Ein Mann fürs Haus - Nina Stibbe - E-Book

Ein Mann fürs Haus E-Book

Nina Stibbe

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Beschreibung

Alleinerziehende Kinder suchen Mann für ihre Mama.

Lizzie Vogel ist neun Jahre alt und macht sich Gedanken. Vor allem über ihre frisch geschiedene Mutter, die es mit 31 Jahren, drei kleinen Kindern und einem Labrador soeben von London in die englische Provinz verschlagen hat. Im ländlichen Leicestershire der Siebzigerjahre gibt es nichts Schlimmeres, als ohne Mann im Haus dazustehen. Die Frauen im Ort befürchten, Lizzies Mutter könnte hinter ihren Ehemännern her sein, und die vaterlosen Kinder werden wahlweise bemitleidet oder misstrauisch beäugt. Also machen sich Lizzie und ihre Schwester auf die Suche nach einem neuen Gatten für ihre Mutter ...

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Buch

Nach der Scheidung ihrer Eltern ziehen die neunjährige Lizzie, ihre beiden Geschwister und ihre Mutter in ein kleines Dorf auf dem englischen Land. Dort reagiert man sehr frostig auf den vaterlosen Haushalt. Und für Lizzie und ihre Schwester steht bald fest, dass es nur einen Weg gibt, um in Flatstone akzeptiert zu werden: Sie müssen einen neuen Mann für ihre Mutter finden. Also erstellen sie eine Liste möglicher Kandidaten, schicken diesen Briefe – unterschrieben mit dem Namen ihrer ahnungslosen Mutter – und bitten die Auserwählten zum Tee. Eine geniale Idee, wenn sie funktionieren würde …

Autorin

Nina Stibbe ging als Teenager von Leicestershire nach London, arbeitete dort zwei Jahre als Nanny und studierte anschließend Geisteswissenschaften an der Thames Polytechnic. Nach ihrem Abschluss 1987 arbeitete sie in einem Kleiderladen in Camden. 1990 begann sie ihre Verlagskarriere und arbeitete in verschiedenen Bereichen, bevor sie schließlich Lektorin bei Routlege wurde. 2002 zog sie mit ihrem Lebensgefährten und ihren Kindern nach Cornwall, wo sie heute lebt, schreibt, schwimmt und Brot backt. Nina Stibbes Buch über ihre Zeit als Nanny – Love, Nina – wurde als »Non-fiction Book of the Year« mit dem National Book Award ausgezeichnet.

Weitere Informationen zur Autorin und ihren Büchern finden Sie unter http://www.ninastibbe.com

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Man at the Helm« bei Viking Published by the Penguin Group, Penguin Books Ltd, London

Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung März 2016

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Nina Stibbe

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,  in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,  Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: © Gary Isaacs / Trevillion Images

© Männerliste: Hannah Mie

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15052-5V004

www.manhattan-verlag.de

Für A. J. Allison

TEIL IInsofern keine gute Mutter

1

Meine Schwester und – danach – ich und mein Bruder wurden einst in recht angenehme Lebensumstände hineingeboren. Zwar gab es auch bei uns immer wieder kleine Veränderungen, doch im Wesentlichen spulte sich unser Dasein mit einer Gleichförmigkeit ab, die ungeheuer bequem war. Das ging so bis zu einem Abend im Jahr 1970, als unsere Mutter mitbekam, was unser Vater so alles am Telefon sagte. Es war etwas, das sie veranlasste, sich ins Geschirrtuch zu schnäuzen – was sie nur im absoluten Notfall tat.

Und am nächsten Morgen, gerade als mein Vater es sich mit der Morgenzeitung bequem machen wollte, nahm sie die Pfanne mit Spiegeleiern von der Flamme und feuerte die Eier unserem Vater an den Kopf. In der Annahme, das Fett sei noch heiß, kreischte er auf wie ein Mädchen und fiel vom Stuhl. Aber meine Mutter war nicht verrückt, und die Spiegeleier waren allenfalls lauwarm, also keine Gefahr. Höflich übersahen wir, wie er einen Moment lang am Boden lag. Dann versuchte er, an die Kaffeekanne zu gelangen, aber da war meine Mutter vor. Leider rutschte sie dabei auf dem nassen Daily Telegraph aus, der sich allmählich in Pappmaché verwandelte, und bald wälzten sich beide in erbitterter Umklammerung auf dem Küchenboden – was übrigens anfangs noch harmlos aussah, eher wie eine Rangelei auf dem Spielplatz. Bedrohlicher war schon, als sie einen Schuh verlor, was nie ein gutes Zeichen ist und darüber hinaus ein bekanntes Motiv aus Märchen und Fernsehkrimis. Der letzte Zweifel schwand, als unser Vater sie mit seinen großen weißen Händen würgte. Da wünschte ich mir, sie hätte die Kraft gehabt, ihn mit einem gekonnten Judogriff auf den Rücken zu werfen und mit ihrem verbliebenen Absatz auf dem Boden festzunageln. Stattdessen musste Mrs Lunt einschreiten und ihm jeden Finger einzeln nach hinten biegen, bis er von meiner Mutter abließ.

Und auf einmal war es 8 Uhr 30, und Bernard, sein Chauffeur, der in einer kleinen Laube bei uns mit auf dem Grundstück wohnte, hatte den Mercedes vorgefahren und hupte. Immer noch wütend, zerzaust und bekleckert, blieb meinem Vater nichts anderes übrig, als sich ins Büro fahren zu lassen. Unterdessen strich sich unsere Mutter das Kleid glatt und goss sich einen Scotch mit Ginger Ale ein. Doch auch sie kehrte nicht an den Frühstückstisch zurück. Sie lächelte nicht, sie weinte nicht, sie sah uns nicht einmal an, sondern war – mit nur einem Schuh – an der Anrichte stehen geblieben, wo sie in ihrer eigenen Welt ihren eigenen Gedanken nachhing.

Am Ende gab es Teegebäck zum Frühstück, denn alles andere war bei dem »Aufstand« (wie Mrs Lunt sich ausdrückte) vernichtet worden. Damals hortete man noch nicht endlos Vorräte, sondern kaufte jeden Tag frisch ein. Oder vielmehr tat die Lunt das.

Wie gesagt, meine Mutter stand an der Anrichte, und nach einem Glas Scotch hatte sie dort so etwas wie eine Eingebung. Jedenfalls lief sie sofort in den Flur, wo sie die Wählscheibe des Telefons betätigte. Nach allem, was passiert war, hörten wir natürlich gespannt zu. Wen würde sie jetzt anrufen? Zur Abwechslung quatschte auch die Lunt nicht dazwischen wie sonst immer, wenn die Kinder etwas nicht hören sollten oder wenn – angeblich – die Privatsphäre meiner Mutter gefährdet war, sondern hatte ihr großes Ohr aufgestellt und lauschte unverfroren, indem sie den Finger an die Lippen legte.

Ich dachte erst, es sei die Polizei oder dieser Phil. Tatsächlich aber bestellte sie nur den Kohlenmann ab.

»So, das hätten wir«, sagte sie mit tapfer-brüchiger Stimme. »Den Rest bringe ich am Wochenende wieder in Ordnung.«

Auch das war eher enttäuschend, und ich denke, die anderen fanden das ebenso.

Meine Eltern schätzten ein gemütliches Kaminfeuer am Abend, und es musste im Sommer schon sehr heiß werden, damit der Kamin aus blieb. Mein Vater bevorzugte Kohle als Brennstoff und konnte in die hellrote Glut starren, bis seine Haut Flecken bekam und kein Wimpernschlag mehr seinen stieren Blick unterbrach.

Meine Mutter dagegen liebte Holzfeuer, also tanzende Flammen auf zerfallenden Scheiterhaufen, nicht diese grimmige Höllenhitze, wie sie von Kohlen ausging. Schon der Anblick der schwarz glänzenden Brocken im Eimer gefiel ihr nicht, erst recht nicht die Asche, deren kleinste Partikel noch in der Luft schwebten, lange nachdem Mrs Lunt den Kamin gereinigt hatte. Sogar in verbrannter Form verhielt sich Holz einfach fügsamer. Wir wussten das alles, weil unsere Mutter einmal ein Gedicht geschrieben hatte, in dem diese Unterschiede thematisiert wurden. Und dann war da noch der Kohlenmann, den sie einmal dabei beobachtet hatte, wie er ins Blumenbeet pinkelte. Dagegen hätte sie an sich nichts gehabt, aber dass er die Calendula regelrecht niederpinkelte, erzürnte sie.

Zwar war dieser Vorfall in ihrem Gedicht nicht enthalten, doch sie beklagte sich bei meinem Vater darüber, der abwiegelte: »Der Kerl hatte eben Druck.« Aus purem Übermut zog er auch noch Mrs Lunt in die Diskussion: »Na, schon mal zugeguckt, wie so ein Klüttenmann den Stollen unter Wasser setzt.« Die Lunt gab sich empört wie eine englische Lady in einer Sitcom und verließ unter Protestgenuschel das Zimmer.

