Ein scheinbar perfektes Leben - Michelle Hunziker - E-Book

Ein scheinbar perfektes Leben E-Book

Michelle Hunziker

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Beschreibung

Sie ist eine strahlende Erscheinung, und ihr Leben scheint perfekt. Doch das war nicht immer so. Erstmals erzählt Michelle Hunziker von Zeiten in ihrem Leben, die alles andere als strahlend waren. Als junge Frau geriet sie in die Abhängigkeit einer Sekte. Schnell wurde aus dem anfänglichen Halt Zwang und Entmündigung. Die Sekte bestimmte fortan über ihr Leben und forderte die Trennung von ihrem Mann Eros Ramazzotti. Viele harte Jahre durchlitt sie, bis sie den Ausstieg schaffte und stärker als je zuvor ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen konnte.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitatWenn eins zum anderen kommt …Jede Wunde ist eine EintrittspforteFlecken auf einem wunderschönen KleidDer Engel, der dich führtDie MeisterinEine neue FamilieDie Regeln der ReinigungDer göttliche PlanDer EineEine Gruppe von AuserwähltenDie Schwester JesuDie MissionenDer Anfang der VeränderungDer Preis der ErlösungDer letzte FluchFreiDie TäuschungBonusmaterialDankQuellen

Über dieses Buch

Sie ist eine strahlende Erscheinung, und ihr Leben scheint perfekt. Doch das war nicht immer so. Erstmals erzählt Michelle Hunziker von Zeiten in ihrem Leben, die alles andere als strahlend waren. Als junge Frau geriet sie in die Abhängigkeit einer Sekte. Schnell wurde aus dem anfänglichen Halt Zwang und Entmündigung. Die Sekte bestimmte fortan über ihr Leben und forderte die Trennung von ihrem Mann Eros Ramazzotti. Viele harte Jahre durchlitt sie, bis sie den Ausstieg schaffte und stärker als je zuvor ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen konnte.

Über die Autorin

Michelle Hunziker wurde 1977 in Sorengo, in der italienischen Schweiz, geboren. Als Tochter einer Niederländerin und eines Schweizers spricht sie 5 Sprachen fließend. Von ihrem 3. bis zu ihrem 16. Lebensjahr lebte Michelle in Deutschland. Frau Hunziker ist in 2. Ehe mit Tomaso Trussardi verheiratet. Das Paar hat zwei gemeinsame Kinder, Sole und Celeste. Ihre älteste Tochter Aurora stammt aus erster Ehe mit Eros Ramazzotti.

MICHELLE HUNZIKER

EIN

SCHEINBAR

PERFEKTES LEBEN

Wie ich aus Liebe zu meiner Tochter den Fängen der Sekte entkam

Übersetzung aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der italienischen Originalausgabe:

»Una Vita Apparentemente Perfetta«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 Mondadori Libri S.p.A., Milano

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

Umschlagfotografie: © MAX & DOUGLAS / PHOTOMOVIE

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6163-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Franchino

Jeder Guru ist eine Falle. Jeder Führer ist ein Tyrann. Jeder Meister verunsichert. […] Wären wir im Einklang mit unserem tiefsten Herzen, dem wahren Ort unseres Geistes, dann würden wir keinen Führer akzeptieren, keinen Meister, keinen Guru. Wir wären unabhängig. Wach. Auf der Hut. Autonom, keine Automaten. Du bist der Meister. Du hast in dir alles, was du brauchst.

Jiddu Krishnamurti

Wenn eins zum anderen kommt …

Ich spüre ihren Blick auf mir. Ich bin noch nicht ganz wach, strecke aber die Hand aus, um sie zu streicheln. Langes Haar – Sole. Bubikopf – Celeste. Unter dem Bubikopf lugen ein Paar Augen hervor, die mich schon seit einiger Zeit im Halbdunkel mustern.

Ich schließe die Lider halb und sehe sie an, meine Jüngste, die dicht neben mir im großen Bett zusammengerollt liegt: ganz Milch und Honig wie alle Babys. Und doch schon so groß, dass sie still wartet, bis ich aufwache.

Ich ziehe sie näher heran und schmiege mich an sie. Ihr Köpfchen ruht an meinem Hals. Keine spricht auch nur ein Wort: Ich, weil ich es liebe, meine Töchter im Dunkeln zu halten, sie zu beschnuppern, sie still zu betrachten; sie, weil sie noch gar nicht richtig wach ist, obwohl sie es gerne wäre.

Als ich sicher sein kann, dass sie wieder eingeschlafen ist, hebe ich sie vorsichtig hoch und steige langsam aus dem Bett. Mit kleinen Schritten gehe ich durchs Wohnzimmer, wobei ich sorgsam darauf achte, nicht über das einzige Spielzeug zu stolpern, das am Abend zuvor meinem Ordnungswahn entgangen sein muss. Sobald ich im Zimmer der Mädchen bin, lege ich Celeste in ihr Bettchen. Sie macht es sich bequem, und ich decke sie sorgfältig zu. Sie streckt die Arme aus und schmiegt den Kopf ins Kissen. Sole merkt, dass etwas passiert. Sie bewegt sich ein bisschen, aber dann tauchen sie beide wieder ein in die Welt der Träume. Ich mache die Nachtlichter aus und zupfe die Vorhänge zurecht: Ich will nicht, dass das Morgenlicht sie weckt.

Vorsichtig drücke ich die Türklinke zum angrenzenden Zimmer hinunter: Ich bin sicher, dass Aurora vergessen hat, die Fensterläden zu schließen. Auf die Gefahr hin, dass sie mich in flagranti erwischt und mich ausschimpft, weil ich sie behandle wie ein kleines Kind, mich ständig einmische und ihre Privatsphäre nicht respektiere, schleiche ich hinein, über Klamotten und Bücher hinweg zum Fenster. Als ich meine Mission erfüllt habe, kehre ich in mein Bett zurück.

Es ist halb sechs am Morgen. Zu früh für alles – außer vielleicht für Dankbarkeit.

Nie hätte ich geglaubt, einmal so viel Liebe erfahren zu dürfen. Und doch ist es passiert. Bei der Geburt jeder meiner Töchter hat sich mein Herz noch ein bisschen mehr geöffnet, und ich glaube nicht, dass es sich je wieder verschließen kann.

Alle sagen mir, dass ich um meine Töchter, die große eingeschlossen, viel zu viel Theater mache: Ich spiele, singe, lese, tanze mit ihnen. Ich mache mit ihnen Musik. Ich fotografiere, küsse, umarme sie. Ich stehe jede Nacht viel zu oft auf und schaue, ob sie zugedeckt sind, und ich weiche ihnen auch tagsüber nur selten von der Seite. Ich höre ihnen zu viel zu, ich mische mich zu oft ein, ich rede viel zu viel mit ihnen. Kann alles sein. Natürlich nutzen die beiden Jüngeren meine Zuwendung schamlos aus, wie es jedes Duo aus einer Zwei- und einer Vierjährigen tun würde. Aber ich glaube eben, dass meine Rolle als Mutter das von mir verlangt: sie so zu lieben, dass sie sich beschützt fühlen, ihnen ein Zuhause zu geben, Wurzeln, die ihre Identität bestärken, ein Fundament, auf das sie ihr Leben lang bauen können. Ich mache lieber zu viel als zu wenig. Und außerdem: Ich könnte nicht anders, selbst wenn ich wollte.

