Ein Mord – drei Tote - Ingo Bartsch - E-Book

Ein Mord – drei Tote E-Book

Ingo Bartsch

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Beschreibung

Eine tote Influencerin, mafiöse Politik und Terrorismus Adam Götzki vom BKA in Berlin ist psychisch am Ende. Um beruflich wieder auf die Beine zu kommen, soll er für eine Weile beim LKA im beschaulichen Mainz arbeiten, wo ihn gleich der erste Fall erwartet: Eine Influencerin liegt erschlagen in ihrer Wohnung. Die Staatsanwaltschaft klagt den erstbesten Verdächtigen an, doch Götzki sucht weiter nach Antworten. Schnell wird ihm klar, dass die schillernde Influencerin ein Doppelleben geführt hat. Als er der Spur folgen will, wird er von seinem Vorgesetzten zurückgepfiffen. Aber die unheilvollen Ereignisse, die sich in Gang gesetzt haben, sind nicht mehr aufzuhalten.

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Ingo Bartsch

Ein Mord – drei Tote

Kriminalroman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch connACT lit.agency GmbH, Köln.

Umschlaggestaltung: finken & bumiller | buchgestaltung und grafikdesign

unter Verwendung des Bildmotivs shutterstock.com/fran_kie

Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

eISBN 978-3-98708-012-8

Ingo Bartsch wurde 1980 in Kassel geboren und arbeitete lange als Journalist, Redakteur und Texter im Rhein-Main-Gebiet. Inzwischen hat er auf Sozialarbeiter umgeschult und leitet ein inklusives Wohnprojekt. Mit seinen schwarzhumorigen Erzählungen und Romanen ist er seit Jahren auf Lesebühnen quer durch die Republik zu hören. Bartsch ist Mitveranstalter der Mainzer Lesebühne die Leselampe

1

»Natürlich gibt es wichtige Anrufe, Adam. Wenn Sie in jeder Sitzung angerufen werden und es nicht für nötig halten, Ihr Smartphone auf lautlos zu stellen, nein, Adam, so etwas kann man ein Mal vergessen, vielleicht ein zweites Mal, aber niemals … Wie dem auch sei, wenn Sie mit solch einer Gleichgültigkeit, ich muss sagen, Respektlosigkeit auftreten, Adam, also wenn Sie hier so auftreten, dann komme ich in Versuchung, Ihre Haltung zu spiegeln, und ich kann Ihnen garantieren, dass wir so keinesfalls in eine wertschätzende Interaktion treten können, um noch einmal die Frage aufzuwerfen, ob nicht ein Ortswechsel für Sie …«

»Vergessen.«

»Wie bitte?«

»Ich habe vergessen, mein Handy lautlos zu stellen. Tatsächlich schon wieder. Zum vierten Mal in Folge, ich weiß. Es muss absurd für Sie klingen und es tut mir leid, Angela …«

Angela Bertermann, die mit übereinandergeschlagenen Beinen dasitzt, umgreift mit den Händen ein Knie und kippt etwas nach vorn auf Götzki zu. Sie kündigt damit an, dass sie ihm jetzt etwas besonders eindringlich mitteilen möchte, dass das, was sie gesagt hat und in wenigen Sekunden wiederholen wird, wirklich wichtig ist und sie durchaus verstehen kann, wenn er etwas nicht sofort begreift, so wie eben, als sie es normal sitzend erklärt hat. Sie sieht ihn mit aufdringlicher Milde an und nickt dazu in Zeitlupe.

»Zum fünften Mal, Adam, ich glaube Ihnen nicht. Ich sage Ihnen das ganz offen. Sie wissen, dass ich Sie vorgezogen habe. Auf Ihrem Stuhl könnte in diesem Augenblick eine verzweifelte Studentin sitzen, die diese Therapiesitzung nötig hat. Sie können an jedem anderen Ort erreichbar sein, Adam, und an den wenigsten Orten wird man sich nicht von Ihnen ernst genommen fühlen, wenn Ihr Smartphone klingelt.«

»Angela«, beginnt Götzki und wird von seinem Telefon unterbrochen. Zerrt es aus der Hosentasche. Wie in einem Albtraum hilft alles Wischen und Tippen nichts, es klingelt einfach weiter. Wieder Ludwig Höhner. Warum?

»Ich werde das jetzt aushalten, Adam.« Angela spießt ihn unbeirrt mit ihrem sanftmütigen Todesblick auf.

Götzki bricht der Schweiß aus. Seine Finger verwandeln sich in knochenlose, zitternde Würmer. Er hört den Aufprall des Smartphones auf dem Fußboden als fernes Echo, eine Fülle von Klängen, ein buntes Klirren. Jemand rollt einen großen Stein vor den Eingang seiner Luftröhre. Ein Rollladen wird heruntergelassen, ein Trommelwirbel direkt am Trommelfell. Sein ganzer Körper, als würden zwei riesige Hände ihn zerknüllen wie ein Blatt Papier.

»Bitte bleiben Sie sitzen, Adam, ich hebe das für Sie auf.«

Kurz bevor es zu spät ist, wird der Stein gesprengt und der Rollladen nach oben gerissen. Götzki nimmt dankbar die staubsatte Zimmerluft auf.

Und atmet aus. Durch den Mund. Macht sich ganz leer. Und wieder ein. Durch die Nase. Öffnet Herz und Brustraum.

»Letzte Woche, irgendwo in der rheinhessischen Provinz. Dem Gutachter zufolge war er mit knapp zweihundert Sachen unterwegs. Ein Traktor bog aus dem Feldweg. Er war zu schnell, konnte weder ausweichen noch bremsen. War sofort tot.«

Götzki fehlen das Ende der Therapiesitzung und der Weg zu Höhner ins BKA. Er würde gerne wissen, ob er mit den Öffentlichen oder dem Auto gekommen ist. Kann aber niemanden fragen. Das Auto könnte irgendwo in der Umgebung stehen. Oder vor der Praxis in Kleinmachnow, fünfundzwanzig Kilometer weit weg. Ist ihm schon mal passiert, Pkw während einer Erinnerungslücke abgestellt und dann stundenlang gesucht.

»Ein Bein von ihm lag über hundert Meter von der Unfallstelle entfernt. Das war so ’n kleiner Traktor, mit denen die dort zwischen den Weinreben rumfahren. Die Dinger sind mickrig, nicht zu vergleichen mit richtigen Traktoren. Was meinst du?«

»Zu dem Traktor?« Tief einatmen, durch die Nase.

»Nein, zu der frei gewordenen Stelle beim Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz. Der Mann war Operativer Fallanalyst. Wie du.«

Ausatmen. Nabel einsaugen. Götzki geht einmal die Woche zum Yoga, Empfehlung von Angela. Er liebt die Atemtechnik. Hätte es gerne ohne besonderen Anlass entdeckt, in etwa so, wie er während seines Psychologiestudiums übers Schachspielen gestolpert ist oder wie er vor zehn Jahren so beiläufig wie versehentlich zum Squash kam. Beides geht im Augenblick nicht. Seine Konzentration ist wie ein Zug, auf dessen Strecke plötzlich Schienen fehlen. Nimmt Fahrt auf, fährt stabil, auf einmal Entgleisung und aus.

