Ein neues Menschenbild? - Wolf Singer - E-Book

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Wolf Singer

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Beschreibung

Der Konflikt zwischen Geistes- und Naturwissenschaften tritt in der aktuellen Diskussion um ein sich wandelndes Menschenbild besonders hervor. Dieser Band enthält eine Reihe von exemplarischen Gesprächen, in denen der Hirnforscher Wolf Singer der Idee vom frei handelnden Menschen den u. a. von neuronalen Prozessen weitgehend determinierten Menschen entgegenstellt, aber auch die Bedeutung von sozialen und kulturellen Faktoren für die geistige Entwicklung des Menschen betont. Kritisch setzt sich Singer mit der Vision einiger Zukunftsforscher auseinander, die die Entwicklung von künstlichen Gehirnen für die nächsten Jahre voraussagen. Die Gespräche mit Singer vermitteln aber auch einen Einblick in seine aktuellen Projekte in der Hirnforschung, die Hoffnung für die Entwicklung neuer Therapieformen geben.

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Wolf Singer

Ein neues Menschenbild?

Gespräche über Hirnforschung

Suhrkamp

Inhalt

Vorwort

Wer deutet die Welt?

Ein Streitgespräch zwischen dem Philosophen Lutz Wingert und dem Hirnforscher Wolf Singer über den freien Willen, das moderne Menschenbild und das gestörte Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften

Das Ende des freien Willens?

Wir benötigen den neuronalen Code

Ein monotones Faszinosum: Müssen die Ingenieure vor der Komplexität des Gehirns kapitulieren?

Hoffnung für Querschnittsgelähmte

Das falsche Rot der Rose

Was geschieht im Kopf, wenn die Augen etwas sehen? Wie entsteht Bewusstsein, wie die Vorstellung vom »Ich«?

Wahrnehmen ist das Verifizieren von vorausgeträumten Hypothesen

»Der Himmel wird leer gefegt«

Unser Gehirn: ein Produkt der Erziehung

»In der Bildung gilt: Je früher, desto besser«

»Die Intuition ist nicht schlauer als der Verstand«

Tierversuche: Polemik oder Diskurs

Wolf Singer und Leo Montada im Gespräch

Vorwort

Die in diesem Band zusammengefassten Gespräche gehen allesamt auf die Initiative der Nachfragenden zurück. Sie waren es auch, die auswählten, was von dem Gesagten festgehalten werden sollte. Mir blieb nur, die unfertigen Sätze auszuformulieren. Aller Dank gebührt deshalb meinen Interviewern. Erst durch ihre Fragen gewannen die vielfältigen Probleme Kontur, die in den folgenden Unterhaltungen behandelt werden. Oft verdeutlichten erst die Widerworte, was nicht zu Ende gedacht war. Die Gespräche gestalteten sich als gemeinsame Suche nach Klarheit und jedes einzelne war, zumindest für mich, Gewinn. Viele der dabei ausgetauschten Gedanken konnten wegen vorgegebener Zeilenzahl nicht aufgeschrieben werden. Dies erklärt die gelegentlichen Sprünge in den Argumentationslinien. Hier bedarf es ebenso wie bei den unvermeidlichen thematischen Überschneidungen der Nachsicht.

Die abgedruckten Gespräche entstanden alle in einem spezifischen Kontext und wurden in diesem veröffentlicht. So liegt der mögliche Gewinn dieser Zusammenstellung nicht im Neuen, sondern vielleicht in den Beziehungen zwischen vormals Unverbundenem.

Wolf Singer Frankfurt am Main, 15. August 2002

Wer deutet die Welt?

Ein Streitgespräch zwischen dem Philosophen Lutz Wingert und dem Hirnforscher Wolf Singer über den freien Willen, das moderne Menschenbild und das gestörte Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften

DIE ZEIT: Professor Singer, die Naturwissenschaft ist im Feuilleton angekommen. Freut Sie das oder stimmt Sie das eher bedenklich?