Ich kann meine Liebe nicht dosieren. Konnte ich noch nie. Nicht als Mädchen, nicht als Ehefrau, nicht als Mutter. Oder als Freundin. Ich fühle mich wohl mit dieser absoluten, totalen Liebe – jener Liebe, die Kinder geben und gleichzeitig erwarten: ein wunderbar weißes, weiches und leichtes Gefühl, wie eine Wolke, grenzenlos wie das sich ausdehnende Universum.

Ich betrachte Auri, die friedlich daliegt und schläft. So anders, als ich in diesem Alter war: Sie ist so lässig, wie junge Leute es nun mal sind. Vollkommen überzeugt, schon längst erwachsen zu sein, ohne viel von der Welt gesehen zu haben. Und doch scheint meine Älteste mir stärker, als ich es in ihrem Alter war. Auf jeden Fall hat sie von ihrem Vater und mir ein unkritischeres und positiveres Bild, als ich es damals von meinen Eltern hatte. Auri kennt meine Schwächen, meine Ängste, meine Wunden; ich habe mit zwanzig Jahren von meiner Mutter eine Wärme und Zuwendung erwartet, die sie mir leider nicht geben konnte.

Sole spielt zurzeit am liebsten mit Lego. Das Ineinanderstecken der Formen macht ihr großen Spaß: das Prisma in das dreieckige Fenster, den Quader ins rechteckige und so weiter. Mir kommt es so vor, als hätte ich von meiner Mutter jahrelang eine runde Liebe erwartet, doch was sie mir geben konnte, war einfach eckig. Und so stand mein rundes Fenster sperrangelweit offen – und blieb leer. So fühlte es sich für mich jedenfalls an, von der Höhe meiner für Zuneigungsbettler so typischen Unversöhnlichkeit herab – die sich ja stets im Besitz der einzigen Wahrheit über die Natur des Menschen wähnen –: allein und unverstanden, eine Ausgestoßene. Wenn schon meine Mutter mich nicht liebte, dann war ich ja sicher der letzte Mensch auf der Welt, der Aufmerksamkeit verdiente.

In Wahrheit trug ich einfach Scheuklappen. Ich verlangte absolute Gefühle, dicht und ohne Dornen, die jeden Menschen überfordert hätten, denn die Liebe präsentiert sich nun mal in den verschiedensten Farben und Formen. Die Liebe meiner Mutter ist kristallklar, vielleicht nicht ganz so zugänglich, aber hell und strahlend wie ein Stern, der einen leitet. Die Liebe von Auroras Vater war ungeschliffen, aber stark und explosiv.

Ich war einfach nicht reif genug, um zu verstehen, dass alles, wonach ich mich sehnte, zum Greifen nah lag. Es hätte schon genügt, wenn ich nur mein Fenster ein wenig breiter gemacht hätte. Stattdessen habe ich woanders gesucht und meinen Frieden erst gefunden, als eine schöne, lachende Frau, die wunderbar duftete und mein wahres Ich zu sehen schien, mir genau das gab, was ich mir wünschte: eine Liebe, scheinbar ohne Bedingungen, ohne Zweifel, makellos. Wie Kinder sie suchen. Wie Zwanzigjährige sie fordern. Clelia hat mir Zuneigung gegeben, ein Gefühl der Zugehörigkeit, eine Rolle in einer Geschichte, die größer war als ich selbst, sogar größer als sie. Und ich habe geglaubt, dass sie das Stück war, das in mein Fenster passte.

Es gibt keine gnadenlosere Gewalt als jene, wie sie in Sekten ausgeübt wird. Ich suchte nach Liebe, und Clelia gab mir Liebe. Ich konnte ihr alles sagen, und sie nahm mich ernst, jederzeit. Sie rief mich sechsmal am Tag an, um sich zu erkundigen, wie es mir ging. Sie hörte mir aufmerksam zu und schien tief berührt von meinem Leid. Sie schenkte mir Nähe: Wenn ich traurig war, durfte ich meinen Kopf an ihre Schulter lehnen, und sie strich mir übers Haar, solange ich wollte. Wochenlang half sie mir, mein schwaches Selbstwertgefühl aufzupäppeln, sodass ich mich besonders, einzigartig und wichtig fühlte. Aber dann fing sie an, mich zurückzuweisen. Sie bestrafte mich, verbannte mich aus ihrem Umfeld, entzog sich mir. Und ich wollte nur eines: zu ihr zurück. Ich hätte alles getan, um die symbiotische Verbindung wiederherzustellen, die in meinen Augen die einzig wahre Liebe meines Lebens war. Und dafür opferte ich auch einiges: mein Urteilsvermögen und meinen freien Willen. Ich brach den Kontakt zu meiner Mutter ab, zu lieben Freunden und Kollegen. Ich gefährdete meine gesamte berufliche Karriere.

Es dauerte fünf Jahre, bis die Situation für mich unerträglich wurde. Erst dann merkte ich, dass ich, sollte ich bei Clelia bleiben, nicht in höhere Sphären aufsteigen, sondern in die Isolation absinken würde. Ich würde keiner glänzenden Zukunft entgegengehen, sondern in der Einsamkeit enden. Und selbst nachdem ich das begriffen hatte, brauchte ich noch Wochen, um all meinen Mut zusammenzunehmen und aus der Sekte auszubrechen. Aus einem einfachen Grund: Ich glaubte, dass es außerhalb dieses Zirkels für mich nichts gäbe, dass ich krank werden und sterben würde. Aber das war ein Irrtum. Ich saß einfach nur in einer Seifenblase. Ein Pikser mit dem Finger genügte, um sie platzen zu lassen.

Rückblickend, mit genügend Abstand zu diesen Jahren, sind mir einige Dinge absolut klar:

Erstens: Niemand hat Schuld an dem, was passiert ist. In der Natur kommt es manchmal zum sogenannten »perfekten Sturm«: Ein Hurrikan kann eine absolut zerstörerische Kraft entwickeln, wenn mehrere atmosphärische Bedingungen zusammenkommen, die isoliert gar nichts bewirken würden. Das gibt es nicht häufig, aber es kommt vor. Und mir ist genau das passiert. Eine schwierige Vergangenheit, eine gewisse Zerbrechlichkeit, meine Jugend, dazu der Ehrgeiz, ein gewisser Hochmut, die Eile, die Maßlosigkeit, die Unsicherheit, die Angst, der Zorn auf meinen Vater, das Schweigen zwischen mir und meiner Mutter, die Erwartungen, die ich an meine Ehe hatte, meine festen Überzeugungen und meine Fehler, meine Kurzsichtigkeit und Naivität: Keiner dieser Faktoren hätte allein dazu geführt, dass ich mich von einer Sekte verführen ließ. Doch zusammengenommen machten sie es Clelia letztlich leicht, mich an sich zu binden.