»In dieser psychischen Ausnahmesituation und dann deine Verfolgungsgedanken. Mal für eine Weile raus aus Berlin. Das ist eine Chance.«

»Ich bin in keiner Ausnahmesituation. Und das, was du Verfolgungsgedanken nennst, sind ganz nüchterne Beobachtungen – nett übrigens, dass du nicht von Wahn sprichst. Habe ich dir schon von der Ratte an meinem Rückspiegel berichtet? Der toten Ratte? Am Schwanz aufgehängt, mit einem Haargummi befestigt? Glaubst du, ich hänge mir selbst so eine Deko ins Auto, Ludwig?«

Höhner, ein Knie umklammernd, kippt auf Götzki zu. Bei ihm eine Geste der Beschwichtigung. »Natürlich nicht, Adam, das war mehr so … falsch ausgedrückt. Man könnte eher sagen, dass es Wahnsinn ist, dass du in Berlin unter diesen Bedingungen leben musst.«

»Als würde ich bei meiner Therapeutin sitzen.«

»Du sagst selbst, dass deine Therapeutin einen Ortswechsel vorschlägt. Warum bist du nicht einfach froh über eine solche Gelegenheit?«

»Hatte ich meinen Autoschlüssel in der Hand?«

»Wie bitte?« Ludwig Höhner nimmt seine Brille ab, als könnte er den Sinn dieser Frage ohne Brille begreifen.

»Schon gut. Jedenfalls möchte ich nicht nach Mainz gehen. Ich habe gar keine Vorstellung von dieser Stadt. Was soll ich dort?«

»Du warst oft genug in Wiesbaden. Mainz liegt direkt daneben.«

»Ist mir nie aufgefallen.«

Ludwig Höhner steht auf, dreht sich um, läuft zum Fenster. Götzki verfolgt die Bewegung des athletischen Methusalemkörpers. Sehnige Muskulosität, die das weiße Hemd verbeult, aber nicht aufbläht. Leuchtend weiße Haarwellen, die sich Richtung Nacken stürzen. Körperhaltung wie ein Fahnenmast. Ein Vorbild. So möchte Götzki auch aussehen mit … Wie alt ist Ludwig? Zweiundsechzig? Achtzig? Einundfünfzig? Pfeifenraucher – bis wann haben sich Männer dieses spezielle Laster noch zugelegt? Ludwig darf hier drin nicht rauchen, auch nicht Pfeife, auch nicht am offenen Fenster, auch nicht nur hin und wieder. Götzki erinnert sich an Ludwigs emotionale Rede im kleinen Kreis zum fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum des Brandschutzbeauftragten. Sein Langzeitgedächtnis funktioniert wie ein robuster alter PC mit pedantisch aufgeräumtem Diskettenarchiv. »Du trägst eine enorme Verantwortung, Peter, und beschützt uns still und unbemerkt wie ein sorgender Vater seine schlafenden Kinder. Für mich bist du ein leiser Held, lieber Peter.«

Konzentriert saugt Ludwig die Flamme in den Pfeifenkopf, gibt Paff- und Schmauchgeräusche von sich, dazu ein »Hm«. Er nimmt den Rauch auf, natürlich nicht auf Lunge. Er quillt wie eine weiße Tintenfischwolke aus seinem Mund. Aus diesem Nebel spricht er zu Götzki.

»Der Chef des rheinland-pfälzischen LKA ist ein alter Freund von mir noch aus Bundeswehrzeiten. Ein feiner Kerl. Manchmal etwas steif im Auftreten. Dafür unkompliziert in der Zusammenarbeit, das kannst du mir glauben. Ich habe ihm von dir erzählt, auch, was du geleistet hast und welch ein begnadeter Analytiker du bist, und er sagte: ›Alles klar, schick mir den Mann.‹«

»Schön, Ludwig. Und woran arbeite ich in Rheinland-Pfalz? Obstdiebstahl? Ist nicht Rheinland-Pfalz das Bundesland ohne Großstädte?«

»Bitte, Adam, diesen Zynismus hast du nicht nötig. Selbstverständlich Operative Fallanalyse. Im Augenblick sind sie dort hinter der Autoteilemafia her, da kann er dich gut gebrauchen. Das ist die perfekte Wiedereingliederung. Freundliche Provinz. Verbrechen ohne Entführung, Folter und Vergewaltigung. Und wenn wir feststellen, dass du vierzig Stunden konzentriert arbeiten kannst, steigst du wieder bei uns ein.«

»Autoteilemafia.«

»Die bauen Lenkräder und Navigationssysteme aus hochwertigen Autos aus und …«

»Das ist mir klar.«

»Sie können jemanden mit deinem Verstand und deiner Fachkompetenz passgenau einsetzen. Übrigens alles topkompetente Leute, Vollprofis.«

»Was ist mit meiner Tochter?«

Höhner dreht sich zurück, legt Götzki eine Hand auf die Schulter. »Ich habe persönlich dafür gesorgt, dass sie beschützt wird. Diskret und effektiv, rund um die Uhr. Bis wir wissen, wer dir nachstellt.«

Götzki kaut auf der Unterlippe herum. Eine noch recht junge schlechte Angewohnheit.

»Mainz …«, murmelt er. »Absurder Gedanke.«

»Adam, du bist einer der Besten, und zwar aufgrund deiner Offenheit. Du hast dir alles angesehen, alles in Betracht gezogen, jeder noch so absurden Option eine Chance gegeben. Das war deine Art, die Arbeit des BKA immer dann voranzubringen, wenn es nicht weiterzugehen schien. Alle sind sie an dem Weg vorbeigelaufen, ohne ihn zu sehen, oder haben ihn für eine Sackgasse gehalten. Und du? Du bist abgebogen und hast die Tür gefunden, mit der niemand gerechnet hat. Du hast auf das Unglaubliche spekuliert und recht gehabt. Warum sollte das nicht in deinem Privatleben funktionieren?«

»Ich behaupte nicht, dass das kein Weg ist, den du mir eröffnen möchtest. Allerdings führt dieser Weg in einen Abgrund. Und ich befinde mich schon in einem, aus dem ich gerade versuche rauszuklettern.«

»Bei allem Respekt vor deiner Situation, Adam, aber findest du deine derzeitige Grundeinstellung nicht etwas negativ?«

Götzki steht auf. Besser das Gespräch abbrechen. Die Sache mit seinem Transportmittel macht ihn nervös. Er grübelt. Den Autoschlüssel ertastet er in der rechten Sakkotasche. Als Linkshänder verschließt er den Wagen grundsätzlich mit links und steckt den Schlüssel in die linke Tasche. Bedeutet dieses Detail, dass er ohne Wagen gekommen ist? Vielleicht ist ihm der Schlüssel runtergefallen und er hat ihn mit rechts aufgehoben. Schließlich lässt er öfter Dinge fallen, weil sich seine kräftigen Hände mit den langen Fingern urplötzlich in leere Gummihandschuhe verwandeln.

