Ein russisches Tagebuch - Arthur Nisin - E-Book

Ein russisches Tagebuch E-Book

Arthur Nisin

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Beschreibung

Ein russisches Tagebuch‹ enthält die Aufzeichnungen eines deutschen Soldaten aus dem Jahre 1944. Er nimmt an verschiedenen Rückzugsgefechten der deutschen Armee teil und wird Zeuge der grausamen Exekution einer ganzen Dorfgemeinde durch die SS. Tief erschüttert durch diesen Vorgang versucht er, von der Bevölkerung eines anderen russischen Ortes ähnliches Schicksal abzuwenden. Er befindet sich dabei in der waghalsigen Situation dessen, der sich dem Mißtrauen und dem Argwohn aller gegenübersieht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 194

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Arthur Nisin

Ein russisches Tagebuch

Übersetzt von Max Hölzer

FISCHER Digital

Inhalt

Zum Andenken an J. RentgensIn der Betäubung des [...]MilerovoBobruiskBorislav9. Juli (1944) Sonntag10. Juli11. Juli12. Juli12. Juli (Fortsetzung)14. Juli15. Juli13. Juli17. Juli18. Juli. Bei Sonnenaufgang.Die letzten SeitenMehrere von uns werden [...]

Zum Andenken an J. Rentgens

In der Betäubung des Sommers, vor einem Hintergrund langsam bewegten grauen Grases, sehe ich das Gesicht der vergessenen Kameraden wieder – und dieses unendlich gewellte graue Gras vermischt die Steppe mit ihrem Blick, mit einem ganzen dunklen Volk – während sich der Wind hinter uns legt in den von Blitzen durchzuckten Rauchsäulen, die damals in den Himmel Deutschlands stiegen.

Nun also, am Fuße einer Böschung in der Ukraine finde ich Michel Heinemann wieder und denke darüber nach, welche absurde Geschichte ohne Ausgang die Geschichte ist, wenn sie von Menschen gelebt wird, die sterben.

 

Auf daß sich andere nach und nach mit uns darin verbinden – und vielleicht schweigend einen jener unsichtbaren Kreise bilden, die das blinde Schicksal zu einer Wendung zwingen – sei hier eine Art ›Tagebuch‹ vorgelegt, das von ihm in jenem Sommer 44 geschrieben wurde.

Milerovo

Wiehern kommt von draußen, vermischt mit Flüchen, Ausrufen, Geräusch von Ketten, die nachgezogen und hin- und hergeworfen werden: man spannt die Begleitartillerie an. Die Pferde sind seit Wochen nicht aus ihren Ställen gekommen – es sind kleine russische Pferde mit langem Haar, die schon über ein Jahr die unseren ersetzen. Der Tisch, die Bank, die Mauern mit den armseligen Farbbildern, all das wird ausgelöscht sein, wird zum inneren Vorwurf werden, auch Nadjenka, die im Augenblick vor mir steht, mit ihrer Stoffpuppe unter dem Arm. Ihre in dem kleinen blassen Gesicht allzugroßen Augen sehen mich fragend an, bevor der ernste Mund endlich spricht:

»Chto ti grousniy?« (Warum bist du traurig?)

Was antworten? Ich lächle und hebe sie auf, die Schultern rücken hinauf und die kleinen Arme sind angepreßt, langsam nähere ich ihre Nasenspitze der meinen und reibe spielend die eine an der anderen. Sie lacht, doch als ich aufhöre und sie in den ausgestreckten Armen halte, sehen mich ihre Augen wieder unverwandt fragend an.

»Aber ich bin nicht traurig, goloubouschka. Ich denke.«

»Woran denkst du denn?«

In diesem Augenblick stößt die Mutter die Tür auf, sie trägt an jedem Arm einen Eimer. Als hätte man mich ertappt, setze ich Nadjenka zu Boden, und während sie die Eimer abstellt und sich die Hände an der Schürze abwischt, fragt sie mich, was los sei. Was soll ich ihr sagen und wozu? »Ich weiß nicht, matouschka. Zweifellos werden wir abziehen.«

Ich schaue durch das Fenster auf die Männer und Pferde, die zwischen den vorderen Wagen im flüssigen Schlamm der raspoutitsa waten. In den Pausen des Tumults vernimmt man ferne Explosionen. Ein Pferd bäumt sich unter einem Peitschenschlag, der ihm über die Nüstern ging, und stößt ein langes schmerzliches Wiehern aus, dessen Protest fast menschlich ist.