Damit war die Sache erledigt. Der Kohlenmann erschien nicht mehr, und wir kauften nur noch Holz vom Milchmann, der mit seinem elektrischen Milchwagen auf unserer halbrunden Auffahrt durch die Kurve zog, dass sämtliche Milchkästen ins Rutschen gerieten. Außerdem mochte er Debbie, unseren Labrador, und pfiff immer nach ihr.

Die Lunt meinte, Holz sei ja gut und schön – nur dass man jedes Scheit tausendmal anfassen musste, ehe man es (trocken, aber nicht zu trocken) im Wohnzimmer hatte, sei nicht so angenehm. Und dass sich zwischen dem Brennholz allerlei Getier einnistete, was einem regelmäßig einen Schock versetzte. Dagegen, so die Lunt, sei Kohle durch ihre Unwirtlichkeit eine geradezu saubere Sache, zumindest wisse man bei Kohle immer, woran man sei. Aber meine Mutter verwies auf den strullernden Kohlenmann und blieb bei ihrer Entscheidung.

Für mich war damit die Energiewende abgeschlossen: Holz war die Zukunft. Meine Schwester war anderer Meinung. Die fortdauernde Abwesenheit meines Vaters ließ ihr keine Ruhe, entsprechend oft wollte sie mich mit ihrer Panik anstecken. Sie meinte, dass ich die furchtbare Wahrheit früher oder später ja doch erfahren würde, und dramatisierte, wo es nur ging.

»So ganz allein wird Mutter wahnsinnig, das ist mal sicher«, sagte sie. »Beten wir, dass er bald zurückkommt und dass sie sich nicht trennen.«

»Sie trennen sich schon nicht«, sagte ich.

»Woher willst du das wissen? Sie haben nicht die geringsten Gemeinsamkeiten, sie sind wie Hund und Katze.« So meine Schwester. Aber das stimmte nicht. Sie waren nur zwei grundverschiedene Arten von Hund und Katze.

Ich sah das sowieso ganz anders. Sie glichen sich schon äußerlich. Außerdem hatten sie denselben Gang, liebten Toast und Iris Murdoch und hüstelten auf diese abgehackte Weise, die sich anhörte wie kennich-kennich-kennich. Die Liste war damit noch nicht komplett, doch ich verzichtete auf weitere Argumente, denn sie stachen ohnehin nicht.

Ich sagte jedoch: »Immerhin sitzen sie gerne vor dem Kamin.« Womit wir wieder beim Kohlenmann waren.

Unsere Mutter versuchte, uns ihre Trennung so schonend wie möglich beizubringen.

Sie sagte: »Ich will es euch so schonend wie möglich beibringen: Euer Vater und ich sind übereingekommen, uns scheiden zu lassen. Daddy hat sich bereits eine eigene Wohnung gesucht.«

Die Stimmung kippte, als meine Schwester sagte: »O nein, der Ärmste! Armer Daddy.«

In diesem Moment platzte es aus meiner Mutter heraus. »Armer Daddy? Armer Daddy? Dein armer Daddy ist über beide Ohren verknallt.« Der Satz endete in einem sarkastischen Schluchzer, über den ich gern laut gelacht hätte, wäre meine Schwester nicht gewesen. Es gibt eben traurige Momente, die eher zum Lachen sind.

Ich verstand auch nicht, wie meine Schwester Mitleid mit meinem Vater haben konnte, wenn sie hauptsächlich um meine Mutter besorgt war.

Jedenfalls setzte sie sich gleich hin und schrieb meinem Vater auf ihrem guten Briefpapier einen Brief, in dem sie ihn anflehte, die Entscheidung zu überdenken. Es war nur ein kurzer Brief, aber er enthielt das Wesentliche: »Lizzie und ich machen uns große Sorgen, wie es nun weitergehen soll.« Er schrieb zwar nicht zurück, aber er rief an und erklärte ihr die Situation. Er sagte auch, dass Bernard, der Chauffeur, noch vorbeikäme, um seine wenigen Habseligkeiten abzuholen. Meine Mutter erkannte die Gefahr und schärfte uns ein, in der nächsten Zeit besonders gut auf Debbie aufzupassen – falls Bernard den Hund kidnappen wollte.

Bernard erschien schon am folgenden Tag und nahm ein paar Sachen mit wie das Bild mit dem Jagdhund und dem toten Vogel im Maul, Dads Toilettenkoffer für Herren mit den diversen Haarbürsten sowie den Toaster. Meine Schwester hatte noch weitere Sachen herausgelegt, darunter sein Lieblingskissen, aber Bernard blieb stur bei seiner Liste. Er bat nur um eine Decke, um das Bild darin einzuschlagen.

Ich selbst hielt derweil Debbie an der Leine und war erleichtert, als der Mercedes endlich wegfuhr – ohne Hund.

Jetzt könnte man denken, meine Mutter sei froh gewesen, meinen Vater (einschließlich seiner grässlichen Haarbürsten) los zu sein. Wobei ihre Gedanken an Phil vielleicht nicht so schmerzvoll waren wie die an die vielen, vielen Jahre, in denen sie aneinander vorbeigelebt hatten. Denn selbst früher hatte sich unser Vater im Kreis der Familie kaum blicken lassen, verließ nur zum Abendessen sein Zimmer, nicht aber zu Mittag oder zum Tee, und war ganz allgemein ein einziger Störfaktor. Etwa wenn er penibel gekämmt bei Tisch erschien und meine Mutter als Erstes aufforderte, die Zigarette auszumachen, und völlig ignorierte, dass wir uns gerade über etwas ganz anderes unterhielten (beispielsweise über den Trend in der modernen Lebensmittelindustrie, alles und jedes mit Panade zu ummanteln). Stattdessen mäkelte er an unseren Tischsitten herum und die Art, wie wir Messer und Gabel hielten. Im Hintergrund feixte meine Mutter, aber ich gehorchte ihm trotzdem und versuchte, so etepetete zu essen wie befohlen, also mit der Gabel in der Linken, dem Messer in der Rechten und nicht mit der skandinavischen Schaufelmethode. Als er sein Mahl beendet hatte, ließ er uns mit den Worten allein: »Nun denn, ich habe zu arbeiten.« Worauf wir alle wieder zur Schaufelmethode und zu unserem alten Thema (Panade um alles) zurückkehrten.

Oft murmelte ihm meine Mutter hinterher: »Schwachkopf!« Nur Little Jack fand sich zu seiner Verteidigung bereit, er lief ihm sogar ins Arbeitszimmer nach. Aber meistens kam er bald zurück und saß dann zwischen allen Stühlen.

Wenn ich ehrlich sein soll: Ich war froh, als er endlich weg war, zunächst jedenfalls. Aber dann vermisste ich ihn doch. Seine Gastauftritte beim Abendessen waren besser als gar nichts und kamen mir plötzlich gar nicht mehr so belanglos vor. Vor allem seine Liebesaffäre (nachzulesen in dem kurzen Einakter, den meine Mutter darüber schrieb, kurz nachdem die Sache aufgeflogen war) änderte einiges. Das Ganze geschah so unerwartet: mein Vater, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, ein Mensch aus Fleisch und Blut statt des angestaubten Ölgötzen, der sich nur in seinem Mercedes durch die Gegend kutschieren ließ und dem man besser nicht zu nahekam.

Sogar meine Schwester, die immer noch wütend über die Trennung war und sorgenvoll in die Zukunft schaute, war fasziniert von dieser Wendung der Dinge. »Ich kapiere einfach nicht, dass Daddy jetzt so einer ist … und sich mit anderen Männern küsst und wer weiß was noch. Irgendwie ist das alles völlig unfassbar.« Wir konnten ihr da nur zustimmen. Es war in der Tat unfassbar.

Vielleicht war das auch der Grund, warum das Thema meine Mutter so aufwühlte. Vielleicht sah sie ihn ebenfalls zum ersten Mal in einem neuen – soll man sagen romantischen? – Licht. Man darf nicht vergessen, sie hatte sein Liebesgeflüster am Telefon eins zu eins mitgekriegt. Und jetzt war er fort.

(Adele lauscht am Telefon, den Hörer am Ohr, die Hand auf der Sprechmuschel.)

Roderick: (leise) Ich will dich.

(Adele verzieht gequält das Gesicht.)

Männerstimme am Telefon: Wann?

Roderick: In einer halben Stunde, in der Wohnung.

Männerstimme: Bring den Toaster mit.

»Aber du bist nicht allein, Mum«, sagte ich. »Du hast immer noch Mrs Lunt.«

»Ich brauche keine Mrs Lunt. Mrs Lunt ist eine dumme Fotze«, sagte sie, zufrieden über ihre deutliche Meinungsäußerung.

»Na, dann eben uns drei«, sagte ich unverdrossen. Sie aber zitierte eine Stelle aus dem Gedicht »Einsam in der Masse«, welches das Paradox als Plastikpetersilie beschrieb, die einem Hungernden als Labung gereicht wurde.

Durch endlose Wiederholung hatte sich meine Schwester schließlich mit ihrer Meinung bezüglich der Einsamkeitsproblematik und ihren Folgen durchgesetzt. Ich war neun und sie schon elf, sie wusste so viel mehr über das Leben. Irgendwann musste auch ich zugeben, dass Alleinsein leicht zu persönlichem Unglück und Unglück wiederum leicht in die Dramenproduktion führte, was unbedingt zu vermeiden war. Trotzdem war ich nicht annähernd so beunruhigt wie sie, da ich fand, man könne sich auch verrückt machen – was meine Schwester herzlos fand.