»Du gehst? Adam, versprich mir, dich ernsthaft damit zu befassen.«

Sein Mund klappt auf, er starrt Höhner an. »Befassen? Womit?«

Höhner lacht sein Golfplatzlachen, gebleacht-kraftstrotzendes Gebiss, umrahmt von einer Altersbräune, die schimmert wie teures Leder. »Du und dein finsterer Humor! Bruno sagt, es ist wichtig, dass du dich innerhalb der nächsten Woche entscheidest. Scheint da intern Leute zu geben, die schon nach der freien Stelle geifern. Pietätlos, wenn du mich fragst. Der arme Kerl ist gestern erst beerdigt worden.«

»Jetzt stehen etliche Grablichter und Kuscheltiere vor der Tür und auf dem Fußabtreter liegen Kondolenzkarten. Deswegen verlässt sie die Wohnung nicht mehr. Sie sagt, sie will nicht an den Tod erinnert werden, wenn sie den Müll rausträgt oder den Briefkasten leert oder einkaufen geht.«

»Warum steht denn von dem Zeug so viel dort rum?«

Sich selbst fragt er: Warum stehe ich hier rum und weiß nicht, wie ich hergekommen bin?

»Die tote Nachbarin war wohl sehr beliebt bei den anderen Leuten im Haus. Mama hat sich ja nie integriert, deshalb erinnern die Sachen sie nicht an die alte Frau, sondern an ihren eigenen Tod.«

»Guter Gedanke. Also, nicht die Todesangst deiner Mutter, sondern deine Ursachenanalyse.« Götzki spürt väterlichen Stolz. »Gehst du heute zu ihr?«

»Morgen wieder. Im Moment jeden zweiten Tag. Ich würde gerne jemanden fragen, ob die Sachen entfernt werden können. Die Frau ist schon seit einigen Tagen tot. Aber an wen soll ich mich wenden? Es ist ja nicht eine einzelne Person für diese Deko verantwortlich.«

»Gibt es nicht eine Hausverwaltung oder so was?«

»Nein. Nur einen alten Mann, der kein Wort Deutsch spricht. Mama will nichts mit ihm zu tun haben, ich soll ihn auf keinen Fall ansprechen. Er ist ein untergetauchter serbischer Kriegsverbrecher, behauptet sie.«

Maja wiederum ist eine strahlende, fröhliche Elfe, die durch eine graue, stinkende, apokalyptische Welt tanzt. Es fiel Götzki zum ersten Mal auf, als er begriff, wie grau und stinkend und blutverschmiert und giftig und bedrückend diese Welt sein kann. Seither bewundert er dieses Kind, hervorgegangen aus der Vereinigung zweier Menschen, die inzwischen mehr oder weniger Wracks sind, demolierte Seelen, stotternde und funkensprühende Gehirne.

»Ich frage mich, woher sie immer diese Geschichten holt. Untergetauchter Kriegsverbrecher. Kameras in Vogelhäuschen. Spionagesoftware in Küchengeräten.«

»Facebook«, sagt Maja und rollt die blauen Augen, die sie eindeutig von ihrer Mutter hat. »Deshalb muss dieses Zeug im Treppenhaus verschwinden, damit sie wieder vor die Tür geht und an der Realität teilnimmt.«

Götzki nickt lächelnd, als könnte er sich das erlauben. Dabei ist er nicht besser als seine Ex, sofern überhaupt von gut die Rede sein kann. Er ist ebenfalls umgeben von täuschend echten Thrillergeschichten und flüsternden Schatten. Fühlt sich ständig beobachtet und verfolgt. Allerdings näher an der Realität als Katha, nah bis zur Greifbarkeit. Manchmal kann er die Verfolgung tatsächlich anfassen, kann sie aufheben und betrachten. So wie die Patronenhülse, die gestern neben seinem Wagen die Abendsonne reflektiert hat. Jetzt ertastet er ihre Form durch den Stoff seiner Hosentasche. Vollkommen real. Wie soll er Maja nur beibringen, dass er Berlin verlassen muss?

»Guck mal, wer heute für uns vorkocht.«

Sie hält ihm ihr Tablet hin. Eine strahlende Mittzwanzigerin im Dead-Kennedys-Tanktop mit Pferdeschwanz und einer Brille, die irgendwie antik aussieht. Hi, ihr Lieben! Wenn ihr achtsam und wertschätzend mit euch selbst umgehen wollt, empfehle ich euch, schon beim Essen darauf zu achten. Wie euch die Healthy-you-Produkte von b-care dabei unterstützen können, verrate ich euch am Ende des Videos oder klickt einfach auf den Link unten. Ich habe euch heute eines meiner Lieblingsrezepte mitgebracht und ich schwöre, in nicht einmal zwanzig Minuten habt ihr ein superleckeres, megabekömmliches …

»Ihr Vorwort dauert also länger als die Zubereitung«, stellt Götzki fest.

»Chill, Papa. Du musst dir das nicht geben. Hauptsache, du isst es. Wie oft hattest du diese Woche Döner?«

»Dreimal nur.«

»Wir haben Donnerstag.«

Jeden Tag Junkfood. Jede Nacht Sodbrennen. Gelbe-Säcke-weise Styroporboxen und Plastiktüten. Natürlich sieht es aus, als würde er sich gehen lassen. Dabei ist es nur sicherer, die Straße runter- und zehn Minuten später mit einem fertigen Mittagessen wieder raufzugehen, als hungrig vor einem Haufen guter Kochabsichten zu stehen und vor lauter Kopfweh und Konzentrationsstörungen nicht mal einen Topf auf den Herd zu stellen.

»Wer ist die Dame, die unser Essen vorkocht?«

»Eine Influencerin. Sie gibt Tipps, wie man ohne viel Geld und mit kleinem Aufwand einen gesunden und klimafreundlichen Lifestyle haben kann. Echt gut. Ich schicke dir den Link. Am besten, du abonnierst ihren YouTube-Kanal. Das wäre safe was für dich, sie hat unter anderem unglaublich viele Yogaroutinen für Anfänger*innen.«

Das Gendersternchen hallt noch in seinem Kopf nach, da vibriert schon sein Smartphone. Er würde auch gerne so konsequent gendern. Hat ein paarmal in Gesprächen versucht, es ganz einfach zu tun, und festgestellt, dass er sich aufgrund kurzer, irritierter Blicke von Vertreter*innen der althergebrachten Mehrzahlbildung fühlte wie jemand, der zur Konversation laut gefurzt hat. Und so traut er sich meist selbst in Gegenwart seiner fortschrittlichen Tochter nicht. Bloß wenn er Vorträge hält im Job, wenn er vorm Team in ungehindert fließender Rede die Ergebnisse seiner an Ausdauerdenksport grenzenden Arbeit präsentiert, dann spricht Götzki wie selbstverständlich von Täter*innen, Zeug*innen, Kolleg*innen.