Ich wende mich ab und stehe wieder vor der Frau, die sich nicht gerührt hat. Aus Feigheit ziehe ich vor, nicht zu bleiben und gehe in das andere Zimmer, in dem Dieter Fuchs seine Wache ausschläft. Ich beneide seine Ruhe. Er hat seine kotigen Stiefel anbehalten, und alles war gepackt für den Aufbruch. Unsere Kompanie mußte den Rückzug decken. Sammeln in einer halben Stunde. Es fängt neu an.

Sofern es nicht derselbe Alptraum ist, der weitergeht, aus dem man aufwachen müßte (aber wie?). Alles nimmt daran teil, sogar die, die nie träumen, sogar die, die nicht glauben, daß sie träumen. Der Umschlag, den man mir eben überbracht hat. Ich taste in meiner Tasche herum; er ist da. Ich brauche ihn nicht herauszunehmen, um ihn zu sehen. Unten, gestützt von den waagrechten Flügeln des Adlers mit dem Hakenkreuz die steile Unterschrift des Major Schneider. In der Mitte mein Name: ›Dem Unterfeldwebel Dolmetscher Michel Heinemann, 2. Kompanie.‹ Darüber, unterstrichen, der genaue Befehl: ›Zu öffnen um 15 Uhr 45.‹ Ich weiß im voraus, bis auf weniges, was er enthält: die Organisation eines Stücks Alptraum, der wieder beginnt, in dem der Major selbst befangen ist. Wirklich erwachen vielleicht nur die Toten aus ihm, so wie sie für immer aus den Träumen des Glücks erwachen.

Es ist Zeit. Ich schüttle Fuchs, und während er etwas Undeutliches brummt, beginne ich mich fertigzumachen. Das Brummen weckte in mir für einen Augenblick die unsinnige Hoffnung, daß alles ein Irrtum gewesen, daß die Wirklichkeit im Begriff sei, wieder die Oberhand zu gewinnen, wieder vertraulich und alltäglich würde … Doch nein. Er ist jetzt still geworden, bereitet sich selbst vor, wird in die Fußtapfen des Vordermanns treten müssen.

 

Draußen im Dreck das geschäftige Hin und Her eines alarmierten Ameisenhaufens. Wir marschieren schweigend, tauschen von Zeit zu Zeit ein Zeichen mit denen, die uns kreuzen. Sollte sich auf diese Weise in zahllosen gleichzeitigen Berührungen hier, anderswo, überall, das Geschick der Nationen und der Individuen abzeichnen? Es fällt mir schwer, daran zu glauben, all das scheint nicht wirklich genug. Und doch …

Vor dem Bauernhof, wo sich die Kompanie sammelt, geht Goltz auf und ab, ohne auf den Schlamm zu achten, der bei jedem seiner Schritte aufspritzt. Sobald er uns erblickt, nach einer halben Wendung:

»Endlich! Es ist nicht zu früh! Worauf wartet man denn, um sie zu bringen?«

Ich mache eilig ein paar Schritte, die von der vorschriftsmäßigen Entfernung fehlen:

»Ich habe Befehl, erst um 15 Uhr 45 zu öffnen, Herr Leutnant.«

Er zieht die Brauen hoch, wirft einen Blick auf seine Uhr, zuckt mit den Achseln, wendet mir den Rücken zu und nimmt seine Schildwachpromenade wieder auf. Ich mache mir das zunutze, um mich zu entfernen, den Stall entlang. Dieser Stall mit seiner Unruhe im Innern, seinem warmen, mächtigen Dunst, seinen muffigen Gerüchen, dieser Baum mir gegenüber, die Isbas (russische Bauernhöfe) in der Ferne – so täuschend wirklich … All das wiegt weniger als der Befehl, den ich in der Tasche habe, in dem gelben Umschlag, weniger als das Stück Alptraum, das er enthält, das ihm sofort entschlüpfen wird, das die Wirklichkeit zerstören und sich an ihr mästen wird … wie lange noch?