WOLF SINGER: Es freut mich. Ich bin allerdings nicht ganz zufrieden mit der Erstauswahl der Beiträge, wie sie etwa in der FAZ abgedruckt wurden. In Fachkreisen sind diese Artikel sehr kritisch gesehen worden. Das meiste davon waren Spekulationen im datenfreien Raum – und das gilt sowohl für die Beiträge zur Gen- wie zur Nanotechnologie.

LUTZ WINGERT: Es ist gut, wenn naturwissenschaftliche Ergebnisse und fundamentale Hypothesen zur Diskussion gestellt, wenn Chancen und Risiken offen diskutiert werden. Wir machen die Erfahrung, dass die Verfügungsgrenzen über Leben, auch über personales Leben immer weiter herausgeschoben werden. Anscheinend lässt sich zwischen Natur und Kultur immer weniger danach unterscheiden, was vorgegeben und was gemacht ist. Solche Entwicklungen werfen die Frage auf, was sie für das Selbstbild des Menschen, überhaupt für unser Weltbild bedeuten.

– Geht es dabei nur um Wahrheit und Erkenntnis?

WINGERT: Nein, ich vermute, dass dahinter ein Stück Utopiepolitik steckt. Hinter der marktgetriebenen Technik kommt plötzlich die Vision eines neuen Menschen zum Vorschein – ein Projekt, das bisher eher linke Politik gekennzeichnet hat. Es ist pikant, dass die Option auf Personenänderung nun im politisch konservativen Feuilleton euphorisch diskutiert wird.

SINGER: Noch bedeutender scheint mir, dass Erkenntnisse der Grundlagenforschung auch ohne Anwendungsbezug unser Menschenbild nachhaltig verändern. Mich erstaunt immer wieder, wie wenig so genannte kultivierte Kreise über naturwissenschaftliche Entwicklungen wissen. Das führt zu Akzeptanzproblemen in der Bevölkerung und erklärt die unkritische Begeisterung über utopische Feuilletonartikel.

– Woher kommt das Jubilatorische?

SINGER: Machbarkeitsfantasien faszinieren, weil sie die Hoffnung nähren, durch Technik Leiden abzuschaffen oder gar Unsterblichkeit zu erlangen. Die Botschaft aber, dass uns das gleiche Wissen zur Preisgabe für heilig gehaltener Domänen zwingt, weil es uns als Produkte eines ungerichteten evolutionären Prozesses darstellt, die wird nicht so gern gehört.

WINGERT: Es gibt vielleicht noch einen anderen Grund für das Interesse: Am Sozialen, an den Lebensformen entzünden sich gegenwärtig keine ungeduldigen Fantasien. Das Soziale interessiert nicht mehr sonderlich. Damit verbunden ist eine Abwertung der Soziologie, auch der Sozialphilosophie. Biologie und Ökonomie bilden die neuen Leitwissenschaften.

– Seltsam ist doch, dass dabei Diskussionen aufbrechen, die seit Jahren in den wissenschaftlichen Milieus virulent sind. Aber erst seit der Sloterdijk-Debatte scheint sie ein Teil der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Gibt es also doch die »zwei Kulturen«? Und hat die Philosophie diese Themen bis dahin versäumt?

WINGERT: Dieser Eindruck täuscht. Es gab auch schon vor der Sloterdijk-Debatte viele Kollegen, die sich seit langem gründlich mit den ethischen Fragen der Gentechnik oder mit den konzeptuellen Folgen der künstlichen Intelligenz und der Möglichkeit syntaktischer Theorien des Geistes auseinander setzten. Die Irritierbarkeit von Philosophen durch die Empirie ist gestiegen. Das hat historische und sprachphilosophische Gründe.

SINGER: Wir Naturwissenschaftler sind durch die Eigendynamik unserer Forschung dazu gebracht worden, uns mit Fragen zu befassen, die traditionell von den Geisteswissenschaften behandelt wurden. Hirnforscher können Fragen nach der Natur von Erkenntnis, Empfindung, Bewusstsein oder dem freien Willen nicht mehr ausweichen. Die Philosophie sollte dabei die Rolle einer Metawissenschaft einnehmen.