»Bist du noch auf zehn Stunden? Woran arbeitest du gerade?«

»Ja, mehr als zehn will Ludwig mir nicht geben. Ich habe ein paar Cold Cases, die ich mir ansehen soll. Ist eher Beschäftigungstherapie. Ich schnüffele in der Zeit herum, in der deine Großeltern kaum älter waren als du jetzt. Mein jüngster Fall ist ein Leichenfund von 1979, der mit der RAF in Verbindung gebracht wird.«

»Hört sich doch spannend an.«

»Lass es mich so ausdrücken: Weder Kinderpornoringe noch kriminelle Clans oder die mexikanischen Drogenkartelle, die sich gerade bei uns ausbreiten, setzen personelle Ressourcen ein, um sich mit spannenden alten Angelegenheiten zu befassen.«

»Schon klar. Aber es tut dir sicher gut, nach deinem Burn-out eine Weile Pause zu machen. Wie lief deine letzte Therapiesitzung?«

»Wie immer, wir haben viel geredet, viel reflektiert, weißt du?«

Das ist die Version für Familie und Freundeskreis: Diagnose Burn-out, daher Arbeitszeitreduzierung und eine sinnvoll dosierte Anzahl psychotherapeutischer Sitzungen. Begriffe wie Verfolgung, Angstattacken, Gedächtnisverlust, Kreislaufzusammenbrüche, Nachtschweiß gehören nicht dazu.

Der nachtragende Mann, der Götzki seit Monaten in solcher Weise zusetzt – mutmaßlich, nicht nachweislich –, bewahrte seine Familie ebenfalls vor Wissen, das sie (Frau, zwei Töchter, ein Sohn) bloß beunruhigt hätte, mindestens beunruhigt, wenn nicht erschüttert und verängstigt. Lev Mammadov. Ein freundlicher Berliner Autohändler, der Gebrauchtwagen nach Russland exportiert und ein gehobenes Spießbürgerdasein gefristet hatte bis hin zum Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Schulelternbeirats am Privatgymnasium seiner ältesten Tochter.

Mammadovs zweite Tochter und sein Sohn waren noch im Grundschulalter, als seine Kollegen auf diesen nie auffällig gewordenen Menschen stießen, und zwar weil Götzki zwei Dutzend Ermittlungsschritte vorher einer Tätowierung auf dem Unterarm eines per Kopfschuss von hinten Hingerichteten unterstellt hatte, nicht die offensichtliche Spur ins Rockermilieu zu sein, nach der sie so sehr aussah, sondern eine Finte, die von dem eigentlichen Mörder und seinen Beweggründen ablenken sollte. Die Verbindung war schließlich der Freund eines Cousins des Getöteten. Der vermietete ein umzäuntes Grundstück an einen Beauftragten Mammadovs. Darauf lagerten die gebrauchten Pkw zwischen, die der Händler Lkw-weise in sein Geburtsland verfrachtete. Als man dem Namen Lev Mammadov begegnete, wurde der unbescholtene Autohändler zunächst nur zu einer weiteren Person in einem Pulk, ein Niemand mit halbseidenen Zufallsbekanntschaften, ein kleiner Punkt in einem Gewimmel.

Höhner höchstpersönlich erkundigte sich damals wiederholt bei Götzki, wie lange er noch aufgrund einer kühnen These Daten anzuhäufen und auszuwerten gedachte. Eine Präsentation seiner Überlegungen weit abseits der klischeehaften Unterwelt löste kollektives Kopfschütteln aus, ein solch kriminelles Großunternehmen wollte niemand in der Mitte der Gesellschaft verorten. Götzki, von Überstunden zermürbt und verzweifelt, holte bereits aus, um die Tattoo-Finten-Flinte im hohen Bogen ins Korn zu werfen.

Doch über Mammadov wollte er sich noch einmal den Kopf zerbrechen, der Vollständigkeit halber, nicht mal wegen eines geringen Verdachtsmoments oder eines vagen Gefühls, sondern aus Zwanghaftigkeit und womöglich auch als Trotzreaktion gegen den nörgelnden Höhner und das zweifelnde Kollegium. So kritzelte Götzki, vom vielen Instantkaffee zur späten Stunde mehr krank als wach, den Namen Lev Mammadov auf einen Collegeblock, ohne zu ahnen, dass es sich dabei um den Kopf eines Menschenhändlerrings handelte, der ganz Westeuropa mit Zwangsprostituierten aus der ehemaligen Sowjetunion versorgte.

Entgegen seiner Funktion begann Götzki damals, selbst zu ermitteln, und er erinnert sich dokumentarfilmisch exakt an seine Recherchen: wie er über das Handelsregister herausfand, dass Mammadov neben dem Autohandel eine Immobilienverwaltungsfirma betrieb. Wie sich erwies, dass die Dienste dieser Firma von nur einem einzigen Kunden in Anspruch genommen wurden, einem russischen Multimillionär, der diverse Immobilien in ganz Berlin hält. Wie Götzki feststellte, dass das Erdgeschoss einer dieser Liegenschaften ein Tattoostudio beherbergte, dass der Geschäftsführer dieser Unternehmung der Bruder eines wegen Totschlags in einer niedersächsischen JVA inhaftierten Georgiers ist und dass jener verurteilte Georgier, über seine mutmaßlichen Verstrickungen in mafiöse Angelegenheiten beharrlich schweigend, seine Strafe, ohne mit der Wimper zu zucken, in voller Länge verbüßte.

Ab diesem Punkt verließ der ausdauernde Taucher Adam Götzki die lichtdurchflutete Zone und glitt hinab in die finstere Tiefe der Organisierten Kriminalität, einen Marianengraben des Verbrechens, an dessen entlegenstem, lichtlosestem Punkt sich Lev Mammadov in Sicherheit wähnte und nicht damit rechnete, dass ein ehrgeiziger Polizist auf dem Weg zu ihm war.

Götzki erinnert sich ebenfalls, wie kühl und wortkarg Mammadov die Kollegen und zuletzt ihn in sämtlichen Verhören abblitzen ließ und wie er dennoch das Erstaunen und die Wut dieses Mannes darüber, dass er entdeckt worden war, hatte spüren können.

Fast fünf Jahre ist es her, dass er auf den Namen Lev Mammadov stieß. Seine Ermittlungsergebnisse wurden damals von einem ganzen Ameisenhaufen emsiger Kollegen aufgegriffen und weiterverarbeitet, bis schließlich ein Streufeuer aus Razzien in ganz Europa und die Redebereitschaft mehrerer Kronzeugen dazu führten, dass Mammadov aus seinem Winkel im kriminellen Marianengraben an die Oberfläche gezerrt und der Justiz übergeben wurde.

Als das geschah, war Götzki kaum mehr in den Fall involviert. Dennoch ist er überzeugt, dass sich Mammadov an ihn als denjenigen erinnert, der beim Ermittlungsdomino den ersten Stein umgeschubst hat. Für jemanden von Mammadovs Rang ist es ein Leichtes, vom Gefängnis aus Menschen zu stalken und zu bedrohen. Götzki fürchtet noch nicht um sein Leben. Er geht davon aus, dass Mammadov, sollte er die Absicht haben, ihn zu töten, und auch davon geht er aus, es persönlich tun möchte, also erst in etwa acht bis zehn Jahren dazu kommen wird.

Eine lange Zeit, bei genauer Betrachtung vor allem Zeit, den einzigen vernünftigen Schritt vor sich herzuschieben: weg aus Berlin. Leise verschwinden, um irgendwo anders ein unauffälliges Leben zu führen und der Gefahr, plötzlich in ein Auto gezerrt, in einen schalldichten Keller verschleppt und dort von einem vergeltungshungrigen Menschenhändler zu Tode gefoltert zu werden, aus dem Weg zu gehen.

