Ohne Wissen seiner Freunde versteckt er zwei Untergrundkämpfer, doch im Hotel ist auch ein Verräter. Um den Schatten seiner Vergangenheit zu entkommen, muss Carlos seine gesamte Existenz aufs Spiel setzen.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Bernardo Atxaga (eigentlich Joseba Irazu Garmendia, *1951) studierte Wirtschaftswissenschaften. Mit Romanen, Gedichten, Liedertexten und Kinderbüchern gewann er in seiner Heimat große Popularität. Er übersetzt seine Bücher von seiner Muttersprache Baskisch selbst ins Spanische.
Zur Webseite von Bernardo Atxaga.
Giò Waeckerlin Induni, in einer italienischsprachigen Familie in Zürich aufgewachsen, war Lektorin und Übersetzerin vorwiegend aus dem Italienischen, Spanischen und Englischen.
Zur Webseite von Giò Waeckerlin Induni.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Bernardo Atxaga
Ein Mann allein
Roman
Aus dem Spanischen von Giò Waeckerlin Induni
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument
Die baskische Originalausgabe erschien 1993
Die spanische Ausgabe erschien 1994 in der Übersetzung von Arantza Sabán und Bernardo Atxaga bei Ediciones B, Barcelona
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde unterstützt mit einem Beitrag der Dirección General del Libro, Archivos y Bibliotecas del Ministerio de Educación y Cultura de España
Originaltitel: Gizona bere bakardadean (span. El hombre solo)
© by Bernardo Atxaga 1994
© by Unionsverlag, Zürich 2022
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Imagewriter (Alamy Vektorgrafik)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-30228-0
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 21.09.2022, 16:52h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und MacE-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Doch wehe dem, der allein ist!Wenn er hinfällt, ohne dass einer bei ihm ist,der ihn aufrichtet.
EKKLESIASTES, IV, 10
Der Mann, den alle Carlos nannten, wusste, dass das sich vor ihm ausbreitende Eismeer bloß ein sich langsam verflüchtigendes Traumbild war, und er wusste auch – weil eine Stimme in seinem Bewusstsein ihn daran erinnerte –, dass er vom Sofa aufstehen und möglichst schnell in den Hotelsaal hinuntergehen musste, um sich dort das Fußballspiel anzusehen, das die Mannschaften Polens und Belgiens um neun Uhr abends jenes Tages, des 28. Juni 1982, austragen würden. Doch das Meer in seinem Traum hüllte einen Teil seines Bewusstseins ein, der sich immer noch den Befehlen seines Verstandes entzog, und dieser losgelöste Teil flüsterte ihm ein, er solle die Augen nicht aufmachen, er solle sich nicht bewegen, er solle nicht ganz aufwachen, solle sich wohlig fallen lassen, das Gefühl genießen, das sich jetzt seiner bemächtigte und ihn in einen Stein verwandelte, der in seinem Fall auf die Eisschicht prallen und im Wasser versinken würde. Unten angekommen, blieb er jedoch knapp über der Meeresfläche in der Schwebe, sodass er zwei, drei in Dunst gehüllte Fische erkennen konnte, die zwischen den Eisspalten hin und her schwammen. Gleich darauf verwandelte sich der Stein in eine große Fledermaus, die über dem Meer flog, einem Meer, das nun, von oben betrachtet, wie eine riesige weiße Ebene aussah.
Er rollte sich auf dem Sofa zusammen und kehrte dem Fenster, durch das die Spätnachmittagssonne hereinschien, den Rücken zu. Er wollte nicht aufwachen, wollte die Traumbilder festhalten und für ein paar Sekunden jene Fledermaus sein, wollte einen flüchtigen Moment lang die Schwerelosigkeit und das Gefühl genießen, nicht er selbst zu sein. Sein Verlangen wurde durch die Orchestermusik noch verstärkt, die von weit weg, von irgendwo her in der weißen Ebene bis zu ihm drang und den an sich schon duftigen Bildern zusätzliche Zartheit verlieh.
Sein Wunsch erfüllte sich nicht. Die Musik wurde von der Stimme einer Frau überlagert, die einem Paläontologen namens Ruiz Arregui eine Frage stellte, und dieses Detail – seit er in Barcelona wohnte, ließen ihn baskische Namen unweigerlich aufhorchen – zwang ihn, die Augen aufzumachen und in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er sah ein Fernsehgerät mit siebzehn Tasten vor sich und auf dem Bildschirm einen jungen Mann mit Brille, den Paläontologen, der die Frage der Moderatorin beantwortete.
»Selbstverständlich nicht. Wie bereits erwähnt, an der baskischen Küste können unmöglich Pterosaurier gelebt haben. Zudem, hätte es sie tatsächlich gegeben, hätten sie nicht fliegen können, weil diese Saurier – wie im Übrigen alle Saurier – Kaltblütler waren und daher nicht in der Lage waren, ihre Körpertemperatur zu regeln. Was bedeutet das? Nun, dass sie in Lethargie zwischen dem Eis verharrt hätten, was wiederum bedeutet, dass sie unmöglich fliegen konnten.«
»Was beweist«, pflichtete ihm die Moderatorin lächelnd bei, »dass es in jener Zeit, von der in dieser Sendung die Rede ist, keine Pterosaurier – Flugechsen also – gegeben haben kann und dass diese Saurier viele Millionen Jahre früher von der Erdoberfläche verschwunden sind. Und dass die Bezeichnung Fledermaus, wie ich diese urzeitlichen Tiere vorhin genannt habe, ebenso wenig gerechtfertigt ist, weil es sich eindeutig um einen Vogel handelt, genau genommen um ein Reptil. Fassen wir daher für unsere Freunde am Bildschirm zusammen: Beim Pterosaurier handelt es sich um ein Reptil, besser gesagt, um eine Flugechse, die lange, lange bevor sich die ersten Menschen in Höhlen ansiedelten, von der Erde verschwand.«
Es war eine populärwissenschaftliche Sendung, und sowohl die Moderatorin als auch der Paläontologe bemühten sich offensichtlich, ein zwangloses Gespräch zu führen. Carlos war etwas enttäuscht über den trivialen Ursprung seines Traumes. Er schaute auf die Uhr: noch eine halbe Stunde bis neun, eine halbe Stunde also, bis das Fußballspiel begann, das Boniek, Lato und seine Mannschaftskollegen gegen Belgien austrugen und das vom zweiten Sender übertragen wurde.
Sein Blick fiel auf die Sportzeitung, die neben dem Sofa auf dem Fußboden lag. Boniek ist in Fußballkreisen eine Persönlichkeit – las Carlos zerstreut, während er das Geschehen auf dem Bildschirm aus dem Augenwinkel verfolgte. Er wird außerordentlich geschätzt; er wird bewundert, ja er wird vergöttert, wie wir in Barcelona immer wieder Gelegenheit gehabt haben festzustellen. Bei seinen Teamkollegen genießt er Hochachtung, denn in Polen vergisst niemand seine Geste zugunsten des Torhüters Mlynarczyk, als dieser in volltrunkenem Zustand am Flughafen von Warschau erschien. Die Verantwortlichen des Fußballverbands verlangten, dass Mlynarczyk zu Hause bleiben müsse, doch Boniek drohte, dass er in diesem Fall das Flugzeug ebenfalls nicht besteigen werde, und die Angelegenheit wurde schließlich dank Bonieks Intervention geregelt.
Dann überflog er die Schlagzeilen der Tageszeitung, die ebenfalls auf dem Fußboden lag: Gespannte Situation für die Palästinenser in Beirut. – ETA dementiert die Meldung, wonach das jüngste Bombenattentat, bei dem ein Kind schwer verletzt wurde, auf ihr Konto gehe. Es waren die zwei erwähnenswertesten Nachrichten des Tages.
Auch wenn die heißeste Zeit des Sommers noch bevorstand, überstieg die Temperatur im Zimmer die fünfundzwanzig Grad. Carlos streckte den Arm aus und öffnete das Fenster, ohne vom Sofa aufzustehen. Er ließ die Abendbrise über sein Gesicht streichen und lag ganz ruhig da wie jemand, der Kopfschmerzen hat und sich vor der kleinsten Bewegung scheut: Er wollte nicht denken, er wollte das von den Traumbildern ausgelöste Gefühl noch ein bisschen genießen, bevor sich neue Bilder einstellten, die sich, durch die Schlagzeilen ausgelöst, in seinem Kopf drängelten, um Gestalt anzunehmen. Also schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gezirpe, das von draußen ins Zimmer drang; ein regelmäßiger knirschender Ton, der Gesang von Insekten, die wohl seit Zeit und Ewigkeit und für alle Zeiten die Erde bevölkerten. Ihre Anwesenheit störte ihn nicht, so wie es ihn nicht störte, dass die Söhne des Kochs mit ihren Montesas oder Derbys in der Gegend umherknatterten, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Auspuffrohre mit Schalldämpfern zu versehen. Alle monotonen Geräusche beruhigten ihn. Ja, sie schläferten ihn ein. Doch heute durfte er dem Wunsch zu schlafen nicht nachgeben. Er musste endlich aufwachen und in den Saal hinuntergehen, um seine Versprechen einzuhalten und sich mit seinen Kompagnons und den Hotelangestellten das Fußballspiel anzusehen.