– Aber wenn Ihre Kollegen sagen, philosophische Weltdeutungen seien anachronistisch, weil sie vor der Hirnforschung nicht bestehen können, dann reklamiert die Naturwissenschaft ein Deutungsmonopol und wird selbst zur Metawissenschaft. Philosophen sind dann überflüssig.

SINGER: Keineswegs, aber sie sollten noch irritierter sein, als Herr Wingert unterstellt. Wenn Neurobiologen Wahrnehmungsprozesse erforschen und erkennen, wie konstruktivistisch und zugleich wenig objektiv unsere Wahrnehmungen sind, und wenn sich ferner erweist, dass dies auch für die Prozesse gilt, die unserem Denken zugrunde liegen – dann muss das für jemanden, der davon ausgeht, dass man durch Nachdenken alleine zu verlässlicher Erkenntnis vorstoßen kann, irritierend wirken.

– Woher kommt die Distanz der Philosophen zu den Naturwissenschaften?

WINGERT: Dahinter steht eine bestimmte Auffassung vom Menschen: Der Mensch hebt sich als ein Wesen, das zum Nachdenken, zum Beurteilen und zum Verstehen von Bedeutungen fähig ist, aus der Natur heraus. Ein Großteil seiner Welt besteht aus sinnhaft konstruierten Gegenständen – wie Aussagen, Zehnmarkscheine oder politische Verfassungen. Solche Gebilde sind traditionsgemäß der Gegenstand geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Die Naturwissenschaft dagegen untersucht sinnfreie Gegenstände. Da sehe ich einen grundlegenden Unterschied in der Beschreibungsebene.

SINGER: Ich stimme Ihnen zu. Diese sinnhaft konstruierten Gegenstände sind nur aus der Erste-Person-Perspektive erfassbar und scheinen sich dem naturwissenschaftlichen Zugriff zu entziehen, ähnlich wie das auch mentalen Phänomenen wie Empfindungen oder Bewusstsein unterstellt wird. Dennoch geraten diese nichtmateriellen Phänomene in den Blick der Naturwissenschaften. Nehmen wir z. B. das Heranwachsen von Kindern: In der Biologie können wir lückenlos die Entwicklung vom Einzeller bis zum Embryo beschreiben, und die Hirnforschung kann nachvollziehen, wie sich nach der Geburt die kognitiven Strukturen eines Kindes an die reale Welt und an das kulturelle Umfeld anpassen und von ihr geformt werden. Am Ende kommt ein Wesen heraus, das ab einem Alter von drei, vier Jahren »Ich« sagt, ein Bewusstsein und einen eigenen Willen entwickelt – Phänomene, die in der naturwissenschaftlichen Beschreibung eigentlich nicht mehr drin sind. Und dennoch ist die Evidenz zwingend, dass auch sie letztlich auf Hirnfunktionen beruhen.

– Wie steht es mit den sozialen Phänomenen, die Herr Wingert ansprach, Verfassungen und Zehnmarkscheine?

SINGER: Zur Erklärung der Emergenz sozialer Realitäten müssen lediglich zusätzlich Wechselwirkungen zwischen Gehirnen mitbetrachtet werden. Diese kommunikativen Prozesse, in denen sich kognitive Systeme gegenseitig bespiegeln und sich ihrer selbst vergewissern, werden bisher in der Hirnforschung nur wenig thematisiert. Im Prinzip sollte dem jedoch nichts im Wege stehen, da die interpersonellen Realitäten, die dieser Diskurs hervorbringt, natürlich wieder von Gehirnen wahrgenommen und erinnert werden wie andere Objekte der Wahrnehmung auch. Dennoch gibt es zwischen unserem subjektiven Erleben und der wissenschaftlichen Beschreibung der Hirnprozesse, die diesem Erleben zugrunde liegen, derzeit unüberbrückbare Konflikte. Wir erfahren uns als freie mentale Wesen, aber die naturwissenschaftliche Sicht lässt keinen Raum für ein mentales Agens wie den freien Willen, das dann auf unerklärliche Weise mit den Nervenzellen wechselwirken müsste, um sich in Taten zu verwandeln.