Zu meiner Entlastung nannte ich eine ganze Reihe von Leuten, die meiner Mutter zur Not Gesellschaft leisten konnten. Es waren gar nicht so wenige. Einmal ihre eigene Familie. Sie hatte mehrere Brüder, aber leider keine Schwester, die in schweren Zeiten sehr viel nützlicher gewesen wäre. Auch ihre Mutter konnte man nicht mitzählen, denn das war eine lieblose Frau, die sich an fremden Katastrophen weidete. Dafür hatte meine Mutter etliche nette Tanten und Cousinen, die irgendwo verstreut lebten.

Von Nachteil war sicher, dass es keine beste Freundin gab. Meine Mutter hatte schon mit neunzehn, also gleich nach der Internatszeit, geheiratet und daher nie ein selbstständiges Leben geführt. Auf der Habenseite befanden sich jedoch zahlreiche Freunde und Bekannte der Familie, gut betuchte und gesetzte Herrschaften, die sie ihr Leben lang kannte und die regelmäßig kleine Cocktailpartys gaben. Etwas Besseres gegen die Einsamkeit gab es nicht.

Doch auch der nähere Umkreis bot so einiges. Unsere Nachbarin, die vollbusige Mrs Vanderbus, und ihren Fahrer, Mr Mason, zum Beispiel, die direkt neben uns in der verkehrsberuhigten Anliegerstraße wohnten. Mrs Vanderbus konnte ohne ihren Schönheitsschlaf am Mittag nicht leben und sorgte immer für Ruhe, indem sie uns aus einem Fenster im Obergeschoss zurechtstauchte: »So, Schluss jetzt mit dem Radau! Ich und Mr Mason gedenken zu schlafen.« Komischerweise hielten wir uns daran und kasperten nur pantomimisch und auf Zehenspitzen vor ihrem Haus herum, bis das Fenster erneut aufging und Mrs Vanderbus das Ende der Siesta ausrief.

Denn wir liebten Mrs Vanderbus, nur deshalb schreibe ich über sie. Oft brachte sie uns selbst gebackene holländische Zuckerplätzchen in hübschen Blechdosen, die sie penibel zurückverlangte (die Dosen, nicht die Plätzchen). Sie war eine Frau, die uns zwischen den Blumen im Garten eine Ringelnatter zeigen konnte (und diese sogar in die Hand nahm) und ihre Schlangenphobie erst Wochen später nachholte, als sie ein identisches Exemplar im Fernsehen sah und Dr. Hillward ihr Beruhigungstabletten verschreiben musste.

Dr. Hillward und seine Frau Marjorie zählten ebenfalls zu den netten Nachbarn. Marjorie stammte, wie sie sagte, aus einer Zeit vor dem Aufkommen von Margarine und wünschte, eines von beidem hätte einen anderen Namen erhalten. Die Hillwards mochten uns irgendwie und kamen oft mit ihrem süßen Welpen Bimbo vorbei, damit unser süßer Welpe Debbie einen Spielkameraden hatte. Und sie halfen uns bei unserem Silvesterfeuerwerk, als unser Vater noch in der Fabrik festgehalten wurde und unsere Mutter die Knallerei viel zu gefährlich fand.

Und da war natürlich Mrs Lunt, die alles Mögliche war, nur kein Kindermädchen (sie hasste Kinder und sagte das auch so). Aber sie war ein stabilisierender Faktor und machte nebenbei köstliche Marmeladentörtchen, von uns Ochsenaugen genannt. Nichts macht so gute Laune wie ein schönes Marmeladentörtchen, sagte sie immer. Es war das einzig Positive, das sie überhaupt sagte, aber sie sagte es oft.

Kurz und gut, aus den Reihen der Kindermädchen war wohl keine Unterstützung im Kampf gegen die Einsamkeit zu erwarten. Einzige Ausnahme war eine gewisse Joan, aber Joan lag lange zurück. Alle anderen waren nach kurzer Zeit wieder weg oder lagen sonst wie nicht auf unserer Wellenlänge. Einzig Mrs Lunt, die dumme Fotze, war schon seit Jahren bei uns und kannte uns besser als wir uns selbst. Es war auch nicht so, dass meine Mutter keine Versuche unternommen hätte, sich mit den jeweiligen Kindermädchen anzufreunden. Sobald sich aber zeigte, dass diese Kindermädchen so viel persönliche Nähe gar nicht wünschten, reagierte sie eingeschnappt und behandelte sie extrem von oben herab, was nicht gerade schön war. Das Muster war immer dasselbe und für uns ziemlich unangenehm. Alle diese Mädchen verstanden sich als einfache Hausangestellte und wollten für den kargen Lohn nicht auch noch als seelische Abfalleimer herhalten. Nachdem das dritte Kindermädchen gekündigt hatte, besaß meine Mutter kaum noch den Mut, bei der Vermittlungsagentur anzurufen. Für die Chefin dort war jede Kündigung nicht nur ein Armutszeugnis für die Arbeitgeberin, sie war zudem mit meinen Großmüttern bekannt und erzählte vermutlich alles brühwarm weiter. Aber dann rief meine Mutter doch an, und wir bekamen Moira. Moira mit den gelben Wolfsaugen, der man kaum ins Gesicht sehen mochte. Meine Mutter blieb ebenfalls auf Abstand. Zu verdächtig waren die vielen Salbendöschen, die diese Frau im Bad aufgereiht hatte, außerdem zog sie sich abends meist früh zurück, um zu lesen. Das alles irritierte meine Mutter erheblich.

Die wolfsäugige Moira war also keine Option. Trotzdem, sagte ich zu meiner Schwester, an Gesellschaft für meine Mutter herrsche weiß Gott kein Mangel.

Meine Schwester widersprach und zitierte aus »Einsam in der Masse«, woraus ich schloss, dass sie in der Zwischenzeit auch mit meiner Mutter über dieses Thema geredet hatte.

Ich sagte: »Ich verstehe ja das mit der Plastikpetersilie, aber in Wirklichkeit hat sie jede Menge Freunde und Bekannte, die alles tun, damit sie nicht vereinsamt.«

»Falsch! So läuft das nicht«, sagte meine Schwester und klang mit ihren elf Jahren schrecklich erwachsen. »Das passiert nur, wenn jemand stirbt, und selbst dann nur für kurze Zeit. Aber von einer geschiedenen Frau, die ganz allein dasteht, ohne Mann am Ruder, halten sich alle fern. Wart’s ab, von denen kommt keiner mehr.«

»Wirklich?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Solange kein anderer Mann am Ruder ist.«

»Und dann?«

»Dann schon. Aber wirklich erst dann. Erst wenn ein Nachfolger am Ruder ist, gehört sie wieder dazu.«

2

Dann zogen wir aufs Land. Mein Vater kaufte uns in einem Dorf fünfzehn Meilen außerhalb der Stadt ein Haus. Dort, in frischer Luft und überschaubaren Verhältnissen, sollten wir in aller Ruhe groß werden. Aber fünfzehn Meilen außerhalb waren eben auch fünfzehn Meilen weit weg von unseren Nachbarn und deren Hunden und ebenso weit von den Plätzchen und der allgemeinen Nettigkeit.

Als wir von unserer Mutter davon erfuhren, hielten wir es zunächst für unwichtig, aber das kommt bei wichtigen Dingen ja häufiger vor: Man hält etwas für unwichtig, was eigentlich total wichtig ist. So auch hier. Wir freuten uns sogar darauf, weil wir nicht begriffen, was es bedeutete. Wir begriffen es erst, als drei schwergewichtige Männer von Leonard’s of Leicester unsere Sachen über eine wippende Rampe auf einen Lkw luden – »großer Blauwal«, sagte Little Jack dazu –, während zwei weniger schwergewichtige Männer im Haus Bilder und Spiegel in viele Meter Seidenpapier wickelten und mit einem roten Filzstift als »fragile/zerbrechlich« kennzeichneten. Einige Bilder waren zusammen mit dem Kronleuchter schon in der Woche zuvor verschwunden, doch das hatten wir gar nicht gemerkt. Auch das Klavier hatte sich längst auf die Reise gemacht, denn es sollte sich am neuen Ort akklimatisieren, damit es einsatzbereit war, wenn meine Mutter kam. Meine Mutter spielte gern die bei Frauen so beliebten Melodien von Beethoven und Chopin, außerdem von dem zwar weniger bekannten, dafür umso gefälligeren Clementi.

Kurz darauf ließen wir Staub und Abgase der Großstadt hinter uns und leider auch alle, die wir kannten. Mrs Vanderbus etwa sollten wir nie wiedersehen. Sie selbst konnte nicht fahren, Mr Mason, ihrem Chauffeur, hatte man vor Kurzem ein Bein abgenommen, und einen zweiten (Chauffeur) konnte sie sich nicht leisten.