 

Ich ziehe den Umschlag heraus und schiebe den Inhalt zusammen, ohne hinzusehen, reiße den Rand auf. Genau das: Befehl, die gesunden Männer zu sammeln und Leutnant Goltz zu übergeben (Liste A); Befehl, eine Stunde später die übrige Bevölkerung zu sammeln; Befehl, die tatsächliche Evakuierung zu überprüfen, bevor das Brandkommando in Tätigkeit tritt. Für die Ausführung des ersten Befehls wird mir Leutnant Goltz die notwendigen Männer zur Verfügung stellen. Der Kommandant Neitke ist beauftragt, die weitere Durchführung zu überwachen … Die Politik der verbrannten Erde. ›Der Raum der Russen wendet sich gegen die Russen‹: das klingt gut in den Propagandaaufsätzen. Organisierter Alptraum – auch auf der anderen Seite, aber es ist ein einziger totaler Alptraum, der sich von allem nährt, logisch, unwiderstehlich. Und weil ich ihre Sprache gelernt habe, werde ich beauftragt, die Leute, mit denen ich gesprochen habe, die sich mit Vorliebe an mich wandten, vor ihre eigene Tür zu setzen, in Milerovo wie in Kamienniy Brod, in Noroviets, in Lavnenka …

»Was du zu tun hast, mach es rasch.« Welche Stimme flüstert mir diesen Satz zu, den ich nicht wiedererkennen möchte? Es ist fast 15 Uhr 40. Ich gehe zurück. Kaum komme ich hervor, höre ich, wie man mich wieder anruft:

»Nun, Heinemann! Lassen Sie uns noch lange warten? Ich möchte eine geordnete Lage haben, bevor sich das Bataillon in Bewegung setzt.«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.«

»Rancke, Nielsse. Vorwärts.«

 

»Aushebung. In einer halben Stunde auf dem Platz zur Stelle, mit Lebensmitteln für einen Tag.«

Flankiert von verdrossenen Häschern, die mich zu meinem Frondienst begleiten, gehe ich von Isba zu Isba, trete ein und gehe hinaus, ohne mir die Zeit zu nehmen, auf die niedergeschlagenen Fragen zu antworten; die Männer werden dafür sorgen, sie zu sammeln. »Aushebung. In einer halben Stunde auf dem Platz.« Leute, die ich kennenzulernen begann, mit denen ich gesprochen hatte. Aber ich bin zu einem Räderwerk geworden. Bei den Nitschenko kommt die alte Lissavieta heran auf ihren kranken Beinen, und ihre runzligen Hände klammern sich an mich. Ich hindere meine Leute daran, sich einzuschalten, und löse geduldigdie alten knotigen Hände ab, während Vladimir sie zu beruhigen sucht.

Er kann nichts dafür, Matuschka, die Befehle sind so.

Dann bei den Fadeev, dann weiter draußen.

Ich fühle mich schon klebrig werden von den vielen vergossenen Tränen; da sehe ich Neitke herankommen.

»Verkürzen Sie die vorgesehenen Zeiten aufs äußerste: in Richtung auf Malo-Kameniets sind Panzer durchgebrochen.«

»Aber Herr Kommandant …«

»Kein Aber! Gelissen wird Ihnen helfen.«

Ich übergebe die Liste A dem Adjutanten, damit er weitermacht. Es ist besser, daß ich mich selbst mit der zweiten Runde beschäftige, der schmerzlicheren, dem ›Rest der Bevölkerung‹. Wo beginnen? Das Mitleid selbst wird hier grausam: ich werde bei den Nadjenka beginnen, damit sie mehr Zeit haben, sich vorzubereiten.

Hat sie mich bei den Ausgehobenen kommen und weggehen gesehn? Als ich eintrete, flüchtet sie in die Rockfalten der Mutter.

»Das Dorf muß evakuiert werden. Aufbruch in einer Stunde ungefähr. Man wird Sie weiter weg unterbringen.«

Die Frau sah mich an, ohne etwas zu sagen, das Kind an sich gedrückt. Ich stelle zwei Konservenbüchsen auf den Tisch.

»Das kann Ihnen nützen.«

Sie hat nicht geantwortet. Ich konnte nur noch weggehen. Ich überließ die Mitte und den Rückzugsweg Gelissen und ging zum anderen Ende des Dorfes.