Der zweite Punkt betrifft die Liebe: Heute weiß ich, dass niemand sein Selbstwertgefühl davon abhängig machen sollte, wie sehr er von anderen geliebt wird. Wenn überhaupt Liebe ein Gradmesser für den Wert eines Menschen ist, dann nur umgekehrt: Der Sinn liegt doch im Geben, nicht im Nehmen. So gesehen ist die Mutterschaft mit ihren ständigen Herausforderungen eine wunderbare Schule, selbst für unheilbare Romantiker wie mich.

Jetzt wird es wirklich Morgen. Das Licht scheint unter dem Vorhang hervor und zeichnet goldene Muster aufs Parkett. Ich lausche den regelmäßigen Atemzügen meiner Töchter und kann nur eines denken: »Ich habe so unendlich viel Glück!«

Lange habe ich geglaubt, dass ich die Möglichkeit hätte, wie in einem Märchen zu leben, und dass ich diese wunderbare Gelegenheit mit all meinen Orkanen und perfekten Stürmen zerstört hätte. Inzwischen ist mir bewusst, dass das nicht stimmt. Besser gesagt, dass es nur zum Teil stimmt. In allen Märchen, selbst den sonnigsten, muss der Held sich einer Prüfung stellen: einem Bösewicht, einem Ungeheuer, einem tiefen Wald oder einem vergifteten Apfel. Ohne diese Herausforderung würde der Held ja nichts lernen.

Ich bin stolz auf den Weg, der mich hierhergeführt hat, zu meiner zweiten, innig ersehnten Chance und meinem blonden, grünäugigen Ritter. Ich bedaure nichts. Mir gefällt der Gedanke, dass ich nicht die wäre, die ich heute bin, hätte ich mich nicht diesem Drachen gestellt. Ich bin dankbar für all die Male, die ich gestürzt bin, denn sonst würde ich immer noch am falschen Ort nach Liebe suchen.

Wenn die Zeit reif ist, werde ich meinen Töchtern alles erzählen. Ich hoffe, sie werden so starke Persönlichkeiten, dass die Verführungen der billigen Liebe ihnen nichts anhaben können. Ich hoffe sehr, dass mir das ohne Groll gelingt, mit der Reife eines Menschen, der gelöst und seiner selbst sicher ist. In der Zwischenzeit überschütte ich sie mit Liebe und Zärtlichkeit: Wenn ich meine Mädchen bis dahin nicht vor lauter Zuneigung erdrückt habe, besteht vermutlich die Chance, dass sie mir zuhören, ohne mich zu verurteilen.

Jede Wunde ist eine Eintrittspforte

Als ich klein war, bestand mein Vater darauf, mir die Haare kurz zu schneiden, und zwar raspelkurz: Bei dem einzigen anderen Mädchen in meiner Klasse, das kurze Haare hatte, reichten sie wenigstens bis über die Ohren und waren lang genug für einen Pony. Ich sah mit meinem Kurzhaarschnitt aus wie eine Kreuzung zwischen Simon Le Bon und David Bowie, nur nicht so schön gestylt. Meine damalige Frisur als »hässlich« zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Tatsächlich machte sie mich zum Gespött der ganzen Schule. Was allerdings nicht allein an meinem Bürstenhaarschnitt lag: Ich trug häufig geflickte Kleider, hatte kein Meerschweinchen (in den Achtzigerjahren war das ein Muss für jedes Schweizer Mädchen) und hatte nur Jungs als Freunde. In den Augen der anderen Mädchen war ich eine Art Außerirdische. Für sie bestand das größte Abenteuer darin, auf die Wiese vorm Haus zu gehen, das Meerschweinchen grasen zu lassen und mit ihrer Barbie (!) zu spielen. Ich dagegen verbrachte die Nachmittage damit, neue Weltrekorde auf meinen Rollschuhen aufzustellen. Kaum hörte ich meinen Freund Adrian an der Tür klingeln, stürzte ich die Treppen hinunter und zog mir meine Rollschuhe an. Während ich auf den Stoppern balancierte, brüllte meine Mutter mir hinterher: »Pass auf deine Knie auf!« Dann sausten wir durch die Dorfstraßen und erschreckten die Fußgänger. War uns das nicht schnell genug, kurvten wir im Supermarkt herum, dessen spiegelglatte Bodenfliesen keinerlei Widerstand boten. Ich gestehe, dass wir hin und wieder eine Tube Senf von Thomy klauten, eine verbotene Köstlichkeit, die wir hinter einem Baum als Imbiss verzehrten.

Hätte man mir nicht immer Röcke angezogen, kein Mensch hätte mich vor meinem elften oder zwölften Lebensjahr für ein Mädchen gehalten. Ab dem Alter nämlich beging ich meinen ersten grundlegenden, verrückten Akt der Rebellion: Ich ließ mir die Haare wachsen.

Ich liebte meine Rollschuhe, der Rausch der Geschwindigkeit begeisterte mich, doch mit einem Mal reichte das nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen störte es mich, nicht zum Kreis der gleichaltrigen Mädchen zu gehören. Ich hatte niemanden, mit dem ich über die Veränderungen des Körpers reden und über den Begriff »Liebe« rätseln konnte. Lauter total aufregende Themen, über die ich mit Adrian, sosehr ich ihn mochte und sosehr er mich auch zum Lachen brachte, einfach nicht sprechen konnte.

Mit dem Ausgeschlossensein hatte ich schon erste Erfahrungen gesammelt, aber auch gelernt, daraus gestärkt hervorzugehen. Im Kindergarten zum Beispiel hatte ich immer Angst vor den Pausen gehabt, denn kaum waren wir ohne Aufsicht auf dem Hof, fingen die anderen Kinder an, mich »Spaghettifresser« zu nennen und herumzuschubsen. Der Grund: Ich war im Kanton Tessin geboren, wo man Italienisch spricht, und die anderen kamen aus dem Kanton Bern, wo ich inzwischen mit meinen Eltern lebte. Alle sprachen Deutsch. Nur ich nicht. Zumindest nicht so gut, dass ich mich fließend verständigen konnte. Von meinem Vater hatte ich ein paar Brocken Italienisch gelernt, aber auch das nicht genug, um die Sprache sicher zu beherrschen. Natürlich hätte ich mich im Gruppenraum verschanzen können, aber irgendwie war ich beim Läuten immer die Erste, die aus dem Klassenzimmer stürmte, meinem Schicksal entgegen: Ich kann mit Fug und Recht behaupten, Deutsch durch Ohrfeigen gelernt zu haben. Am Ende aber sprach ich eine Sprache mehr als die Kinder um mich herum.

Ich war außerdem überzeugt, dass es nicht ausreichen würde, die Sprache der Mädchen zu lernen. Aber wenn ich aussähe wie sie, würden sie mich akzeptieren, und ich könnte mich mit allen anfreunden.