Dann brachen wir auf in unserem alten dunkelbordeauxroten Mercedes mit dem schönen Namen Heideröschen, immer dem Blauwal hinterher. Wir hatten Londons Vororte mit den hübsch angemalten Garagentoren und preisverdächtig schönen Vorgärten noch nicht hinter uns gelassen, da würgte unsere Mutter an einem Kreisverkehr das Heideröschen ab. Mit bebenden Lippen sah Little Jack zu, wie der Blauwal vor uns davonzog, und hätte am liebsten geheult. Er hatte endgültig die Nase voll, wie ihn Erwachsene immer hängen ließen.

»Shit«, sagte meine Mutter, aber dann sprang Heideröschen doch wieder an und kannte sogar den Weg, und wir gelangten, vorbei an Wellblechambiente und den billig errichteten Lagerschuppen der weniger feinen Außenbezirke, aufs Land. Doch auch die ersten Dörfer waren alles andere als eine Idylle, nur zwei Dinge gab es dort im Übermaß: Bushaltestellen und verwildertes Grün. Irgendwann schlossen wir auch wieder zu dem Blauwal auf, der sich inzwischen auf einer schmalen Nebenstrecke durch ein Spalier von wucherndem Weißdorn schob. Meine Schwester steckte den Kopf aus dem Wagenfenster und sagte: »Riecht doch mal die frische Luft!« Wir probierten es aus. Die Luft roch nach gar nichts, aber keiner sagte etwas. Und vor dem neuen Ortsschild sagte sie fröhlich: »Kinder, das ist von nun an unser Dorf. Wer kotzen muss, kann das jetzt tun.« Wir schenkten ihr keine Beachtung.

Auf dem Ortsschild stand »Flatstone – Heimat des Flatstone-Muntie«.

Später erfuhren wir: Munties waren die kleinen fettigen Hammelpasteten, die am sogenannten Flatstone-Day (im Juni) von Kindern zusammen mit ein paar Münzen unter Wegplatten deponiert wurden, damit heimkehrende Soldaten aus vergessenen Kriegen etwas hatten, um sich zu stärken und Mut zu schöpfen. Von diesem Brauch bezog der Ort seinen Namen.

Im Dorf selbst rasierte der Möbelwagen von Leonard’s of Leicester erst einmal den überhängenden Teil einer alten Linde, der krachend auf dem Pflaster aufschlug und die Männer zum Anhalten zwang, da man die Spuren der Zerstörung beseitigen musste. Der Lärm lockte grau gelockte Gummistiefelträgerinnen auf die Straße, die uns böse ansahen. Wir aber ignorierten sie nach Kräften und ließen uns die gute Laune nicht verderben.

Es dauerte ein paar Tage, bis uns dämmerte, dass dieses kleine Dorf uns noch mehr Kummer bereiten würde als alle miesepetrigen Kindermädchen, homosexuellen Väter, lieblosen Omas, nachrichtenlosen Verwandten und nicht vorhandenen besten Freundinnen zusammen. Wenn ein ganzes Dorf dich im Supermarkt anstarrt, ohne je einen Schritt auf dich zuzugehen, dann zermürbt dich das. Es zermürbte unsere ganze Familie, nahm uns die Luft zum Atmen, wo wir doch eigentlich auf frische Luft aus waren. Aber nach wenigen Tagen wussten wir Bescheid.

Da war es kein Wunder, dass unsere Mutter gleich mit dem nächsten Theaterstück begann. Ehe sie auch nur ihre Sachen ausgepackt oder sich in der Nachbarschaft vorgestellt hatte, saß sie an ihrem neuen Stück, Titel: Vicus. Das ist lateinisch für »Dorf«. Ihr Stück war ein Spiegel ihrer aktuellen Situation, angereichert mit Problemen, die sie schon länger hatte, also sämtlichen ungelösten Lebensfragen.

Adele: Ich weiß nicht, ob dieses Dorf wirklich das Richtige für uns ist.

Roderick: Unsinn, dieses Dorf ist ideal für die Kinder.

Adele: Aber hier verblöde ich.

Roderick: Das Landleben tut Kindern gut.

Adele: Aber ich weiß nicht, wie man sich in so einem Dorf verhält.

Roderick: Nun, sobald man das Essen beendet hat, legt man Messer und Gabel auf dem Teller ab. Maßgebend ist hier die Fünf-Uhr-Position.

Adele: Und was, wenn ich mit essen noch gar nicht fertig bin, sondern bloß eine Zigarette rauchen will?

Roderick: Hat man die Mahlzeit noch nicht beendet, legt man Messer und Gabel jeweils rechts und links ab, das heißt auf der Acht- beziehungsweise Vier-Uhr-Position.

Unterdessen waren wir auch nur noch zu viert, da Moira, die Nanny mit den gelben Wolfsaugen, in letzter Sekunde die gute Landluft ausschlug und lieber in der Stadt blieb.

»Warum kommt Moira nicht mit?«, fragte ich leise, damit mein Bruder nichts hörte.

»Sie will nicht auf dem Dorf wohnen«, sagte unsere Mutter.

»Und warum nicht?«, fragte ich weiter.

»Weil sie offenbar nicht so dämlich ist, wie sie aussieht.«

Insgeheim war mir das recht, denn an Moira gefiel mir manches nicht. Wie sie an ihrer Oberlippe zog beispielsweise. Oder die Art, wie sie dauernd »Ach Gottchen!« sagte. Und natürlich ihre Kalzium-Predigten. Ein Leben ohne Nanny versprach spannend zu werden, außerdem wurden wir nicht mehr mit Milch abgefüllt. Ich würde gern noch mehr über Moira sagen, aber sie kommt in dieser Geschichte nicht weiter vor, deshalb lasse ich es.

Little Jack (der Veränderungen nicht leiden konnte, schon gar nicht auf den letzten Drücker) bemerkte Moiras Abwesenheit erst am darauffolgenden Morgen. In seiner Verstörung prophezeite er uns, eine Monsterkrabbe käme, würde uns mit ihren Scheren packen und fressen. Es war schauerlich anzuhören, denn meistens erwiesen sich seine Voraussagen auf die eine oder andere Weise als richtig. Darin glich er jenen skurrilen Nebenfiguren im Film, die lauter hysterisches Zeug von sich geben. Erst will es keiner hören, aber dann … tritt genau das ein.

Kaum hatten wir Little Jacks wirres Gestammel entschlüsselt (er stotterte, wenn er aufgeregt war), ließ uns ein lautes Summen hochschrecken. Starr blickten wir uns ans.

»Das ist die Monsterkrabbe«, stotterte Little Jack. War es aber nicht. Vor der Tür stand Mr Lomax, Ortskandidat der Liberalen und zugleich der Handwerker, der im Auftrag des Hausverkäufers noch ein paar Kleinigkeiten reparieren sollte.

»Wir dachten, Sie wären eine Monsterkrabbe«, sagte meine Schwester, die unsere zögerliche Reaktion und die verängstigten Gesichter irgendwie erklären musste.

»Keineswegs«, sagte Mr Lomax, »ich bin zu hundert Prozent Mensch«, was mich gleich für ihn einnahm. Meine Schwester bot ihm eine Tasse Tee an. Aber den Tee lehnte er ab, wollte stattdessen lieber ein Glas heißes Wasser, und sofort fand ich ihn schon nicht mehr so sympathisch. Man sollte das nehmen, was angeboten wird, oder dankend ablehnen – nur Forderungen stellen, das geht nicht. Wie auch immer, Mr Lomax erledigte, was zu tun war, ließ dabei laut das Radio laufen und ging während seiner Anwesenheit zweimal (das heißt einmal alle zwanzig Minuten) aufs Klo.

Sobald Mr Lomax weg war, machten wir uns daran, Mutters Bücher in die Regale im Wohnzimmer zu räumen, und zwar, wie von ihr gewünscht, alphabetisch. Alphabetisch hört sich zunächst spaßig an, doch das ist es nicht, wenn man, wie meine Schwester, das Alphabet nicht kennt. Ab J, K und L wurde es für sie schwierig. Little Jack kannte zwar das Alphabet (wie die meisten Stotterer), aber er sortierte die Bücher nach den Vornamen der Autoren, sodass sich Arnold Bennett plötzlich neben Arnold Wesker wiederfand. Das war gleich doppelt falsch, denn für Dramen war ein eigenes Regal vorgesehen.

Wir turnten gerade auf der soliden Bibliotheksleiter herum, als es abermals an der Tür klingelte. Es war Mrs Longlady, eine Frau aus dem Dorf. Mrs Longlady trug Lockenwickler in ihren beigebraunen Haaren, sodass man ihre Kopfhaut sehen konnte. Weder stellte sie sich direkt vor, noch nannte sie den Grund ihres Besuchs, sondern sagte nur, dass sie diejenige sei, die im Dorf die Dinge regle, und in dieser Eigenschaft wolle sie uns allesamt willkommen heißen. »Willkommen in Flatstone also.«

Meine Mutter, angetan mit einem kleidsamen Kopftuch, kam in den Flur. Mit dem Kopftuch sah sie aus wie jemand, der gerade noch Umzugskartons ausgepackt hatte, doch der Eindruck täuschte, sie saß bereits an ihrem neuen Stück. Mrs Longlady sagte: »Auch Ihnen ein herzliches Willkommen in Flatstone«, und dann reichten sie sich die Hand. Mrs Longlady warf einen Blick ins Bücherchaos des Wohnzimmers.