»Evakuation. Alles ist in einer Stunde auf dem Platz.«

Dieses Mal brach die alte Lissavieta in Schluchzen aus, und es glich gellenden Lachsalven.

»Du wußtest es! Du wußtest es und hast nichts gesagt! Allmächtiger Gott! Er hat nichts gesagt! Du hast kein Gewissen! Warum hast du mich von Vladimir getrennt? Was konnte es dir schaden, uns zusammen zu lassen?«

Ich verließ sie, während sie am Schluchzen zu ersticken drohte, aber aus der Ferne hörte ich ihre scharfe, kreischende Stimme wieder, die Stimme der Rachel in Rama, mitten auf einer Straße, die jetzt vor Zorn brennt. Und vielleicht haben einst gewisse Söldner nur widerwillig gehorcht, aber welchen Unterschied bedeutete das für die vom Alptraum des Herodes erfaßten schreienden Mütter? Was tut man jetzt in der Reichskanzlei, im Großen Hauptquartier, in Berchtesgaden? Was machte man damals im Palast von Judäa?

Um die Möglichkeit offen zu lassen, ein unwahrscheinliches Christkind zu verschonen, habe ich beschlossen, eine abgelegene Isba am Ende eines Querweges zu ›übergehen‹.

 

Bei meiner Rückkehr auf den Platz sind die ›tauglichen‹ Männer mit der 2. Kompanie, für die sie die Gräben auswerfen müssen, abmarschiert. Man beginnt schon für den zweiten Aufbruch einen elenden Haufen von Greisen, Frauen, Kindern zu ordnen; sie tragen ihr Bündel in der Hand und treten im Schlamm. Für einen Augenblick erkenne ich mitten in der Gruppe an der Hand ihrer Mutter Nadjenka, die noch immer ihre alte Puppe an sich drückt. Aber Neitke ist wieder vor mir aufgetaucht.

»Sie werden sich später ausruhen, machen Sie sich sofort an die Überprüfung. Ich übernehme den Platz und das Sammeln.«

Nicht weit davon rauchen ruhig die Männer des Brandkommandos rund um ihre Kanister und warten auf den Augenblick ihrer Aktion.

Ich habe meinen Gang mit einer Art Wut, damit fertig zu werden, wieder aufgenommen und stoße die Türen weit auf, die in keiner Wohnung mehr geöffnet werden.

– Niemand?

Nichts. Überall Leere und das Durcheinander übereilten Aufbruchs. Manchmal wurde aus kindischer Vorsicht die Tür verschlossen und ich muß das Fenster mit dem Kolben einschlagen. Ein Hund sieht mich an und läuft die Mauern entlang davon, den Schwanz eingezogen, den Rumpf im Halbkreis gebogen. Je weiter ich mich entferne, desto öder wird das Dorf. Deutlicher hört man den Kanonendonner. Die abgelegenen Isbas warnen, schnell. Die Brände werden gleich beginnen. Ich will sie nicht rösten lassen. Wen von da unten habe ich wohl retten können?

Auf dem Querweg beginne ich zu laufen. Die Tür ist verschlossen. Ich rüttle.

»Aufwachen! Freund! Man wird Feuer legen!«

Nichts rührt sich. Außer meinem hastigen Atem, Stille. Spott und Hohn: ich habe ein leeres Haus verschont. Die Flucht nach Ägypten. Vom Engel gewarnt. Man brauchte mich nicht. Gott rechnet nicht mit den Söldnern, die gute Gefühle haben. Was suche ich hier, während man mir die Leute fortführt, die ich aus ihrem Heim geholt habe?