Noch ganz benommen vom Schlaf, ließ Carlos das Zirpen der Insekten auf sich einwirken. Die Regelmäßigkeit war wichtig und überdies wohltuend, nicht nur für den Körper, für die Magen- und Darmtätigkeit, sondern ebenso sehr für die Psyche. Wer in der Lage war, Geplantes zur geplanten Zeit zu erledigen, wer das Glück hatte, über die Monate und Jahre hinweg von brüsken Zwischenfällen verschont zu bleiben, der konnte auf ein erträgliches Leben zurückblicken. Ja, das Geheimnis lag in der Regelmäßigkeit. Hatte er seinem Bruder nicht immer wieder gepredigt, dass die Regelmäßigkeit einem hilft, schwierige Situationen zu meistern? Dass sie wie der Sand ist, den man unter das Rad streut, wenn es auf dem Glatteis schleudert?
Willst wohl nicht behaupten, dass es ihm viel genützt hat. Wenn ich mich nicht täusche, ist Kropotky heute in einer psychiatrischen Klinik, hörte er in sich eine Stimme sagen. Carlos verzog verärgert das Gesicht: Obwohl er es gewohnt war, Stimmen zu hören, obwohl er seit seiner Gefängniszeit auf diese Methode zurückgriff, um sich mit sich selbst zu unterhalten, vermochte er die Stimme nicht zu identifizieren, die eben in ihm gesprochen hatte. Es handelte sich offensichtlich nicht um jemand, den er kannte, um eine der Personen, die ebenfalls in ihm lebten und Menschen entsprachen, die er in seiner Vergangenheit gekannt hatte; die wie Schauspieler im gegebenen Moment auftraten, mit einer Stimme, zu der eine Gestalt und ein Gesicht gehörten. Manchmal hatte er den Eindruck, es handle sich vielleicht um eine Ratte, die zwischen seinen Eingeweiden groß und größer wurde und nichts anderes bezweckte, als ihn zu demütigen.
Carlos stand vom Sofa auf und stellte sich ans Fenster; er versuchte die Bemerkung der Rattenstimme hinsichtlich seines Bruders zu verscheuchen. Draußen atmete alles die nahende Nacht: Die Drähte in den Lichtbogenlampen um das Hotel herum glühten bereits; eine kleine Fledermaus, eine ganz andere als die aus seinem Traum, umflatterte das orange Licht. In der Ferne verdichtete sich die Dunkelheit wie der Bodensatz in einer Flasche; die Oliven- und Mandelbäume am Berghang waren nur noch verschwommen erkennbar und verschmolzen langsam mit dem Strauchwerk, das sich bis weit in die Ebene hinunterzog. Etwas weiter weg – ungefähr dreihundert Meter vom Hotel entfernt – blinkten an der Straße nach Barcelona bereits die roten und blauen Neonbuchstaben der Tankstellen. Dahinter erhob sich wie ein riesiger grauer Wall der Montserrat. Ja, es wurde wie jeden Tag Nacht, regelmäßig, unaufhaltsam. Eine Stunde später, wenn es ganz dunkel sein würde, würde man den Berg nicht mehr sehen, und die Kirche des Dorfes, zu dessen Verwaltungsbezirk das Hotel und alle Wohnsiedlungen in der Umgebung gehörten, würde hell beleuchtet sein. Dann war die Reihe wieder an den Insekten, bis auch sie verstummten; und auch der Verkehr würde nachlassen und schließlich ersterben. Vollkommene Ruhe würde herrschen, bloß die blauen und roten Lichter der Tankstelle würden bis zum nächsten Morgen blinken und einem das Gefühl vermitteln, dass das Leben weiterging und dass jemand da war, der es bewachte.
Carlos setzte sich wieder auf das Sofa und schlüpfte zerstreut in seine Sandalen. Was er eben vor dem Fenster gesehen hatte, war die Kulisse seines Exils: Berge, Häuser und Straßen, die wenig mit den Bergen, den Häusern und Straßen zu tun hatten, die er wirklich liebte. Dennoch, die hier herrschende Regelmäßigkeit half ihm, die in ihm wühlende und ihn demütigende Ratte zu besänftigen. Er wusste nicht, was die Zukunft ihm noch bescheren würde, doch was immer es sein mochte und selbst im schlimmsten Fall, würde er es nicht diesem Ort zuschreiben können.
»Ich denke schon. Abgesehen von Altamira und Lascaux gibt es wenige so interessante Höhlen wie die von Ekain. Zum einen bergen sie außergewöhnliche Wandmalereien, und zum Zweiten handelt es sich um bedeutende Fundorte. In Ekain wurden jede Menge Gegenstände gefunden, sowohl aus dem Paläolithikum als auch neolithische.«
Auf dem Bildschirm sah man jetzt eine Landkarte des Golfs von Biscaya und der angrenzenden Regionen. Ein roter Punkt in der Nähe der Küste bezeichnete die Lage der Höhle. Ein paar Sekunden später war die Landkarte verschwunden, und der rote Punkt hatte sich in einen vom Regen feuchten, moosüberwachsenen Felsen verwandelt.
Carlos konzentrierte sich auf den Bildschirm. Die Kamera zoomte den Felsen in den Vordergrund, bis er verschwand, dahinter erschien ein Buchenwald, dann kam ein sattgrüner Gipfel ins Bild; der Blick schweifte über weitere Berge, keine grünen mehr, sondern blaue, und dann leuchtete am Horizont der Saum des Meeres auf. Die Kamera überflog jetzt – wie die Fledermaus in seinem Traum – die Berge, die Häuser und Straßen, an denen sein Herz hing. Dort sind meine Berge, dort sind meine Täler. Er fand spontan die Worte zum Volkslied, das in einer Orchesterbearbeitung die Bilder begleitete. Dort sind meine Berge, dort sind meine Täler, die weißen Häuser, die Bäche, die Flüsse. Ich stehe an der Grenze in Henday, und meine Augen füllen sich mit Tränen. O Baskenland …
Carlos wählte eine interne Telefonnummer, die Siebzehn. Er legte auf und wählte ein zweites Mal.
»Habt ihr den Fernseher an?«, fragte er, als jemand am anderen Ende der Leitung abhob. »Dann stellt das Zweite Programm ein, sie zeigen unser Land, die Küste von Zarauz und die ganze Gegend dort. Ihr habt bestimmt Heimweh, oder? Schließlich seid ihr schon über zwei Wochen weg.«
Carlos hatte seit mehr als einem Jahr das Land, das eben im Fernsehen gezeigt wurde, nicht mehr betreten; seine Bemerkung über das Heimweh war als Scherz gemeint. Doch die Frau auf der anderen Seite der Leitung schien sie überhört zu haben. Oder wollte sie nicht hören.
»Gut, wir schalten ein. Doch wenn du es genau wissen willst, was uns am meisten fehlt, ist das Essen. Wir haben die ständigen Konserven zum Kotzen satt«, sagte sie. Ihre Stimme klang verdrossen.
»Das vollkommene Glück gibt es nicht«, sagte Carlos und legte auf. Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
Der Paläontologe kommentierte die Bilder; er schilderte die Menschen, die vor 40 000 Jahren in der Gegend der Höhle lebten. Sie hätten seltsame Bräuche gehabt; der vielleicht ungewöhnlichste habe darin bestanden, Mollusken zu sammeln, aber keine essbaren Mollusken, sondern schöne, möglichst bunte Muscheln, die sie zu Schmuck verarbeiteten, zum Beispiel die der Gattung Nassa reticulata. Im Übrigen müsse man sich vor Augen halten, dass das Meer in jenen Urzeiten sich nicht an der gleichen Stelle befunden habe wie heute, im 20. Jahrhundert, sondern viel weiter weg, mindestens zwanzig Kilometer weiter entfernt, und dass die Temperatur im Golf von Biscaya keineswegs die Temperaturen des diesjährigen Sommers erreichte, sondern mindestens vierzig Grad unter null betrug. War es also nicht erstaunlich, dass jene Männer und Frauen vor vierzigtausend Jahren das Bedürfnis hatten, sich zu schmücken? Man musste sich wirklich fragen, warum sie so viele Mühe und so viele Gefahren auf sich nahmen, nur um sich mit einem Muschelhalsband herauszuputzen.
Als der Paläontologe seine Ausführungen schloss, waren die Bilder der grünen und blauen Berge, die die Höhle einschlossen, bereits verschwunden, und auch die Bilder der Pferde und Auerochsen in ihrem Innern. Auf dem Bildschirm war nur noch das etwas nervöse Gesicht der Moderatorin zu sehen. Die weitschweifigen Ausführungen des Paläontologen hatten den Zeitplan durcheinandergebracht. Die Sendung musste schnell beendet werden.