»Du liebe Güte, so viele Bücher«, sagte sie. Und: »Haben Sie die alle gelesen, Mrs Vogel?«

Meine Mutter hasste Menschen, die »du liebe Güte« sagten, denn ihrer Meinung nach war eines von beidem, Liebe oder Güte, der Worte genug. Und noch mehr hasste sie Leute, die idiotische Fragen stellten. Trotzdem sagte sie: »Einige.«

Dann sagte Mrs Longlady noch, sie wohne gegenüber der Bäckerei und dass wir uns melden sollten, falls wir Hilfe bei der Steuerklärung bräuchten, da ihr Mann praktisch für das ganze Dorf die Steuererklärung machte und überdies mit Obstbau und Imkerei Bescheid wisse, nur für den Fall, dass wir mit Baum oder Bienen Probleme hätten. Uns Kindern gegenüber sprach sie eine Einladung zum Tee mit ihren Zwillingsmädchen aus, irgendwann in naher Zukunft und natürlich nur in ihrer Gegenwart.

Unser neues Haus war schön, aber es war nicht immer nur ein Haus gewesen, sondern ein Ensemble aus drei kleinen Cottages, die zu einem familientauglichen Größeren vereinigt worden waren, dazu ausgestattet mit einer schicken Wendeltreppe aus seltenen Edelhölzern. Ein Foto dieser Treppe war schon einmal in einer Zeitschrift erschienen, aber das bedeutete uns nichts. Anders als die Ställe mit den halben Türen, denn genau so sahen auch die Stalltüren unseres Modell-Bauernhofs aus. Mit den Futtertrögen war es dasselbe. Wir liebten die großen Birnbäume auf der Koppel, wir liebten den Duft der Bäckerei, der über die Mauer zu uns wehte.

Am besten aber gefielen mir die Aussicht auf die weite Landschaft hinter der Koppel und die kleinen Aussichtsplattformen, die jemand vor uns in den Birnbäumen angebracht hatte. Von dort oben überblickte man das ganze Patchwork der Felder und Hügel, sah sogar den grauen Wehrturm der angelsächsischen Kirche (den ich später mit der Schulklasse mindestens dreimal besuchen würde) und die Bäume entlang der alten Handelswege. Von morgens bis abends zwitscherten Vögel in den Bäumen und Sträuchern, friedlich grasten die Kühe oder standen im Schlamm an der Tränke und sahen einen seelenvoll an.

Als Abenteuerspielplatz war das neue Haus definitiv eine Verbesserung, denn das alte hatte nur Sachen zu bieten gehabt, die Erwachsene toll fanden. Beispiele zum Positiven hin: der Efeu über dem angebauten Gewächshaus, eine Sandkiste voller Katzenpisse und ein tiefer dunkler Keller.

Obwohl also alles schön war, merkten wir bald, dass niemand im Dorf uns leiden konnte. Es war einfach nicht zu übersehen. Die Leute stierten uns an, aber keiner lächelte, keiner streichelte Debbie, unseren hübschen Labrador. Oft senkten wir dann den Blick, aber das machte alles nur noch schlimmer, denn so sah es aus, als hätten wir etwas zu verbergen. Andererseits, es nicht zu tun, hätte erst recht irrsinnig ausgesehen. Ich tröstete mich damit, dass die Leute mit der Zeit noch auftauen würden, doch meine Schwester war skeptisch. Die Leute würden uns nie akzeptieren, sagte sie, oder Debbie streicheln. »Weil wir kein Familienoberhaupt haben, weil bei uns kein Mann am Ruder ist.« Kurz, es würde sich erst dann was ändern, wenn unsere Mutter wieder heiratete.

So gingen die Monate ins Land. Aber in der ganzen Zeit rief die Pfadfinderführerin, eigentlich eine vernünftige Frau, kein einziges Mal an, um uns mitzuteilen, dass wir ganz oben auf der Warteliste stünden, da konnte unsere Mutter noch so häufig nachfragen. Und natürlich wurde auch aus Mrs Longladys groß angekündigter Einladung zum Tee nie etwas. Wir wurden nicht zur Parade am Flatstone Day eingeladen und erfuhren deshalb nie, wie diese Hammelpasteten schmecken. Kein Kind wollte mit uns spielen, oder vielmehr: Keine Mutter wollte, dass ihr Kind mit uns spielte. Nach und nach wurde mir klar, dass es genauso war, wie meine Schwester sagte: Unsere Mutter war (und blieb) eine geschiedene Frau und infolgedessen eine Aussätzige. Uns war einfach nicht zu trauen. Mrs Longlady, dieselbe, die schon am zweiten Tag vorbeigekommen war, beäugte uns im Vorbeifahren misstrauisch aus ihrem alten Hillman. Und ein Longlady-Klon namens Miranda erzählte überall, dass man vor dem Umbau der drei Cottages ein altes Mütterchen gewaltsam aus ihrer Bleibe geworfen hatte. Allein unseretwegen, hieß es, musste sie nun in einer armseligen Hütte hausen, mit Schimmel auf der Treppe etc. Meine Schwester meinte aber, das sei schon deshalb Blödsinn, weil armselige Hütten keine Treppen hätten.

Das Gefühl des Ausgestoßenseins verstärkte sich noch, als wir erfuhren, dass auch unser Vater offenbar keinen weiteren Gedanken an uns verschwendete. Zwar war die Affäre mit Fabrik-Phil bald beendet, doch kurz darauf ehelichte er eine Frau mit perfektem Gesicht und perfekter Frisur aus London, ohne uns etwas davon zu sagen. Ich sah aber das Bild im Mercury und zeigte es meiner Schwester, der ganz schlecht wurde. Und natürlich bekamen die beiden kurz darauf ihr erstes Kind. Was einerseits schön ist, denn Nachwuchs ist ja immer schön. Andererseits fühlte es sich für uns so an, als würden wir, die Kinder aus erster Ehe, mit einer frischeren Farbschicht übermalt. Meine Schwester meinte, eigentlich sollten wir froh sein, denn auf diese Weise gäbe es zu Weihnachten oder Ostern viel mehr Leute zu besuchen. Na klar, wer’s glaubt.

Noch schwerer zu verkraften war, dass Mrs Lunt uns schrieb, dass sie nicht mehr zur Verfügung stand. Schuld war angeblich der hohe Spritpreis. Aber für unser weiteres Leben in unserem neuen Heim wünschte sie uns alles erdenklich Gute. Meine Mutter wollte sich nichts anmerken lassen, aber wir alle wussten, was los war, als ihr beim Lesen der Karte ein kleiner Enttäuschungsschrei entfuhr, den sie sofort zu überspielen suchte: »Ha! Endlich hat die Lunt kapiert, dass sie hier nicht mehr erwünscht ist.«

Ich war enttäuscht, denn ich hatte mich so darauf gefreut, Mrs Lunt ihren Tee zu servieren, das hatte ich nämlich nach unserem Umzug gelernt, am liebsten in ihrer Lieblingstasse, der weißen mit dem gelben Rand. Ich hätte gesagt: »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten, Mrs Lunt?« Und die Lunt hätte gesagt: »Also, ist das denn die Möglichkeit? Die Kleine serviert den Tee?«

Schließlich war man auch im erweiterten Familienkreis übereingekommen, unsere Mutter einfach ihrem traurigen Schicksal zu überlassen. Dabei bestand unsere weitere Familie nicht aus schlechten Menschen, im Gegenteil, es waren überwiegend sehr nette Menschen. Aber die unbemannte Verwandte, unsere Mutter, wäre auf Cocktailpartys doch zu peinlich gewesen. Außerdem, so ging das Gerücht, sei sie mittlerweile in den Alkohol abgerutscht und eine Gefahr für das Kindeswohl. Das war nicht einmal gelogen. Sie trank und war insofern keine gute Mutter. Das alles war jedoch nichts dagegen, mit welcher Besessenheit sie sich in ihre schriftstellerische Arbeit stürzte – und tief in ihren Seifenopern-Welten versank, wo für uns kein Platz mehr war.

Ich will aber gerecht sein. Wer mit einunddreißig einsam, allein und unglücklich in einem böswilligen Kaff abgeschrieben ist und auf der Welt nur noch uns drei und einen Labrador sein Eigen nennen kann, der wird schnell eine Gefahr für das Kindeswohl und rutscht ab in den Alkohol und die Dramenproduktion.

Adele: Ich sehe, du hast wieder geheiratet.

Roderick: Ja, aber diesmal ein echtes Klasseweib, mit einem ganz aparten Lachen übrigens.

Adele: Nicht ein bisschen zu dick für dich?

Roderick: Nun, sie ist gewiss nicht so eine knabenhafte Bohnenstange wie du.

Adele: Ich dachte, du stehst auf den knabenhaften Typ.

Roderick: Das war einmal. Jetzt ziehe ich weibliche Kurven vor.