Dennoch, ich muß dafür bürgen können. Ich nehme mein Gewehr ab, die Scheiben zerspringen, ich öffne das Fenster, springe hinein … Niemand, nur eine Katze, die unter den Ofen flüchtet und wieder hervorkommt, mich klug beobachtet, eingerollt, mit einer albernen Schlauheit, die mich reizt. Vielleicht auch ihre Besitzer … Plötzlich habe ich das Gefühl, gesehen worden zu sein. Ich schiebe eine Kugel in den Lauf und, den Finger am Abzug, öffne ich gewaltsam die Tür, mir gegenüber. Ich bleibe angewurzelt stehen: mit Körper und Armen an die äußere Tür gelehnt, blickt mich ein halbnacktes Mädchen mit Augen an, die vor Schreck stumpfsinnig geworden sind. Ihr keuchender Atem, durch den halbgeöffneten Mund, hebt eine Brust, die sie nicht einmal mehr mit den Fetzen ihres zerrissenen Hemdes zu bedecken sucht. Ich hatte mein unnötiges Gewehr wieder aufgerichtet. Sollten zufällig Plünderer …

»Hab’ keine Angst. Was machst du da ganz allein? Was ist geschehen?« Sie starrt mich an, ohne zu antworten.

»Vorwärts, rette dich schnell. Man wird dein Haus anzünden.«

Keine Reaktion. Aber vielleicht …

»Wo sind deine Eltern?«

Ihre Lippen bewegen sich endlich, aber sie wiederholen nur mit einer rauhen, leeren Stimme:

»… deine Eltern?«

Ich habe es mit einer Verrückten zu tun. Gott weiß, ich habe keine Zeit zu verlieren. Das Dringendste ist, sie von hier herauszubringen.

»Vorwärts, komm her, man tut dir nichts.«

Was hat sie wieder verstört? Auf das Zeichen hin, das ich mit dem Kopf mache, in einer Bewegung auf sie zu, suchen ihre verwirrten Augen wie eine in die Enge getriebene Katze einen Ausweg. Werde ich sie gewaltsam mitziehen müssen? Bei diesem Gedanken warnt mich ein unklarer Instinkt, und aus demselben Instinkt heraus streckt sie ihre Hände, die sie hinter sich angepreßt hielt, nach vorne und kreuzt sie über den Brüsten. Ich weiche einen Schritt zurück. In diesem Augenblick schüttelt eine Explosion die Tür, hebt sie aus der Angel und wirft sie nach vorn. Ich weiche in den ersten Raum zurück, und diesmal folgt sie mir, wie fasziniert, und tritt in die Türöffnung. Beim letzten Schritt rückwärts wickelt sich eine am Boden liegende Bluse um meine Füße. Ich unterdrücke einen Fluch, hebe sie auf und reiche sie ihr wortlos. Sie erwischt sie mit einer Hand und drückt sie an sich, als wollte ich sie ihr wieder wegnehmen.

»Vorwärts, zieh’ sie an, wenn du willst, aber beeil’ dich.«

Sie blickt um sich. Was sucht sie in diesem Durcheinander? Sollte sie sich schämen, sie vor mir anzuziehen? Beklemmt durch das Lächerliche der Situation, wende ich ihr auf jede Gefahr hin den Rücken. Durch das offene Fenster sieht man schon die düster erleuchteten Rauchwolken, die über Milerovo aufsteigen. Wenn man mich nur nicht sitzen läßt. Ich drehe mich um, entschlossen, sie anzufahren, aber sie hat sich tatsächlich die Bluse übergezogen, läßt mich vorausgehen und sich mitnehmen. Ich führe sie zur Türe, plötzlich ergriffen von einer Mischung aus Zärtlichkeit und Verzweiflung.

Sobald sie bei der offenen Tür die schwarzen Rauchwolken und den wachsenden Feuerschein bemerkt, krümmt sie sich, stößt Schreie aus und will zurück. Nur das nicht. Ich ziehe sie mit Gewalt an mich und zum Graben hin, der die Straße entlangführt. Damit ich sie dort hineinbringe, (denn es ist nicht notwendig, daß man sie sieht) muß ich sie um den Körper fassen, sie im Kreuz biegen, sie unter mir festhalten, ganz warm im Gras und im Schlamm, meine Hand auf ihrem Mund, um zu verhindern, daß sie schreit. Endlich hört sie auf, sich zu sträuben, aber ich spüre, wie sie an allen Gliedern zittert. Sie sieht mich mit großen Augen an.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Douschenka. Du wirst hier bleiben, gut versteckt, ganz still. Man braucht dich nicht zu sehen.«

Ich ziehe vorsichtig meine Hand zurück, bereit, sie wieder auf den Mund zu legen. Doch nein, sie schweigt. Nach und nach höre ich auf, ihr Zwang anzutun, während ich ununterbrochen zu ihr spreche. Sie rührt sich nicht. Endlich kann ich wieder aufstehen. Rasch raffe ich Astwerk und Grasbüschel zusammen, um sie zu tarnen. Die Bluse ist noch ein heller Fleck – da höre ich Stimmen, die sich nähern. Hastig ziehe ich meine Tarn-Plane über sie, während mich ihre Augen anblicken, und ich laufe zur Wegbiegung. Es waren zwei Leute vom Brandkommando. Ich mache ihnen Zeichen, zurückzugehen.