»Man könnte also behaupten, dass sie ebenso raffiniert und eitel waren wie wir«, ergänzte sie abschließend seinen Kommentar. »Und jetzt, nur noch ganz kurz, weil unsere Zeit fast abgelaufen ist, zeigen wir Ihnen die Landkarte und die Lage von weiteren Höhlen an der Nordküste, wo man ebenfalls die Wandmalereien unserer Vorfahren bewundern kann. Wenn Sie in Ihrem nächsten Urlaub Kultur und Freizeit miteinander verbinden möchten, vergessen Sie nicht, sie zu besuchen. Ganz bestimmt ist ein Ausflug ins Baskenland von Mal zu Mal …«
»Von Mal zu Mal mit mehr Schwierigkeiten verbunden«, kam der Paläontologe der Moderatorin zu Hilfe. »Die jüngsten Attentate fördern diese Art von Tourismus nicht unbedingt.«
»Trotzdem, wir dürfen nicht zu sehr schwarzmalen. Das wäre Wasser auf die Mühlen jener, die keine andere Sprache als die der Bomben und Maschinenpistolen verstehen«, fügte die Moderatorin abschließend hinzu.
Carlos schloss die Augen und versuchte, sich die Männer und Frauen vorzustellen, die vor 40 000 Jahren ein äußerst karges Leben geführt hatten, aber trotzdem die Höhlenwände mit Zeichnungen schmückten oder Halsketten aus Muscheln der Gattung Nassa reticulata trugen. Ein schönes Bild, ebenso schön wie das Eismeer aus seinem Traum; er überlegte sich, dass diese Geschichte keineswegs trivial war, überhaupt nicht, sondern eine Lehre enthielt, einen Fingerzeig, den er vielleicht möglichst schnell beherzigen müsste. Aber die jetzt auf der Landkarte flimmernden Namen – Biarritz, Zarauz, Guernica, Bilbao – weckten die Ratte in ihm, und seine Erinnerung, weit davon entfernt, ihm zu Hilfe zu kommen, ließ unangenehme Bilder aus seiner Vergangenheit an ihm vorbeiziehen. Carlos sah den Rathausplatz von Zarauz mit seinem Musikpavillon in der Mitte, dann eine enge gewundene Straße mit einem Kino. Im Kino spitzten sich die von der Ratte geweckten Bilder zu, und sein Geist – sein Astralkörper, wie sein Bruder Kropotky gesagt hätte – schwebte weiter, zuerst bis zum Projektionsraum, dann von dort aus zu einem fensterlosen Raum – dem Dorfverlies – unter dem Kinosaal. Auf einer Pritsche saß der Geschäftsmann, den er entführt hatte; er schaute zu ihm auf, und sein Blick schien zu fragen: Was geschieht mit mir? Was wirst du mir antun?
Das Telefon klingelte, Carlos streckte den Arm nach dem Hörer aus. Er zögerte einen Moment lang, weil sein schwebender Geist – sein Astralkörper – ihn immer noch mit Bildern aus der Vergangenheit quälte: Er flog zuerst nach Biarritz, wo Carlos sich selbst sah, dreiundzwanzigjährig, in einem Sessel des Kino Daguerre, wo er sich mit Sabino, seinem besten Freund von damals, einen Pornofilm ansah. Dann flog er nach Guernica, wo er wiederum sich selbst sah, diesmal jedoch als Heranwachsenden, während er der Rede seines Bruders zuhörte, die dieser von einem Podium herunter an die auf einem Platz versammelte Menge richtete. Mit der für ihn typischen arroganten Selbstsicherheit deklamierte Kropotky – Carlos schämte sich bei der bildhaften Erinnerung an diese Szene – ein altes englisches Gedicht, das er für den Abschluss der Feier des »Tages der baskischen Heimat« ausgesucht hatte: »Baum Guernicas! Wie kannst du Blüten und Blätter tragen in dieser Zeit der Zerstörung? Welche Hoffnung, welchen Trost bringen die Sonne, die leichte Brise vom Atlantischen Ozean, der Morgentau, der sanfte Aprilregen?« Kropotky rezitierte mit steigender Inbrunst. Und er, Carlos, schämte sich immer mehr.
Es gelang ihm schließlich, die von der Ratte ins Rollen gebrachten Bilder aus seinem Geist zu verdrängen, und er hielt den Hörer ans Ohr. Zuerst hörte er Ugarte husten, dann Stimmen, die über Fußball diskutierten. Der Anruf kam aus dem Hotelsaal.
»Darrf man wissän, was ein Diirräktionsmitglied dieses Hotäls macht, anstatt in dän Salon hinuntärr zu kommen, wo wirr uns allä das Spiel anschauen? Odär bässärr gäsagt, darrf man wissän, was einärrr mäiner Kompagnons maacht, anstatt am brridärrlichen Fäst zwischän Arrbeitgäberrn und Arrbeitnähmerrn teilzunähmen?«, fragte Ugarte. Man konnte zwar nicht behaupten, er sei von Natur aus ein Spaßvogel, doch er redete seit Jahren nicht mehr in einem normalen Tonfall. Er brüllte herum, betonte zwei oder drei Wörter pro Satz, vor allem aber imitierte er ständig irgendwen.
Am anderen Ende der Leitung übertönte der Sportmoderator das Stimmengewirr im Saal: Er informierte über die Verletzung des Torhüters der belgischen Mannschaft, die dieser sich beim Training zugezogen hatte. Pfaff würde heute Abend also nicht spielen. Carlos schaute auf seine Armbanduhr. Es fehlten zwanzig Minuten, bis das Spiel zwischen Polen und Belgien angepfiffen wurde.
»Ich komme gleich. Muss nur in die Sandalen schlüpfen«, sagte er und schaltete gleichzeitig das Fernsehgerät aus.
Carlos hatte eine angenehme Stimme, geformt wie die eines Schauspielers, allerdings nicht etwa geschult, um die kleinste Schwankung seiner Gemütsverfassung oder Seelenstimmung auszudrücken, sondern, im Gegenteil, um nichts durchscheinen zu lassen, weder Ängste noch Zweifel noch Unruhe. Seine Stimme, die nichts ausdrückte – und daher ruhig und entspannt wirkte –, war, wie viele andere hervorstechenden Eigenschaften seiner Persönlichkeit, ein Relikt aus seiner militanten Vergangenheit im bewaffneten Kampf.
»Ja, bittä sährr. Komm zu uns hinuntärr. Solidarrität ist dringänd nötig. Arrbeitgäberr, Arrbeitnähmerr, alle värrsammelt, um die pallnische Mannschaft spielän zu sehän. Allä unsärrä Spielärrr zu untärrstitzen. Und natirrlich ist auch die Polizei da. Die spanischä Polizei bäfindet sich äbenfalls in diesäm Saal, um die pallnischen Spielärr anzufeiärrn«, schwafelte Ugarte auf ihn ein. Es war offensichtlich, dass der Alkohol in einem ziemlich überhöhten Prozentsatz durch seine Adern floss. Und es war ebenso offensichtlich, dass die heutige Imitation auf Danuta Wyca gemünzt war, die Dolmetscherin, die die polnische Mannschaft nach Barcelona begleitete.
»Ich komme gleich hinunter«, sagte Carlos und legte auf. Dann ging er zum Fenster und sperrte es weit auf.
Das Thermometer zeigte immer noch mindestens fünfundzwanzig Grad. Die Tausende von Insekten im Gebüsch oder in den Mandel- und Olivenhainen zirpten wie immer drauflos. Aber nicht alles war wie immer. Wie er aus dem abschließenden Kommentar Ugartes geschlossen hatte, waren die für die Sicherheit Latos, Bonieks und der übrigen Spieler der polnischen Mannschaft verantwortlichen Polizeibeamten nicht auf ihren Posten draußen, sondern im Hotel drinnen oder sonst wo, wo ein anständiges Fernsehgerät stand. Zumindest sah es so aus: kein einziger Polizist am Haupteingang des Hotels und ebenso wenig auf der Esplanade längs der Vorderfront des Gebäudes, und auch niemand in der Allee, die zur Hauptstraße hinunterführte. Ein Gedanke kam ihm: Er ging rasch zum Telefon. Er wählte wie vor fünf Minuten die Siebzehn, legte auf und wählte erneut.
»Ich habe eine Idee. Ihr habt bestimmt Lust auf ein anständiges Abendessen, oder? Ich glaube, ich kann euch eines besorgen«, sagte er. Seine Stimme klang trotz der Eile ruhig, beruhigend.