Es hat Monate gedauert, aber am Ende reichten meine Haare bis zu den Schultern und noch länger. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich sie nie mehr abgeschnitten. Endlich sah ich aus wie die anderen. Doch ich wartete vergeblich darauf, endlich Freundschaften schließen zu können. Aus mir unerfindlichen Gründen verachteten die Mädchen mich noch mehr als zuvor. Vielleicht hatte ihre Ablehnung ja gar nichts mit den Haaren zu tun, sondern mit meiner »komischen« Familie, den alten Klamotten und – das vielleicht am allermeisten – meinem kindlichen Verhalten. Schließlich ist dies für Jugendliche ein absolutes No-Go. Denn so geschickt ich bei der Problemlösung im Familienkreis war, so naiv verhielt ich mich im Umgang mit Gleichaltrigen. Die anderen Mädchen waren in meinen Augen viel zu raffiniert, ob es nun um Gefühlsäußerungen oder um Beweise absoluter Herzlosigkeit ging: Offensichtlich hatten sie Zugang zu einer Welt, die mir verschlossen blieb. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich kopfschüttelnd lachen sollte, wie ich tanzen sollte, ohne zu zappeln, wie ich jemanden von oben bis unten herablassend mustern oder jemandem in die Augen schauen und ironisch grinsen sollte. Mit Jungs fühlte ich mich da viel wohler: In neunzig Prozent der Fälle genügten ein lockerer Spruch und ein Schulterklopfen, um alle möglichen Probleme – vom Streit bis hin zur Peinlichkeit – zu lösen. Ist doch eigentlich ganz einfach, oder? Ich war hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Welten: Zur ersten wollte ich unbedingt dazugehören und ahmte sie daher sklavisch nach, während ich eigentlich Teil der zweiten blieb. Kein Wunder also, dass es immer schlechter lief.

Seit dieser Zeit habe ich mir die Haare nicht mehr schneiden lassen, jedenfalls nicht richtig. Wenn ich zu meinem Friseur gehe und ihn mit seinen Scheren sehe, lächle ich ihn nur freundlich an und sage: »Nur die Spitzen, bitte.« Noch lange habe ich gehofft, dass meine neue Frisur mir wie durch ein Wunder die ersehnten sozialen Kontakte verschaffen würde, die ich mir wünschte. Das ist nicht passiert, aber in der Zwischenzeit sind mir meine Haare zu einer Art Kokon geworden. Ich habe mich während meiner ganzen Teeniezeit darin versteckt. Ich trug die Haare immer lang und offen, mit einem Mittelscheitel. Der blieb gerade so weit geöffnet, dass ich hinausschauen konnte. Erst als ich älter wurde, habe ich die Strähnen, die mir ins Gesicht fielen, allmählich zur Seite geschoben, immer ein bisschen mehr, wie einen Vorhang. Dann habe ich angefangen, mir Locken zu machen, sie abzustufen. Ich habe sie zusammengebunden, geflochten, hochgesteckt. Sie sind zu meiner Mähne geworden, meinem Markenzeichen. Sie gehören zu mir. Daher hätte ich mir nie vorstellen können, dass meine Haare mir mit ungefähr zwanzig Jahren mal zum Verhängnis werden könnten. Genauer gesagt, mit dreiundzwanzig.

Es begann damit, dass ich überall Haare hinterließ. Am Morgen kontrollierte ich zuallererst mein Kissen, nur um festzustellen, dass es auch letzte Nacht wieder erblondet war. Ich ging ins Bad, bürstete mir mit sorgsamer Hand wie ein Chirurg das Haar, und danach sah die Bürste aus wie ein Garnknäuel.

Erst dachte ich, es läge an der Jahreszeit. Aber dann waren zwei Jahreszeiten vorübergegangen, ohne dass meine Haare nachwuchsen. Vielleicht war ich ja allergisch gegen Katzen, immerhin hatte ich sieben Stück: Alle Katzen, die zu mir kamen, wollten bleiben, und ich brachte es nicht fertig, sie wegzujagen. Also adoptierte ich sie. Doch nach einem Besuch beim Allergologen waren die Katzen aus dem Schneider, und ich fing an, alles nur Erdenkliche auszuprobieren: die Hausmittelchen der Oma, die des alten Friseurs, die des neuen Friseurs (man weiß ja nie …), Shampoo und Spülungen aller möglichen Marken, Lotionen, Nahrungsergänzungsmittel. Bis hin zum Besuch beim Apotheker, beim Hausarzt und beim Endokrinologen. Ein Spezialist aus der Brianza verordnete mir Infusionen von ich weiß nicht welcher natürlichen Substanz, da er meinte, meine Blutgefäße müssten mal gereinigt werden. Null Effekt.

In diesem Jahr moderierte ich die Fernsehshow »Non solo moda« (Nicht nur Mode) und nahm in Los Angeles Schauspielunterricht: Ich nutzte jede Chance, um mich nach oben zu arbeiten und meinen Traumjob von der Pike auf zu lernen. Und ich war wie verrückt in den Vater meiner Tochter verliebt. Eigentlich war alles perfekt. Unser wunderbares Kind war gerade drei Jahre alt. Wir lebten in Inverigo, einem Ort nahe Mailand, in einer riesigen Villa mit Park. Ich hatte keinen Führerschein, aber einen Fahrer, der mich und Aurora zum Kindergarten kutschierte und uns wieder abholte. Oder mich zum Fernsehstudio brachte.

Ich war die Partnerin von Eros Ramazzotti und die Mama von Aurora. Ich war glücklich. Und doch … Ich hatte Eros mit achtzehn Jahren kennengelernt, mit neunzehn war ich schon Mutter geworden. Mit zwanzig begann ich mich allmählich zu fragen, wer ich denn wirklich war und wo mein Leben denn hingehen sollte – Fragen, die sich wohl jeder früher oder später stellt. Vielleicht begann ich darüber nachzudenken, weil ich es nicht anders kannte, als nach einer gewissen Zeit alle Brücken hinter mir abzubrechen. Vielleicht aber hatte meine Sehnsucht nach persönlicher Verwirklichung auch mit dem heroischen Beispiel zu tun, das ich als Mädchen ständig vor Augen gehabt hatte.

Meine Mutter war keine Frau, sie war ein Fels: Sie hatte die Niederlande verlassen, noch nicht mal volljährig und ganz auf sich allein gestellt. Und sie verdiente nicht nur ihren Lebensunterhalt selbst, sondern versorgte mit ihren vierzig Jahren eine vierköpfige Familie, da mein Vater sich in keinem Job länger als ein paar Wochen hielt. Sie war Handelsvertreterin, was bedeutete, dass sie jeden Morgen das Haus mit ihrem Musterkoffer verließ und den ganzen Tag über an Türen klopfte. Das machte sie aber richtig gut, sodass sie in dem internationalen Heilpflanzen-Konzern, für den sie ganz zu Anfang ihrer Karriere in der Schweiz eine Raucherentwöhnungskur verkauft hatte, zur Managerin aufstieg. Sie selbst rauchte wie ein Schlot, aber sie hatte einen Trick: Bevor sie an einer Tür läutete, spülte sie ihren Mund kurz mit Odol.

In den Augen der strengen Zwanzigjährigen, die ich damals war und für die jede Entscheidung unumstößlich schien, durfte ich nicht nur »die Frau von …« sein. Ich wollte mir selbst und meiner Tochter zeigen, dass ich eine unabhängige, selbstständige Frau sein konnte. Eine, die ihrem Idol das Wasser reichen konnte. Wenn ich das Mädchen von damals heute vor mir sehe, überkommt mich eine tiefe Zärtlichkeit. Ich war stolz und dickköpfig, daher versteifte ich mich darauf, dass Auris Vater nicht einen Euro mehr für uns ausgab als unbedingt nötig. Mit den umgerechnet sechshundert Euro brutto, die ich zu jener Zeit verdiente, bestand ich darauf, mich an den gemeinsamen Kosten zu beteiligen. Natürlich machten sich alle über mich lustig.