Was Götzki dabei Schlafstörungen und Appetitlosigkeit verursacht und eine permanente Sorgenfalte zwischen die Brauen meißelt, ist Maja. Weiß Mammadov von seiner Tochter? Das Problem ist, dass Götzki nicht einfach in die JVA spazieren kann, um ihn zu fragen. Und selbst wenn er dieses absurde Gedankentheater auf der Bühne der Wirklichkeit aufführte, wäre das Letzte, was er zu erwarten hätte, ein vertrauenswürdiges Nein.

So bleiben ihm das chronische Unwohlsein und die Flucht in Tagträume, in denen das latente Problem Mammadov im Knast von multiresistenten Keimen erledigt wird. Oder in denen sich der clevere Fallanalytiker Adam Götzki zu wichtig nimmt und in Anflügen naiver Paranoia glaubt, der High-End-Gangster könnte sich ausgerechnet noch an ihn, einen von vielen Kriminalisten, erinnern.

Götzki ist sich tatsächlich uneingeschränkt sicher, dass sich Lev Mammadov an ihn erinnert. Am schwersten erträgt er die Angst um Maja. Doch mit dieser Angst vor etwas Unbewiesenem möchte er sie genauso wenig belasten, wie er sie mit seinem plötzlichen Vorhaben konfrontieren will, eine Stelle in Mainz anzunehmen.

»Jetzt dissoziierst du schon wieder.«

»Ich denke nur nach.«

»Hast du mitgekriegt, was ich gesagt habe?« Sie hält ihm einen Schlüsselanhänger vors Gesicht, ein kleines braunes Plüschtier an einem silbernen Kettchen. »Ich hab die Kleene wieder abgehängt. Weil du gesagt hast, du willst nicht, dass was am Rückspiegel baumelt.«

»Die Ratte«, murmelt Götzki.

»Glücksratte. Ich dachte, so ’n Talisman würde ein bisschen positive Vibes abgeben. Wenn wir ehrlich sind, ich fahre viel häufiger mit dem Auto als du.«

Götzki fischt die Patrone aus der Tasche, schielt nach unten: eine .222 Remington, bezeichnenderweise ein zur Bejagung von Wild verwendetes Geschoss. Eine Botschaft an den schlauen Fuchs Götzki. Er presst Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger gegen das kühle Metall. Real. Zweifellos. Wobei er sich fragt, ob es Zweifellosigkeit in seinem Leben überhaupt noch gibt.

2

»Siehste, immer noch da. Ist sogar mehr geworden.«

Götzki betrachtet die bis auf eines erloschenen Grablichter, kitschigen Stofftiere und mit Filzstift auf Karton gebrachten Nachrufe, ohne stehen zu bleiben. Der deckellose Tetrapak Rotwein fällt zwischen all dem Plunder kaum auf. Gehört womöglich dazu.

Katha wohnt im dritten Stock. Immer noch die Zweizimmerwohnung im Wedding, die sie nach der Implosion ihres noch jungen Ehelebens bezogen hat. Ein wahres Schnäppchen dank gerade einmal zwei moderater Mieterhöhungen in sechzehn Jahren. Eine Bekannte von ihr, drei Häuser weiter, hatte sich das Leben genommen, als sich ihr kauziger Altbau in ein eisglattes Renditeobjekt verwandelte und sie ob der ungeheuerlichen neuen Miete zum Auszug zwang – behauptet Katha. Götzki fasst ihre Erzählungen mit spitzen Fingern an. Seine Ex-Frau berichtet einem nie Märchen. Aber sie vermengt ihre Darstellungen der Realität mit realitätstauglichen Elementen aus Märchen, was einen der Sachlichkeit und validen Fakten verpflichteten Zuhörer wie Götzki weitaus mehr verzweifeln lässt als eine waschechte Räuberpistole.

Katha öffnet die Tür mit langem Arm aus der Tiefe des dunklen Flurs.

»Du rauchst wieder in der Wohnung«, bemerkt Götzki.

»Und du hast noch mehr abgenommen.«

Sie hat recht.

Im Wohnzimmer das staubverschmutzte Licht halb geschlossener Lamellen. Katha tritt auf den Schalter der windschiefen Stehlampe mit dem metallenen Flamingohals, die ein Spotlight auf die im Fernseher eingefrorene Netflix-Serie wirft. Maja richtet einen verschnupften Blick auf den vollen Ascher neben der leeren Sektflasche und verkündet, in die Küche zu gehen, um Tee für alle zu kochen. Götzki sucht nach Hinweisen auf einen neuen Partner seiner Ex. Maja hat gesagt, sie weiß von nichts.

»Hör auf, mein Wohnzimmer zu inspizieren, und setz dich, Adam«, sagt Katha müde und gequält. »Hier hat sich nichts verändert im letzten halben Jahr.« Und noch gequälter, mit gereiztem Unterton: »Was willst du besprechen?«

»Lass uns warten, bis Maja bei uns ist. Es betrifft sie ebenfalls.«

»Ich kann dir gleich sagen, was meinen Lebensstil angeht, der ist allein meine Sache, wir sind seit vierzehn Jahren …«

»Seit sechzehn Jahren. Es geht nicht um deinen Lebensstil, keine Sorge. Der interessiert mich nicht.«

»Trotzdem bewegst du dich in meiner Wohnung wie ein Tatort-Kommissar.«

Götzki winkt ab. Sie nervt ihn nach nicht einmal fünf Minuten.

»Ich kenne dich. Du starrst die Flasche an und es ist ein einziger Vorwurf. Wenn du’s wissen willst, die ist von gestern Abend. Das ist der Luxus, nicht in einer Beziehung zu leben. Ich kann meine Sektflasche einfach auf dem Tisch stehen lassen, bis ich sie wegräumen will.«

»Katha, bitte.« Jetzt klingt auch Götzki gequält. »Irgendwo muss ich hinsehen.«

Sie gibt ein gedehntes bejahendes Geräusch von sich, das nach hinten raus an Tonhöhe gewinnt. Götzki hat dieses Geräusch schon vor anderthalb Jahrzehnten gehasst. Es bedeutet, dass sie keinen Millimeter von ihren Unterstellungen abrückt und ihn wissen lässt, dass nicht sie die Idiotin ist, die sein Verhalten fehl- und überinterpretiert, sondern dass sein Verhalten idiotisch ist, weil sie es so leicht durchschauen kann.

Götzki entscheidet sich für das unverfängliche Betrachten des reglosen Fernsehbilds. Katha befasst sich mit ihrem Smartphone. Ein gesundes Einander-nicht-Beachten, das ihnen als Paar nie gelang und das so viele aufreibende und destruktive Streits hätte verhindern können, hätten sie damals nur schon genug Lebensmüdigkeit und Beziehungsresignation besessen.

Götzki wischt diesen zynischen Gedanken beiseite. Katha hat recht, er sollte ihre Wohnung nicht untersuchen, um Spuren von etwas oder jemand Argwohn Erweckendem zu finden. Stattdessen sollte er, wie seine frischgebackene Ex-Psychotherapeutin Angela vorschlug, Impulse von außen wertschätzend annehmen, um sich selbst aufmerksam, jedoch unvoreingenommen zu beobachten und wiederkehrende Verhaltensmuster zu hinterfragen. Sich auszumalen, er könnte das umsetzen, hilft ihm immerhin, nicht allzu exzessiv zu betreiben, was seine Ex-Frau ihm vorwirft.