»Fertig. Ich habe selbst angezündet. Das wird reichen.«

Sie schauen sich an. Glauben sie mir nicht? Einer von beiden deutet mit dem Kopf in die Richtung der Isba:

»Ist das …«

Er beendet den Satz nicht. Das schwindelerregende Pfeifen eines Einschlags hat uns in den Schlamm geworfen. Kaum haben wir uns, naß und glatt, wieder erhoben, stürzen wir durch eine zweite Granate, dreißig Meter hinter uns, wieder hinein.

»Zum Wagen!«

Wir sind ins Dorf zurückgelaufen, zum Platz, zwischen den Häusern, die prasselten, krachten, einstürzten, in unerträglicher Hitze. Der Lastwagen wartete mitten auf dem Platz. Kaum hatten wir uns hineingeschwungen, fuhr er los, mitten durch die Straße in Flammen, dem Ausgang von Milerovo zu und dem Bataillon nach, das sich auf dem Rückzug befand.

 

Zehn Minuten später hatten wir die Kolonne eingeholt, aber die Frage, die mich quälte, hatte ich noch immer nicht beantwortet: hatte ich vorhin zwischen den beiden Explosionen einen Schrei vernommen oder nicht? Und wenn, was konnte er bedeuten? Von den Stößen geschüttelt, während unter den Rädern der Schlamm aufspritzte, im Motorenlärm und den aussetzenden Gesprächen, hatte ich immer den Blick des Mädchens vor mir, das im Graben liegend unter meiner Tarn-Plane allein war in einem brennenden Dorf und sich nicht zu rühren wagte – was hatte sie gesehen?

 

Während einer Gefechtspause lese ich in meinem Loch noch einmal durch, was vorausging. Fast ein Monat ist es nun, daß wir Milerovo verlassen haben. Was ist aus ihr geworden? Und aus den Leuten, die abgezogen sind?

Genau genommen sehe ich nicht mehr recht ein, was ich festhalten, deutlich machen wollte. Es handelte sich nicht nur um Mitleid. Ich wollte den Alptraum zeigen und ihn beherrschen. Ich wollte entdecken, wie man trotz Räderwerk, Soldatsein, Staub – Mensch bleiben kann. Es genügt nicht, in sich die Möglichkeit eines letzten Endes lächerlichen Mitleids zu bewahren, und es genügt auch nicht die einer mehr oder weniger spontanen Zufalls-Tat …

Bobruisk

Eine Woche lang hielten wir nördlich von Bobruisk eine sehr isolierte Stellung, die die Dobisna beherrschte. Das gegenüberliegende Ufer stieg nur sanft an, war aber mit Bäumen bestanden, und von dort aus überwachten die russischen Schützen die Kammlinie. Wir waren verhältnismäßig still, und nach zwei Kampftagen hatten die Russen nicht mehr versucht, uns zu vertreiben. Und damals hat es angefangen.

 

Es begann, als ich, ich weiß nicht zum wievielten Male, einen Brief meines Vaters durchlas. »Wir mußten zu Onkel Heinrich gehen und uns dort einrichten, wundere Dich nicht über die Änderung der Adresse. Es ist besser, daß Du es weißt, das Haus ist, mit dem ganzen Stadtteil fast, in der Nacht vom 27. auf den 28. zerstört worden. Eine schreckliche Nacht. Der Keller hat glücklicherweise standgehalten. Man hörte Schreie, aber was für Schreie! Unmenschliche. Als man uns befreite, brannte der Asphalt noch unter dem Phosphor.

Wir mußten nach hinten hinaus. Dein Bett hing über dem Hof, am Rand des schiefen Fußbodens, der noch an der stehengebliebenen Fassade festhielt …«

Die Stimme von Fuchs riß mich heraus aus diesem Bild: man verlangte mich dringend beim Bataillon.