An einem strahlenden Wintertag traten Franchino und Graziella über die Schwelle der Agentur, die Eros zu jener Zeit betreute – und wenn möglich auch mich, seine hyperaktive Partnerin. Wer waren diese Leute? Er, Franco »Franchino« Tuzio, war jahrelang Manager des italienischen Fernsehstars Fiorello gewesen. Er hatte ihm die poppigen Sakkos verpasst und das Pferdeschwänzchen, das seinem so sehr ähnelte und zu Fiorellos Markenzeichen geworden war. (Es mag ja Zufall sein, aber aus irgendeinem Grund geht es in dieser Geschichte immer wieder um Haare …) Mit seinem unwiderstehlichen apulischen Akzent, der ihn zur Zielscheibe zahlreicher Satiriker machte, war Franchino der Talentscout schlechthin: Kreativ und einfühlsam erkannte er den Künstler in dem Menschen, der vor ihm stand, und wusste ihn dort einzusetzen, wo er sein Bestes geben und sein Talent ausbauen konnte.

Meines Wissens arbeitet Graziella schon seit Ewigkeiten mit ihm zusammen und hält mit einer Treue und Hingabe zu ihm, die ihresgleichen suchen. Franchino kann sich erlauben, ganz Inspiration und Intuition zu sein, weil er eine so unglaublich gute Abstimmung mit seiner Freundin und Geschäftspartnerin hat. Sie ist der praktische Teil des Duos. Seine Projekte werden dank ihr Wirklichkeit, denn sie managt alles, selbst sein Bankkonto.

Nun wollten sie gemeinsam eine Agentur gründen. Sie hatten genug Kompetenz, und einen Namen hatten sie auch schon (Notoria). Nur die passenden Geschäftsräume fehlten ihnen noch. Eros bot ihnen einen Raum in seinem Büro an und einen Platz an unserem Tisch. Daher kam Franchino häufig zum Frühstück nach Inverigo. Und er nahm an allen Festen teil, die wir organisierten. Zu Silvester hatte er über meine Witze gelacht, als ich mit dem Mikro in der Hand die Gäste unterhielt wie eine Animateurin im Ferienclub.

Je häufiger ich ihn sah, desto mehr mochte ich ihn: Er war aufrichtig, ein angenehmer Mensch und hatte wirklich ein exzellentes Gespür für Talente. Ich wusste, dass er es in der Vergangenheit nicht ganz leicht gehabt hatte. Daher glaubte ich, dass er mich verstehen konnte, noch bevor er mir half, mein Potenzial auszuschöpfen.

Außerhalb meines Zuhauses setzten mir meine Minderwertigkeitskomplexe noch immer sehr zu. Ich war eine Außenseiterin und darüber zutiefst unglücklich. Als ich noch bei meinen Eltern wohnte, litt ich sehr darunter, nichts gegen den immer größer werdenden Bruch zwischen ihnen tun zu können. Hilflos musste ich zusehen, wie die Ehe meiner Eltern zerbrach. Aus irgendeinem seltsamen Grund glauben Kinder immer, die Hauptursache für alles zu sein, was innerhalb der Familie geschieht. Und sie versuchen, alles zu reparieren. Mein Vater war ständig betrunken. Wenn er nach Hause kam, schlug er alles kurz und klein: Wer sollte daran schuld sein, wenn nicht ich? Niemand hat mir je erklärt, dass mein Vater krank war und nicht nur an mangelnder Willenskraft litt. Alkoholsucht als Krankheit zu sehen, die behandelt werden muss, setzte Wissen und Aufklärung voraus, die uns damals fehlten. Bis weit hinein in die Achtzigerjahre war es ja ohnehin gesellschaftlich akzeptiert, wenn Männer viel tranken. Man muss sich nur mal die James-Bond-Filme aus jener Zeit ansehen: Würde heute ein Vater so viele Martinis – gerührt, nicht geschüttelt – zusammen mit solchen Mengen Champagner kippen, würden wir uns ernsthaft Sorgen machen. Damals war das anders. Meine Mutter, mein Bruder und ich waren überzeugt, dass er sich nur entscheiden müsse aufzuhören. Dass er nur einmal Nein sagen müsse: »Das ist jetzt mein letztes Glas.« Italo Svevo und seine detaillierte Analyse der Sucht hatten wir damals nicht gelesen.

Mein zehnjähriges Köpfchen hatte seine ganz eigene Erklärung für sein Verhalten: Mein Vater liebte den Alkohol mehr als mich, seine Tochter. Das war die Wurzel allen Übels. Hätte ich ihn dazu gebracht, mich mehr zu lieben, wäre er für immer nüchtern geblieben. Und er wäre nach wie vor der wunderbare Mensch, den wir kannten. Mama hätte viel mehr Zeit gehabt, und wir wären alle zusammen glücklich gewesen. Doch leider habe ich das nicht geschafft. Irgendetwas hatte ich wohl an mir, was mich unwürdig machte, geliebt zu werden. Vielleicht in Zukunft, wenn ich endlich jemand wäre … Aber damals war ich einfach nur ein mageres Mädel mit einem Kurzhaarschnitt: Alles war meine Schuld.

Ich glaube, Franchino und ich haben uns in gewisser Weise gerade aufgrund der geheimen Wunden gefunden, die wir zu heilen versuchten. Seine Bruchstellen ließen ihn mir vertraut erscheinen. Wie mein Vater war er eine sensible Seele, nackt und bloß. Beide Männer steckten voller Charme und Talent, waren aber auch verletzlich, mitunter sogar vollkommen hilflos. Doch Frank hatte sich, anders als mein Vater, wieder aufgerappelt, hatte noch mal von vorn angefangen. Ich weiß nicht, ob ich nicht insgeheim hoffte, dass es auch bei meinem Papa so laufen würde, doch Franchino war für mich von Anfang an eine wichtige Stütze, eine zweite Vaterfigur. Und so hat er sich auch um mich gekümmert.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem wir beide uns gegenseitig adoptierten. Das war im Frühling 2000. Eros sollte ein Konzert geben, war aber schon seit Tagen ohne Stimme. Er hatte kiloweise Dragees gegen Halsschmerzen gelutscht und mit was weiß ich nicht allem gegurgelt – die Heiserkeit wollte einfach nicht weggehen. Da schlug Franchino ihm vor, doch mal zu Clelia zu gehen, der Pranaheilerin, die ihm aus seinen dunklen Stimmungen herausgeholfen hatte. In seinen Augen hatte diese Frau ihm das Leben zurückgegeben: Es war das Beste, was er zu bieten hatte. Dem Satz all jener folgend, die nicht mehr weiterwissen – »Schaden kann’s ja nicht!« –, beschlossen wir, die Frau aufzusuchen.

Niemand hätte zu jener Zeit ahnen können, welche Folgen diese Entscheidung haben würde.