»Wenn es keine Schwierigkeiten gibt, nur zu. Ich habe die ständigen Konserven bis obenauf satt«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Und der Freund neben mir ist gleicher Ansicht. Ich sterbe vor Lust nach etwas ordentlich Gekochtem.«
»Ich bringe euch etwas Fleisch vom Grill und was ich sonst noch in der Küche auftreiben kann. In weniger als einer halben Stunde bin ich drüben.«
Der Montserrat war jetzt fast unsichtbar, und die beleuchtete Kirche hoch über den Lichtern der Siedlungen und hoch über den Scheinwerfern auf der Autostraße nach Barcelona war der hellste Orientierungspunkt weit und breit. Gäbe es Fledermäuse wie die in seinem Traum – dachte Carlos – und hätten sich diese Fledermäuse am nächtlichen Himmel über ihm verirrt, würden sie ganz bestimmt ihren Flug nach jenem leuchtenden Punkt orientieren, um sich dann an eines der Dächer im Dorf am Fuß des Berges zu hängen. Carlos schloss seufzend das Fenster. In der Gegend war es meistens ruhig. Heute herrschte zudem spärlicher Verkehr, wie immer, wenn das Fernsehen ein Fußballweltmeisterschaftsspiel übertrug; die blinkenden blauen und roten Leuchtschriften blendeten einen fast. Die einzige Fledermaus in der Umgebung des Hotels schien allerdings unfähig zu sein, weiter zu fliegen als bis zu den Lampen längs der Esplanade.
Er riss sich von seinen Träumereien los. Als er eben das Fenster schloss, um anschließend in die Küche hinunterzugehen, hörte er die Tür gehen, und gleich darauf tauchte Pascal im Zimmer auf und hinter ihm Guiomar, mit dem er die Wohnung teilte. Der Kleine hielt einen Ball in den Händen; er warf ihn lachend vor seine Füße und kickte. Der Ball traf eine Lampe.
»Also, Pascal, wie stehts? Bist du lieber d’Artagnan oder Boniek?«, fragte ihn Carlos.
Aber der Junge lachte bloß ein bisschen hysterisch und kickte den Ball ein zweites Mal. Der Zeitungsständer neben dem Sofa bekam den ersten Treffer ab, der kleine niedere Tisch in der Mitte des Teppichs den zweiten.
»Elfmeter«, schrie der Kleine.
»Antworte, Pascal. Antworte auf Carlos’ Frage«, mischte sich Guiomar ein. Er stand hinter der spanischen Wand, die den Flur vom Wohnzimmer trennte. Er war fast zwei Meter groß, die spanische Wand reichte ihm bis zum Brillenrand.
»Sag, welcher der beiden bist du? D’Artagnan oder Boniek?«, wiederholte Carlos. Doch der Junge war ganz aufgeregt, weil es ihm gelungen war, in die Wohnung seiner zwei »Onkel« einzudringen, und statt einer Antwort lachte er schrill weiter.
»Los, Pascal, antworte«, wiederholte Guiomar und trat hinter der spanischen Wand hervor. Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich zum Beispiel bin einerseits d’Artagnan, daher trage ich das Schwert im Gürtel, bin aber gleichzeitig der Stellvertreter Bonieks und aller seiner Teamkollegen, daher kann ich es nicht zulassen, dass du einfach ruhig dasitzt, während die polnische Mannschaft in die Schlacht zieht.«
»Ich weiß, das Spiel beginnt in ein paar Minuten, aber ich habe noch zu tun, ich komme etwas später nach«, erwiderte Carlos und bückte sich, um rasch den Ball vom Teppich aufzuheben, bevor Pascal Zeit fand, ein weiteres Mal zu kicken.
»Was soll das heißen? Was ist mit dir los?«, fragte Guiomar überrascht.
»Was soll schon los sein? Nichts ist los.«
»Ich verstehe das nicht«, Guiomar schüttelte den Kopf. Er rückte seine Brille zurecht und richtete den Blick auf den Fußboden. »Es ist vielleicht kindisch von mir, aber ich bin der Ansicht, dass wir irgendwie kundtun sollten, dass die polnische Mannschaft bei uns logiert ist. Und zudem ist es eine gute Gelegenheit, ein bisschen zu feiern. Alle sind bereits im Saal unten, und der Tisch mit den belegten Broten und den Bierflaschen steht ebenfalls bereit. Nur du fehlst noch. Und das fällt auf. Schließlich bist du der Fußballfan in diesem Hotel.«
»Reg dich nicht auf. Ich weiß, dass das Fest deine Idee war und du dir viel Mühe gegeben hast, aber ich muss zuerst die Hunde füttern …«
»Die Hunde können bis nachher warten, denke ich.«
»Ja, aber ich muss auch noch in der Backstube vorbeischauen. Die Hunde können zwar warten, der Brotteig aber nicht. Er muss im genau richtigen Moment geknetet werden und nicht, wenn man Lust hat.«
»Ich kann es nicht fassen. Ich kenne dich seit vielen Jahren und kann es trotzdem nicht fassen. Ich dachte, die Zeit der Geheimnisse sei vorbei. Ehrlich, Carlos.«
»Sei nicht böse, Foxi«, beschwichtigte ihn Carlos. Foxi, einer der Decknamen, die Guiomar in der Organisation geführt hatte, war eine Abkürzung von Foxterrier, denn er stand im Ruf, hartnäckig zu sein wie diese Hunderasse. Wenn er ihm keine überzeugende Erklärung gab, würde er tage-, ja wochenlang nicht aufhören, ihm Fragen zu stellen.
»Du wirst uns im richtigen Moment informieren. Wir sind auf unseren Posten«, seufzte Guiomar. Der Satz stammte aus einer anderen Zeit und bezog sich auf eine andere Situation, was den an Carlos gerichteten Vorwurf hinsichtlich seiner Geheimnistuerei noch verstärkte.
»Glaub mir, ich habe nichts zu verbergen. Ich habe bloß Lust, mir die Beine etwas zu vertreten, bevor ich mich zu euch geselle. Wir haben alle unsere Marotten, Foxi. Die einen sind starrköpfig und feiern gern Feste, die anderen sind lieber allein.«
»Der Ball«, bat Pascal weinerlich und streckte Carlos die Arme entgegen, doch der gab ihn nicht aus den Händen.
»Jeder sieht, dass du ein Geheimnis hast. Ich habe im Übrigen auch eines. Für den Fall, dass du es nicht wissen solltest, auch ich habe ein Geheimnis«, sagte Guiomar. Er nahm den Ball und reichte ihn dem triumphierend lächelnden Kleinen.
»Es steht geschrieben: Wir sehen den Strohhalm im Auge des Nächsten, aber nicht den Balken in unserem Auge«, fügte Carlos scherzend hinzu. Vielleicht plante Guiomar eine Reise nach Kuba, er redete schon lange davon, ein paar Monate in der Karibik zu verbringen.
»Meines und deines, das sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Ich möchte dir gern erzählen, was mich beschäftigt, aber ich kann im Moment nicht. Morgen oder übermorgen bin ich vielleicht dazu in der Lage, doch heute nicht. Du aber willst gar nichts erzählen.«
»Das ist nun mal meine Art. Auch früher habt ihr nicht viel über meine Frauenbekanntschaften gewusst«, wich Carlos aus und betrachtete den Kleinen. Pascal zog quengelnd Guiomar am Gürtel auf die Wohnungstür zu.
»Ich weiß, Pascal, ich weiß, das Spiel beginnt in ein paar Minuten. Wir gehen gleich.« Guiomar fuhr dem Jungen mit der Hand über das Haar. Dann schaute er Carlos fest in die Augen: »Was ist los?«, fragte er flüsternd mit einem Seitenblick auf den Jungen: »Treibst es mit zweien gleichzeitig? Ich meine nur so, weil ich vorhin unten im Saal María Teresa gesehen habe.«
»Wo sie bestimmt belegte Brote serviert. Da liegt unter anderem das Problem. María Teresa macht die Arbeit von zwei Kellnerinnen, was dazu führt, dass sie kaum noch Zeit für mich hat. Übrigens, werden ihr die Überstunden bezahlt? Ich möchte nicht …«
»Frage Ugarte. Ich bin nur für den Einkauf zuständig«, unterbrach ihn Guiomar. Carlos’ Ablenkungsmanöver war zu durchsichtig. Dann wieder flüsternd: »Wer ist deine neue Freundin? Beatriz? La nostra bellissima Beatriu?«
Die schöne Beatriz arbeitete seit sechs Monaten an der Hotelrezeption. La nostra bellissima Beatriu, die Bezeichnung stammte aus einer erfolgreichen Operette, die vor fünf Jahren in Barcelona aufgeführt worden war – zu der Zeit, als Carlos und seine Freunde die Leitung des Hotels übernommen hatten.
»Vielleicht, wer weiß …«
Gut gemacht, Carlos, Glückwunsch, hörte er die innere Stimme. Die Ratte konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen. Du bist unschlagbar, wenn es darum geht, deinen Nächsten hinters Licht zu führen. Brauchst dir keine Gedanken zu machen, nicht im Geringsten, Guiomar ist meilenweit davon entfernt, die Wahrheit zu vermuten. Und es ist besser, wenn das so bleibt, denn an dem Tag, wo er erfährt, was im Hotel wirklich vor sich geht, wird er sehr verletzt sein. Er glaubt, ihr zwei wäret enge Freunde und dass das Vertrauen zwischen euch beiden grenzenlos ist.