– Wie löst der Hirnforscher diesen Konflikt?

SINGER: Der Konflikt ist in meinen Augen derzeit nicht lösbar. Die zwei komplementären Beschreibungssysteme existieren auch im Hirnforscher alltäglich nebeneinander. Ich kann bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien Willen oder die eigene Verantwortung finden – und dennoch gehe ich abends nach Hause und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben.

– Ist die Vorstellung, frei zu sein, also nur ein illusionäres Konstrukt?

SINGER: Ich halte sie für eine kulturelle Konstruktion. Sie ist, was ihren Einfluss auf unser Verhalten anlangt, ebenso real wie Glaubens- und Wertesysteme. Aber sie ist inkompatibel mit dem, was wir über die Funktion unserer Gehirne gelernt haben. Und dennoch beruht die Vorstellung, frei zu sein, auf Vorgängen im Gehirn. Sie muss sich also irgendwann im Laufe der kulturellen Evolution ausgebildet haben.

WINGERT: Freiheit ist doch nicht bloß eine Vorstellung! Sie ist auch ein Zustand, in dem ich mich als fähig erfahre, zu sagen: Das war ich! Das tue ich! Das heißt, ich kann dann ein Verhalten, das ein Beobachter mir als Organismus kausal zuordnet, auch als mein Handeln anerkennen; und zwar deshalb, weil es aus Gründen erfolgt, die ich als meine – schlechten oder guten – Gründe erkenne, und nicht bloß aus Ursachen, die in mir liegen. Und ich kann mich auch täuschen, frei zu sein. Dann sagen die anderen: Du rationalisierst bloß! Aber so kann man nur reden, wenn der Unterschied von bloßen Ursachen für Verhalten und rechtfertigenden Gründen fürs Handeln bestehen bleibt. Wie man diese beiden Sichtweisen aufs Handeln, auf etwas Physisches und auf etwas Sinnhaftes zusammenkriegt, ohne das Prinzip der kausalen Geschlossenheit für physische Phänomene zu verletzen, ist weiß Gott ein schweres Problem. Allerdings haben sich die Philosophen damit schon lange herumgeschlagen, Descartes und Kant eingeschlossen. Eine Voraussetzung dabei ist freilich, dass man eben nicht alles an Handlungen und, allgemeiner: von der Wirklichkeit in den Blick bekommt, wenn man sie bloß unter dem Aspekt der physischen Phänomene beschreibt.

– Hätten also die Unterschiede zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften auch eine Ursache in den verschiedenartigen Untersuchungsgegenständen?

WINGERT: Ja! Lassen Sie mich dies an einem bekannten Beispiel von Hilary Putnam illustrieren: Stellen Sie sich vor, eine Ameise kriecht im Sand herum, und die Kurven und Linien, die sie zieht, bilden eine Figur, die eine Karikatur von Winston Churchill ist. Wir sagen intuitiv, die Ameise hat keine Karikatur gezeichnet. Warum nicht? Natürlich, sie hatte keine Absicht. Sie verbindet keinen Gedanken, keine Darstellungsabsicht mit ihren Bewegungen. Die Naturwissenschaftlerin nun, die sich den Gegenständen der Geisteswissenschaften zuwendet, will sinnhaft konstituierte Gegenstände mit ihren Mitteln untersuchen – also mit denselben Mitteln, mit denen sie Ameisen untersucht. Die Frage ist aber, ob das geht, ohne dass die Gegenstände unter diesem Zugriff einfach verschwinden. Wenn das möglich wäre, dann geriete die gegenstandsbezogene Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften tatsächlich ins Schwimmen. Aber warum will man eigentlich sinnhafte Bereiche unbedingt mit einem Vokabular beschreiben, mit dem man bislang sinnfreie Gegenstände beschrieben hat? Weil man, wieder einmal, eine Einheitswissenschaft will?