Irgendwann ließ es sich nicht mehr leugnen: Meine Schwester hatte alles kommen sehen und also zu hundert Prozent recht behalten, und es gehörte sich, dass ich das auch mal zugab. Doch das reichte ihr offenbar nicht, denn sie verwies darauf, dass sich persönliches Unglück (wie chronische Mannlosigkeit und zwanghaftes Stückeschreiben) nur negativ auf unsere eigene Entwicklung auswirken konnte, sollte es nicht im Keim erstickt werden. Allerdings lag die Keimphase dank meiner Ignoranz schon eine Weile zurück. Meine Schwester erklärte, Kinder von chronisch unglücklichen (sprich: unbemannten) Menschen würden fast unweigerlich ein Fall für die gesetzliche Vormundschaft, und was das bedeute, könne sich jeder selbst ausrechnen: Man wird tagein, tagaus zur Strafe gekniffen, und es gibt nur Spaghetti auf Toast oder Knäckebrot ohne alles. Und da für mich an allen Sachen mit Toast immer der Toast das Leckerste war, verfehlte die Botschaft ihre Wirkung nicht. Und sie war längst nicht die schlimmste. Außer dass man dauernd gekniffen wurde, durfte man weder ein Pony noch einen Hund haben, nicht einmal ein Meerschweinchen.

Ich sagte jedoch, das mit dem Ponyverbot und dem Gekniffenwerden ginge schon in Ordnung, denn ein Pony wollte ich ohnehin nicht, und den täglichen Kampf mit einem Erzieher stellte ich mir ganz lustig vor. Meine Schwester sagte, sie habe Geschichten aus dem Crescent Home gehört (dem Kinderheim zwei Dörfer weiter), Geschichten, die selbst sonnigen Gemütern aus den Reihen der gesetzlichen Vormünder die Tränen in die Augen trieben.

Deshalb beschlossen wir, uns ab sofort selbst auf die Suche nach einem geeigneten Mann für unsere Mutter zu machen. Dabei ging es nicht nur um das Lebensglück unserer Mutter, sondern auch darum, uns vor dem gesetzlichen Vormund und dem Kinderheim zu bewahren. Allerdings waren wir realistisch, was die Erfolgschancen anging. Zum einen war unsere Mutter nicht der Mensch, der jede Woche mit einer neuen Männerbekanntschaft ausging, zum anderen war das Dating-Spiel insgesamt sehr knifflig – wir hatten genügend Frauenzeitschriften gelesen. Es musste ein Unterhaltungsprogramm her, das sie zumindest zeitweise aus ihrer Dramenwelt lockte und sie vielleicht sogar von den schönen Seiten des echten Lebens so überzeugte, dass sie nicht mehr davon lassen wollte.

Wir nahmen uns vor, alle geeigneten Kandidaten der Gegend anzuschreiben und diese zu einem Drink einzuladen. Vielleicht ergaben sich aus dem Abend ja der erste Beischlaf und nachfolgend die Heirat. Natürlich nicht alle auf einmal, sondern schön nacheinander. Meine Schwester fragte nach den drei Haupteigenschaften, die ein künftiger Ehemann mitbringen musste. Keine leichte Frage, denn ich wusste so gut wie gar nichts über Männer, außer vielleicht, dass sie gern vor dem Kaminfeuer sitzen, Omelette essen und überhaupt dauernd essen wollen.

Aber egal. Meine erste Top-Eigenschaft verlangte, dass er gern Fernsehen guckte. Auf Platz zwei kam »Natürlichkeit«. Aber ich merkte, dass meine Schwester gar nicht zuhörte. Wie viele Leute, die einen nach irgendwelchen Lieblingssachen fragen, suchte auch sie nur nach einem Vorwand, mir ihre Rangliste mitzuteilen.

Wenn ich so etwas merkte, fragte ich mich immer, warum sie mir das nicht gleich sagten. Das hätte Zeit gespart, und ich hätte mir nichts Eigenes überlegen müssen. Am ärgsten trieb es übrigens Little Jack, wenn er mich nach meinen römischen Lieblingskaisern oder Lieblingspies fragte.

Wie auch immer, meine Schwester nannte mir recht bald ihre Lieblingseigenschaften bei einem Mann. Er ging (erstens) immer persönlich zur Tür, wenn es klingelte, und verkörperte (zweitens) eine gewisse Autorität. Drittens mochte er Tiere und päppelte sie wieder auf, wenn sie krank oder verletzt waren. Und dann (viertens) wäre es auch nicht schlecht, wenn er eigenes Land besäße.

Little Jack kam und sagte, er wolle Männer mit tiefen Taschen. Nicht im übertragenen Sinn, sondern wörtlich, denn er selbst trug seit Kurzem seine erste Hose mit Taschen, und deren vielfältige Möglichkeiten faszinierten ihn ohne Ende. Zu guter Letzt sollte sich dieser Mann noch für Eulen und die Römer interessieren.

Unser Auswahlverfahren beruhte auf einem Fragenkatalog mit den möglichen Antworten ja, nein und weiß nicht. Bei den Fragen drehte es sich meist um Fernsehen, Tiere oder eine besondere Anfälligkeit für Erkältungskrankheiten (Husten, Schnupfen, Heiserkeit), die unsere Mutter nicht ausstehen konnte. Darüber hinaus sollte er ein guter Schwimmer sein und einem Urlaub an der See nicht abgeneigt. Und noch irgendetwas mit tiefen Taschen.

Als Little Jack nicht mehr da war, erstellten wir eine Liste möglicher Kandidaten. Als ich bei ein paar Namen Bedenken äußerte, sagte meine Schwester: »Wir sollten in dieser Phase niemanden ausschließen.«

»Aber Mr Longlady ist verheiratet«, sagte ich. »Nämlich mit Mrs Longlady.« Ich wies auf diesen Punkt hin, weil mit dieser Dame offenbar nicht zu spaßen war.

»Na und, sie sind alle verheiratet«, sagte meine Schwester. »Außer Mr Lomax. Aber Mr Lomax ist auch minderbemittelt, den will sowieso niemand.«

Einen Moment lang schwiegen wir. Mr Lomax als minderbemittelt zu bezeichnen fand ich unfair, aber meine Schwester erklärte: »Wir sollten uns sowieso nicht auf unverheiratete Kandidaten konzentrieren. Bei denen weiß man nie, ob sie das Zeug dazu haben.«

»Zeug wozu?«, fragte ich.

»Na ja, Erfahrung und so. Wenn sie ein normales Familienleben mit allen Höhen und Tiefen nicht kennen, knicken sie später vielleicht ein«, sagte sie.

»Und was soll aus ihren jetzigen Frauen werden?«, fragte ich.

»Du kennst doch das Sprichwort: ›Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.‹«

Ich kannte das Sprichwort – und fand es in letzter Konsequenz doch recht heftig. Aber es stimmte: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, und unserer Liste stand nichts mehr im Weg. Folgende Namen hatten wir uns notiert:

Mr Lomax – Kandidat der Liberalen

Dr. Kaufmann – Arzt

Mr Dood – Lehrer (wenn möglich vermeiden)

Der Kohlenmann – zu weit weg?

Mr Longlady – Steuerexperte und Bienenfreund

Mr Oliphant – piekfeiner Farmer

Unser Vater

3

Ein glücklicher Zufall wollte es, dass meine Mutter, kurz nachdem wir die Liste erstellt und unseren Schwur geleistet hatten, einen Termin bei Dr. Kaufmann machte, dem Landarzt. Meiner Schwester und mir war das nur recht, denn so konnten wir gleich loslegen, trotz Schmetterlingen im Bauch. Denn heiratsmäßig – so viel wussten wir – waren Ärzte begehrt.

Unser Plan sah vor, dass ihm meine Schwester nach der Sprechstunde einen kurzen Brief schrieb (auf dem sinnlich-cremefarbenen Briefpapier mit den Pfirsichblüten in der rechten oberen Ecke), worin sie ihn abends zu einem Drink einlud.

Ich begleitete meine Mutter zu Dr. Kaufmann, damit der sich einmal das Knacken in meiner Schulter ansehen konnte. Sofort wusste ich, dass er mit meiner Mutter keinen Beischlaf haben würde. Er war einfach nicht der Typ, der sich an leidgeprüfte Mauerblümchen heranmachte, so hübsch sie auch sein mochten. Ich merkte es an der Art, wie er sprach und wie er uns ansah, eine Mischung aus Sachlichkeit und Mitgefühl, der ich danach nur noch selten begegnet bin. Überdies konnte so eine Einladung an Dr. Kaufmann auch nach hinten losgehen, wie meine Schwester schon zuvor überlegt hatte, dann nämlich, wenn er solche Initiativen als unvereinbar mit der Mutterrolle ansah. Wenn wir Pech hatten, wären wir danach dem gesetzlichen Vormund wieder einen Schritt näher. Im Grunde sah er die Sache genauso wie meine Schwester und gab unserer Mutter den entsprechenden Rat.

Er sagte: »Mrs Vogel, Sie führen in dieser Familie das Kommando, Sie sind am Ruder, Ihre Kinder verlassen sich auf Sie. Aber wichtig ist nicht nur, dass Sie vernünftig für sie sorgen, sondern auch, dass die Leute im Dorf es sehen.« Er nickte ihr aufmunternd zu und fuhr fort: »Also, sorgen Sie gut für Ihre Kinder, und bezahlen Sie Ihre Raten pünktlich, ohne das geht es nicht …«

»Kein Problem, ich werd’s versuchen«, unterbrach ihn meine Mutter, ehe er mit den Dingen, ohne die es nicht ging, fertig war. Er redete unverdrossen weiter.