Nur Maja erfreut sich an Tee, der lebende Beweis, dass Vererbung nicht alles ist. Katha trinkt vor allem Cola, inzwischen wohl auch vermehrt Alkoholisches, wofür ihre erneute Gewichtszunahme spricht, die Götzki nicht nicht bemerken kann, gleich, was Angela über die Umkehr des Blickes nach innen sagt. Er selbst trinkt während der Arbeit Kaffee, ansonsten ausschließlich stilles Wasser. Tee ist für ihn verschmutztes stilles Wasser und er tut sich schwer, muss seine ganze väterliche Liebe einsetzen, um ihn runterzubekommen.

Maja trägt das Teeservice auf, das sie ihrer Mutter geschenkt hat und das den Schrank nur verlässt, wenn sie zu Besuch ist. Die bauchige Kanne mit dem gebogenen Rüssel, die Henkeltassen, alles gläsern. Maja schenkt ein. Im kränkelnden Licht der stickigen Wohnung sieht der Tee schwärzlich aus. Dem Duft nach zu urteilen, handelt es sich um Kräutertee.

»Ein basischer Kräutertee mit Zitronenmelisse und Brennnessel. Willst du nicht den Aschenbecher mal leeren, Mama? Lass, ich mach schon.«

»Sie war so schnell, ich konnte nicht mal Ja sagen. Hab auch nicht damit gerechnet, dass Tee serviert wird, sonst hätte ich Gebäck besorgt.«

»Und wärst freiwillig an der Gedenkstätte im Treppenhaus vorbeigelaufen?«, ruft Maja aus der Küche. »Von wegen!«

»Ist es in eurem Haus auch üblich, das Treppenhaus mit scheußlichem Zeug vollzupacken, wenn jemand gestorben ist?« Sie fragt Götzki.

Er hebt die Schultern, den Blick weiter auf den mit seiner pompösen Größe die Enge des Wohnzimmers verstärkenden Fernseher gerichtet. »Ich weiß nicht, ob in den letzten drei Jahren jemand in unserem Haus gestorben ist. Es standen jedenfalls niemals Grablichter im Treppenhaus.«

»Es gibt Friedhöfe, um dieses Zeug abzustellen. Ich möchte nicht an den Tod erinnert werden, wenn ich den Müll runtertrage.«

»Ist doch schön, wenn es nicht so anonym zugeht und die Leute Anteilnahme zeigen«, sagt Maja.

»Wer anonym nicht mag, soll raus aufs Land ziehen. Stimmt’s, Adam?«

Götzki brummt nur. Maja wirft sich kopfschüttelnd neben ihn in die Sofaecke.

»Weinrot steht deinem Vater gut. Nur schade, dass er so abgenommen hat. Siehst jetzt aus wie dein magersüchtiger älterer Bruder.«

Und du siehst aus wie deine ungeduschte, sonnenlichtscheue Kneipenfreundin, die Facebooksüchtige mit dem fettigen Haar und den Augenringen. Götzki spricht das nicht aus. Grübelt stattdessen, wie er es sagen soll. Schon seit Tagen fällt ihm keine brauchbare Einleitung ein. Dabei ist die Gesprächseröffnung entscheidend. Das weiß er aus Vernehmungen. Er weiß auch, dass er ein begnadeter Dialogstratege ist, aber immer nur dienstlich, nicht privat.

»Früher hat er ausschließlich blaue Hemden getragen«, wendet sich Katha wieder an Maja. »Weil man in Blau angeblich kompetenter aussieht. Sah ja auch gut aus und da war er noch beeindruckend gebaut. Ich hatte immer Angst, dass ihn mir irgendeine Polizeischnalle wegnimmt.«

Maja verdreht die Augen.

»Ich fand dunkelblau besser. Hellblaue Hemden und dazu die hellen Haare, das war insgesamt zu hell. Am besten fand ich dunkelblaues Hemd und Lederjacke. Ein großer Mann in Lederjacke macht was her. Hast du die Jacke noch?«

»Glaub schon«, murmelt Götzki.

»Solltest sie auf keinen Fall weggeben.« Katha zündet sich eine Zigarette an. »Du bringst es fertig und wirfst die gute Jacke in ’nen Altkleidercontainer und dann kriegt sie irgendein Penner oder Asylant.«

»Mama!«

»Ist doch so.«

»Der richtige Zeitpunkt, dieses Thema abzuhaken«, ergreift Götzki das Wort.

»Danke«, zischt Maja.

»Ist gut. Ich finde mich schon damit ab, dass die Meinungsfreiheit in meiner Wohnung abgeschafft wurde. Da seid ihr auf einer Linie mit der Regierung und den Medien. Wir sind ja sowieso hier, weil du Gesprächsbedarf hast, Adam. Worum geht es denn?«

Götzki nimmt seine Teetasse und betrachtet sie. Wenn er es einfach sagt, ist es raus, und dann kann er sich allen Fragen stellen. Andererseits könnte sich Maja überrumpelt fühlen, also wäre eine schrittweise Hinführung durch die einzelnen Aspekte der Neuigkeit zu bevorzugen. Das könnte wiederum unentschlossen rüberkommen. Gerade vor seiner Unentschlossenheit ist er in den letzten Tagen davongelaufen und er möchte den Vorsprung halten, der ihn viel Kraft gekostet hat. Käme der Hinweis, er würde nicht von seiner Entscheidung überzeugt wirken, könnte er ins Straucheln geraten, stolpern. Dann würde ihn die Unentschlossenheit packen und mit all ihren Einwänden und Zweifeln zu Boden bringen. Also Entschlossenheit demonstrieren – nur wie, ohne Maja zu brüskieren? Und längst bereut er das Setting in dieser vernebelten, verrauchten Wohnung und den törichten Gedanken, es wäre sinnvoll, die Mutter dabeizuhaben, weil es die Tochter betrifft. Unwahrscheinlich, dass diese qualmende Ausländerfeindin, die in den letzten Jahren die alte Katha Stück für Stück aufgefressen hat, etwas Sinnvolles zu diesem Gespräch beitragen wird, sofern Götzki es überhaupt in die Gänge kriegt.

»Papa?«

»Entschuldigung … ich …« Jetzt wird sie wieder glauben, er würde dissoziieren. »Es ist so«, er rafft sich auf, auch körperlich, setzt sich noch gerader als ohnehin, »es ist so, dass ich ein Jobangebot erhalten habe.« Er beobachtet seine Zuhörerinnen aus den Augenwinkeln und sieht ihre zugespitzte Aufmerksamkeit. »Vorab: Ich bleibe in der Operativen Fallanalyse.«

»Bekommst aber wieder mehr Stunden«, kombiniert Maja.

»Nein«, sagt Götzki, »obwohl … ja, doch, natürlich. Und ich werde eine Weile nicht für das BKA arbeiten. Ich wechsele zum Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz in Mainz.«

Maja sieht ihn an, holt Luft, will etwas sagen.