Keine Sorge, Carlos, hörte er gleich darauf. Sein Gewissen sprach jetzt mit der Stimme Sabinos. Seit der Zeit in Biarritz, erst recht aber seit dessen Tod in einer Straße von Bilbao, war Sabino seine gute Stimme, die einzige, die sich der Ratte entgegenstellte. Du tust das einzig Richtige, was du in deiner Situation tun kannst, um ihn nicht in die Geschichte zu verwickeln, und du tust gut daran. Guiomar wird dir dankbar sein, dass du dich ihm nicht anvertraust.
»Nun also, erzählst es mir später«, sagte Guiomar nach kurzem Schweigen. »Komm, Pascal, gehen wir«, fügte er dann hinzu, legte dem Kleinen die Hand auf die Schulter und schob ihn zur Wohnungstür. »Beeilen wir uns, wer sich ein Spiel nicht von Anfang an anschaut, ist bloß ein fieser Fußballfan. Nicht wahr, Pascal? Du bist ganz bestimmt kein fieser Fan, oder?«
»Nein, nein«, rief der Kleine begeistert, verschwand dann treppabwärts hinter dem von Stufe zu Stufe hüpfenden Ball.
Das Hotel war ein weißes, nüchternes Gebäude; es bestand aus einem rechteckigen Flügel mit sechzig Zimmern, an den sich auf der einen Seite ein rechteckiger Turm anschloss, wo die Wohnungen der Hotelmitarbeiter, das Restaurant und andere Diensträume untergebracht waren. Carlos wartete, bis Pascals Ball im Treppenhaus nicht mehr zu hören war, dann ging er ins Erdgeschoss des Turmanbaus hinunter – er und Guiomar wohnten im dritten Stockwerk, im obersten – und am Restaurant vorbei in die Küche. Die Küche befand sich rechts neben der Treppe, gegenüber der Eingangshalle. Auch der große Saal, wo jetzt ganz offensichtlich das Fest in Fahrt kam, lag auf der anderen Seite.
In der Küche war niemand. Doro, der Koch, hatte jedoch den größten Teil seiner Arbeit bereits erledigt; die Platten mit Salat und Meeresfrüchten, die Vorspeise für das späte Abendessen der polnischen Mannschaft, reihten sich auf einem Regal; das Ganze sah eher aus wie eine Dekoration – wie ein funkelnder Altar in einer festlich geschmückten Kapelle. Carlos schürte rasch die Glut unter dem Grill, der die eine Ecke der Küche ausfüllte, und legte zwei große Fleischstücke darauf; dann untersuchte er den Inhalt der Schüsseln in der Kühlkammer und stellte eine Vorspeise zusammen, wie Doro sie für die Fußballer vorbereitet hatte. Er war mit seiner Arbeit fast fertig, als sich im Erdgeschoss des Turmanbaus Gebrüll erhob, das bis in die Küche herüberdrang. »Tooor! Tooor! Tooor!« Die Stimme des Reporters überschlug sich, und alle im Saal drüben Versammelten – und Pascal am lautesten – brüllten im Chor: »Tooor! Tooor! Tooor!« Boniek, Lato und seine Gefährten waren eindeutig im Begriff, sich das Bankett zu verdienen. Carlos wäre am liebsten hinübergegangen, um die Wiederholung des Tors zu sehen; stattdessen wandte er sich dem Grill zu, um das Fleisch zu wenden. Je schneller das Essen fertig war, desto besser.
Er deckte eben die zwei Tabletts mit Alufolie zu, als er plötzlich spürte, dass ihn jemand beobachtete. In der Tür zum Speisesaal stand Nuria, eine junge mollige Frau aus dem Dorf am Fuß des Montserrat, die Ugarte – unter dem Vorwand, ihr Mann sei arbeitslos – als Küchenhilfe eingestellt hatte. Carlos gefiel sie nicht.
»Ich weiß nicht, wie man so was tun kann«, sagte sie, rührte sich aber nicht von der Stelle. »So viel Armut überall, und Sie füttern die Hunde mit sündhaft teurem Essen. Das müsste verboten sein.«
Während er langsam auf sie zuging – die zwei Tabletts vor der Brust balancierend –, erinnerte sich Carlos an die Erklärungen, die Ugarte ihm und Guiomar gegeben hatte und die ihnen glaubhaft machen sollten, dass sowohl Nuria als auch ihr Mann ehemalige Linke waren, Leute, die während der Diktatur einer kommunistischen Gewerkschaft angehört hätten, Leute also, die es verdienten, dass ihnen geholfen wurde. Er fühle sich sozusagen verpflichtet … Lügen, alles Lügen. Nuria redete nicht wie eine Kommunistin, sondern im unverwechselbaren albernen Stil der Katecheten.
»Sie kommen mir zum zweiten Mal mit der Geschichte vom Hundefutter. Beim dritten Mal entlasse ich Sie«, sagte er ruhig. Dann ging er ebenso ruhig an ihr vorbei und stieß mit einem energischen Fußtritt die Schwingtür auf. Das ging so schnell, dass die Frau keine Zeit hatte auszuweichen, und der Türflügel traf sie voll am Bein.
Sie fuhr mit der Hand über ihr Knie: »Ugarte hat mich eingestellt«, schimpfte sie.
Ohne sie eines Blickes zu würdigen, durchquerte Carlos den Speisesaal und trat durch die Drehtür auf die Terrasse hinaus. Nuria war eine dumme Person. Und Ugarte war immer noch der gleiche Lügner wie eh und je. Er kannte ihn seit vielen Jahren, er wusste genau, auf was für einer Art Frauen er scharf war. Er mochte dicke. Wie Nuria. Er hingegen – es fiel ihm erst jetzt auf – war viel zu nervös und hatte seine Reaktionen nicht unter Kontrolle. Er musste sich abregen. Er hatte vorhin eine Dummheit begangen.
Er setzte die Tabletts auf einem der Tische auf der Terrasse ab und kehrte in die Küche zurück. »Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht wehtun«, entschuldigte er sich. Sie aber tat so, als hörte sie ihn nicht; sie räumte das Stück Fleisch weg, das er neben dem Grill hatte liegen lassen, und verschwand in der Kühlkammer.
Carlos ging wieder auf die Terrasse hinaus und betrachtete einen Moment lang die für das Abendessen gedeckten Tische. Alles war an seinem Platz: die Lampen, die Blumen, die rot-weißen Papierfähnchen mit dem polnischen Wappen in der Mitte; über einem der Tische – dem langen, der für die Spieler reserviert war – wehte sanft die rote Fahne, die Danuta Wyca, die Dolmetscherin der Mannschaft, aus Polen mitgebracht hatte. Ja, Doro und seine zwei Söhne und Ugartes Frau Laura machten ihre Sache gut. Und auch er konnte mit sich selbst zufrieden sein. Die Gäste rühmten sein Brot, und überdies war es sein und Guiomars Verdienst, dass ein so hervorragender Küchenchef wie Doro für das Hotel gewonnen werden konnte, während Ugarte sich bloß um den eigenen Kram kümmerte und nichts Klügeres zu tun hatte, als dumme Personen wie Nuria einzustellen. Sobald gewisse Dinge geregelt waren, würde er mit ihm reden müssen. Oder mit seiner Frau.
Eine niedrige Mauer mit einem schmiedeeisernen Geländer trennte die Terrasse von der Esplanade. Carlos hob die Tabletts wieder auf, machte – wiederum mit dem Fuß – das Gittertörchen auf, ging die drei Stufen hinunter und dann auf den Lagerschuppen zu, wo seine zwei Jagdhündinnen untergebracht waren. Nicht so hastig, Carlos, hörte er eine Stimme sagen. Es war Sabino. Wenn sie dich mit den Tabletts sehen und sehen, dass du sogar fast rennst, werden sie Verdacht schöpfen. Vergiss den Zwischenfall von vorhin und verhalte dich ganz normal! Das dumme Ding kann mir noch Ärger bereiten, dachte Carlos und zwang sich, langsamer zu gehen. Doch Sabino meldete sich nicht mehr.
Die kleine Fledermaus flatterte immer noch um die Straßenlampe, und das Gezirpe der Grillen erfüllte den Garten, die Oliven- und Mandelhaine in der Umgebung, zog sich um das Hotelgebäude herum bis zur Straße hinunter. Carlos ging unter der Straßenlampe mit der Fledermaus vorbei und bog dann in einen Fußweg ein, der hügelabwärts bis zur Lichtung zu einer zweiten Esplanade inmitten von Bäumen führte, wo sich der Lagerschuppen und das Backhaus befanden. Es war inzwischen Nacht geworden; Carlos blieb einen Moment stehen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, denn die Lichter des Hotels leuchteten nicht so weit. Greta und Belle, seine zwei Hunde, winselten aufgeregt. Sie rochen das Essen auf den Tabletts.
»Still, Belle«, flüsterte Carlos im Vorbeigehen, und der Hund, der ältere von beiden, verstummte auf der Stelle. Greta hörte kurz darauf ebenfalls auf zu winseln, aber eher etwas widerwillig.