SINGER: Es ist uns doch vertraut, dass bei reduktionistischen Beschreibungsversuchen die Explananda, die zu erforschenden Phänomene, häufig in anderen, höheren Beschreibungssystemen definiert werden als die zu ihrer Erklärung herangezogenen elementaren Prozesse. Denken Sie an die Erklärung von Verhaltensleistungen und psychischen Phänomenen durch neuronale Prozesse. Vielleicht verhält es sich nicht anders, wenn die Explananda sinnhafte Gegenstände sind.

– Also hätte das Sinnhafte eine materielle Basis?

WINGERT: Die materielle Basis bestreite ich gar nicht. Wir müssen aber zwei Fragen genau auseinander halten. Sie, Herr Singer, sagen, dass alle mentalen Phänomene nicht ohne unser evolutionär erklärbares Gehirn möglich sind, salopp gesagt: »Nichts ohne mein Gehirn«. Aber wie unterscheiden wir diese Feststellung von der problematischeren Behauptung »Nichts anderes als mein Hirn«? Das ist die entscheidende Frage. Um die von Ihnen beschriebenen neuronalen Korrelate für Sinngehalte überhaupt erst identifizieren zu können, brauchen Sie doch zunächst das Wissen um die symbolischen Bedeutungen, die diese Sinngehalte ausmachen.

– Zum Beispiel?

WINGERT: Nehmen wir ein sinnhaft konstituiertes Gefühl wie Entrüstung. In einer streng naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise könnte ich vermutlich feststellen, dass jemand, der sich entrüstet, in einem hirnphysiologischen Erregungszustand ist, aber ich könnte diesen wohl kaum von dem eines Menschen unterscheiden, der bloße Wut hat. Wut und Entrüstung unterscheiden sich aber. Bei Entrüstung ist immer der Gedanke mit im Spiel, dass etwas unrecht ist.

SINGER: Da würde der Neurophysiologe entgegnen: Natürlich müssen sich die Hirnzustände unterscheiden, die Entrüstung und Wut zugrunde liegen, sonst wären diese Emotionen nicht zu unterscheiden.

WINGERT: Aber wohl nur unter einer Prämisse, glaube ich. Unter der, dass Sie den jeweiligen Hirnzustand als das neuronale Korrelat eines symbolischen Gehalts, eines Gedanken, identifizieren können.

SINGER: Ich sehe hier keine prinzipiellen Hindernisse. Kein Gedanke ohne Substrat. Auch wertende Zuschreibungen müssen ihr neuronales Korrelat haben.

WINGERT: Einverstanden, kein Gedanke ohne Substrat. Aber ist der Gedanke nichts anderes als ein Substrat? Ein Gedanke ist ein Gebilde mit semantischen Eigenschaften. Das heißt, ein Gedanke kann wahr oder falsch sein, richtig oder sinnlos. Hirnzustände können das nicht.

SINGER: Da der Gedanke Folge neuronaler Prozesse ist, unterscheidet er sich natürlich von diesen. Dennoch gilt, dass unterschiedlichen Gedanken verschiedene neuronale Aktivitätsmuster zugrunde liegen. Ich glaube, das Problem kommt daher, dass wir Menschen zugleich Produkte einer biologischen und einer kulturellen Evolution sind. Allem, was begrifflich trennbar ist, müssen unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen. Aufgrund unserer kulturellen Prägung erfahren wir die nicht greifbaren Gebilde, die erst im zwischenmenschlichen Diskurs entstehen, genauso als Realitäten wie die greifbaren Objekte. Wir sind Zwitterwesen, in denen sich biologische und kulturelle Bedingtheiten gleichberechtigt mischen.

WINGERT: Keine Frage. Ich sehe jedoch nicht, wie sich semantische Gebilde – Gedanken, Behauptungen und so weiter – naturalisieren lassen, ohne dass die Naturwissenschaftler nicht ständig auf das Vokabular zurückgreifen müssten, das die Geisteswissenschaftler bereitstellen.