Clelia war von einer hochherrschaftlichen Schönheit, die gleichzeitig etwas Mütterliches hatte. Etwa vierzigjährig, mit langem aschblondem Haar, strahlte sie Freude, Gelassenheit und Heiterkeit aus. Sie war vergleichsweise klein, höchstens einen Meter sechzig, aber ihr Lächeln war sanft und offen. Ihre klugen Augen schienen stets zu lachen, ihre Hände waren weich und sehr gepflegt.

Sie behandelte Eros am späten Vormittag, und danach aßen wir alle zusammen zu Mittag. Bei dieser Gelegenheit bat ich Franchino schüchtern, ob er sich nicht auch meiner Karriere annehmen könne. Das ging mir schon eine ganze Weile im Kopf herum. Ich hatte mit Eros darüber gesprochen, und er war einverstanden. Franchino fing gleich an zu strahlen, als hätte er genau das von mir erwartet. Er lächelte mich an und antwortete: »Aber mit Vergnügen, Michelle. Sehr, sehr gerne.« Wir waren beide wie im siebten Himmel und begannen, uns die wundervolle Zukunft auszumalen, die uns ganz sicher bevorstand: Er wiederholte immer wieder, dass ich eine komische Ader hätte, die bislang noch nicht so richtig zum Tragen gekommen sei. Auf die wolle er setzen.

Heißt es nicht, das Wort sei so mächtig wie das Schwert? Einverstanden, allerdings mit Einschränkungen. Denn das Wort kann nicht nur verletzen, es kann auch streicheln, rühren, zum Lachen bringen. Für mich ist das Lachen immer wie ein einladender, gedeckter Tisch. Wer schüchtern ist, kann sich darunter verstecken, aber alle, wirklich alle können an der Mahlzeit teilhaben. Zu Beginn meiner Karriere hat man mich – recht uncharmant – eine »Lachnudel« genannt, weil ich nun mal leicht zum Lachen zu bringen bin. Dabei ist Lachen alles andere als dumm. Man lacht, um Enttäuschungen und Schmerz zu vertreiben, um Trauer oder Melancholie zu überwinden. Charlie Chaplin, der wie kein anderer das komische Element in der Tragik sehen und ausdrücken konnte, hat Werke von reiner Poesie geschaffen. Ein gemeinsames Lachen eint, lässt Mitgefühl entstehen und setzt sehr viel mehr Energie frei als das Weinen. Wenn wir müde sind und es uns trotzdem gelingt zu lachen, schöpfen wir neue Energie. Das mag an den Endorphinen und anderen chemischen Reaktionen im Körper liegen, doch die komische Seite einer Situation zu erkennen und darüber lachen zu können, war für mich häufig ein Sicherheitsanker. Und eine effektive Maske, wenn ich vor der Welt verbergen wollte, wie es wirklich in mir aussah.

Aus diesem Grund rannte Franchino bei mir offene Türen ein: Nichts würde mir mehr Freude machen, als die Leute zum Lachen zu bringen.

Nach dem Essen zogen Frank und Eros sich ins Wohnzimmer zurück. Ich brachte Auri zu Bett; es war Zeit für ihren Mittagsschlaf. Dann kehrte ich an die Tafel zurück, um Kaffee zu trinken, und bot auch Clelia, die mir Gesellschaft leistete, eine Tasse an. Wir plauderten ein wenig. Irgendwann zog ich eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete mir eine an.

Clelia sah mich missbilligend an und sagte: »Du musst aufhören.« Nicht »du solltest«, sondern »du musst«. Das war ein Befehl, auch wenn mich das nicht störte, weil er in so sanftem Ton erfolgt war, als gäbe es keine andere Möglichkeit.

»Ach, ich weiß ja, dass ich aufhören müsste«, antwortete ich bewusst im Konditional. »Aber ich mag es nun mal …« Ich weiß nicht mehr, ob ich wirklich gerne rauchte, ich glaube aber schon. Tatsächlich waren die Zigaretten nur eine Erinnerung an die einzig turbulente Zeit, die ich überhaupt erlebt hatte. Ich war sechzehn gewesen, als wir nach Italien zogen, und dort hatte ich lauter total verrückte Freunde. Ich kam von den idyllischen Wiesen der Schweiz direkt nach Riccione ins Cocoricò, Italiens berühmteste Diskothek. Die Zigaretten ließen mich cool aussehen, so cool, dass ich sofort in die Clique aufgenommen wurde.

»Ja, ja, das sagen sie alle«, versetzte Clelia knapp. »Gib mir die Schachtel!«

Auch jetzt bat sie mich nicht, sondern befahl. Und ich streckte die Hand aus und gab ihr die Zigaretten, skeptisch wie alle Raucher und absolut sicher, dass nichts und niemand mich vom Rauchen würde abbringen können. (Von der Kräuterkur, die meine Mutter verkaufte, vielleicht abgesehen.)

Es waren noch drei Zigaretten übrig. Clelia nahm sie, legte sie in ihre Hand und blies darauf. Dann schob sie sie wieder in die Packung zurück.

Ungläubig riss ich die Augen auf. »Was hast du da gemacht?«, wollte ich wissen.

»Ich will dich nicht beeinflussen. Rauch sie, und erzähl mir dann, was passiert ist.«

Ich protestierte schwach. Wie kam diese Frau überhaupt dazu, an meinen Zigaretten herumzufummeln? Noch dazu in meinem eigenen Haus! »Hör mal, wo soll denn da das Problem sein? Ich rauche nun mal gern …«

»Du darfst nicht mehr rauchen, zu deinem eigenen Wohl. Aber mach dir keine Gedanken. Zünde sie an und rauche sie. Du wirst schon sehen.«

Jetzt war ich echt sauer. Kein Raucher will wirklich aufhören, vor allem, wenn er nicht selbst entscheidet, wie und wann. Gleichzeitig war ich neugierig geworden. Ich dachte: »So ein Unsinn! Was soll da schon passieren …« Ich wollte Clelia auf ihrem eigenen Terrain schlagen, ihr zeigen, dass ich recht hatte, dass ihr Trick bei mir nicht funktionieren würde.

Doch genau das Gegenteil geschah.

Ich bin nicht gerade eine Meisterin der Konversation. Es gibt Menschen, die können einfach mit jedem plaudern und dabei interessant und liebenswert erscheinen. Ich hingegen gehöre zur Spezies der Spaßvögel: Kaum merke ich, dass mein Gegenüber auch nur einen Funken Humor hat, fange ich an, Witze zu machen. Das ist meine Art, Menschen zu beeindrucken. Sobald das Gespräch aber mehr Tiefgang bekommt (und die anderen zur Hochform auflaufen), trete ich eilig den Rückzug an, indem ich mich hinter noch einem Witzlein und noch einem Allgemeinplatz verschanze. Es gibt nur wenige Menschen, denen ich mich auf Anhieb öffnen kann. Clelia war einer von ihnen.