Er war diesen Weg schon oft gegangen, und er schaffte es bis zum Backhaus, ohne dass die Teller auf den Tabletts herumrutschten. Als er auf die Tür des niedrigen Gebäudes zuging, roch er den Duft des Mehls und darüber – wie eine Stimme, die mit einer anderen verschmilzt – einen zweiten Duft: den des Brotes, das er am Nachmittag gebacken hatte. Er atmete tief ein. Es kam ihm vor, als ob die zwei miteinander verschmolzenen Düfte das kleine Haus einhüllten und beschützten, eine zweite Mauer darum herum errichteten, die, wenn auch unsichtbar, den Lärm und die Nöte der Welt aussperrte. Daher zog er das kleine Haus allen anderen Nebengebäuden des Hotels vor; weil diese Wand ihn beschützte, weil die Düfte – wie sein Bruder Kropotky gesagt hätte – ihm eine spezielle Aura verliehen. Fünf-, sechsmal am Tag ging er durch die weißgestrichene Holztür und widmete sich den verschiedenen Arbeitsgängen, die die hundert Brote erforderten, das tägliche Quantum für das Hotelrestaurant. Carlos mochte diese Arbeit fast so sehr wie die Backstube selbst; er passte sich ihr an, fügte sich in die Zeiten und Abläufe ein, die das Brotbacken erforderte, und erreichte dadurch, dass ihn die Ratte – der Teil seines Gewissens, den er sich als eine Ratte vorstellte – in Ruhe ließ.
Droben die kühlenden Höhn, die Schatten alle besuch ich und die Quellen; hinauf irret der Geist und hinab, Ruh erbittend; so flieht das getroffene Wild in die Wälder, wo es um Mittag sonst sicher im Dunkel geruht; aber nimmer erquickt sein grünes Lager das Herz ihm … Das Blatt mit dem Gedicht – eine Stelle aus einem Brief, den sein Bruder ihm ins Gefängnis geschickt hatte, genauer gesagt – war mit Reißzwecken an der Innenseite der Tür befestigt. Jedes Mal, wenn er die Backstube betrat oder verließ, fiel sein Blick darauf, und Carlos las spontan die eine oder andere Zeile. Es gab Bilder, die ihn nicht losließen, ohne dass er genau wusste, warum. Wie vor einer Stunde das Eismeer in seinem Traum. Und wie der Hirsch, der in den Wald flieht, um sich auszuruhen.
Er wollte eben die Tür hinter sich zuziehen, als seine Gedanken von einem Geräusch aus dem nahe gelegenen Olivenhain unterbrochen wurden. War es das Knirschen eines Zweiges? Ja, es hörte sich an, als sei jemand auf einen Zweig getreten. Er machte das Licht in der Backstube aus und trat ins Freie. Er erkannte eine undeutliche Gestalt, die auf ihn zukam und anstelle eines Grußes die glühende Spitze einer Zigarette schwenkte.
»Ich habe die Hitze in dem Loch unten nicht mehr ausgehalten und bin ins Freie gegangen, um eine Zigarette zu rauchen«, sagte sie. Es war die Frau, mit der er vorhin am Telefon gesprochen hatte: eines der zwei Mitglieder des Kommandos, das die Madrider und die Barceloneser Presse Jon & Jone nannte. Der Duft ihres Parfüms vermischte sich mit dem des Brotes und des Mehls.
»Psst. Die Sicherheitsbeamten sind im Hotel und sehen sich die Übertragung des Fußballspiels im Fernsehen an«, antwortete Carlos reflexartig. Dass die Frau ihren Unterschlupf verlassen hatte, widersprach jeglichen Sicherheitsregeln. Er war überrascht.
»Auch Jon sitzt vor dem Fernseher, und das ist der zweite Grund, warum ich hinausgegangen bin. Ich hasse Fußball. Das Gebrüll der Reporter geht mir auf die Nerven. Ich finde es unerträglich. Es erinnert mich an die Sonntagnachmittage in der Francozeit.« Jone seufzte und blickte zum Himmel. Am Mittelmeerhimmel über ihnen funkelten die Sterne, doch der Mond war ganz blass; Carlos konnte die Züge der Frau nicht erkennen. Trotzdem, sie wirkte weniger jung als auf den von der Presse veröffentlichten Fotos. Sie musste um die dreißig sein, vielleicht sogar älter.
»Eine fadenscheinige Ausrede, das mit der Hitze im Keller. Ich habe nie den Eindruck gehabt, dass es dort besonders heiß ist.« Carlos war wütend.
»Im Fernsehen haben sie gesagt, dass der Juni noch nie so warm gewesen ist wie dieses Jahr. Sie wiederholen es hundertmal am Tag, und ich glaube es alle hundertmal. Die Hitze ist unerträglich, draußen und drinnen«, sagte die Frau. Sie warf den Zigarettenstummel weg und drückte ihn mit dem Fuß aus. Ihr Haar war ganz kurz geschnitten, sie trug ein eng anliegendes ärmelloses T-Shirt mit schmalen Trägern.
Carlos schwieg, als warte er, bis sich der Rauch aus dem Mund der Frau verflüchtigt hatte. Dann sagte er ganz langsam: »Meine Bedingungen sind nicht eingehalten worden. Ich habe dem Mittelsmann gesagt, dass ich bereit bin, euch eine Zeit lang zu verstecken, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, dass ihr im Keller bleibt und dass wir uns nicht begegnen. Er hat mir versichert, dass ihr bestimmt keine Schwierigkeiten macht. Dass ihr euch daran haltet. Und wen treffe ich an? Ruhig unter einem Baum eine Zigarette rauchend wie eine Touristin auf einem Campingplatz? Ehrlich, ich begreife das nicht. Du bringst uns alle in Gefahr.«
Sie standen ganz nahe beieinander; der Parfümduft und der Schweißgeruch der Frau stiegen Carlos – er war groß gewachsen, fast so groß wie Guiomar, und überragte sie mindestens um zwanzig Zentimeter – direkt in die Nase.
»Leider, leider hast du recht«, pflichtete sie ihm bei, nachdem sie sich eine neue Zigarette angezündet hatte. Carlos stellte fest, dass ihr Brustansatz glänzte. Schweiß perlte zwischen den vom T-Shirt kaum verhüllten Brüsten. »Und dass man uns gesehen hat, ist noch viel schlimmer«, fügte sie mit einem »Verdammt« hinzu. »Vorgestern. Jon und ich sind gegen elf Uhr abends zum Brunnen hinuntergegangen, um etwas frische Luft zu schnappen, und dort hat uns ein etwa fünfjähriger Junge mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet. Ich hätte ihn fast niedergeknallt, ehrlich. Um ein Haar.«
»Was meinst du damit? Dass du die Pistole mitgenommen hast?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nahe daran war, ihn zu erschießen.«
Sie entfernte sich fluchend ein paar Schritte von der Tür, verwünschte den Jungen, die Eltern, die ihn zu dieser Nachtzeit allein umherspazieren ließen, das Mittelmeerklima, das sie veranlasst hatte, die Sicherheitsregeln zu verletzen. Sie musste sich bezwingen, um nicht laut herauszuschreien.
»Der Junge, das ist Pascal, der Sohn von Freunden. Er ist das einzige Kind im Hotel, und weil es ihm langweilig ist, streift er den ganzen Tag durch die Gegend. Der Brunnen dort unten ist sein bevorzugter Spielplatz.«
Guiomar hatte den Brunnen La Fontana de Derby getauft, weil einer der Söhne des Hotelkochs einmal versucht hatte, sein Motorrad darin zu waschen. Doch die Erwähnung des Brunnens löste jetzt überhaupt keine komische Resonanz aus. Er hatte sich in einen Ort verwandelt, wo Jon und Jone Pascal begegnet waren. Carlos fragte sich besorgt, was für Folgen der Zwischenfall haben konnte.
Jone begann wieder über die Hitze zu jammern, in einem müden Tonfall diesmal, und beharrte darauf, dass die Hitze im Loch, das sie nicht verlassen durften, nie unter fünfundzwanzig Grad sinke. Nachts sei es sogar noch schlimmer, denn die Wände des Kellergeschosses seien erwärmt und man könne nicht schlafen. Zu alledem mussten sie den engen Raum mit altem Trödel teilen, mit Kissen und Büchern und dem ganzen Zeug, wobei das »ganze Zeug« Jon, ihren Gefährten, miteinschloss.
»Und diese Scheißpresse behauptet, dass Jon und ich ein Liebespaar sind. Das stimmt überhaupt nicht, was die Dinge noch zusätzlich kompliziert«, schloss sie schimpfend.