»Projektbezogen«, ergänzt Götzki hastig. »Zeitlich begrenzt.«

»Du in einer Karnevalsstadt!«, prustet Katha Rauch in den Raum und ihr ganzer Körper gerät in Bewegung, so amüsiert ist sie. »Das ist ein Witz, oder?«

»Sicher nicht für immer«, wendet sich Götzki an seine Tochter. »Es geht darum, wieder in den Job zu finden, wieder Vollzeit zu arbeiten. Vielleicht ist es gut, das außerhalb Berlins in Angriff zu nehmen, um nicht wieder in die gleiche Falle zu tappen.«

»Adam, wie er singt und lacht, ich kann nicht mehr!«

»Verdammt, Katha, es ist mir ernst! Maja, es ist ein Versuch. Wenn du sagst, das geht nicht, dann werde ich …«

»Nein, nein. Ist gut, find ich gut.« Ihr singender Tonfall verrät Götzki, dass es nicht gut ist. »Ist eine super Idee, das außerhalb von Berlin zu versuchen. Ist eine Chance, die solltest du unbedingt ergreifen.« Und mit einem kurzen, diskreten Blick zu ihrer kichernden Mutter fügt sie hinzu: »Ich kriege das schon hin.«

Götzki bemerkt, dass er die richtigen Annahmen getroffen hat, dass sich Maja, die neunzehn ist und längst erwachsen, aufrichtig für ihn freuen wird, wenn er beherzt eine Chance ergreift, um psychisch wieder in die Spur zu kommen, dass sie in ihrer WG in Potsdam in kurzer Zeit heimisch geworden ist, ihr Studium und ihren Job und ihre Freunde hat und ihren Vater nicht zwingend in Berlin braucht, dass es digitale Tools gibt, um sich trotz sechshundert Kilometern Distanz regelmäßig zu sehen. Alles richtig, alles gut. Nur diesen einen Aspekt, den hat er nicht bedacht.

»Das ist jetzt wirklich der falsche Anlass für Tee«, krächzt Katha und drückt die Zigarette aus. »Ich hol mal Sekt aus dem Kühlschrank.«

3

»Und? Was sagst du zu Mainz?«

»Mainz hat weniger Einwohner als jeder einzelne Bezirk Berlins. Flächenmäßig ungefähr so groß wie Steglitz-Zehlendorf, etwas kleiner. Einwohnerdichte in etwa wie Spandau, Ausländeranteil wie Lichtenberg. Das BIP pro Kopf liegt in Mainz um rund siebzehntausend Euro über dem von Berlin, dafür ist auch die Pro-Kopf-Verschuldung höher. Noch, denn Mainz ist auf einem aufsteigenden Ast, die Pharmabranche boomt. Ach ja, ein lustiger Zufall, aber kein bemerkenswerter: Beide Städte hatten eine Weile gleichzeitig einen sozialdemokratischen Bürgermeister, der Michael hieß.«

»Hast du beim Abführen Wikipedia gelesen? Ich meine, wie ist dein erster Eindruck von Mainz?«

»Er hat mir keine Lust auf den zweiten gemacht.«

»Sei nicht so pessimistisch. Du kommst sicher auch mal raus in die Eifel oder in den Pfälzer Wald, das sind wirklich schöne Gegenden. Darauf wollte ich gar nicht hinaus. Wie fühlst du dich, Adam? Ich will Emotionen!«

Götzki tritt vor den Laptop, damit Ludwig Höhner sein Schulterzucken sieht. »Ich bin erst seit fünf Stunden da. Eine Kleinstadt eben. Hab mir einen Dönerladen empfehlen lassen, fünf Minuten vom Bahnhof. Die verkaufen dort einen, den nennen sie à la Turka. Ist mit Fleisch, Zwiebeln, Tomate, Petersilie und Zitronensaft. Und scharf. Kannte ich so noch nicht, war ganz in Ordnung. Danach hab ich mir ein Taxi hierher genommen. Hab ein Verdauungsnickerchen gemacht, mich geduscht und jetzt packe ich meinen Koffer aus.«

»Wie findest du dein Apartment?«

»Weiß.«

»Bitte?«

»Ich sagte, weiß.« Götzki nimmt den Laptop, hält ihn auf Bauchhöhe mit Kamera in den Raum und dreht sich langsam auf der Stelle. »Alles weiß, siehste? Wär jetzt nicht mein Einrichtungsstil, wenn ich es mir aussuchen könnte, ist mir zu schnieke. Ist zum Glück nur für eine begrenzte Zeit.«

»Äh … ja sicher. Freu dich. Alt und schäbig wirst du auf der Arbeit kriegen, ich habe mir sagen lassen, da ist es stellenweise ziemlich renovierungsbedürftig.«

»Arm, aber sexy, das ist mir immerhin geläufig.« Götzki dreht den Laptop, um Höhner sehen zu können. »Was ich dich noch fragen wollte …«

Und Fingerpudding. Das teure Gerät rauscht zu Boden, es knackt ungesund. Götzki beugt sich fluchend hinterher, da folgt auch schon der Schwindel, die weißen Wände und Möbel verschwinden hinter einem schwarzen Vorhang. Höhners Stimme schwebt davon, durchs geschlossene Fenster in den leicht bewölkten blauen Himmel über der Stadt, deren Temperatur im Jahresmittel fast ein Grad höher ist als die in Berlin.

Eine unklare Zeitmenge später hört Götzki erst sein Smartphone, das auf der weißen Schreibtischplatte zittert, und dann die verwandt klingende, nur lautere, aggressiv im Gehörgang sägende Klingel des Apartments, begleitet von Gehämmer gegen die Tür. Er steht auf, wie so oft nach diesen Zwischenfällen mühelos, und öffnet. Es sind eine Menge Leute, darunter Polizisten, zwei Rettungssanitäterinnen mit einem männlichen Kollegen, außerdem Menschen in Zivil, die vielleicht besorgte, vermutlich eher neugierige Nachbarn sind.

»Sind Sie Herr Götzki?«, fragt ein Polizist. »Götzki, Adam?«

»Ja. Mir geht es gut.«

»Wir haben einen Notruf erhalten.«

»Das war mein Arbeitskollege. Tut mir leid, wenn Sie umsonst kommen mussten.«

»Er sieht definitiv sehr blass aus«, sagt der Sanitäter im Hintergrund.

»Dürfen wir kurz Ihre Vitalwerte checken?«, fragt Sanitäterin eins.

»Das ist nicht nötig.« Götzki würde lieber sein Notebook checken. »Wie gesagt …«

»Ei, mir ham doch en Nodruf erhalde«, fällt ihm der andere Polizist ins Wort.

»Weil mein Kollege etwas falsch interpretiert hat. Mir geht es wirklich gut. Hören Sie …«

»Sorry, Ihre Gesichtsfarbe spricht eine andere Sprache.« Wieder der Sanitäter.

»Was hat Ihnen denn gefehlt?« Wieder die Sanitäterin.

»Mir war kurz schwindelig. Muss ich denn hier vor einem Tribunal aus Schaulustigen rechtfertigen, warum es mir gut geht?«

»Schaulustig? Beim nächsten Mal zeige ich den Rettungskräften nicht, wo Sie wohnen, dann können Sie liegen bleiben«, schnattert eine Frau außerhalb Götzkis Blickfeld.