SINGER: Sofern es sich bei den zu erklärenden Hirnleistungen um mentale Funktionen handelt, müssen wir natürlich zu ihrer Definition auf das Vokabular der Geisteswissenschaften zurückgreifen. Wir wollen aber nicht die eine Sprache durch die andere ersetzen, sondern Phänomene, die in Ihrem Beschreibungssystem erfasst sind, durch Prozesse erklären, die in naturwissenschaftlichen Beschreibungssystemen darstellbar sind. Wir können doch menschliches Verhalten nicht einfach in der Sprache der Neuronen oder Gene ausdrücken …

– Nach der Entschlüsselung des Genoms meinten aber manche schon: Endlich ist die einzig wahre Sprache, die »Rechtschreibung des Lebens« entziffert.

SINGER:Das ist Unsinn. Wer solches denkt, verkennt, dass sich die Bedeutung von Texten nicht allein aus der Kenntnis der Buchstaben ableiten lässt, und ignoriert den prägenden Einfluss des kulturgeschichtlichen Umfelds.

– Wollen Sie bestreiten, dass die Entzifferung des Humangenoms einen Schlüssel zur Erklärung menschlichen Verhaltens bietet?

SINGER: Natürlich ist unser Sosein biologisch bedingt. Denken Sie an die Möglichkeit, Tiere mit bestimmten Verhaltensdispositionen – etwa Ratten, die so aggressiv sind, dass sie sich gegenseitig totbeißen – durch gezielte Kreuzung zu züchten. Biologische Bedingtheiten von Verhalten zu leugnen wäre töricht. Genauso töricht wäre es allerdings, die kulturellen Bedingtheiten zu leugnen. Die genetische Ausstattung eines Menschen aus der Steinzeit ist von unserer nicht sehr verschieden. Sein Verhalten, sein Denken, seine Vorstellungen von Raum und Zeit dürften jedoch ganz anders gewesen sein. Daran sehen Sie den dominanten Einfluss der Kultur.

WINGERT: Ist das aber nicht ein Argument, das man auch gegen Sie wenden könnte? Müssen Naturwissenschaftler, die sich mit sinnhaften Gegenständen beschäftigen, nicht doch von einem Wissen Gebrauch machen, das sie nicht als Naturwissenschaftler erwerben und über das sie als solche auch nicht Auskunft geben können?

SINGER: Natürlich, ich benutze Ihre Sprache, um Phänomene zu definieren, die ich mit meiner Sprache erklären will. Ich suche neuronale Korrelate für das Verhalten von Menschen, und das schließt mentale und psychische Phänomene mit ein. Ich sehe da keinen Kategorienfehler.

– Herr Wingert, sind die Philosophen blind für diese biologischen Bedingtheiten?

WINGERT: Aber nein. Wir sind ja auch ein Produkt der Naturgeschichte. Aber damit sind die kategorialen Schwierigkeiten keineswegs vom Tisch. Die Frage ist doch, ob wir den Menschen auch als ein urteilendes und wertendes Wesen – und nicht nur in seiner organischen Existenz – als Teil der Natur auffassen können. Können wir den Menschen komplett, wie andere Teile der Natur auch, allein mit den Mitteln der disziplinierten Naturbetrachtung beschreiben? Oder verschwindet unter dieser Beschreibung nicht doch ein zentrales Element von uns, nämlich all das, was mit der Fähigkeit zur Metarepräsentation und zur Selbstkritik zu tun hat? Ich glaube, ja. Gewiss, wir sind kein Kopf ohne Welt, wir sind mit unserem Denken und Handeln in der Welt. Aber die Wirklichkeit ist nicht bloß die Natur, sondern alles, was unverfügbar ist.

– Aber wenn es für die Naturwissenschaft anscheinend keine kategoriale Schwierigkeit gibt, auch kulturelle Phänomene zu erklären, was bleibt dann noch der Geisteswissenschaft?