»Wichtig ist das Erscheinungsbild Ihrer Kinder in der Schule. Sorgen Sie dafür, dass sie immer ihre Hausaufgaben gemacht haben. Und dass die Haustür abgeschlossen ist. Und das Gartentor. Sie wohnen jetzt auf dem Dorf, Mrs Vogel, nicht in der Stadt. Und essen Sie ausreichend, Sie haben Untergewicht«, sagte er. »Ohne das geht es gar nicht.«

Ebenso gut hätte er sagen können: »Sonst kommt der gesetzliche Vormund.«

Aber genau so interpretierte ich seinen Vortrag.

Na gut, ohne bestimmte Sachen ging es wirklich nicht. Dies bestärkte mich aber nur noch in meinem Vorsatz, für das Glück meiner Mutter zu kämpfen. Zwar hatte ich mich schon mit meiner Schwester dazu verschworen, aber was es alles bedeutete, was es alles einschloss, all die Sachen, ohne die es nicht ging, all das hatte ich mir nicht klargemacht. Bis ich bei Dr. Kaufmann war. Aber das ist eben das Besondere an Ärzten: Man kauft ihnen jedes Wort ab. Vielleicht sind sie deswegen so begehrt.

Wieder zu Hause, erzählte ich alles meiner Schwester, und wir dankten Gott für das Knacken in meiner Schulter und strichen Dr. Kaufmann von der Liste, die jetzt folgendermaßen aussah:

Mr Lomax – Kandidat der Liberalen

Dr. Kaufmann – Arzt

Mr Dodd – Lehrer (wenn möglich vermeiden)

Der Kohlenmann – zu weit weg?

Mr Longlady – Steuerexperte und Bienenfreund

Mr Oliphant – piekfeiner Farmer

Unser Vater

Wir beschlossen, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war, und uns gleich danach Mr Lomax vorzunehmen, seines Zeichens Handwerker und Kandidat der Liberalen. Er stand auf der Liste ganz oben und war ein aussichtsreicher Kandidat.

Umgehend schrieb ihm meine Schwester einen Brief. Aber sie beherrschte den Stil meiner Mutter nicht annähernd so gut wie ich und hing bald fest, weswegen ich mich einschaltete, damit das Ganze halbwegs realistisch klang. Aber da wir das Briefpapier meiner Schwester benutzten und die Briefe auch ihre Idee waren, kann man sagen, dass es sich um eine gemeinschaftlich begangene Tat handelte.

Lieber Mr Lomax,

was bin ich nur für ein Schussel! Mir fällt gerade siedend heiß ein, dass ich Ihnen ja noch gar nicht Dank gesagt habe dafür, auf welch vielfältige Weise Sie bei unserem Einzug die vielen kleinen Dinge ausgebessert und uns so »das Nest bereitet« haben. Aber ohne einen solchen Dank geht es nicht. Hätten Sie Lust, einmal auf einen Drink vorbeizuschauen? Heißes Wasser (gerne auch Scotch) ist eigentlich immer im Haus. Vielleicht könnten wir bei einem Gläschen weitere Projekte besprechen, die nicht nur »Zukunftsmusik« bleiben müssen? Bitte rufen Sie mich an, wann immer es Ihnen passt.

Mit den besten Grüßen, Elizabeth Vogel x

Wir lieferten den Brief höchstpersönlich bei ihm ab und sagten unserer Mutter, Mr Lomax habe angerufen und gefragt, wie die Dinge stünden – zukunftsmusikmäßig.

Unsere Mutter war irritiert. »Zukunftsmusikmäßig?«

Worauf meine Schwester, fix wie stets, sagte: »Herrgott, Mum, er mag dich und will dich wiedersehen.«

Aber meine Mutter meinte nur achselzuckend: »Du lieber Himmel.« Trotzdem wirkte sie irgendwie erfreut.

Als wir nach ein paar Tagen immer noch nichts von Mr Lomax hörten und die Sache eigentlich schon abhaken wollten, fragte meine Schwester kurzerhand meine Mutter, ob sie nicht Mr Lomax anrufen wolle.

»Warum um alles in der Welt sollte ich diese Dummbratze von Lomax anrufen?«

Darauf meine Schwester: »Weil er dich wiedersehen will.«

Just in diesem Moment und für uns alle überraschend klingelte das Telefon, und wir hörten unsere Mutter sagen: »In Ordnung, bis Freitag dann.« Allerdings hätte sie das ein bisschen netter sagen können.

Freitagabend gegen sechs parkte Mr Lomax seinen Lieferwagen schräg auf dem Seitenstreifen und kletterte, angetan mit Overall und schweren Arbeitsbotten, aus seinem Fahrzeug. Er sagte, er habe den Wagen mit Absicht schräg abgestellt, damit die Ausfahrt frei blieb. In diesem Moment wusste ich schon, dass es mit Mr Lomax nichts wird, denn die Ausfahrt war meiner Mutter scheißegal. Ihr fehlte jedes Verständnis für Leute, die überhaupt einen Gedanken an geparkte Autos verschwendeten.

Meine Mutter fragte Mr Lomax, was er trinken wolle, und er bat um einen Becher heißes Wasser. Meine Mutter, die sich bereits einen Scotch eingegossen hatte, fragte konsterniert: »Heißes Wasser? Und das kann man trinken?« Sie schnitt eine Grimasse und drehte den Heißwasserhahn auf. Mr Lomax aber bestand jedoch auf Kochwasser aus dem Kessel. Meine Mutter war zunehmend genervt.

Sie setzten sich an den Küchentisch, und Mr Lomax erklärte die unterschiedliche Wasserqualität in Abhängigkeit vom Ort seiner Bereitstellung. Sollte heißen, heißes Wasser aus dem Brauchwassertank war nicht vergleichbar mit Wasser aus dem Hahn oder einem Boiler. Er sprach auch über den Zustand des Hauses allgemein und im Besonderen über einen möglichen Schädlingsbefall, immerhin hielten wir Hühner, und die Bäckerei war gleich nebenan, »Ideale Bedingungen für Plagegeister aller Art«, wie er fand. Darüber hinaus bereitete ihm Kopfscherzen, dass der enge Heizungskeller praktisch keine Belüftungsmöglichkeit hatte und das Treppengeländer bereits ziemlich wacklig war, solche Sachen.

Meine Mutter bot ihm einen weiteren Heißwasserdrink an, und er sagte nicht nein. Meine Mutter fragte nach dem Grund für die exorbitante Flüssigkeitszufuhr. Mr Lomax sagte, er habe an einer Analfissur zu knapsen, da sei weicher Stuhl Pflicht. Spätestens in diesem Moment muss meiner Mutter klar geworden sein, dass sie an diesem Kerl nichts zu verlieren hatte, deshalb inszenierten wir eine kleine Szene für ihn aus ihrem Stück. Das taten wir öfter, wenngleich nicht vor Publikum, aber das machte es jetzt nur umso reizvoller.

Es war die Szene, in der das Scheidungspaar über das Sorgerecht für den kleinen Labrador streitet.

Roderick (gespielt von meiner Mutter): Und ich kriege Debbie.

Adele (ich): Nein, kriegst du nicht. Debbie mag mich viel lieber.

Roderick: Du kriegst schon die Kinder.

Adele: Debbie bleibt bei mir. (Hält Debbie umklammert.) Du kannst den Toaster mitnehmen.

Roderick: Du tust ihm weh. (Zieht an Adeles Arm.)

(Die beiden ringen miteinander.)

Roderick: Gib ihn her.

Adele: Nein.

(Roderick lässt los und stürmt hinaus. Adele drückt Debbie fest an sich.)

Da der Kampf um Debbie mit vollem Körpereinsatz geführt wurde, war die Vorstellung ziemlich anstrengend. Wir unterbrachen sie für eine kurze Pause, unsere Mutter brauchte eine Zigarette. Ich nutzte die Gelegenheit, eine kleine Kritik anzubringen (Roderick nennt Debbie »ihn«, obwohl wir doch wissen, dass es sich um eine Hündin handelt), doch meine Mutter meinte, das sei Absicht. Sie wolle zeigen, sagte sie, was Roderick für ein gedankenloses Arschloch sei, ohne jeglichen Bezug zu dem Hund. Vehement drückte sie ihre Zigarette aus, aber da sie erst halb geraucht war, brach sie am Filterstück, und die weiße Hälfte qualmte giftig weiter. Ich wusste nun, unsere Mutter war bereit weiterzumachen, und ich kündigte den nächsten Akt an, Titel: »Und raus ist er.« Aber zuvor verabschiedete sich Mr Lomax.

Während er sich in seinen Anorak quälte, sagte er noch, er kenne da jemanden, der gerade seine Zulassung für Gasinstallationen verloren habe, aber ansonsten bestens geeignet sei, die besprochenen Reparaturen auszuführen. Seine Visitenkarte wollte Mr Lomax bei Gelegenheit in den Briefkasten werfen. Dann ging er zu seinem schräg geparkten Auto.