Die Zigaretten waren nur der Anfang. Bald redeten wir über mein ganzes Leben: meine künftigen Projekte, meinen Alltag, meinen Glauben. Sie hörte mir mit gespannter Aufmerksamkeit zu, fragte nach, wie ich mich in dieser oder jener Situation gefühlt hatte, und signalisierte mir immer wieder, dass sie mich bestens verstünde. Sie war so offen, dass ich sogar beschloss, ihr von meinem aktuellen Drama zu erzählen: von meinem Haarausfall, von all den Versuchen, die ich schon unternommen hatte, um seiner Herr zu werden. von den kahlen Stellen, die mir riesig vorkamen, obwohl ich sie immer noch bedecken konnte. Ich erzählte ihr von meinem haarigen Kissen und der Garnknäuel-Bürste. Und Clelia umarmte mich. Sie nahm meinen Kopf, bettete ihn an ihre Schulter und strich mir übers Haar. Wie eine Mutter. Dann meinte sie: »Wenn du willst, kann ich morgen versuchen, auch dich zu behandeln. Schauen wir doch einfach, was passiert.«

Franchino hatte sie uns vorgestellt. Eros hatte sich heute Morgen von ihr behandeln lassen: Es schien mir eine Superidee, es selbst zu versuchen. Aber wahrscheinlich hätte ich auch Ja gesagt, wenn ich sie nur durch Zufall kennengelernt hätte, im Kino, an der U-Bahn-Haltestelle, in der Bar mit einem Cappuccino und einer Brioche in der Hand. Wie soll man jemanden zurückweisen, der einem genau das anbietet, wonach man sich zutiefst sehnt? Auch wenn man gar nicht weiß, was das letztlich ist?

Am selben Abend hörte ich auf zu rauchen. Kein Witz, ehrlich. Ich zündete mir eine der Zigaretten an, auf die Clelia gepustet hatte, und sie schmeckte so widerlich, dass ich mich beinahe erbrochen hätte. Ich konnte es kaum glauben. An den folgenden Tagen versuchte ich es noch drei- oder viermal. Ich kaufte eine neue Packung, schnorrte mir Zigaretten von Freunden: sinnlos. Das Gefühl des Ekels blieb. Vielleicht war ich hypnotisiert. Vielleicht konnte Clelia Zigaretten verhexen: Was auch immer der Grund war, seit dieser Zeit habe ich keine Zigarette mehr geraucht. Das zumindest hat sie an Gutem für mich getan.

Am nächsten Tag kam sie mit einer Liege an. Wir stellten sie im Souterrain auf, wo die (nie benutzte) Sauna war. Dort unten war es schön ruhig und gemütlich. Der absolut perfekte Ort.

Clelia sorgte für eine heilsame Atmosphäre: Sie zündete Duftkerzen an. Sie rieb sich die Hände mit Jasminöl ein. Dann bat sie mich, mich hinzulegen, und fing an, meinen Fall genauer zu studieren.

Pranatherapie beruht auf dem Studium des Prana, auch »Lebensatem« genannt. Dem Denken verschiedener philosophischer Schulen zufolge, die ihre Wurzeln weitgehend in der östlichen Weisheitsliteratur haben, verfügt jeder Mensch über drei Körper: den materiellen Körper, der der dichteste und Geburt und Tod unterworfen ist; den feinstofflichen Körper oder die Aura, ein Energiefeld, das den materiellen Körper umgibt und mit ihm kommuniziert; und den geistigen Körper, den wir in unserer Tradition gewöhnlich »Seele« nennen. Die Pranatherapie arbeitet mit dem feinstofflichen Körper. Es geht dabei vor allem darum, das Netz der Nadis zu öffnen (eine Art energetische Adern), durch die das Prana läuft. Das kann man nun glauben oder nicht, aber dabei handelt es sich um eine anerkannte Heilmethode: Um ihren Beruf ausüben zu können, müssen die Pranatherapeuten in Italien seit 1997 eine Prüfung ablegen und sich registrieren lassen.

Clelia bewegte zuerst ihre Hände über meinen Körper, in ungefähr zehn bis fünfzehn Zentimetern Entfernung. Dann legte sie die Hände auf ein paar Stellen, die – wie ich später erfuhr – die sogenannten »Chakras« waren: sieben Punkte auf der Linie zwischen Kreuzbein und Scheitelpunkt am Kopf, in denen sich die göttliche Energie latent konzentriert. Zuerst legte sie mir die Hand auf den Bauch, aufs Nabelchakra (das mit dem Wunsch nach Macht und der Sehnsucht, seinen Platz in der Welt zu finden, zu tun hat). Dann legte sie sie aufs Herzzentrum (wo es um Liebe und die Fähigkeit zu bedingungsloser Liebe geht). Schließlich setzte sie sich hinter mich. Sie hob meinen Kopf sachte an, nahm ihn in ihre Hände und legte mir die Finger in den Nacken. Dann sagte sie: »Sprich mit mir!«

Ich fühlte mich so gut wie schon lange nicht mehr. Auf dieser Liege war nur ich, ohne den ganzen Stress, ohne den Haarausfall, ohne meinen Wunsch nach Unabhängigkeit und mein Bedürfnis nach Liebe: Alles hatte sich in den Düften und dem sanften Licht aufgelöst. Ich war frei, zum Wesentlichen zu finden. Ich hätte ihr einfach alles sagen können. Und genau das tat ich.

Ich teilte mit Clelia den kostbarsten und intimsten Aspekt meiner Geschichte, meine tiefinnerste Wunde. Ich erzählte ihr, dass mein Vater trank. Meine erste Erinnerung daran, eine meiner frühesten Erinnerungen überhaupt, kam in ebendiesem Moment ans Licht, gegen meinen Willen und obwohl ich mein Möglichstes getan hatte, um sie tief in mir zu vergraben.

Wir lebten damals in Bern, und Papa holte mich vom Kindergarten ab. Er erklärte mir, dass wir, bevor wir nach Hause gehen konnten, kurz auf einen Sprung ins Hotel müssten, weil er einem Freund noch etwas sagen müsse. Wenn er nicht gerade wegen seines Trinkens auf der Straße stand, arbeitete er als Hotelmanager: Er machte aus schlecht laufenden Hotels wieder erfolgreiche Unternehmen. Er war sehr gut darin – aber er hasste diesen Beruf. Das war mit ein Grund, warum er sich in den Alkohol flüchtete. Damals jedenfalls war er gerade mal wieder rausgeflogen. Ich kann mich nicht erinnern, ob meine Mutter schon Bescheid wusste. Wir kamen also im Hotel an. Die Bar war ganz aus dunklem Holz. Er bat mich, brav zu sein und am Tisch sitzen zu bleiben, während er an einem anderen Tisch mit einem Mann redete. Diese Szene habe ich einmal, zehnmal, fünfzigmal abgespeichert. Wie ich in dieser Bar sitze und die Langeweile bekämpfe, indem ich mit Bierdeckeln Schlösser baue und durch die Luken spähe, um meinem Vater beim Trinken mit einem anderen Mann zuzusehen.