WINGERT: Zwischen Absichtserklärungen und Realisierung klafft ja noch eine große Lücke. Bis es den Evolutionstheoretikern gelingt, die ganze Palette der moralischen Verhaltensweisen des Menschen zu erklären, vergeht schon noch eine ganze Weile. Auch möchte ich die Evolutionsbiologie sehen, der es gelingt, den Lernprozess einer ganzen Gesellschaft zu erklären, der etwa mit der Aufstellung demokratischer Verfassungen verbunden ist. Ob das geht, wenn man einen naturwissenschaftlichen Begriff von Lernen zugrunde legt, bezweifle ich doch sehr. In der Evolutionsbiologie meint »Lernen« ja vor allem eine nützliche Verhaltensveränderung durch Anpassung an Umweltbedingungen. Mit einem geisteswissenschaftlichen Lernbegriff hingegen wird eine nützliche Verhaltensänderung beschrieben, die durch Reflexion, durch Nachdenken, durch Kritik und Gegenkritik zustande kommt. Dieses Lernen ist etwas fundamental anderes. Demokratische Verfassungen sind historische Lernprozesse, die im Medium einer normativen Auseinandersetzung verlaufen und nicht im Medium eines sinnfreien Anpassungs- und Selektionsvorganges.

SINGER: Dieses Problem tritt doch nur auf, wenn man kritiklos annimmt, die Gesetze der biologischen und kulturellen Evolution seien die gleichen; wenn man evolutionäre Prinzipien, wie sie in der vorkulturellen Welt geherrscht haben, allein zur Erklärung unseres jetzigen Zusammenlebens heranzieht. Solche Anfangsfehler haben die Soziobiologie und evolutionäre Psychologie leider vorübergehend in Verruf gebracht.

– Also doch wieder zwei Kulturen …

SINGER: Nein. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich ein Anthropologe mit Kulturgeschichte befasst, um die Unterschiede zwischen biologischer und kultureller Evolution zu erforschen. Die kulturelle Evolution beruht wesentlich darauf, dass Menschen zu Lebzeiten erworbenes Wissen an die Nachfahren weitergeben können und dabei nicht nur Techniken, sondern auch Sinnzuschreibungen vermitteln – das hat es in der biologischen Evolution nicht gegeben. Warum soll sich ein Evolutionsbiologe nicht mit solchen kulturellen Lernprozessen beschäftigen und deren soziale wie neuronale Mechanismen erforschen? Ich sehe da keine kategorialen Fachgrenzen.

– Das hieße: Die Grenzen der Bereiche, die angeblich den Naturwissenschaften unzugänglich sind, lösen sich mehr und mehr auf.

SINGER: So sehe ich es.

WINGERT: Die Durchlässigkeit der Grenzen geht doch nur in eine Richtung. Oder wo gibt es einen Import genuin kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeit in die Naturwissenschaften?

SINGER: Wenn wir das neuronale Korrelat von komplexen Verhaltensleistungen suchen, z. B. von Sprachstrukturen oder von Intentionalität, dann nutzen wir Ihre Begrifflichkeiten zur Definition der zu erklärenden Phänomene. Es gibt jedoch tatsächlich erhebliche Unterschiede in der Vorgehensweise. Kulturwissenschaftler suchen nach dem, was war oder ist, sie sichern und deuten. Das Bedürfnis, immer wissen zu wollen, wie Dinge verursacht sind – also die Warum-Frage zu stellen, wie Naturwissenschaftler das tun –, dieses Bedürfnis haben die Kulturwissenschaften offenbar weniger.

WINGERT: Das hat ganz einfach mit den unberechenbaren Akteuren zu tun, die sich sehenden Auges nicht immer an die zugeschriebenen kausalen Mechanismen oder an die Physik der Sitten halten. Warum reagiert die amerikanische Gesellschaft mit dem New Deal auf dieselbe Wirtschaftskrise, auf die die deutsche Gesellschaft mit dem Faschismus reagiert? Dafür kann man vielleicht einige notwendige Bedingungen finden, aber wohl kaum gesetzförmige Kausalbeziehungen.

SINGER: Aber wir haben doch dasselbe Problem. Warum etwa gab es das große Artensterben? Auch wenn wir nicht herausfinden sollten, was die wahren Ursachen waren, haben wir wenigstens kompetitive Theorien entwickelt. Nur zu sagen: Damals hat sich die Fauna eben stark verändert – das wäre uns nicht genug.