»Komischer Typ«, sagte meine Mutter. Was ich nur bestätigen konnte.

»Minderbemittelt«, sagte meine Schwester, der das Wort offenbar gefiel.

»Monsterkrabbe«, sagte Jack, der selten seine Meinung änderte.

Ich glaube, ich sollte einmal die Leidenschaft meiner Mutter für Theatertexte erklären, die Gelegenheit ist günstig. Also: Meine Mutter hatte bis zur Trennung von meinem Vater überhaupt nur ein einziges Erfolgserlebnis im Leben. Sie hatte einmal (mit sechzehn) den ersten Preis für ein Theaterstück namens Der Planet gewonnen. Ein Stück, das sie sich ganz allein ausgedacht und geschrieben hatte und das dann bei einem Schreibwettbewerb den ersten Preis holte. Der Preis bestand darin, dass besagtes Stück eine ganze Woche lang von einer Studententheatertruppe aufgeführt wurde.

Dabei war meine Mutter eigentlich nicht die geborene Schriftstellerin. Schon das Schreiben hatte ihr nie sonderlich viel Spaß gemacht, denn trotz des aufregenden Titels war die Handlung eher »banal und düster« – und das waren ihre eigenen Worte. Da aber banale und düstere Inhalte bei der Theaterkritik damals angesagt waren, lobte man ihr Werk für seine Reife und Tiefe. Und für die düstere Handlung entschädigte sie die Aufmerksamkeit, die sie von allen Seiten bekam. Kurz, Struktur und Dialogführung waren brillant, und sie selbst nichts weniger als ein Genie, hieß es.

Da ihr eigenes Leben nach einiger Zeit jedoch in Trostlosigkeit zu versinken drohte (die einzigen Lichtpunkte waren die Geburt ihrer Kinder, die Abende vor dem Kamin und immer wieder der Whisky), wurde der Drang übermächtig, an den alten Erfolg anzuknüpfen und ihr Dasein wieder so aufregend zu machen wie ehedem. Kaum war mein Vater weg, wurde das Stückeschreiben zu einer täglichen Übung. Allerdings war ihr neuestes Stück im Grunde nichts weiter als der gespielte Witz ihres aktuellen Daseins und bestand zum großen Teil aus aufgebauschten Eheszenen, die die Misere meiner Mutter erklären beziehungsweise heilen sollten. Wie auch immer, es war ihr persönliches Drama. Ab und zu versuchte sie sich an einer Prosaversion oder gar an einem Gedicht, doch an dem Thema (sie selbst) änderte es nichts.

Zuweilen half das. Dann sprühte sie vor Ideen und rannte aufgeregt durchs Haus, um uns zu holen, ihre neuesten Einfälle nachspielen, statt im Fernsehen Dick Emery anzugucken. An diesen Tagen hassten wir ihr Stück. An anderen Tagen jedoch fehlte ihr schlicht die Kraft, sich schreibend gegen ihr Elend zur Wehr zu setzen (meistens, wenn sie zu spät aufgestanden oder zu betrunken war), in diesen Momenten sehnten wir uns nach ihrem Stück und danach, dass sich das Haus wieder in eine Probebühne verwandelte.

Hauptfigur des großen Dramas war meine Mutter. Sie wurde immer von mir gespielt, weil ich dieselbe Stimme, dieselben Gesten hatte wie sie. Meine Mutter übernahm den männlichen Part, weil sie größer war als wir – anscheinend eine Haupteigenschaft von Männern. Diese Rollenverteilung führte dazu, dass wir uns permanent anschrien oder körperlich attackierten.

Meine weniger begabte Schwester verkörperte die anderen Figuren, Lehrer, Nachbarn usw. Mein Bruder Jack trat nur sporadisch auf, in kleinen, aber wichtigen Rollen, als Krankenwagenfahrer, Richter oder Apotheker.

Auch wenn mir bei ihrem Stück nicht wohl war, musste ich zugeben, dass es erstaunlich gut geschrieben war, witzig, clever, sehr an der Wirklichkeit orientiert. Zumindest war es nicht schlechter als das, was man auch sonst im Fernsehen oder auf der Bühne sah, die Gesellschaftsstücke von Terence Rattigan vielleicht ausgenommen. Bei Terence Rattigan wurde nie viel erklärt, aber die Figuren verrieten auch so, was los war. Bei meiner Mutter hingegen wurde jeder Konflikt direkt ausgesprochen, zuweilen durchbrachen die Charaktere sogar die berühmte vierte Wand und richteten das Wort unmittelbar an das Publikum, was in meinen Augen Schummelei war. Aber all das störte mich nicht annähernd so, wie es meine Schwester störte. Nur sollte sie einmal mehr recht behalten. Irgendwann waren auch Jack und ich von dieser larmoyanten Art nur noch genervt.

4

Bei der anschließenden Bewertung der Lomax-Aktion überwogen die selbstkritischen Töne, und das zu Recht. Auf jeden Fall hatten wir das große Ziel klar verfehlt. Und dieses große Ziel war: Zwei erwachsene Menschen nach dem gemeinsamen Alkoholgenuss zum Beischlaf zu bewegen, woraus erst eine Gewohnheit entstehen sollte und später eine Verlobung und noch später eine Eheschließung. Aber durch schlechte Planung und stümperhafte Ausführung war uns der Kandidat entwischt, und das schmerzte.

Mag sein, er war nicht der ideale Ehemann, doch das änderte nichts an unserem Versagen, da waren wir durchaus streng mit uns.

Es war zum Beispiel ein Fehler gewesen, ihm keine Schnittchen anzubieten, und die fehlende Musik war der romantischen Stimmung ebenfalls nicht förderlich gewesen. Nach allem, was ich von Männern wusste, konnten sie Schmach überhaupt nicht vertragen. Männer brachten es nicht, wenn sie hungrig waren, und besonders brachten sie keinen Geschlechtsverkehr zustande. Daran konnte unsere Theatervorstellung natürlich auch nichts mehr ändern, im Gegenteil, die Show dürfte ihn endgültig verjagt haben, vor allem die peinliche Szene mit Debbie, denn sie war mittlerweile so ein Brocken, dass man sie kaum gehoben bekam.

Wir ließen deswegen aber nicht den Kopf hängen. Meine Schwester holte die Kandidatenliste hervor, strich Mr Lomax und setzte stattdessen den Namen Bernard ein, den Chauffeur meines Vaters. Ich fand das nicht richtig, denn bekanntermaßen konnten sich Bernard und meine Mutter nicht ausstehen. Meine Schwester verwies jedoch auf den schmalen Grat zwischen Liebe und Hass und darauf, dass es viel wahrscheinlicher sei, dass man mit jemandem Beischlaf hat, den man abgrundtief hasst, als mit jemandem, der einen in jeder Hinsicht kaltlässt. Bei der Heirat dasselbe. Ein verstörender Gedanke, je länger ich darüber nachdachte.

Getreu dieser Maxime setzten wir auch Denis auf die Liste, früher Automechaniker, heute (mit seinem Ford Zodiac) Betreiber unseres Dorf-Taxis. Meine Mutter konnte ihn ebenfalls nicht ausstehen,

Zwischendurch fragte ich mich, ob es nicht einfacher wäre, wenn wir uns für die Wiedervereinigung unserer Eltern einsetzten, aber meine Schwester hielt das für keine gute Idee. Zum einen, weil sich an dem Scheidungsgrund nichts geändert hatte, sie waren noch immer wie Hund und Katze. Zum anderen, weil die Erinnerung an ihn bereits verblasste. Bei Scheidungsvätern war das damals so. Sie machten kein Theater um ihre Kinder, sondern blieben nach der Trennung auf Distanz, aus Zurückhaltung oder meinetwegen auch aus purer Bequemlichkeit. Eigentlich war es selbst bei ungeschiedenen Vätern nicht anders. Als Vater verbrachte man seine Freizeit nicht mit den Kindern, der Sonntagsbraten oder ein Ausflug mit Picknick dann und wann waren das höchste der Gefühle. Ansonsten aber kamen die Väter im Leben der Kinder nicht vor, und kleine Jungs wie Little Jack litten darunter. Denn so gab es niemanden, der ihnen zeigte, wie man eine Bäckertüte knallen ließ, oder erklärte, warum die Nationalmannschaft von Ecuador schlechter war als die von Deutschland (West). Nicht dass unser Vater dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre, aber vom Prinzip her hätte es so sein können. Doch wenn die Väter schon im Privaten durch Abwesenheit glänzten, so waren sie bei öffentlichen Anlässen erst recht unsichtbar. Auf Elternabenden, Sportfesten, Schultheateraufführungen oder Ausstellungen waren sie nie zugegen, und auf diese Weise nahmen sie weder an den Erfolgen noch den Misserfolgen ihrer Kinder Anteil. Für meine Schwester war das besonders hart, denn unser Vater kapierte nie, wie gut sie eigentlich in der Schule war. Erzählte sie hingegen von sich aus davon, klang es wie Angeberei und ging damit allen Beteiligten auf die Nerven. Irgendwann ließ sie es dann.