Carlos folgerte daraus, dass die Frau sich auf die Schlagzeilen in der Boulevardpresse bezog – nach der Schießerei, die Jon und Jone sich vor ein paar Wochen mit der Polizei geliefert hatten –, auf denen sie mit Bonnie & Clyde verglichen worden waren. Trotzdem, ihre Geschichte war nicht ganz koscher. Ihre Rechtfertigung war absolut überflüssig. Ich nehme an, dass sie dir eine Botschaft übermitteln wollte. Eine persönliche Botschaft, sagte in ihm eine Stimme. Es war Sabino, und er hatte wahrscheinlich recht. Jone hatte vor Monaten die Gegend verlassen, die die Presse als das französische Reservat der Terroristen bezeichnete. Folglich hatte sie auch einen möglichen Freund vor Monaten dort zurücklassen müssen, zu lange für eine Frau, die unter ständiger Spannung steht.
Carlos stellte sie sich nackt vor, auf dem Rasen neben dem Derby-Brunnen ausgestreckt, und er sah ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Scham, ihre weißen Schenkel … Doch gleich darauf verschwand das Bild, und an seine Stelle trat ein zweites, das das erste leicht korrigierte: Jone war immer noch nackt, doch sie stand jetzt, und er nahm sie am Arm und zog sie ein paar Meter von der Stelle weg, wo sie ihre Sandalen, ihre Hose, ihren Slip, ihr ärmelloses T-Shirt hingeworfen hatte, dann schob er seine Hand zwischen ihre Schenkel, umschloss kräftig ihre Scham, knetete sie ein bisschen …
Die Bilder erregten ihn. Er hätte am liebsten die Hände auf die Schultern der Frau gelegt, sie dann bis zu den schweißnassen Brüsten gleiten lassen, die das ärmellose T-Shirt fast sprengten, doch die plötzliche Erinnerung an einen Grundsatz Sabinos hielt ihn davon ab. »Ein Untergrundkämpfer darf die Sicherheitsregeln nie vergessen«, las Sabino in einem Schulungskurs aus einem weißbroschierten Handbuch einem Dutzend junger Burschen vor, darunter Carlos, die sich kürzlich dem bewaffneten Kampf angeschlossen hatten. »Wenn er es tut, wenn er handelt, ohne die Regeln Punkt für Punkt zu beachten, gefährdet er sowohl seine Arbeit als auch die der ganzen Gruppe. Das ist der Fall, wenn jemand sich von Nachlässigkeit leiten lässt. Der nachlässige Untergrundkämpfer handelt schließlich nur noch improvisiert und chaotisch. Es gibt nichts Gefährlicheres als die Improvisation und das Chaos. Mit anderen Worten: Ein Kommandomitglied, das zu Nachlässigkeit neigt, schadet der Organisation mehr als ein Denunziant.«
Sabino lag schon seit mehr als fünfzehn Jahren auf einem Friedhof am Stadtrand von Biarritz; junge Aktivisten wie Jon und Jone konnten unmöglich von ihm geprägt worden sein. Die Frau wusste zu viel. Sie wusste, dass die Eigentümer eines Hotels sie versteckten, sie wusste, wie er aussah, sie wusste, wo in der Umgebung von Barcelona sie sich ungefähr befanden. Hinzu kam – und das war das Schlimmste –, dass Pascal Jone und auch die Pistole gesehen hatte. Wäre er noch am Leben, Sabino hätte niemals eingewilligt. Dass sich ein Kommandomitglied so nachlässig verhält, wäre für ihn undenkbar gewesen. Sabino brauchte bei jemand bloß einen Hang zum Alkohol oder eine gewisse Geschwätzigkeit festzustellen, um ihn auf der Stelle aus der Gruppe zu entfernen. Sabino ging jeweils vorsichtig vor – wie damals, als er Carlos’ Bruder Kropotky aus der Gruppe entfernen musste –, vermied es, die Empfindlichkeit des ausgeschlossenen Schülers zu verletzen. Er wusste, dass ein verbitterter Mensch sehr gefährlich sein kann.
»Wie ist das mit dem Jungen schließlich ausgegangen?«, fragte Carlos.
»Ich weiß nicht, ob er uns geglaubt hat. Er hat uns gefragt, ob wir gekommen seien, um diesen polnischen Fußballspieler zu interviewen, Boniek oder ähnlich, und wir haben ihm gesagt, ja, aber niemand wisse etwas davon, es sei ein Geheimnis und er dürfe es niemand verraten.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen. Wenn er einmal anfängt zu plappern, hört er nicht mehr auf. Zudem redet er mit jedermann«, seufzte Carlos. »Verdammt, ich verstehe euren Leichtsinn nicht. Die Sicherheitsregeln müssen immer und unter allen Umständen eingehalten werden …«
»Behalte bitte deine Predigten für dich«, unterbrach sie ihn wütend. Dann bereute sie ihre Reaktion, legte die Hand auf seinen Arm und entschuldigte sich leise. »Ich habe ihm gesagt, ich hätte die Pistole auf der Wiese gefunden«, fügte sie ruhiger hinzu, »aber ich wüsste nicht, was damit anfangen, und würde sie begraben. Ich glaube, er hat mir geglaubt. Wie auch immer, diese Geschichte hängt mir langsam zum Hals raus.«
Carlos vermutete, dass sie sich wegen ihrer Unvorsichtigkeit mit Jon gestritten hatte und dass dies wahrscheinlich der Grund für ihre Gereiztheit war.
»Jon ist etwas nervös«, fuhr Jone nach kurzem Schweigen fort, als ob sie zu sich selbst spreche. Ein intelligentes Mädchen, dachte Carlos, sie hatte wohl seine Gedanken erraten. »Doch wen wunderts? Wir sind schon seit zwei Monaten von zu Hause weg, seit Anfang Mai, und die Campagne ist sehr hart gewesen. Es hat nicht viel gefehlt, und es hätte uns bei der Schießerei in Bilbao erwischt. Zudem hat es mit der Logistik nicht geklappt, und wir haben zehn Tage in den Bergen übernachten müssen, bis sie uns endlich hierhergebracht haben. Es ist sozusagen unmöglich, eine Wohnung zu finden, wo wir unterschlüpfen könnten.«
»Vielleicht machen wir uns unnötig Sorgen um den Kleinen. Ist nicht so schlimm«, beschwichtigte sie Carlos.
Hört, hört, ist wohl nur ein Scherz, die ganze Geschichte, was?, feixte die Stimme der Ratte; sie schleuderte ihm die Wahrheit ins Gesicht, die er sich nur widerstrebend eingestand. Natürlich konnte der Zwischenfall mit Pascal schlimme Folgen haben. Er selbst gehörte schon seit Jahren nicht mehr der Organisation an; er war nur noch gelegentlicher Mitarbeiter, ein Kommandomitglied im Ruhestand, der sich zu einem Gefallen bereit erklärt hatte. Wenn die Frau oder ihr Gefährte lebendig gefangen genommen wurden – hier im Hotel oder sonst irgendwo später –, würde er das schwache Glied sein, das Element, das Jon und Jone opfern mussten, um die militanten Mitglieder der Organisation zu schützen. Ehrlich, ich freue mich, dass du endlich merkst, wie der Hase läuft, dass du nämlich der Erste sein wirst, der für das zerschlagene Geschirr bezahlt. Ich weiß, ich weiß – die Stimme der Ratte klang jetzt noch spöttischer –, dass du vor nichts Angst hast und dass es dir egal ist. Aber sag, was ist mit Ugarte, Guiomar, Laura, Doro und allen anderen? Wenn die Polizei das Hotel schließt, was ist dann mit ihnen? Vor Carlos tauchten die Gesichter seiner Freunde auf, schwarz-weiß wie auf dem Gruppenfoto, das im Vestibül des Hotels hing.
Jone trat ihre Zigarette aus.
»Ich glaube nicht, dass es Folgen haben wird«, beharrte sie. »Möglich, dass das Kind uns nicht geglaubt hat, doch selbst wenn es jemand davon erzählt, was könnte schon passieren? Wenn mir ein fünfjähriges Kind von Pistolen erzählt, ist das Letzte, woran ich denke, eine echte Pistole.«
»Du hast recht«, pflichtete Carlos ihr bei, dachte allerdings das Gegenteil. Das Schicksal hatte es so gewollt; es hatte keinen Sinn, den Vorfall zusätzlich aufzubauschen. Das Bild einer Pistole hatte sich dem Kind eingeprägt, und diese Tatsache brachte den Zufall mit ins Spiel. Würde dieses Bild an die Oberfläche von Pascals Bewusstsein steigen? Wenn ja, würde er jemand davon erzählen? Wem? Wann? Fragen, auf die es nur eine Antwort gab: auf der Hut sein und warten.