»Zum Bataillon? Warum?«

»Das, mein Lieber, werde ich dir sagen, wenn der Major bei mir zum Rapport war. Vorwärts, hopp! Im Trab!«

 

Im selben Augenblick, da ich bei Goltz eintrete, um die Befehle entgegenzunehmen, wendet sich der Telefonist zu ihm, die Hörer am Kopf:

»Man antwortet nicht mehr bei der Batterie, Herr Leutnant.«

»Das wird noch immer die Kreuzung sein. Schicken Sie Halstein, er soll mir einen zweiten Draht hinunterrollen.«

»Heinemann, man verlangt Sie beim Major. Er braucht einen Dolmetscher. Versuchen Sie, bald zurückzukommen, ich brauche alle meine alten Leute.«

(Bei den Männern des letzten Nachschubs ist die Moral sehr zweifelhaft. Da die meisten aus Frankreich kamen, haben sie seit 40 nicht mehr gekämpft und fühlen sich an der russischen Front nicht am Platze.)

Kaum war ich auf dem Weg – nachdem ich wegen der russischen Schützen den Abhang hinuntergekrochen war –, hat mich Halstein eingeholt, brummend, eine große Rolle um die Schulter. Das dritte Mal schon muß er reparieren. Immer wieder schickt man ihn, weil er schon dort gewesen ist, und den Verlauf des Drahtes und die wahrscheinlichen Bruchstellen kennt.

»Was denn? Und wenn ich nicht da wäre?«

Er ist einer von den zweien, die ich abgehalten habe, bis zu dem abgelegenen Haus in Milerovo zu gehen, ein Kerl aus dem Norden, der wenig redet, außer er fühlt sich aufgebracht durch eine Ungerechtigkeit. Ich verlasse ihn, während er sich über den Draht beugt, nicht weit von der Kreuzung zweier Wege mit Wagenspuren, die die Russen regelmäßig mit ein paar Ladungen begießen. Ist es seinetwegen? Bis zum Gehölz, das die Ersatz-Batterie verbirgt, und weiter bis zum Dörfchen kann ich mich nicht hindern, sowohl an das zerstörte Haus, an meine Eltern und an Maria in Milerovo zu denken.

 

»Ruhe.«

Schneider, ein Offizier, der von unten auf diente und schon grau wurde, maß mich mit einem einzigen Blick.

»Der Dolmetscher des Regiments-Stabes ist im Lazarett, und wir müssen drei Gefangene ausfragen. Hier ist das Frage-Protokoll. Der Adjutant wird Ihnen helfen.«

Man führt mich in den Nebenraum; dort lasse ich mich, noch ganz dreckig von meinem Loch und vom Kriechen, auf eine Holzbank fallen und stelle mein Gewehr in die Ecke. Der Raum ist fast leer: ein Tisch, zwei graue Kisten, ein Bett. Während ich den Stahlhelm abnehme, frage ich mich, ob ich an ihrer Stelle antworten würde. Die Genfer Konvention verpflichtet nur dazu, seinen Namen und die Erkennungsnummer anzugeben. Aber Rußland erkennt das nicht an. Und dann, schöne Theorie. Zu Schneider habe ich von vornherein Vertrauen; im übrigen kenne ich davon nichts und habe noch nie an einer Befragung teilgenommen.

Der Adjutant Gelissen kommt fast im selben Augenblick herein, setzt sich mir zur Seite hinter den Tisch und bietet mir eine Zigarre an. Warum ist er mir unsympathisch? Ich zünde sie an und frage mich, wo er sie sich beschafft haben mag. Da stößt man schon einen Gefangenen herein, einen sibirischen Kerl. Ich stelle ihm die ersten Fragen des Protokolls, das mir Schneider gegeben hat, aber er spricht eine unverständliche Sprache, aus der ich nur von Zeit zu Zeit ein russisches Wort heraushöre. Gelissen wird nervös und droht. Ohne Erfolg. Mir gelingt es nicht, irgendetwas herauszubringen. Wir beschließen, ihn noch einmal kommen zu lassen, falls wir aus den anderen auch nichts herausbringen.