»Wenn mir en Nodruf kriesche, grad ahna, wo mir ned wisse, was doh genau bassiert is, sin mir verflischded …«, beginnt der Polizist.

»Ich bin Kriminalbeamter«, unterbricht Götzki das Mundartsolo, »ich weiß, was ein Notruf in Gang setzt. Es gibt aber keinen Notfall, es geht mir bestens, ich bedanke mich für Ihrer aller Einsatz und entschuldige mich aufrichtig, dass Sie mich nicht röchelnd und blutend am Boden vorfinden. Einen schönen Tag noch.«

Und Tür zu.

Nicht mal einen halben Tag hier und schon kehrt diese Stadt Götzkis schlimmste Seite hervor. Ausgenommen eskalierte Beziehungskonflikte, kann er sich nicht entsinnen, je eine Kommunikation dermaßen unbeherrscht und unprofessionell beendet zu haben.

Er versucht, das aufgebrachte Gemurmel vor der Wohnungstür zu ignorieren, und kniet sich über das schwer verletzte Gerät, den eigentlichen Patienten in diesem Raum: gesprungenes Display und Gehäuse, Monitor an einer Seite vom Korpus gelöst, dazu Verlust diverser Tasten. Das Skype-Fenster ist Glitch Art, von verpixelten Linien zerschnitten. Der Mauszeiger reagiert nicht auf das Touchpad. Totalschaden.

Umso vitaler das Smartphone. Götzki geht dran.

»Adam? Endlich, Gott sei Dank! Was war da los bei dir?«

Er erklärt es Ludwig Höhner in nüchternen drei Sätzen.

»Du hast Anfälle? Du brichst einfach so zusammen? Unfassbar. Ich dachte, du befindest dich in einem kleinen psychischen Tief und mit ein bisschen Psychotherapie und einem Ortswechsel … Adam, hätte ich das gewusst, hätte ich Bruno nie …«

»Es passiert nicht während der Arbeitszeit.«

»Gerade hast du gesagt, diese Anfälle kommen urplötzlich und ohne Ankündigung, wie willst du sicherstellen, dass es nicht während der Arbeit passiert?«

»Das ist empirisch bewiesen. Anfälle privat: alle. Anfälle auf Arbeit: null.«

»Weil du sowieso nur zehn Stunden gearbeitet hast und davon noch einen Teil im Homeoffice. So viel zu deiner Statistik. Wie stehe ich vor Bruno da, wenn du plötzlich umfällst? Ich habe dich vor ihm in den Himmel gelobt, habe ihm gesagt, wie positiv überrascht er von dir sein wird, habe deine Zuverlässigkeit hervorgehoben, deinen hellwachen Geist und deinen messerscharfen Verstand, und dann stelle dir bitte vor, für was für einen Hornochsen er mich halten wird, wenn du einfach so aus den Latschen kippst!«

Götzki legt den zeternden Höhner auf den weißen Schreibtisch und räumt den Koffer aus. Die Schrankwand im Flur bietet entschieden mehr Raum, als er Sachen mitgebracht hat. Acht Hemden, viermal hellblau, jeweils ein Exemplar in Dunkelblau, Weinrot, Schwarz und Weiß.

»… spielt keine Rolle, wo du umkippst. Die Kollegen von der Polizei haben es ja bereits mitgekriegt, das Präsidium ist unmittelbar neben deinem neuen Arbeitsplatz!«

»Du hast sie herbestellt, Ludwig.« Jeans und Anzughosen, alle schwarz. Maja findet es gestört, nur schwarze Hosen zu besitzen. Götzki fällt kein stichhaltiger Grund ein, Hosen in anderen Farben zu besitzen, denn Schwarz passt zu jedem Anlass. Blaue Jogginghose. Blau, weil sie am nächsten zum Ausgang des Geschäfts hing.

»… werde ich sicher nicht mehr den Notruf wählen, keine Sorge, Adam, dann lasse ich dich einfach liegen!«

»Das hat die Gafferin auch gesagt.« Die schwarzen Pullis ins zweite Fach von oben.

»Du gehst morgen sofort zu Bruno und sorgst für klare Verhältnisse.«

»Nein.« Drei Krawatten, schwarz, dunkelblau, weinrot.

»Verdammt, Adam …«

»Beweise mir juristisch, dass ich verpflichtet bin, meinem Arbeitgeber Derartiges mitzuteilen, dann tue ich es.« Boxershorts, schwarz, die eng anliegenden, weil die locker sitzenden eine lästige Unordnung verursachen, die man ungern in der Öffentlichkeit beseitigt.

»Und du wirst Bruno sagen, dass ich zu keiner Zeit über dein Anfallsgeschehen informiert war, hörst du?«

»Nein.« Die Unterhemden sind apartmentfarben und im Schrank nahezu unsichtbar. T-Shirts aus einem Fünferpack, wiederum schwarz.

»Du scheinst nicht begreifen zu wollen, was das für ein Licht auf mich und das BKA wirft, wenn wir Typen beschäftigen, die plötzlich einfach umfallen, und wenn wir so einen dann auch noch an ein LKA vermitteln!«

»Ich möchte das Telefonat beenden, Ludwig. Zum einen wirst du jetzt beleidigend, was nicht mehr konstruktiv ist. Zum anderen geht es seit einer geraumen Zeit nur um dich und wie du vor anderen dastehst. Das mag dir wichtig sein, was ich nachvollziehen kann, es betrifft mich allerdings nicht.« Zehn Paar schwarze Socken in die oberste der vier Schubladen. Zuletzt die Schuhe. Schwarz, Hochglanzoptik, schwarz, Wildleder, schwarze Slipper und schwarze Turnschuhe. Hausschuhe, ebenfalls schwarz.

»Wenn du das nicht hinbiegst, Adam, hast du nichts mehr von mir zu erwarten. Gar nichts mehr!«

»Wir sollten die Unterhaltung bei Gelegenheit auf einer sachlichen Ebene weiterführen«, sagt Götzki.

Ludwig Höhner beendet das Gespräch grußlos.

Götzki schließt den Schrank. Er geht um die Ecke, wo am Ende des weißen Raums das weiße Sofa steht, das man mit ein paar Handgriffen in ein weißes Bett verwandeln kann. Dort setzt er sich hin und ruft den Link auf, den Maja ihm geschickt hat. Er scrollt. Geleitete Meditation … Power für Geist und Körper: halbstündige Yogaroutine (fortgeschrittene Anfänger*innen) … Booster für deine Gesundheit: knackiger saisonaler Spätsommersalat … Kettlebell-Work-out (Anfänger*innen) … Fokussiert und tiefenentspannt: sanfte Yogaroutine (Anfänger*innen). Die letzte will Götzki ausprobieren, die Adjektive haben ihn angesprochen. Die Yogamatte ist noch im Koffer.

Aber erst den Druck im Bauch loswerden. Vorher ist keine Tiefenentspannung möglich. Er nimmt das Smartphone mit, um den Wikipedia-Artikel über Mainz fertig zu lesen, den er im Zug begonnen hat.