»Noch etwas«, unterbrach Jone nach einer kurzen Pause seine Gedanken, ihre Stimme klang jetzt vertraulicher, »ich glaube nicht, dass jemand weitere Fragen stellt, wenn der Junge erzählt, dass gestern Nacht ein Paar in der Nähe des Brunnens war, denn auf dem Gras lag ein Gummi. Jon hat gesagt, er sei gebraucht.«
Carlos hatte den Eindruck, dass die Frau die Lippen halb öffnete, »als ob sie Lust auf ein Lutschbonbon hätte«, würde Ugarte sagen. Bei der kleinsten Andeutung würde Jone mit ihm gehen. Er war wieder erregt beim Gedanken, sie an der gleichen Stelle in den Armen zu halten, wo er María Teresa vor zwei Tagen in den Armen gehalten hatte, denn genau das war die Erklärung für den Gummi im Gras. Auch wenn der Vergleich nicht ganz stimmte: María Teresa mochte es, sich still hinzugeben – reglos, nackt im Gras liegend –, während er sie im Lichtkegel einer Taschenlampe betrachtete und ihr Körper auf den kleinsten Stimulus reagierte. Mit ihr war es einfach. Mit Jone jedoch würde es nicht das Gleiche sein. Er ahnte, dass sie keineswegs passiv veranlagt war. Zudem war María Teresa eine zierliche Frau, Jone aber wirkte selbst in der Dunkelheit ziemlich kräftig. Sie schien muskulöse Schenkel zu haben wie eine Sportlerin. Carlos vermutete, dass die Frau eine Zeit lang im Gefängnis gesessen und sich ihre Muskeln dort antrainiert hatte, in der Gefängnisturnhalle. Wie auch immer, sie war nicht der Typus Frau, den er für seine Liebesspiele bevorzugte. Ja, es war vielleicht tatsächlich besser, wenn er das Ganze auf sich beruhen ließ.
Ein Aktivist kann verhaftet werden, wenn er es am wenigsten erwartet, hörte er gleich darauf sagen. In seiner Erinnerung tauchte wieder das Bild von Sabino im Ausbildungslager auf, der aus seiner weißen Broschur vorlas. In einem solchen Fall verlangt die Sicherheit, dass die Kette sofort, auf der Stelle reißt. Der verhaftete Aktivist muss gegenüber der Polizei aussagen, dass er auf eigene Verantwortung handelt, dass er nie von irgendwelcher Organisation gehört hat. Wenn man ihn mit anderen Aktivisten in Zusammenhang bringt und ihm dann diesen Kontakt mittels Fotos oder Tonbändern beweist, wird er sich auf persönliche Probleme berufen, um sich zu rechtfertigen. Wenn die betreffenden Aktivisten ein Mann und eine Frau sind, werden sie sexuelle Probleme mit ins Spiel bringen. Kein Wort von Widerstandsgruppen und kein Wort von der Organisation, nur von Verliebtheit oder sexueller Anziehung.
»Woran denkst du?«, fragte sie. Noch bevor er antworten konnte, drang Gebrüll aus dem Hotel. Nicht nur Pascal, sondern alle, die im Hotelsaal versammelt waren, bejubelten im Chor das zweite Tor der Polen.
»Sieht ganz so aus, als ob unsere Mannschaft in Fahrt kommt«, sagte Carlos und atmete tief die herübergewehte, vom Tor ausgelöste Fröhlichkeit ein.
Das Bild eines jungen Fußballspielers tauchte vor ihm auf: Der kaum sechzehnjährige Spieler lief auf eine der Seitenlinien zu, um den Ball aufzuhalten, der auf die Torauslinie zurollte; er umspielte einen Verteidiger – der ein grün-schwarzes Trikot trug –, ließ zwei weitere Verteidiger aussteigen und drang in den Fünfmeterraum ein, fixierte den Torwart, setzte blitzschnell zum Schuss an … Eine Sekunde später landete der Ball im Netz, und die Menge im Stadion bejubelte das Tor. Der junge Spieler, der das Tor geschossen hatte, war er selbst. Und dank jenes Tors stieg seine Mannschaft auf. Er hörte den Applaus wieder, sah die geschwenkten Pullover und hinter dem Meer flatternder Pullover eine Fabrik mit einem riesenhohen Kamin, und aus dem Kamin stieg eine weiße Rauchsäule, und über dieser Rauchsäule wölbte sich der tiefblaue Himmel.
Die Erinnerung ließ ihn vor Freude erschauern; einen Moment lang verspürte er die gleiche Erregung von vorhin, als er das Eismeer in seinem Traum betrachtete. Er hatte das Gefühl, als sei die Luft dünner, das Zirpen der Grillen durchdringender, der Mond und die Sterne, die den Mond umringten, noch weiter entfernt.
»Sag, Yul Brynner …«
Die junge Frau kam auf ihn zu. Carlos spürte ihren Körper; der Schweißgeruch und das Parfüm wurden intensiver, übertünchten den Duft der Backstube.
Die Frau deutete seinen durch die Erinnerung an den Fußballspieler bewirkten Stimmungswechsel eindeutig falsch, und seine erste Reaktion war, sie wegzustoßen. Das Gebrüll im Saal drüben hatte das Verlangen nach ihr zerstört – so plötzlich, wie ein Windstoß eine Seifenblase zum Platzen bringt. Doch er bezwang sich. Vielleicht war es besser, das Spiel zu spielen. Wenn etwas krummlief, würde er von sexueller Anziehung reden: »Jone ist mir von dem Moment an, als ich ihr Bild in den Zeitungen gesehen habe, als eine sehr attraktive Frau erschienen, und als man mich gebeten hat, sie zu verstecken, habe ich den Kopf verloren. Ich habe versucht, mich ihr zu entziehen, aber es war zu spät. Das Verlangen, mit ihr zu schlafen, war stärker als ich.« Es war nicht die beste Entschuldigung der Welt, doch – wie Sabino gesagt hätte – auch nicht die schlechteste. Die Polizei war gewissen Schwächen gegenüber nachsichtiger. Kam hinzu, dass er mit einer solchen Entschuldigung seinen Teilhabern viel Ärger ersparen würde.
»Mein Kopf ist immerhin nicht so glatt wie der von Yul Brynner. Mein Haar ist bloß etwas kürzer als deines«, flüsterte er. Dann legte er die Hände auf ihre Schultern und drehte sie um, bis sie ihm den Rücken zuwandte. Jones Kopf reichte ihm bis zum Kinn. Ohne nur einen Muskel in seinem Gesicht zu verziehen, ließ Carlos seine Hände über ihre Oberarme gleiten und packte ihre Brüste. Sie waren groß.
»Das Abendessen wird kalt«, keuchte sie.
»Komm mit zum Brunnen hinunter. Ich muss den Wasserkanister füllen. Ich nehme eine Lampe mit, und wer weiß, vielleicht finden wir einen weiteren Gummi im Gras. Einen ungebrauchten natürlich.«
Sie stieß ein heiseres Ja aus und suchte seine Lippen. Ein absurder Gedanke durchzuckte Carlos: Wenn er sich beeilte, würde er rechtzeitig im Hotel zurück sein, um die Wiederholung der spannendsten Spielminuten zu sehen.
Als die polnische Mannschaft das dritte Tor schoss, schlüpften die beiden wieder in ihre Kleider. Der Beifall im Hotel drüben war zwar weniger stürmisch als bei den zwei vorangegangenen Toren, doch die Frau zuckte trotzdem zusammen. Carlos betrachtete sie im Licht der dreistufig verstellbaren, an einem Olivenbaum hängenden Lampe: Jone stand mit nassem Haar neben dem Brunnen und rauchte finster die fünfte oder sechste Zigarette des Abends. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen, oder vielmehr nachdenklich. Dachte sie an ihren Freund im französischen Reservat? Bereute sie das Vorgefallene? Wie auch immer, sie schien weit weg zu sein, jemandem ausgeliefert, der, obwohl nicht ganz fremd, in einer anderen Welt lebte als der ihren. Und das war schlecht, sowohl für sie als auch für ihn. Ein Untergrundkämpfer, und umso mehr, wenn es sich um ein Mitglied handelt, das sich mit Leib und Seele der Organisation verschrieben hat, muss sich immer innerhalb seines Kreises bewegen. Er muss mit seinen Gefährten essen, mit ihnen schlafen, mit ihnen reden. In den Kreis eintreten und aus dem Kreis austreten kommt einem ständigen Klimawechsel gleich; weder der Kopf noch das Nervensystem haben Zeit, sich anzupassen. Ja, Jone und ihr Gefährte mussten das Hotel so schnell wie möglich verlassen. Wenn nicht, würden sich die Fehler häufen.
Carlos wurde in seinen Überlegungen gestört. Jone gab ihm ein Zeichen mit der Taschenlampe, die sie vom Ast genommen hatte. Der Lichtstrahl leuchtete jetzt breiter.
»Warte einen Moment, ich muss den Wasserkanister füllen«, rief er ihr zu. Jone entfernte sich auf dem Pfad, der zum Backhaus hinaufführte.
»Wenn ich nicht zurück bin, bevor das Spiel fertig ist, wird Jon auf die unmöglichsten Gedanken kommen«, antwortete sie mürrisch.
Carlos musste wieder an die Sportübertragung denken. Während der Weltmeisterschaft wurden die Tore vier-, fünfmal wiederholt. Sie wurden bei jedem Interview eingeblendet. Mit etwas Glück würde er die drei Tore der Polen doch noch sehen können.