WINGERT: Das ist nicht der Punkt. Wir haben auch in den Geisteswissenschaften kausale Erklärungen. Aber ein experimenteller Test dafür ist oft kaum zu haben. Zum Teil auch deshalb nicht, weil die Erklärungen Effekte auf die zu erklärenden Gegenstände haben. Die Proteine einer Zelle übernehmen in ihrem Verhalten keine Erklärung, auch nicht die nobelpreisgekrönte Signalhypothese von Günter Blobel. Der Angeklagte übernimmt in seinem Verhalten vor Gericht aber vielleicht schon eine Theorie über ihn wie die Theorie von der sozialen Verelendung als Kriminalitätsursache, um sein abweichendes Verhalten zu rechtfertigen. Und wenn er das tut, dann ist er nicht mehr ganz der ursprüngliche Typ von Normverletzer, den die Theorie zu erklären versucht.

– Heißt das, wir müssen die Hoffnung auf große Welterklärungen aufgeben?

WINGERT: Natürlich gibt es auch in den Geisteswissenschaften Erklärungen, aber man relativiert sie und macht daraus keine Meistererzählung. Außer Leute wie Peter Sloterdijk und Erich von Däniken – die machen Meistererzählungen, sind aber von keiner empirischen Gründlichkeit getrübt. Niemand außer Sloterdijk traut sich zu, die Menschheitsgeschichte zu erzählen und Abfolgen zu erklären. Warum? Weil das einfach unseriös ist aufgrund der Überkomplexität.

SINGER: Sie haben es natürlich schwerer. Aber das ist noch kein Grund, einen kategorialen Unterschied anzunehmen. Wenn wir uns einig sind, dass die Denkweise der Geistes- und Naturwissenschaftler dieselbe ist – und das muss sie ja sein, es sind ja die gleichen Menschen –, dann kann es diesen Unterschied doch nicht geben. Früher hieß es: Dort, wo es anfängt zu menscheln, sind die Naturwissenschaftler nicht mehr zuständig. Das ändert sich jetzt. Die Naturwissenschaftler brechen aus diesem verordneten Ghetto aus und beginnen – wenn auch oft noch ungeschliffen und ungeschult – über Themen nachzudenken, die bisher den Kulturwissenschaften vorbehalten waren. Die Kulturwissenschaftler sollten sich aber nicht sorgen, dass dabei Territorien übernommen werden – das geht schon aus Zeitgründen nicht.

– Andererseits sagen Sie, Herr Singer, die Hirnforschung habe fundamentale Konsequenzen für unser Menschenbild, besonders unseren Freiheitsbegriff. Dann ist es doch vorbei mit der Autonomie der Geisteswissenschaften.

SINGER: In der Tat gibt es hier Konflikte. Die Annahme zum Beispiel, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar. Neuronale Prozesse sind deterministisch. Gibt man der nichtsprachlichen Hirnhälfte einen Befehl, führt die Person diesen aus, ohne sich der Verursachung bewusst zu werden. Fragt man dann nach dem Grund für die Aktion, erhält man eine vernünftige Begründung, die aber mit der eigentlichen Ursache nichts zu tun hat. Wir handeln und identifizieren die vermeintlichen Gründe jeweils nachträglich. Dieses Wissen muss Auswirkungen haben auf unser Rechtssystem, auf die Art, wie wir Kinder erziehen und wie wir mit Mitmenschen umgehen. Und wenn Sie im Kernspintomografen sehen, wie sich im Gehirn eines halluzinierenden Menschen selbst erzeugte Erregung aufbaut, die der Mensch als Folge eines realen Ereignisses deutet, dann wird man großzügiger gegenüber den Berichten über Erlebtes. Man muss Menschen konzedieren, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen aussagen und sich nicht gewahr sind, dass dies in den Augen von Beobachtern als illusionär oder nicht zutreffend gesehen wird.

WINGERT: