Jenseits des Selbst - Wolf Singer - E-Book

Jenseits des Selbst E-Book

Wolf Singer

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Beschreibung

Ist das, was wir wahrnehmen, die Wirklichkeit? Können wir unseren Geist trainieren und Achtsamkeit lernen? Ist Liebe steuerbar? Und wie können wir ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen, wenn Hirnstrukturen unsere Entscheidungen vorzeichnen?

In diesem Buch treten Wolf Singer, einer der weltweit führenden Hirnforscher und streitbarer Bezweifler der Willensfreiheit, und Matthieu Ricard, Molekularbiologe, buddhistischer Mönch und Bestsellerautor, in einen Dialog über Kernfragen unserer Existenz – über Glück, Selbstkontrolle und die Macht von Gefühlen.

Die Neugier und Offenheit der beiden Gesprächspartner ermöglicht es, dass ihre auf den ersten Blick gegensätzlichen Positionen gänzlich unerwartete Verbindungen sichtbar machen. Wissenschaftlich fundiert und auf der Basis jahrzehntelanger Erfahrungen denken sie gemeinsam darüber nach, was wir tun können, um gute und glückliche Menschen zu werden.

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Ist das, was wir wahrnehmen, die Wirklichkeit? Können wir unseren Geist trainieren und Achtsamkeit lernen? Ist Liebe steuerbar? Und wie können wir ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen, wenn Hirnstrukturen unsere Entscheidungen vorzeichnen?

In diesem Buch treten Wolf Singer, einer der weltweit führenden Hirnforscher und streitbarer Bezweifler der Willensfreiheit, und Matthieu Ricard, Molekularbiologe, buddhistischer Mönch und Bestsellerautor, in einen Dialog über Kernfragen unserer Existenz – über Glück, Selbstkontrolle und die Macht von Gefühlen.

Auf den ersten Blick sind Singers westliche Neurowissenschaft und die Meditationstechniken des Buddhismus denkbar gegensätzliche Positionen. Die Neugier und Offenheit der beiden Gesprächspartner für die Perspektive des anderen bewirken jedoch, dass unerwartete Verbindungen sichtbar werden. Wissenschaftlich fundiert und auf der Basis jahrzehntelanger Erfahrungen denken sie – wie schon in ihrem Bestseller Hirnforschung und Meditation – gemeinsam darüber nach, was wir tun können, um gute und glückliche Menschen zu werden.

Wolf Singer, geboren 1943, ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main und derzeit am dortigen Ernst Strüngmann Institute for Neuroscience tätig, dessen Gründungsdirektor er ist. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u. ‌a. mit dem Zülch-Preis, dem Hessischen Kulturpreis und der Cothenius-Medaille der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Im Suhrkamp Verlag sind u. ‌a. erschienen: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung (stw 1571) und Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung (stw 1596).

Matthieu Ricard, geboren 1946, war als Molekularbiologe am Institut Pasteur in Paris tätig, bevor er buddhistischer Mönch wurde. Seit 40 Jahren lebt er im Himalaya und ist Autor mehrerer internationaler Bestseller, u. ‌a. Glück (2009), Meditation

Wolf SingerMatthieu Ricard

Jenseits des Selbst

Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© Wolf Singer, Matthieu Ricard

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Inhalt

Prolog

1 Meditation und Gehirn

2 Unbewusste Prozesse und Emotionen

3 Woher wissen wir, was wir wissen, und welche Realität nehmen wir wahr?

4 Das Selbst erforschen

5 Freier Wille, Verantwortung und Gerechtigkeit

6 Das Wesen des Bewusstseins

Prolog

Wolf Singer Matthieu, lass mich zur Eröffnung dieser Dialoge kurz die Umstände unserer Treffen schildern. Wir beide lernten uns 2005 in London anlässlich eines Dialogs über Bewusstsein kennen. Noch im selben Jahr sahen wir uns dann in Washington, D. ‌C., wieder, wo wir im Rahmen einer Konferenz des Mind and Life Institute1 die neuronalen Grundlagen der Meditation diskutierten. Danach trafen wir uns häufiger in verschiedenen Teilen der Welt, 2007 auch einmal in der Residenz des Dalai Lama in Dharamsala in Indien.2 Im Laufe dieser Treffen diskutierten wir ein breites Spektrum an Fragen, von der Astrophysik bis hin zu ethischen Problemen. Dabei versuchten wir, die westliche und östliche – oder, besser gesagt, die wissenschaftliche und die kontemplative – Sicht auf die Beschaffenheit des Selbst und die Natur des Bewusstseins miteinander zu vergleichen: einerseits jene, die man aus der Ich- oder Erste-Person-Perspektive durch Introspektion und geistige Übungen gewinnt, und andererseits jene, die man aus der unpersönlichen Perspektive, also der Dritte-Person-Person-Perspektive wissenschaftlicher Ansätze ableiten kann.

Meiner Auffassung nach besteht zumindest in der westlichen Welt eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen unseren Intuitionen darüber, wie das Selbst beschaffen ist, und der wissenschaftlichen Sicht darauf, wie unser Gehirn organisiert ist. Bis vor kurzem verteidigten die meisten abendländischen Philosophien auf der Grundlage von Introspektion und logischer Schlussfolgerungen einen ontologischen Dualismus, die Dichotomie von Geist und Materie. Das ist nicht immer so gewesen. Schon die Stoiker – und später, im Gefolge der Aufklärung, auch zahlreiche andere wissenschaftliche und philosophische Schulen – haben eher monistische, naturalistische Standpunkte vertreten. Jedoch wurden dualistische Ansätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Tradition idealistischer philosophischer Schulen wieder aufgenommen, und zurzeit sind Philosophen und Naturwissenschaftler wieder sehr damit befasst, die Beziehungen zwischen ihren Positionen zu diskutieren. Wie du noch ausführen wirst, schlägt der Buddhismus einen nichtdualistischen Ansatz vor, der auf dem Konzept des »Fehlens einer intrinsischen Existenz« beruht und sowohl auf äußere Phänomene als auch auf das Bewusstsein angewandt wird. Die Folgen dieser Diskussionen werden aller Wahrscheinlichkeit nach weitreichend sein: Zum einen werden sie eine Veränderung unseres Selbstverständnisses nach sich ziehen, zum anderen wird es praktische Konsequenzen hinsichtlich unserer Vorstellungen von Willensfreiheit, Verantwortung und Ethik geben.

Wir kommen später auf einige dieser Aspekte zu sprechen. Doch zunächst konzentrieren wir uns vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Expertise und Erfahrung auf die Beziehungen zwischen Hirnforschung und mentalen Praktiken. Wir möchten untersuchen, welche Antworten die Neurowissenschaften auf die Frage geben können, inwiefern unterschiedliche Bewusstseinszustände, die sich durch geistige Übung und Meditation erlangen lassen, mit neuronalen Prozessen zusammenhängen.

Matthieu Ricard Ich bin hocherfreut, dass unsere Freundschaft und unser gemeinsames Interesse zu diesen Gesprächen geführt haben. Und ich möchte gleich zu Beginn betonen, dass sich ein Dialog zwischen westlicher Wissenschaft und Buddhismus durchaus von typischen Dialogen zwischen Wissenschaft und Religion unterscheidet. Solche Dialoge hat es schon zuhauf gegeben, und meist ist beiden Seiten nicht ganz wohl dabei zumute. Doch der Buddhismus ist keine Religion im herkömmlichen westlichen Sinn des Wortes. Er basiert weder auf der Vorstellung eines Schöpfers noch auf Gottvertrauen. Vielmehr könnte man ihn als »Wissenschaft vom Geist« bezeichnen und als einen Weg der Transformation von Täuschung in Weisheit, von Leid in Freiheit. Wie die Naturwissenschaften, untersucht auch der Buddhismus den Geist auf empirische Weise, und das schon seit über 2500 Jahren. Er betont dabei die Erfahrungen aus der Erste-Person-Perspektive, die von erfahrenen Meditierenden durch Introspektion gewonnen werden.

Hunderte von Büchern und Artikeln beschäftigen sich mit Erkenntnistheorie, Meditation, der Auffassung vom Selbst, der Bedeutung von Emotionen, der Existenz des freien Willens und dem Wesen des Bewusstseins. Wir möchten an dieser Stelle keinen Überblick über die zahlreichen bereits existierenden Standpunkte und Argumente geben. Wahrscheinlich sind einige der Ansichten, die wir hier präsentieren, schon hinlänglich diskutiert, vielleicht sogar bereits widerlegt worden. Wir wollen hier, in einem intimen und lebendigen Gespräch, zwei Perspektiven einander gegenüberzustellen, die auf reichen empirischen und philosophischen Traditionen sowie auf lebenslanger persönlicher Erfahrung beruhen – auf buddhistischer Philosophie und kontemplativer Übung auf der einen Seite, auf den Neurowissenschaften und westlicher Erkenntnistheorie auf der anderen. Wir hoffen, dass dieses Gespräch uns dabei helfen wird, unser eigenes Verständnis zu vertiefen, und wir laden auch unsere Leserinnen und Leser dazu ein, von dieser jahrelangen ernsthaften Beschäftigung mit einigen der wichtigsten Lebensfragen zu profitieren.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir die zahlreichen zusätzlichen Fragen, die uns während unserer Begegnungen durch den Kopf gingen, nicht genau und erschöpfend genug behandelt haben. Ebenso ist uns bewusst, dass wir uns immer wieder von Themen, die uns am Herzen liegen, haben mitreißen lassen, was manchmal zu abrupten Richtungswechseln unserer Debatte oder zu Wiederholungen geführt hat. Wir haben davon abgesehen, diese Textabschnitte gründlich zu redigieren, um die Authentizität unseres Austausches zu erhalten, und möchten uns für das, was möglicherweise als Nachlässigkeit erscheint, entschuldigen. Hoffentlich ist es uns gelungen, einige der Einsichten zu vermitteln, zu denen wir in unseren Diskussionen gelangt sind. Wir verstehen unseren Dialog als einen kleinen Beitrag zu dem umfas

1Meditation und Gehirn1

Die Lernfähigkeit des Menschen ist der anderer Tiere weit überlegen. Können wir unsere geistigen Fertigkeiten ebenso durch Training weiterentwickeln wie unsere physischen? Kann geistige Übung uns achtsamer, altruistischer und gelassener machen? Diese Fragen werden seit 20 Jahren von Neurowissenschaftlern und Psychologen in Zusammenarbeit mit Menschen, die meditieren, erforscht. Können wir lernen, mit jenen Gefühle, die uns beunruhigen, auf eine optimale Weise umzugehen? Welche funktionellen und strukturellen Transformationen werden durch die verschiedenen Arten der Meditation im Gehirn bewirkt? Wie lange dauert es, bis sich solche Transformationen bei Menschen, die gerade erst mit dem Meditieren begonnen haben, beobachten lassen?

Eine Wissenschaft des Geistes

MR Auch wenn die buddhistische Literatur viele Abhandlungen zu »traditionellen Wissenschaften« kennt, strebte der tibetische Buddhismus nicht im selben Maß wie die westlichen Zivilisationen nach einer Vermehrung des Wissens über die Welt mithilfe der Naturwissenschaften. Dafür hat er sich 25 Jahrhunderte lang sehr intensiv mit der Erforschung des Geistes beschäftigt und auf empirischem Weg eine Vielzahl an Erkenntnissen gewonnen. Im Lauf der Jahrhunderte haben unzählige Menschen ihr ganzes Leben dieser kontemplativen Wissenschaft gewidmet. Die moderne westliche Psychologie dagegen begann erst mit William James vor wenig mehr als 100 Jahren. Dazu fällt mir eine Bemerkung von Stephen Kosslyn ein. Im Jahr 2003 fand die Mind-and-Life-Konferenz am MIT (Massachusetts Institute of Technology) statt, und Kosslyn, der damals Dekan des Fachbereichs Psychologie in Harvard war, leitete seinen Vortrag mit den Worten ein: »Voller Demut und Bescheidenheit stehe ich vor der reinen Datenmenge, die die kontemplativen Wissenschaften in die moderne Psychologie einbringen.« Es genügt nicht, angestrengt darüber nachzudenken, wie der Geist funktionieren könnte, und dann komplexe Theorien aufzustellen, wie es beispielsweise Freud getan hat. Solche intellektuellen Abenteuer können 2000 Jahre direkter Erforschung der Arbeitsweise des Geistes anhand ergründender Introspektion nicht ersetzen, durchgeführt von erfahrenen Praktikern, die bereits zu Stabilität und Klarheit gelangt sind. Selbst die ausgefeilteste Theorie eines brillanten Denkers kann, wenn sie nicht auf empirischer Evidenz beruht, nicht mit den gesammelten Erfahrungen von Hunderten von Personen verglichen werden, von denen jede Dutzende Jahre damit zugebracht hat, die subtilsten Aspekte des Geistes durch direkte Erfahrung auszuloten und so – mit diesem empirischen Ansatz und mit dem Instrument des geübten Geistes – einen Weg gefunden hat, Gefühle, Stimmungen und Wesenszüge allmählich zu transformieren und die am tiefsten verwurzelten Neigungen zu beseitigen, die einer optimalen Lebenseinstellung im Wege stehen. Wenn wir das erreichen, indem wir die fundamentalen menschlichen Charakteristika stärken – Liebe und Güte, innere Freiheit, innerer Frieden und innere Stärke –, können wir unsere Lebensqualität durchgängig verbessern.

WS Mir erscheint das als eine recht kühne Behauptung. Kannst du sie weiter begründen? Warum sollte, was uns die Natur mitgegeben hat, a priori schlecht sein und spezieller mentaler Übungen bedürfen, um eliminiert zu werden, und warum sollte dieser Ansatz konventioneller Erziehung oder, wenn es im Lauf des Lebens tatsächlich zu schweren Konflikten kommt, der Psychotherapie in ihren verschiedenen Ausformungen, also auch der Psychoanalyse, überlegen sein?

MR Was die Natur uns mitgegeben hat, ist nicht nur negativ, ganz im Gegenteil! Aber es handelt sich dabei lediglich um einen Ausgangspunkt. Die meisten unserer angeborenen Fähigkeiten bleiben ungenutzt, bis wir aktiv werden, etwa indem wir sie zu einem bestimmten Zweck trainieren. Wir alle wissen, dass unser Geist uns sowohl bester Freund als auch schlimmster Feind sein kann. Der Natur haben wir einen Geist zu verdanken, der das Potenzial in sich trägt, viel Gutes zu tun, uns und anderen aber auch viel unnötiges Leid zuzufügen. Wenn wir ehrlich sind, dann sind da Licht und Schatten, wir haben gute Seiten, aber auch Mängel. Ist das alles, was wir sein können? Oder lässt sich unsere Lebensweise noch optimieren? Das sind Fragen, die zu stellen sich lohnt, insbesondere wenn man davon ausgeht, dass eine Veränderung sowohl wünschenswert als auch möglich ist.

Es gibt nur sehr wenige Menschen, die ehrlich davon überzeugt sind, dass ihre Lebensweise und die Art, wie sie die Welt wahrnehmen, schon das Optimum darstellen. Einige Menschen halten ihre individuellen Schwächen und widerstreitenden Gefühle für einen wertvollen und eigenständigen Teil ihrer »Persönlichkeit«, der zum guten Leben dazu gehört. Ihnen zufolge ist es das, was sie einzigartig macht, und sie glauben, sich so akzeptieren zu müssen. Aber ist das nicht ein bisschen simpel, die Idee, man könne die eigene Lebensqualität verbessern, so einfach aufzugeben? Man müsste dazu doch nur ein wenig nachdenken und sich ein bisschen anstrengen.

Häufig machen wir uns viele Sorgen und sind dann oft wütend, ängstlich oder mit unangenehmen Gedanken beschäftigt. Wir würden unsere Emotionen gern so weit unter Kontrolle kriegen, dass wir uns von den Zuständen befreien könnten, die unsere Gedanken durcheinanderbringen und unseren Geist vernebeln. Weil wir nicht wissen, wie wir diese Probleme meistern sollen, ist es natürlich leichter, eine Haltung anzunehmen, in der das alles »normal« ist, weil es der »menschlichen Natur« entspricht. Alles, was wir in der Natur vorfinden, ist »natürlich«, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es positiv ist. Beispielsweise sind Krankheiten etwas absolut Natürliches, das jeden betrifft. Aber hindert uns das daran, nach Heilmitteln zu suchen?

Niemand wacht morgens auf und denkt sich: »Ich wünschte, ich könnte den ganzen Tag leiden, und, wenn möglich, auch mein ganzes Leben lang.« Jede Handlung, mit der wir uns beschäftigten, ist darauf ausgerichtet, für uns selbst oder andere etwas Nützliches oder Befriedigendes zu erreichen oder zumindest unser Leid zu lindern. Wären wir überzeugt, unser Tun resultierte in nichts als Elend, dann würden wir gar nichts mehr unternehmen und verzweifeln.

Wir finden gar nichts dabei, jahrelang gehen, lesen oder schreiben lernen zu müssen oder mühevoll eine berufliche Qualifikation zu erwerben. Um in Form zu kommen und zu bleiben, trainieren wir stundenlang im Fitnessstudio. Manchmal investieren wir wahnsinnig viel körperliche Energie, um auf einem Ergometer in die Pedale zu treten und doch nie von der Stelle zu kommen. Um an solchen Dingen dranzubleiben, ist zumindest ein gewisses Maß an Interesse oder Begeisterung nötig. Die Energie dazu stammt aus der Überzeugung, dass sich diese Anstrengungen auf lange Sicht auszahlen werden. Den Geist zu trainieren folgt derselben Logik. Wie sollte er sich allein aufgrund eines frommen Wunsches verändern? Wenn man Skilaufen lernen will, reichen einige Minuten im Jahr auf der Piste ja auch nicht aus.

Wir verbringen viel Zeit damit, unsere äußeren Lebensumstände zu verbessern. Doch am Ende ist es immer der Geist, der diese Welt wahrnimmt und diese Erfahrung in Wohlbefinden oder Leiden übersetzt. Indem wir die Art und Weise, wie wir wahrnehmen, verändern, transformieren wir unsere Lebensqualität. Es ist diese Art der Veränderung, die durch mentale Übung, also Meditation, herbeigeführt wird.

Leider unterschätzen wir unsere Fähigkeit zur Veränderung extrem, das ist wirklich außerordentlich tragisch. Unsere Charaktereigenschaften bleiben dieselben, solange wir nichts dagegen unternehmen und solange wir unsere Angewohnheiten und Denkmuster dulden und immer weiter verstärken, Gedanke für Gedanke. Die Wahrheit ist aber, dass der Zustand, den wir als »normal« bezeichnen, nur den Ausgangspunkt bezeichnet und nicht das Ziel, das wir uns selbst setzen sollten. Unser Leben kann so viel besser sein! Schritt für Schritt ist es möglich, eine optimale Lebensweise zu erreichen.

Uns ist auch die Fähigkeit gegeben, unser Veränderungspotenzial zu erkennen, unabhängig davon, was wir jetzt sind und was wir getan haben. Diese Überzeugung ist eine sehr mächtige Quelle der Inspiration, aus der wir die Kraft schöpfen können, innere Veränderungen in Gang zu bringen. Dies ist nicht immer leicht, aber schon das Vertrauen auf die Möglichkeit an sich setzt so viel Energien für den Transformationsprozess frei, dass allein dies schon heilende Wirkung hat.

Die moderne konventionelle Erziehung konzentriert sich nicht auf die Veränderung der Persönlichkeit und die Kultivierung der grundlegenden menschlichen Qualitäten wie »mindfulness«, also Achtsamkeit, und »loving kindness«, also liebende Güte. Wie wir später sehen werden, weisen die kontemplativen buddhistischen Techniken Gemeinsamkeiten mit kognitiven Therapieverfahren auf. Dies gilt besonders für solche, die Achtsamkeit als Grundlage für die Lösung mentaler Konflikte ansehen. Was die Psychoanalyse angeht, so scheint sie gerade das »Wiederkäuen« zu befördern und in einem endlosen Prozess die Details und Feinheiten jener Wolken geistiger Irrungen und Selbstbezogenheit zu thematisieren, die den elementarsten Aspekt des Geists verdunkeln, nämlich den Zustand »reinen Gewahrseins«.

WS Das »Wiederkäuen« wäre also genau das Gegenteil von Meditation.

MR Das völlige Gegenteil. Wie wir wissen, ist das ständige Wiederkäuen auch eines der wichtigsten Symptome einer Depression.

WS Es ist für unser Gespräch sicherlich bereichernd, diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die Heilung des Geistes zu betrachten. Hier besteht also ein bemerkenswerter Kontrast zwischen den Kulturen. Ich denke, dass Meditation oft missverstanden wird. Ich habe nur wenig Erfahrung damit, aber mir ist sehr klar geworden, dass es sich dabei nicht um eine Nabelschau handelt. Ganz im Gegenteil.

MR Wenn man sich vor Augen hält, was beim Wiederkäuen geschieht, wird sofort deutlich, wie schädlich es ist. Wir müssen uns von den mentalen Kettenreaktionen freimachen, die durch die Grübelei ins Unendliche fortgesetzt werden. Wir müssen lernen, die Gedanken kommen und gehen zu lassen, statt ihnen zu gestatten, immer wieder von uns Besitz zu ergreifen. Wir müssen lernen, in der Frische des Augenblicks zu verweilen – das Vergangene ist vorbei, die Zukunft noch nicht erschlossen, und wenn man in reiner Achtsamkeit und Freiheit verharrt, dann kommen die störenden Gedanken, aber sie gehen auch wieder, ohne Spuren zu hinterlassen.

WS In einer deiner früheren Ausführungen hast du die Überzeugung geäußert, dass jedes menschliche Wesen in seiner Seele ein »nugget of gold« trägt, ein Goldkorn, einen reinen Kern, dessen positive Eigenschaften aber von einer Fülle negativer Züge und Emotionen verdeckt und überschattet werden, die unsere Wahrnehmungen verfälschen und Hauptursache für das Leiden in der Welt sind. Mir erscheint dies als eine zu optimistische und überdies ungeprüfte Hypothese. Es erinnert an Rousseaus Träume und steht im Widerspruch zu dem, was uns Fälle wie Kaspar Hauser lehren. Wir sind, was uns die biologische Evolution über die Gene und die kulturelle Evolution über Erziehung aufgeprägt hat. Wo ist da das Goldkorn?

MR Das Stück Gold bleibt tief im Erz, im Fels, im Schlamm verborgen. Es büßt seine Reinheit nicht ein, aber sein Wert bleibt unerkannt. Ebenso braucht unser menschliches Potenzial die richtigen Bedingungen, um sich voll verwirklichen zu können.

Achtsamkeit und mentale Konstrukte

MR Dieser Vorstellung liegt keine naiv-optimistische Einschätzung der menschlichen Natur zugrunde, sondern Nachdenken und introspektive Erfahrung. Die erste Überlegung ist, dass es einen gemeinsamen Nenner für alle Gedanken, alle Emotionen, alle Gefühle und alle mentalen Vorgänge gibt: die Erkenntnisfähigkeit. Buddhisten bezeichnen das auch als die »Lichtnatur des Geistes«, weil sie durch unsere Wahrnehmungen gleichsam ein Licht auf die äußere Welt wirft und unsere innere Welt durch die Erinnerung an die Vergangenheit, die Vorstellung von der Zukunft und das Gewahrsein der Gegenwart erhellt. Sie ist licht im Vergleich zu einem unbelebten Objekt, das kognitiv gesehen stockfinster wäre.

Oder nehmen wir ein anderes Licht-Bild: Wenn du mit einer Fackel ein schönes, lächelndes Gesicht oder eine wutverzerrte Fratze, einen Berg von Juwelen oder einen Müllhaufen beleuchtest, dann wird das Licht selbst davon nicht schön, hässlich, wertvoll oder schmutzig. Ein weiteres Beispiel: Das Besondere an einem Spiegel ist, dass er alle Arten von Bildern reflektiert, aber keines gehört zu dem Spiegel, durchdringt ihn oder bleibt in ihm. Denn wenn das der Fall wäre, würden sich alle diese Bilder überlagern und der Spiegel würde nutzlos. In ähnlicher Weise sorgt die erwähnte Basiseigenschaft des Geistes dafür, dass alle mentalen Konstrukte – Liebe und Wut, Wonne und Eifersucht, Freud und Leid – entstehen können, ohne dass er selbst dadurch verändert wird. Mentale Phänomene gehören nicht wirklich zum Wesen des Bewusstseins. Sie treten einfach nur innerhalb des »Bewusstheitsraums«, im Rahmen verschiedener Bewusstseinszustände in Erscheinung und werden von dieser Grundbewusstheit ermöglicht. Folglich lässt sich diese Qualität als grundlegende Erkenntnis, reine Bewusstheit oder als Naturzustand des Geistes bezeichnen.

WS Was du sagst, hat für mich zwei Implikationen. Eine ist, dass du Stabilität beziehungsweise Objektivität einen Wert an sich zuschreibst, sie als Validierungskriterium verstehst. Die zweite ist, dass du offenbar zwischen Bewusstsein und seinen Inhalten eine deutliche Trennung vornimmst. Du nimmst an, es gebe im Gehirn eine Plattform der reinen Bewusstheit, welche die Eigenschaften eines idealen Spiegels hat, der selbst keinerlei Verzerrungen der Inhalte bewirkt und diese lediglich reflektiert, ohne davon beeinflusst zu werden. Für mich klingt das so, als nähmest du eine klassische dualistische Position ein, als gingest du von einer Dichotomie aus zwischen dem unbefleckten Geist oder Beobachter auf der einen Seite und den Inhalten, die in dieser reinen Bewusstheit aufscheinen, auf der anderen. Aktuellen Forschungsergebnissen über die Organisation des Gehirns zufolge besteht keine klare Trennung zwischen sensorischen und exekutiven Funktionen. Sie interpretieren Bewusstsein als eine auf den integralen Funktionen des Gehirns basierende Eigenschaft. Daher finde ich die Unterscheidung zwischen einem makellosen Spiegel und reflektierten Objekten schwierig. Ich kann mir kein von allen Inhalten entleertes Bewusstsein vorstellen. Wenn es leer ist, würde es nicht existieren, es wäre schlicht nicht definiert.

MR Es handelt sich dabei nicht um Dualität, nicht um zwei getrennte Ebenen des Bewusstseins, sondern mehr um die verschiedenen Aspekte von Bewusstsein: eine Basiseigenschaft, die immer da ist, das reine Gewahrsein, und die geistigen Konstrukte, die sich darin entfalten und ständig verändern. Statt von Dualität würden wir eher von Kontinuität sprechen. Das Bewusstsein ist auf allen seinen Ebenen ein dynamischer Strom aus Momenten reiner Bewusstheit mit oder ohne Inhalt. Hinter der Trennwand aus Gedanken liegt immer und zu jeder Zeit ein reines Bewusstsein, das nicht von Inhalten getrübt ist.

WS Dies würde dann zumindest zwei deutlich unterschiedene Entitäten erfordern, einen leeren Raum, wie auch immer er definiert sein mag, der als Gefäß dient, und dann dessen Inhalte, die, wie sehr sie auch kontaminiert sein mögen durch Affekte und Illusionen, das Gefäß selbst nicht beflecken.

MR Statt von separaten Entitäten würden wir eher von fundamentalen und spezifischen Aspekten sprechen. Das reine Bewusstsein ist nicht auf etwas festgelegt, ähnlich wie das Reflexionsvermögen des Spiegels. Vergleiche sind hilfreich, hinken aber natürlich immer. Hier ein weiterer: Die reine Bewusstheit könnte mit Töpfererde verglichen werden und die geistigen Konstrukte mit den verschiedenen Formen, in die diese gebracht werden kann. Gleichgültig, welche Form der Ton annimmt, er bleibt selbst im Wesentlichen unverändert.

WS Erfordert die Kultivierung eines solchen unbefleckten inneren Auges, eines idealen Spiegels, der von Affekten und Emotionen nicht berührt werden kann, nicht eine Dissoziation der Persönlichkeit? Wäre da nicht auf der einen Seite der unberührbare Betrachter, dessen Blick weder durch Emotionen, Affekte und Fehlwahrnehmungen getrübt werden kann, und auf der anderen der abgespaltene, fehlbare Teil des Ichs, der in Konflikte gerät und Situationen falsch einschätzt, weil er sich leidenschaftlich verliebt oder große Enttäuschungen erfahren hat? Ist es das Ziel mentaler Praktiken, eine solche Dissoziation des Ichs herbeizuführen? Was ist deine Erfahrung? Und siehst du in der Beförderung dieser Dissoziation – falls Meditation dieses Ziel hat – nicht ein gefährliches Experiment?

MR Es besteht überhaupt keine Dissoziation. Ganz im Gegenteil: Wir sprechen gerade von nichtdualer selbsterleuchtender Bewusstheit. Die Persönlichkeit ist nicht gespalten. Dem Geist wohnt die Fähigkeit inne, sich selbst zu beobachten. Eine Flamme braucht keine zweite Flamme, um sich selbst zu beleuchten. Ihr eigenes Licht reicht dafür aus.

Was ich sagen will: Man kann seine Gedanken betrachten, starke Emotionen eingeschlossen, wenn man mit dem Aspekt der reinen Achtsamkeit arbeitet, der nicht mit den Gedankeninhalten verknüpft ist. Gedanken sind Manifestationen der reinen Bewusstheit – wie die Wellen, die sich aus dem Ozean erheben und dann wieder in ihm auflösen. Der Ozean und die Wellen sind nicht wirklich verschieden. Normalerweise sind wir so mit den Gedankeninhalten beschäftigt, dass wir den grundlegenden Aspekt des Bewusstseins, die reine Bewusstheit, nicht bemerken, weil wir uns so sehr mit unseren Gedanken identifizieren. Das ist der Grund, weshalb wir uns leicht täuschen lassen und infolgedessen unter einer falschen Interpretation der Realität leiden. Beim buddhistischen Weg geht es um nichts anderes als um verschiedene Methoden, wie man mit solchen Täuschungen fertig wird. Nehmen wir die Erfahrung überschäumender Wut als Beispiel. Wir werden dann eins mit der Wut. Die Wut erfüllt unser ganzes Denken und Fühlen und überträgt ihre Verdrehung der Wirklichkeit auf Menschen und Ereignisse. Wenn wir von der Wut überwältigt werden, können wir uns nicht von ihr lösen. Und wir bewegen uns in einem quälenden Teufelskreis, da die Wut jedes Mal wieder neu entfacht wird, wenn wir die Person sehen, die uns geärgert hat, oder auch wenn wir nur an sie denken. Obwohl Wut alles andere als ein schöner Geisteszustand ist, halten wir sie am Leben, gerade so, als ob wir immer wieder Feuerholz nachlegen. Manchmal werden wir fast süchtig nach der Ursache unseres Leidens. Doch wenn wir uns von der Wut lösen und sie leidenschaftslos mit reiner Achtsamkeit betrachten, dann erkennen wir, dass es sich eigentlich nur um einen Wust aus Gedanken handelt. Wut trägt keine Waffen, sie brennt nicht wie Feuer, und sie zerschmettert auch nicht wie ein Fels: Sie ist nichts weiter als ein Produkt unseres Geistes.

WS Folgt daraus nicht, dass positive Emotionen ebenso schädliche Auswirkungen haben, weil auch sie zu Fehlwahrnehmungen Anlass geben und folglich Leiden bewirken?

MR Nicht unbedingt. Es hängt alles von ihren Folgen ab, ob sie die Wahrnehmung verzerren und Ursachen von Leid werden. Wenn der Geist von altruistischer Liebe und dem starken Willen, den anderen vom Leiden zu befreien, erfüllt ist, dann stimmt sein Weltbild, denn er erkennt die Bande zwischen allen fühlenden Wesen, ihren Wunsch, Leid zu meiden und Glück zu erfahren. Wenn zudem altruistische Liebe frei ist von Bevorzugung, Besitzenwollen und Klammern, dann hat sie keine negativen Folgen. Anstatt Weisheit zu verschleiern, wird sie sich als der natürliche Ausdruck von Weisheit manifestieren.

Aber lass mich auf den Ärger zurückkommen. Statt zuzulassen, dass wir selbst zu Wut werden, sollten wir verstehen, dass wir nicht »Wut sind«.

Anschließend betrachten wir die Wut selbst und richten unsere Aufmerksamkeit ganz allein auf sie. Was passiert? Wenn wir aufhören, Holz ins Feuer zu legen, und nichts weiter tun als zusehen, dann wird das Feuer schon bald verlöschen.

WS Und so erginge es auch allen anderen Emotionen, der Liebe, der Empathie, der Trauer. Geht es dir um ein klares, von allen emotionalen Färbungen befreites Bewusstsein? Ich bezweifle sehr, dass solche emotionslosen Menschen überleben könnten, es sei denn, sie hätten das Privileg, in einer sehr geschützten Umgebung zu existieren.

Arbeit mit Gefühlen

MR Es geht nicht darum, keine Emotionen zu haben, sondern sich nicht von ihnen versklaven zu lassen. In den westlichen Sprachen stammt das Wort Emotion aus dem Lateinischen emovere – aufwühlen, in Bewegung setzen. Eine Emotion regt den Geist an, aber die Frage ist, wie sie das tut. Der Geist kann durch das Leid eines anderen angeregt werden, mit dem Ziel, es zu lindern – also in einem positiven Sinn. Darüber hinaus ist es nicht sinnvoll, aufsteigende Gedanken und Emotionen ausblenden zu wollen, denn sie überschwemmen den Geist sowieso. Wichtig ist nur, wie es dann weitergeht. Sobald negative Emotionen aufsteigen, ist der Ärger da. Findet man aber in dem Moment, in dem sie hochzukochen beginnen, einen Weg, sie aufzulösen, ist man mit ihnen kompetent umgegangen.

Indem wir es nicht zu einem Wutausbruch kommen lassen, bleiben auch all die negativen Folgen aus, die ein solcher Ausbruch mit sich bringt, wie etwa die Verletzung anderer, die Zerstörung des eigenen inneren Friedens oder die Verstärkung der Neigung, immer öfter und immer leichter wütend zu werden. Hätten wir die Wut einfach unterdrückt, sozusagen einen Deckel auf den Topf gelegt, ohne sie selbst anzurühren, dann würde irgendwo in einer dunklen Ecke unseres Geistes eine Zeitbombe weiterticken. Nein, das Feuer verlöschen zu lassen, war ein intelligenter Weg, mit der Wut umzugehen. Wenn wir diese Strategie beibehalten, wird die Wut immer seltener und immer schwächer auftreten. Die schlechte Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit in Rage zu geraten, wird allmählich beseitigt, und unsere Wesenszüge werden transformiert.

WS Was es zu lernen gilt, ist, scharf zwischen Ursache und Wirkung zu trennen, eine distanziertere Haltung gegenüber den eigenen Emotionen einzunehmen und die verschiedenen Konnotationen der Gefühle besser zu unterscheiden.

MR Anfangs ist es schwierig, sofort zu handeln, wenn sich Wut aufbaut. Aber wenn man sich erst einmal an diese Herangehensweise gewöhnt hat, wird sie ganz selbstverständlich. Wir merken es gleich, wenn es anfängt, in uns zu brodeln, und greifen ein, bevor die Wut übermächtig wird. Angenommen, du weißt, dass jemand ein Taschendieb ist. Du wirst diese Person erkennen, selbst wenn sie sich in einer 20- oder 30-köpfigen Menschenmenge bewegt. Und du wirst sie fest im Auge behalten, damit sie nicht an deine Geldbörse kommt.

WS Das Ziel ist also, das Auflösungsvermögen des inneren Auges zu erhöhen, seine Empfindlichkeit für die Signale aus dem emotionalen Untergrund zu vergrößern, um dem Ansturm von Emotionen begegnen zu können, bevor er bedrohlich oder überwältigend wird.

MR Ja, je mehr man mit der Arbeitsweise des Geistes vertraut wird und je besser es gelingt, die Achtsamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu richten, desto seltener wird sich eine negative Emotion von einem Funken zu einem verheerenden Waldbrand entwickeln, der außer Kontrolle gerät und dann dein Glück und das von anderen zerstört. Anfangs muss man sich wirklich bewusst darum bemühen, später wird dieses Verhalten ganz natürlich.

WS Das ähnelt einer wissenschaftlichen Untersuchung, nur dass die analytischen Bemühungen auf die innere anstatt auf die äußere Welt gerichtet werden. Auch die Wissenschaften gewinnen ihre Erkenntnisse dadurch, dass sie die Empfindlichkeit und das Auflösungsvermögen ihrer Instrumente erhöhen und komplexe Phänomene in immer kleinere Komponenten zerlegen.

MR In den buddhistischen Lehrtexten heißt es, es gibt keine schwierige Aufgabe, die sich nicht in kleine einfache Aufgaben unterteilen lässt.

WS Dein Forschungsobjekt ist also der mentale Apparat selbst, und dein Analyseinstrument ist die Introspektion. Dies ist ein interessanter selbstreferentieller Ansatz, der sich von der westlichen Herangehensweise an die Wissenschaft vom Geist unterscheidet, weil er die Erste-Person-Perspektive betont und dabei Subjekt und Objekt der Forschung vermengt. Auch der westliche Ansatz nutzt natürlich die Erste-Person-Perspektive für die Definition der zu erforschenden mentalen Phänomene, aber zur Erforschung dieser Phänomene zieht er sich dann auf die Dritte-Person-Perspektive zurück. Ich bin gespannt, ob die Ergebnisse kontemplativer, analytischer Introspektion mit denen übereinstimmen, welche die kognitiven Neurowissenschaften zutage fördern. Haben doch beide Ansätze verwandte Ziele: Beide versuchen, einen differenzierten und realistischen Blick auf das Wesen kognitiver Prozesse zu erlangen. Möglicherweise reicht da unser westlicher Ansatz, wie wir die Introspektion als Forschungsinstrument nutzen, nicht aus. Die Konzepte über die Organisation unserer Gehirne, die nur auf Intuition und Introspektion basieren, stehen oft in eklatantem Widerspruch zu Konzepten, die sich der naturwissenschaftlichen Erforschung von Hirnfunktionen verdanken – es ist dieser Konflikt übrigens einer der Gründe, die zu mitunter recht heftigen Auseinandersetzungen zwischen Hirnforschern und Vertretern der Geisteswissenschaften geführt haben. Woher nimmst du die Gewissheit, dass die introspektiven Techniken, die du zur Erforschung mentaler Phänomene anwendest, verlässlich sind? Wenn das Kriterium lediglich der Konsens zwischen jenen ist, die sich als Experten verstehen, dann stellt sich doch das besondere Problem, dass hier ausschließlich subjektive mentale Zustände als Vergleichsgrundlage herangezogen werden können. Es gibt nichts, was eine außenstehende Person begutachten und als valide beurteilen könnte. Der Beobachter ist auf die verbalen Äußerungen eines Befragten über subjektive Zustände angewiesen.

Allmähliche und dauerhafte Veränderungen

MR Nimm die Mathematik oder die Physik als Beispiel. Zunächst musst du dich auch hier auf die Behauptungen der Wissenschaftler verlassen. Aber du könntest dich in dem Fach ausbilden lassen und die Behauptung dann selbst überprüfen. In den kontemplativen Wissenschaften ist es dasselbe. Du musst nur erst dein geistiges Teleskop verfeinern und die Beobachtungstechniken über viele Jahre hinweg verbessern, um dann selbst bestätigen zu können, was die kontemplativen Forscher entdeckt und worauf sie sich geeinigt haben. Nimm das Phänomen reinen, inhaltsleeren Bewusstseins, mit dem du Schwierigkeiten hast. Das ist etwas, was alle Meditierenden erfahren haben, es ist nicht nur eine buddhistische Theorie. Und jeder, der die Mühe auf sich nimmt, seinen Geist zu stabilisieren und zu klären, wird in der Lage sein, diese Erfahrung zu machen.

Was die Überprüfung intersubjektiver Erfahrungen angeht: Sowohl die Experten als auch die Texte, die sich mit den unterschiedlichen Erfahrungen beschäftigen, die ein Meditierender machen kann, sind ziemlich präzise. Wenn ein Schüler seinem Meister seine Geisteszustände beschreibt, tut er das nicht mit vagen, poetischen Begriffen. Der Meister wird ihm sehr detaillierte Fragen stellen, die der Schüler beantwortet, und dabei ist klar, dass sie über etwas sprechen, das genau definiert ist und über dessen Bedeutung sie sich einig sind.

Was am Ende wirklich zählt, ist die allmähliche Veränderung eines Menschen. Wenn wir im Laufe von Monaten oder Jahren feststellen, dass wir weniger ungeduldig, weniger reizbar, weniger zwischen Hoffnungen und Ängsten hin- und hergerissen werden, wenn wir merken, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, jemandem bewusst Schaden zuzufügen, dann haben wir das mentale Rüstzeug, um mit den Höhen und Tiefen des Lebens fertig zu werden. Wie heißt es in den Lehrtexten? »Es ist einfach, ein guter Meditierender zu sein, während man mit vollem Bauch in der Sonne sitzt. Wahrhaft bewähren müssen sich Meditierende aber unter schwierigen Umständen.« Erst in einer solchen Situation kannst du wirklich ermessen, wie stark sich deine Lebenseinstellung verändert hat. Wenn dich jemand kritisiert oder beleidigt und du es schaffst, nicht in die Luft zu gehen, sondern innerlich ruhig zu bleiben, so als ob du nur einem leisen Echo lauschen würdest, dann hast du tatsächlich ein gewisses emotionales Gleichgewicht erreicht und bist weniger verletzlich geworden.

Aus einer Studie geht hervor, dass meditierende Versuchspersonen, wie jeder andere, der nicht zerstreut ist, zwischen angenehmen und unangenehmen Reizen unterscheiden können, dass sie aber offenbar emotional weniger stark reagieren als Kontrollpersonen. Sie können sich weiterhin voll auf etwas konzentrieren, ohne sich von ihren emotionalen Reaktionen hinreißen zu lassen.2 Normale Versuchspersonen nehmen bei Aufmerksamkeitstests, wenn sie zum Beispiel eine kognitiv anspruchsvolle Aufgabe lösen müssen, störende Reize entweder nicht wahr und reagieren nicht, oder sie nehmen sie wahr und reagieren dann sehr heftig.

WS Ich sehe den Nutzen dieser Haltung bezüglich negativer Emotionen durchaus. Aber negative Emotionen haben auch außerordentlich wichtige Funktionen für das Überleben des Organismus. Sie sind vermutlich kein sinnloses Nebenprodukt der biologischen Evolution, sondern blieben erhalten, weil sie dem Überleben dienen. Sie schützen uns und helfen uns, aversive oder gefährliche Situationen zu meiden. Bis jetzt haben wir nur darüber gesprochen, dass es darum geht, die Wahrnehmung der Welt vor Verzerrungen durch negative Emotionen zu schützen und gleichzeitig die positiven, wie Empathie, Liebe, Sorgsamkeit, Achtsamkeit und Gewissenhaftigkeit, zu stärken. Aus Gründen der Symmetrie sollte man annehmen, dass positive Emotionen den unverstellten Blick auf die Welt ebenso stark verzerren können wie die negativen und bei dem Versuch, ein klares Bewusstsein zu kultivieren, ebenfalls in den Hintergrund treten.

MR Wenn Liebe und Empathie durch Besitzenwollen kontaminiert sind und zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit führen, dann sind sie aus buddhistischer Sicht nicht »positiv«, weil sie Leid erzeugen werden. Umgekehrt hat die altruistische Liebe positive Auswirkungen auf alle Beteiligten, auf die Nutznießer ebenso wie auf denjenigen, von dem sie ausging. Empörung angesichts von Ungerechtigkeit kann engagiertes Handeln auslösen, das zum Ziel hat, die Ungerechtigkeit auszugleichen. Solche Empörung ist dann im Gegensatz zu böswilligen unkontrollierten Wutausbrüchen konstruktiv, wenn sie weder mit Hass gemischt ist noch die Realität verzerrt. Das Ergebnis ist weniger Leiden und mehr Wohlbefinden für alle. Ob eine Emotion positiver oder negativer Natur ist, sollte aufgrund ihrer – altruistischen oder egoistischen – Motivation sowie ihrer Konsequenzen – Wohlbefinden oder Leiden – beurteilt werden.

WS Wie sollen wir uns einen Prozess vorstellen, der einzig und allein vom Gehirn selbst initiiert wird? Es geht darum, eine Veränderung im Gehirn herbeizuführen, indem man möglichst viele schädliche Einflüsse von außen ausschaltet. Man muss eine ganze Weile im eigenen Gehirn herumspazieren, um bestimmte Gefühle hervorzurufen. Dazu bedarf es wohl einer gewissen Dissoziation, einer Trennung zweier Ebenen: Auf der einen Ebene ist ein Agens nötig, das dann auf einer anderen Ebene für eine Veränderung sorgt. Man muss die eigenen Emotionen beobachten und gleichzeitig die Sinne wachhalten, um diese Emotionen überhaupt haben zu können – ich glaube, man kann nur auf sie einwirken, wenn man sie aktiviert –, und schließlich muss man noch lernen, sie auseinanderzuhalten. Wie geht das? Welche Hilfsmittel gibt es?

Anregungen von innen und von außen

MR Das Gehirn ist ganz offensichtlich in der Lage, sich selbst zu kennen und zu trainieren. Das machen Menschen ständig, nur nennen sie es nicht Meditation. Aus freien Stücken lernen sie Dinge auswendig, sie verbessern ihre geistigen Fertigkeiten, indem sie Schach spielen und im Kopf Probleme lösen. Meditation ist einfach eine systematischere Möglichkeit, genau dies zu tun, und zwar mit Weisheit – das heißt, mit dem Verständnis des Zusammenspiels von Glück und Leid. Dazu muss man beharrlich sein, man muss wie bereits erwähnt immer wieder trainieren. Bei der Meditation geht es allerdings nicht um die Ausbildung einer physischen Fertigkeit, sondern um innere Bereicherung. Soviel ich weiß, entwickeln sich die Gehirnfunktionen durch den Kontakt mit der Außenwelt. Bei einem blind geborenen Menschen werden sich die visuellen Areale nicht entwickeln, sie werden sogar von den auditorischen Regionen übernommen, die für einen Blinden viel nützlicher sind.3 Ende der 1990er-Jahre stellte man fest, dass Ratten, die in einer einfachen Pappschachtel gehalten werden, weniger neuronale Verbindungen haben. Setzt man sie jedoch in eine Art Rattenvergnügungspark mit Laufrädern, Röhren und einigen netten Artgenossen, dann weist ihr Gehirn binnen eines Monats viele neue funktionelle Verbindungen auf.4 Kurz danach wurde auch bewiesen, dass diese Neuroplastizität bei Menschen lebenslang besteht.5 Doch die meiste Zeit sind wir mit der Welt »halbpassiv« beschäftigt. Du wirst mit einer Situation konfrontiert und reagierst darauf; dadurch wächst deine Erfahrung. Das wäre ein weitestgehend externes Reizangebot, eine »Anregung von außen«.

Bei Meditation und Geistestraining verändert sich die äußere Umgebung unter Umständen nur minimal. Im Extremfall hältst du dich in einer schlichten Klause auf, in der sich nichts verändert. Du hast jeden Tag dasselbe vor Augen. Dann sind die »Anregungen von außen« gleich Null. Aber die »Anregung von innen« ist maximal. Du trainierst deinen Geist den ganzen Tag und fast ohne Ablenkung. Eine solche Anregung ist nicht passiv, sondern absichtsvoll und methodisch zielgerichtet.

Wenn du acht oder zwölf Stunden am Tag darauf verwendest, bestimmte Geisteszustände zu kultivieren, die du kultivieren willst und die du zu kultivieren gelernt hast, dann sollte das auch zu einer Umprogrammierung des Gehirns führen. Doch das geschieht hier nicht auf zufällige Art und Weise, sondern aufgrund von Methoden, die in über 2000 Jahren kontemplativer Wissenschaft verfeinert wurden.

WS Du machst also dein Gehirn zum Objekt eines hochdifferenzierten kognitiven Prozesses, der nach innen anstatt auf die äußere Welt gerichtet ist. Dabei kommen offenbar dieselben kognitiven Mechanismen ins Spiel, die das Gehirn anwendet, wenn es sensorische Signale aus der äußeren Umwelt zu kohärenten Wahrnehmungen verarbeitet. Du misst bestimmten Zuständen einen Wert bei und versuchst, sie häufiger hervorzurufen, was wahrscheinlich mit einer veränderten Effizienz der Synapsen einhergeht. Vergleichbares passiert, wenn Interaktionen mit der Umwelt Lernprozesse hervorrufen.6

Vielleicht sollten wir uns kurz vor Augen halten, wie sich das menschliche Gehirn an seine Umwelt anpasst, denn dieser Entwicklungsprozess lässt sich auch als eine Modifikation beziehungsweise Umprogrammierung von Gehirnfunktionen beschreiben. Die Entwicklung des Gehirns wird von einer massiven Neubildung von neuronalen Verbindungen bestimmt, wobei die neuen Verknüpfungen nach funktionalen Kriterien entweder stabilisiert oder wieder entfernt werden. Dabei spielen Erfahrungen und Interaktionen mit der Umwelt als Validierungskriterien eine wichtige Rolle.7

Diese Entwicklungsphase dauert beim Menschen etwa bis zum 20. Lebensjahr. In den frühen Phasen werden sensorische und motorische Funktionen optimiert, später vollzieht sich dieser Auf- und Umbauprozess vorwiegend in Strukturen, die soziale Fähigkeiten verwalten. Nachdem dieser Entwicklungsprozess zum Abschluss gekommen ist, können Verschaltungen im Gehirn nur noch in sehr begrenztem Umfang verändert werden.

MR In begrenztem Umfang?

WS Ja. Bestehende Synapsenverbindungen können in ihrer Effizienz immer noch verändert werden, aber es kommt nicht mehr zur Knüpfung neuer Langstreckenverbindungen. Es entstehen zwar in bestimmten Regionen des Gehirns, wie dem Hippocampus und dem Riechkolben, auch noch nach der Geburt und selbst im Erwachsenenalter neue Nervenzellen, die sich in bestehende Schaltkreise integrieren können. Aber diese Neubildung von Nervenzellen und Verbindungen ist auf einige wenige Strukturen beschränkt. Soweit wir wissen, spielt sie unter normalen Bedingungen in der Großhirnrinde, welche die höheren kognitiven Funktionen realisiert, die uns hier interessieren, kaum eine Rolle.8

MR Einer Studie zufolge besteht bei Personen, die schon sehr lange meditieren, eine höhere strukturelle Verbindungsfähigkeit der unterschiedlichen Hirnareale als bei der Kontrollgruppe.9 Das heißt, das Gehirn muss eine andere Möglichkeit der Veränderung zulassen.

Neuronale Veränderungsprozesse

WS Es steht außer Frage, dass ein Lernprozess auch Verhaltensdispositionen, selbst bei Erwachsenen, verändern kann. Es gibt reichlich Beispiele, wie bei Resozialisierungsprogrammen durch bestimmte Übungen kleine, aber entscheidende Verhaltensänderungen erreicht werden können. Ebenso ist belegt, dass recht dramatische und plötzliche Veränderungen in der Kognition, in emotionalen Zuständen und Bewältigungsstrategien auftreten. Auch hier sorgen dieselben Mechanismen, auf denen Lernen beruht, nämlich die Modifikation der Effizienz der synaptischen Verbindungen, zu einer Veränderung der funktionellen Architektur der Netzwerke und damit zu Verhaltensänderungen. Der Grund dafür liegt darin, dass in einem hochgradig komplexen System mit nichtlinearer Dynamik wie dem Gehirn auch kleine Veränderungen der Effizienz von Verknüpfungen zu einem Phasenübergang beitragen können, der radikale Modifikationen der Systemeigenschaften nach sich zieht.

Beispiele sind die dramatischen Verhaltensänderungen, die nach traumatischen oder kathartischen Erfahrungen auftreten können. Auch manche Psychosen werden womöglich durch solche tiefgreifenden Zustandsänderungen ausgelöst. Vermutlich bewirkt die Meditation aber keine Phasenübergänge dieser Art, sondern nur sehr langsame, graduelle Veränderungen der neuronalen Verschaltung.10

MR Man könnte auch den Aktivitätsfluss der Neuronen verändern, also gleichsam die Verkehrsdichte auf der Straße deutlich erhöhen.

WS Stimmt. Mit Lernen und Übung verändert sich auch bei Erwachsenen der Fluss der Aktivität. Nach dem 20. Lebensjahr ist die Hardware der anatomischen Verbindungen zwar wie gesagt weitestgehend festgelegt, dennoch ist es möglich, Aktivitäten flexibel einmal von A nach B oder von A nach C zu leiten, indem sie mit bestimmten Signaturen versehen werden, die einen Austausch von Information nur zwischen ausgewählten Neuronen erlauben. Auf diese Weise wird verhindert, dass Signale auf diffuse Weise zu allen mit dem jeweiligen Sender in Verbindung stehenden Strukturen gesandt werden, anstatt nur ausgewählte Zielbereiche zu erreichen. Wie stark die Verbindungen zwischen bestimmten Zentren sind, wird entweder durch die veränderte Effizienz der verbindenden Synapsen bestimmt oder durch dynamisch gebahnte virtuelle »Straßen«. Es findet dasselbe Prinzip Anwendung, das wir nutzen, wenn wir im Radio einen bestimmten Sender auswählen. Der Empfänger wird auf dieselbe Oszillationsfrequenz eingestellt wie der Sender.11 Im Gehirn sind Milliarden von Sendern gleichzeitig aktiv, und ihre Botschaften müssen hochselektiv zu ganz bestimmten Zielstrukturen gelangen, und dabei müssen die jeweiligen Routen sehr schnell und bedarfsabhängig geändert werden. Nur so ist es möglich, vom einen Augenblick auf den anderen neue funktionelle Netzwerke zu konfigurieren. Diese Wechsel zwischen verschiedenen Programmen erfolgen viel schneller als die lernbedingten Änderungen der Effizienz bestehender anatomischer Verbindungen. Die Übungsphase bei der Meditation setzt wahrscheinlich auf die langsamen, lernrelevanten Modifikationen der Effizienz von Synapsen, während die Netzwerkkonfigurationen in einem bestimmten meditativen Zustand, den einige Fortgeschrittene erreichen, vermutlich auf eher dynamischen Bahnungen basieren.

MR Du könntest also beispielsweise die Hass-Straße nach und nach verengen und die Straßen des Mitgefühls weit öffnen. Die Studie mit den erfahrenen Meditierenden deutet an, dass sie die Fähigkeit haben, eindrucksvolle, saubere und wohldefinierte Zustände zu erzeugen. Diese Fähigkeit muss an bestimmte Muster im Gehirn gekoppelt sein. Mentales Training ermöglicht es, solche Zustände willentlich zu erzeugen und ihre Intensität zu modulieren, sogar wenn Störungen, wie positive oder negative emotionale Reize, hinzutreten. Auf diese Weise erwirbt man die Fähigkeit, alle Erschütterungen abzupuffern und die Kontrolle über eine emotionale Situation zu behalten, was zu innerer Stärke und Frieden führt.

WS Das heißt also, dass Meditierende ihre kognitiven Kontrollmechanismen einsetzen, um die verschiedenen emotionalen Zustände in den Fokus der Aufmerksamkeit zu nehmen, sie klar unterscheiden zu lernen und die Kontrollsysteme, die sich vermutlich im Frontalhirn befinden, so weit zu trainieren, dass es möglich wird, die Aktivität der Subsysteme, die für die verschiedenen Emotionen zuständig sind, selektiv zu verstärken oder abzuschwächen.

MR Sicher, man kann sein Wissen über die diversen Aspekte mentaler Prozesse an sich verfeinern.

WS Klar. Sobald wir uns ihrer bewusst werden, können wir uns mit ihnen vertraut machen, sie mit Aufmerksamkeit belegen, sie unterscheiden lernen, Kategoriengrenzen ziehen, genauso, wie wir bei der Wahrnehmung von Objekten der äußeren Welt vorgehen.

MR Du kannst auch erkennen, welche geistigen Prozesse zu Leid führen und welche zum Wohlbefinden beitragen, welche die mentale Verwirrung erhöhen und welche das klare Gewahrsein befördern.

WS Ein Analogon zu diesem Verfeinerungsprozess könnte die lernbedingte Differenzierung der Objektwahrnehmung sein. Wer nur wenig Erfahrung mit Hunderassen hat, wird nur erkennen können, dass es sich bei dem bellenden Vierbeiner um einen Hund handelt. Durch Erfahrung und Übung verfeinern sich dann die Unterscheidungskriterien, bis man schließlich in der Lage ist, verschiedene Hunderassen zu unterscheiden, auch wenn sie sich sehr ähnlich sind. Vielleicht gelingt durch mentales Training dasselbe für die Unterscheidung emotionaler Zustände. Im naiven Zustand, und ich würde vermuten, dass dies bei Kleinkindern der Fall ist, gelingt nur die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Gefühlen. Durch Übung und Erfahrung schärft sich dann das Differenzierungsvermögen, bis mehr und mehr Nuancen erkennbar werden. Die Klassifizierung von geistigen Zuständen sollte dann ebenfalls feiner ausfallen. Wenn Menschen aus Kulturkreisen, die mentales Training als wichtige Wissensquelle nutzen, solche Unterscheidungen tatsächlich besser vornehmen können als Untrainierte, sollten Kulturen mit kontemplativer Erfahrung ein reicheres Vokabular für mentale Zustände entwickelt haben als Kulturen, die sich mehr für Phänomene in der Außenwelt interessieren.

Emotionale Nuancen

MR Die buddhistische Taxonomie beschreibt 58 zentrale mentale Ereignisse mit verschiedenen Unterklassen. Es ist also richtig, dass es einem gelingt, immer subtilere Nuancen zu unterscheiden, je intensiver man geistige Vorgänge analysiert. Eine frisch gestrichene Wand sieht aus der Entfernung sehr homogen aus. Wenn du sie aber aus der Nähe betrachtest, erkennst du eine Menge Unebenheiten: Die Oberfläche ist nicht so glatt, wie es schien, sie hat Buckel und Löcher. Auch die Farbverteilung ist nicht gleichmäßig: Auf dem weißen Grund tauchen schwarze oder gelbe Flecken auf. Das Gleiche stellen wir fest, wenn wir unsere Emotionen näher betrachten, wir entdecken viele Nuancen. Wut zum Beispiel. Sie wird oft von dem Wunsch begleitet, jemandem zu schaden. Manchmal handelt es sich aber auch um die berechtigte Entrüstung über eine Ungerechtigkeit. Wut kann auch schlicht eine Reaktion sein, um schnell ein Hindernis aus dem Weg zu räumen, das uns davon abhält, etwas zu bekommen, was uns wichtig ist, oder um etwas zu beseitigen, das uns bedroht. Oder sie ist ein Zeichen für leichte Reizbarkeit.

Doch Wut enthält auch die Aspekte Klarheit, Fokussierung und Tatkraft, die an und für sich nicht schädlich sind. Ähnlich gibt es auch in der Lust ein Element des Glücks, das sich von Liebe unterscheidet. Stolz, ein Element des Selbstvertrauens, kann stark ausgeprägt sein, ohne in Arroganz abzugleiten. Neid ist eine Triebfeder, die nicht mit der ungesunden Unzufriedenheit verwechselt werden darf, die sie mit sich bringt.

Gelingt es einem also, zu erkennen, dass diese Aspekte an sich nicht negativ sind, und den Geist bei ihnen verweilen zu lassen, ohne ins Negative abzudriften, dann fechten einen diese Emotionen nicht an. Sicherlich ist das nicht einfach, aber mit Erfahrung kann diese Fertigkeit immer weiter kultiviert werden.

Mühelose Fertigkeiten

MR Wenn man seine geistigen Fähigkeiten regelmäßig pflegt, muss man sich nach einiger Zeit gar nicht mehr groß anstrengen. Du kannst mit geistigen Störenfrieden umgehen wie die Adler, die ich von meiner Klause im Himalaja aus beobachte. Die Krähen attackieren sie oft, obwohl sie viel kleiner sind. Sie stürzen sich von oben auf die Adler und versuchen, sie mit dem Schnabel zu treffen. Die Adler jedoch werden keineswegs nervös oder starten irgendwelche akrobatischen Ausweichmanöver, sie legen lediglich im letzten Moment ihre Flügel an, lassen die Krähe vorbeischießen und breiten die Flügel wieder aus. Die ganze Aktion erfordert nur minimalen Aufwand und verursacht fast keine Störung. Wenn man genügend Erfahrung hat, funktioniert der Umgang mit plötzlich hochkochenden Emotionen ganz ähnlich. Mit klarer Achtsamkeit siehst du die Gedanken kommen, dann lässt du sie passieren, ohne sie anzurühren, ohne sie zu blockieren oder zu verstärken, ohne weitere emotionale Wellen zu verursachen.

WS Dies erinnert mich an Strategien, die wir wählen, wenn wir in große Schwierigkeiten geraten, die schnelle Lösungen erfordern, wie zum Beispiel eine komplizierte Situation im Straßenverkehr. Wir greifen sofort auf ein großes Repertoire von Verhaltensreaktionen zurück, die wir erlernt und eingeübt haben, und wir wählen eine aus, ohne dass wir viel darüber nachdenken. Ohne vorherige Übung wäre dies nicht möglich. Würdest du sagen, dass jemand, der keine Erfahrung mit mentalem Training hat, sich so verhält wie jemand, der nicht durch die Fahrschule für die Bewältigung emotionaler Konflikte gegangen ist? Wäre dies eine passende Analogie?

MR Ja, komplexe Situationen werden durch Training und mühelose Bewusstheit sehr viel einfacher. Wenn du reiten lernst, zum Beispiel, hast du am Anfang ständig Angst herunterzufallen, und jede Bewegung des Pferdes, vor allem wenn es in den Galopp fällt, versetzt dich in Alarmbereitschaft. Doch erfahrene Reiter, ich denke etwa an die Reiter Osttibets, reiten nicht nur, ohne sich Sorgen zu machen oder überhaupt groß nachzudenken, sie können dabei auch noch allerlei akrobatische Übungen absolvieren, zum Beispiel Pfeile auf ein Ziel schießen oder etwas vom Boden aufheben, während sie im vollen Galopp dahinrasen. Und das tun sie mit großer Leichtigkeit und einem Lächeln auf den Lippen.

Eine Studie, die mit Meditierenden durchgeführt wurde, offenbarte, dass sie die Fähigkeit besitzen, die Aufmerksamkeit ohne Ermüdungserscheinungen auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten. Bei einem Aufmerksamkeitstest, dem continuous performance task, verspannten sie sich nicht und sie ließen sich auch keinen einzigen Moment ablenken – und das nach 45 Minuten!12 Als ich es selbst versuchte, habe ich festgestellt, dass ich in den ersten paar Minuten etwas Mühe aufwenden musste. Doch sobald ich einen bestimmten Zustand, einen »Aufmerksamkeitsflow« erreicht hatte, wurde es leichter.

WS Dies ähnelt einer allgemeinen Strategie, die das Gehirn verfolgt, wenn es neue Fertigkeiten erwirbt. Zunächst erfordert die Ausübung der zu erlernenden Fertigkeit eine bewusste Kontrolle der Aktionen. Die Aufgabe wird in eine Reihe von Untersegmenten aufgeteilt, die dann der Reihe nach ausgeführt werden. Dies erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, ist zeitraubend und anstrengend. Später, wenn die Fertigkeit eingeübt worden ist, kann sie nahezu automatisch ausgeführt werden. Sehr oft beteiligen sich an der Ausführung bereits gelernter Fertigkeiten andere Hirnstrukturen als jene, die für ihre Einübung zuständig waren. Einmal eingeübt, können erlernte Fertigkeiten schnell, mühelos und ohne kognitive Kontrolle ausgeführt werden. Viele von ihnen laufen dann unbewusst ab. In schwierigen Situationen sind es oft gerade diese automatisierten Fertigkeiten, die uns retten, weil wir sie sehr schnell aufrufen und einsetzen können. Diese meist unbewussten Abläufe können überdies weit mehr Variablen gleichzeitig verarbeiten als die bewussten, weil sie mehr als letztere die Option der Parallelverarbeitung nutzen. Bewusste Verarbeitung erfolgt vorwiegend seriell – Inhalte werden der Reihe nach abgearbeitet – und erfordert daher mehr Zeit. Die Frage ist, ob dieselben Lernstrategien für das Einüben emotionaler Haltungen eingesetzt werden können, ob Meditierende zunächst aufmerksamkeitsabhängige Mechanismen einsetzen, um zwischen verschiedenen Emotionen besser zu unterscheiden, um sich mit ihnen vertraut zu machen, die Kontrolle dann aber mit der Zeit automatisierten Reaktionsweisen übertragen, die ihnen später im Falle von Konflikten zu Hilfe kommen.

MR Es klingt, als würdest du den Meditationsprozess beschreiben. In den Lehrreden heißt es: Wenn jemand damit beginnt, über Mitgefühl zu meditieren – also den innigen Wunsch, fühlende Wesen mögen von Leid und den Ursachen des Leids frei sein –, dann ist das zunächst eine theoretische, künstliche Form des Mitgefühls. Erst wenn man das Mitgefühl wieder und wieder in sich erzeugt hat, wird es zur zweiten Natur. Sobald es Bestandteil deines Bewusstseinsstroms geworden ist, musst du es nicht mehr jedes Mal wieder neu erzeugen und aufrechterhalten. Wir nennen das »Meditieren ohne Meditation«: Du bist nie aktiv mit Meditieren »beschäftigt«, aber du hörst auch nie mit der Meditation auf. Du hältst dich einfach ohne Ablenkung in diesem heilsamen, mitfühlenden Geisteszustand auf.

WS Es wäre wirklich sehr interessant, mit neurobiologischen Verfahren zu untersuchen, ob es auch bei meditativen Übungen zu einem Funktionswandel zwischen verschiedenen Hirnstrukturen kommt, so wie dieser beim Lernen zu beobachten ist. Mithilfe der funktionellen Kernspintomografie lässt sich nachweisen, dass gut eingeübte Fertigkeiten, sobald sie automatisiert sind, von anderen Hirnstrukturen verwaltet werden als jenen, die zu Beginn des Trainings involviert waren.

MR Eine Studie von Julie Brefczynski und Antoine Lutz scheint genau das nahezulegen. Die beiden haben herausgefunden, dass einigermaßen erfahrene Meditierende Gehirnbereiche, die mit Aufmerksamkeit zu tun haben, sehr viel stärker aktivieren können als Neulinge. Bei sehr erfahrenen Meditierenden ist die Aktivierung jedoch geringer, obwohl ihre Aufmerksamkeit konstant hoch bleibt. Brefczynski und Lutz haben sich die Gehirnaktivität von Novizen, von relativ erfahrenen und von sehr erfahrenen Meditierenden angesehen. Dabei beobachteten sie verschiedene Aktivitätsmuster, abhängig von der jeweiligen Erfahrung. Relativ erfahrene Meditierende (mit durchschnittlich 19 ‌000 Stunden Übung) zeigten mehr Aktivität in den Gehirnregionen, die für die Steuerung der Aufmerksamkeit zuständig sind, als Anfänger. Allerdings trat bei den sehr erfahrenen Meditierenden (mit durchschnittlich 44 ‌000 Stunden Übung) paradoxerweise geringere Aktivität auf. Diese Fortgeschrittenen haben scheinbar ein Niveau erreicht, auf dem sie sich mit weniger Anstrengung konzentrieren können – ein Effekt, der an die Fertigkeiten von Musikern und Sportlern erinnert, die sich bei minimaler Anstrengung und Kontrolle vom »Flow« ihrer Aktivität tragen lassen.13 Diese Beobachtung stimmt mit anderen Studien überein, die belegen, dass, wenn jemand eine Fertigkeit gemeistert hat, die betreffenden Gehirnstrukturen weniger Aktivität zeigen als beim Erlernen derselben.

WS Dies passt zu dem Befund, dass die zuständigen Hirnstrukturen weniger aktiv werden, sobald eine gewisse Fertigkeit erworben wurde. Es wird dann offenbar ein ökonomischerer neuronaler Code eingesetzt. Will man ein echter Experte im Meditieren werden, ist es scheinbar also nötig, so viel zu üben wie ein Weltklasse-Geiger oder -Pianist. Um 44 ‌000 Stunden zu schaffen, muss man 30 Jahre lang täglich vier Stunden meditieren. Erstaunlich!

Bezug zur Welt

MR Durch meditative Praxis gelingt es zu erkennen, ob Gedanken und Emotionen negativ sind oder nicht, der Realität entsprechen oder auf einer vollkommen verzerrten Wahrnehmung der Realität basieren.

WS Worin genau unterscheiden sich die beiden Zustände? Du betrachtest die affektiven Zustände als versklavend, als einengend, als die Kognition verzerrend – kurzum als grundsätzlich negative Zustände, die den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Ich verstehe vollkommen, dass deine Strategie wirksam ist, solange die Quelle des Konflikts ausschließlich in der eigenen »Pathologie« liegt, aber die meisten Konflikte entstehen durch die Interaktion mit der Welt, und diese Interaktion ist grundsätzlich nicht frei von Konflikten. Gehst du nicht vielleicht davon aus, dass die Welt im Grunde vollkommen und gut ist und dass ein klares Bewusstsein ausreicht, um das zu erkennen?

MR Man kann das auf zwei verschiedene Weisen sehen. Die erste Option ist, die Fehler und Unvollkommenheit der Welt zu erkennen, deren Bewohner meist von mentalen Verwirrungen, vernebelnden Emotionen und Leid besessen sind. Die andere besteht darin, zu erkennen, dass jedes fühlende Wesen das Potenzial hat, solche Affekte loszuwerden und Weisheit, Mitgefühl und dergleichen zu kultivieren.

Negative Geisteszustände beginnen mit Selbstbezogenheit, wobei die Kluft zwischen mir und den anderen immer größer wird. Menschen halten sich dann für äußerst wichtig und klopfen sich ständig selbst auf die Schulter, andere interessieren sie dagegen herzlich wenig, möglicherweise haben sie Angst vor anderen oder hegen Ressentiments; oder sie klammern sich an andere oder an Äußerlichkeiten in dem hoffnungslosen Versuch, ihr selbstsüchtiges Glück zu finden, was natürlich nicht funktioniert. Solche Zustände gehen mit einem hohen Maß an Realitätsverzerrung einher. Die äußere Welt wird zementiert und die Dinge werden mit guten und schlechten, erwünschten und unerwünschten Eigenschaften belegt, ohne zu verstehen, dass es sich dabei größtenteils um Projektionen unseres Geistes handelt.

Nimm auf der anderen Seite einen Akt überströmender Liebe, reiner, uneigennütziger Hochherzigkeit, zum Beispiel wenn du ein Kind glücklich machst, wenn du einem Menschen in Not hilfst, womöglich ein Leben rettest, ohne Bedingungen zu stellen, vielleicht sogar wenn niemand erfährt, was du getan hast – solches Tun wärmt das Herz und erzeugt ein Gefühl tiefer Befriedigung und Erfüllung.

WS Was mich dabei fasziniert, ist der Umstand, dass du die Entwicklung eines autonomen Ichs so stark betonst. Nicht eines Ichs im Sinne eines selbstsüchtigen possessiven Egos, aber es scheint doch, als ginge es darum, ein starkes Ich zu entwickeln, das in sich ruht, nicht affizierbar ist, sich selbst genügt.

MR Ich würde es nicht die Stärke des Egos nennen, das Ego macht immer Ärger, sondern ein Gefühl tiefen Vertrauens, das daher rührt, dass man die inneren Mechanismen von Glück und Leid besser kennt, dass man weiß, wie man mit Emotionen umgeht, und daher immer über die inneren Ressourcen verfügt, um mit allem fertig zu werden.14

Wann kann man mit dem Meditieren beginnen?

WS Ich entnehme deiner Beschreibung, dass die Meditation ein hohes Maß an kognitiver Kontrolle erfordert. Nun ist es aber so, dass diese Funktion erst spät in der Entwicklung von Menschenkindern ausreift. Kognitive Kontrolle wird vorwiegend vom präfrontalen Kortex verwaltet, und diese Struktur erlangt erst in der späten Adoleszenz ihre volle Funktionstüchtigkeit. Bedeutet dies dann, dass Meditation nur von Erwachsenen praktiziert werden kann? Und wenn nicht, wäre es dann nicht wünschenswert, mit meditativen Praktiken so früh wie möglich zu beginnen, um die hohe Plastizität des jungen Gehirns auszunutzen und die Meditation damit zu einem integralen Bestandteil frühkindlicher Erziehung zu machen? Wir wissen doch, dass das Erwerben anderer Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Beherrschung eines Musikinstrumentes oder das Erlernen einer zweiten Sprache, in frühen Lebensphasen viel leichter fällt. Mich würde interessieren, ob eine Technik, die so viel kognitive Kontrolle erfordert wie die Meditation, überhaupt von Kindern erlernt werden kann.

MR Natürlich verläuft unsere emotionale Entwicklung in Stadien, aber ich glaube, dass es durchaus möglich ist, schon früh mit einem gewissen Training zu beginnen. In unserem Kloster beispielsweise unterweisen wir Kinder und junge Novizen (zwischen 8 und 14 Jahren) nicht in Meditation. Aber sie nehmen an langen Zeremonien im Tempel teil, die einer Gruppenmeditation ähneln und während deren eine sehr beruhigende Atmosphäre von innerer Stille und emotionaler Ruhe herrscht. Auf diese Weise bekommen die Kinder einen Vorgeschmack darauf, ganz ohne theoretische Konzepte. Ich bin sicher, dass es hilfreich ist, eine Umgebung zu schaffen, die den Geist besänftigt und beruhigt, statt die Emotionen immer wieder anzuheizen, wie es im Westen mit Lärm, Gewalt im Fernsehen, Videospielen und ähnlichem oft der Fall ist.

Mal abgesehen davon lernen kleine Kinder auch in einer buddhistischen Umgebung durch Nachahmung. Sie beobachten, wie ihre Eltern und Lehrer nach den Prinzipien der Gewaltfreiheit mit Menschen, Tieren und der Umwelt umgehen. Die Bedeutung der Übertragung von Emotionen, ich würde sogar sagen der Übertragung einer Lebenseinstellung, lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. Die eigenen inneren Qualitäten üben einen immensen Einfluss auf diejenigen aus, die uns nahestehen. Mit am wichtigsten ist, Kindern dabei zu helfen, die eigenen Emotionen und die anderer zu erkennen. Man muss ihnen zeigen, wie man mit Gefühlsausbrüchen umgehen kann.

WS Genau das ist eines der Ziele jedes Erziehungssystems. Es geht um die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, und offenbar existieren eine Menge verschiedener Instrumente, dies zu erreichen: Zuckerbrot und Peitsche, Vorbilder, spielerische Erziehung oder Geschichten erzählen. In jeder Kultur spielt die Tugend der Gefühlskontrolle eine wichtige Rolle, und um dieses Ziel zu erreichen, sind zahlreiche Strategien entwickelt worden.

MR Sicher bedarf es eines reifen Gehirns, um dauerhaft Stabilität in der emotionalen Kontrolle zu erreichen. Aber es scheint möglich zu sein, mit diesem Prozess bereits in jungen Jahren zu beginnen. Kinder finden durchaus Wege zu Ausgeglichenheit und innerem Frieden, nachdem sie schwere seelische Belastungen erlebt haben. Die Existenz von Bewältigungsprozessen belegt diese Möglichkeit. Einer meiner Lehrer, Yongey Mingyur Rinpoche, hat ein Buch mit dem Titel The Joy of Living (Die Freude am Leben) geschrieben. Als Kind war er extrem ängstlich und litt oft unter Panikattacken. Damals lebte er nahe der tibetischen Gren