Nach einer Weile stand er auf, nuschelte irgendetwas, drehte sich zu mir um und fing an zu wanken. Auf der Wendeltreppe geriet er dann ins Stolpern und fiel hin, wobei er mit dem Kopf gegen das Goldfischglas schlug, das prompt zu Bruch ging. Jemand rief den Krankenwagen. Während die Sanitäter meinen Vater wegtrugen, zeigte er mit dem Finger auf mich: »Meine Kleine … bitte, lasst meine liebe Kleine nicht allein …«

Was dann passiert ist, weiß ich nicht mehr. Nur, dass die Polizei meinen Vater gegen Mitternacht nach Hause brachte. Meine Mutter war außer sich vor Angst. Zu jener Zeit gab es ja noch keine Handys, und so wusste sie nicht mehr als das bisschen, was ich ihr erzählen konnte – und der Freund, mit dem mein Vater getrunken hatte.

Von diesem Tag an bis zum Alter von ungefähr zwölf Jahren versuchte ich, wenn meine Eltern im Restaurant Alkohol bestellten, den Inhalt der Gläser wegzuschütten, nur damit sich so etwas nicht wiederholte. Heute würden die Eltern sich in einem solchen Fall fragen, was eigentlich los ist. Sie würden mit dem Mädchen reden, die Lehrer ausfragen, die Mütter ihrer Freundinnen, vielleicht sogar mit dem Kinderpsychologen telefonieren. Damals war das noch ein bisschen anders: Alles, was ich bekam, war eine Ohrfeige.

Clelia erzählte ich, dass ich seit Jahren nicht mehr mit meinem Vater sprach, weil er mich so enttäuscht hatte. Der Alkohol war ihm wichtiger als ich, und ich hatte, um es ihm heimzuzahlen, den Kontakt zu ihm abgebrochen. Als er zu meiner Hochzeit kam und mich nach Auroras Geburt im Krankenhaus besuchte, war er ebenfalls leicht angetrunken. In beiden Fällen hatten Dutzende wohlmeinender Freunde gemeint, er habe sich total danebenbenommen, alles falsch gemacht, was man falsch machen könne, sich wie ein unreifes Kind verhalten … Ich persönlich hatte das Gefühl, dass dahinter etwas ganz anderes stand, das mit seinen Gefühlen mir gegenüber nichts zu tun hatte. Aber ich hatte nicht mehr weiter darüber nachgedacht. Denn damals hatte das Mädchen, das sich ungeliebt fühlte, die Erinnerungen an seinen Vater, die guten wie die schlechten, auf einen imaginären Speicher verbannt. Warum Zeit auf die Vergangenheit verschwenden, wenn man in der Gegenwart ein Idyll leben kann? Grottenschlechte Strategie, würde ich dem Mädchen heute sagen. Damals aber schien mir das die einzige Möglichkeit zu sein.

Doch diese Erlebnisse werden meinem Vater als Mensch nicht gerecht. Im Gespräch mit Clelia kamen auch die schönen Dinge wieder ans Licht. Die Gutenachtgeschichten aus dem Weltraum, die er mir abends erzählte. Die warme Milch mit Honig, die er mir abends heimlich ans Bett brachte. Die Bauchklatscher im Schwimmbad, die er nur machte, um mich zum Lachen zu bringen. Die Sonntage im Wald, um Bäume und Tiere zu beobachten. Er war ein Künstler. Einmal meinte er: »Weißt du, Spatz, ich stelle mir das Paradies so vor: Dort ist es weder zu kalt noch zu heiß, und es herrscht immer Abenddämmerung, damit ich alle Bilder malen kann, die ich möchte.«

Seine Eltern besaßen das bekannteste Restaurant in Lugano: das Gambrinus, in dem Teile von Fellinis Das süße Leben gedreht wurden. Dort gingen Sophia Loren und Carlo Ponti, Kim Novak und Vittorio de Sica samt Familie ein und aus. Der Familiensaga zufolge war meine Großmutter Yvonne eine der kältesten Frauen auf Gottes Erde. Mein Großvater Adolf hatte keine Zeit für seinen Sohn. Ohnehin interessierten sich in den Fünfzigerjahren Väter nicht für die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder: Das war die Angelegenheit der Mütter oder der Stiefmütter. Als mein Vater mit acht Jahren eine große Madonna auf ein Leintuch malte, entschieden meine Großeltern, eine Neigung zur Malerei sei für den künftigen Leiter des Gambrinus nicht passend und müsse unterdrückt werden. Sie schickten ihn auf die Hotelfachschule und verschlossen fest beide Augen, als er mit nur sechzehn Jahren Alkoholprobleme bekam. In der Zwischenzeit hatte das Vermögen meiner Großeltern den Weg alles Irdischen genommen: Mein Großvater fuhr einfach zu oft ins Casino in Monte-Carlo. Also beschloss er 1969, das Restaurant zu verkaufen. Und als meine Großmutter starb, verspielte er (buchstäblich) alles, was ihm teuer war.

Mein Vater und meine Mutter, die bis zu diesem Augenblick durch halb Europa gereist waren (er arbeitete in renommierten Hotels, sie als Dolmetscherin), mussten zurück in die Schweiz. Die Geschichte der wohlhabenden Familie Hunziker endete an diesem Punkt. Es begann der Kreuzweg meiner Eltern, die sich, jung und verliebt, wie sie waren, plötzlich mit Problemen konfrontiert sahen, die ihnen über den Kopf wuchsen. Mein Vater arbeitete nun in dem Beruf, den er gelernt hatte; meine Mutter entdeckte glücklicherweise, dass sie ein Händchen fürs Verkaufen hatte. Sie tat alles, um ihn zu unterstützen.

Unter Clelias weichen Händen in meinem Nacken, die tief vergrabene Erinnerungen zum Vorschein brachten, spürte ich, dass ich nirgendwo anders sein wollte. Als Clelia mich fragte: »Aber hast du deinem Vater je gesagt, dass du ihn gern hast?«, fing ich verzweifelt an zu weinen. Ich heulte bittere Tränen.

»Neeein! Das habe ich ihm nie gesagt!«, rief ich.

»Und warum machst du es dann nicht?«, fragte sie einfach.

Mir wurde bewusst, dass ich Unsinn redete, im selben Moment, in dem der Satz über meine Lippen ging und ich verheult schniefte: »Das kann ich doch nicht! Wir reden ja schon seit vier Jahren nicht mehr miteinander …« Plötzlich schien es mir idiotisch, dass daran nichts zu ändern sein sollte. Ein völlig unnötiges Hindernis.

»Na und?«, hakte Clelia nach. »Du fährst zu ihm nach Hause, läutest an der Tür und umarmst ihn, wenn er aufmacht. Es ist doch egal, was war oder was sein wird: Seine Schwächen mögen ihre Gründe haben, doch für dich ist es wichtig, ihn wiederzusehen, ihn wiederzufinden. Du musst versuchen, ihn zu verstehen.«

Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich mit jemandem über meinen Vater sprach. Vielleicht hätte ich denselben guten Ratschlag bekommen, hätte ich es mit anderen Menschen versucht. Doch es ist nun einmal so gelaufen: Clelia hat mir meinen Vater zurückgegeben und sich dadurch meine ewige Dankbarkeit verdient.

Eine zweite Sitzung in der folgenden Woche, und zart sprossen meine blonden Haare wieder. Ich weiß nicht, ob es sich um eine energetische Blockade im feinstofflichen Körper handelte oder ob es einfach der Stress war. Auf jeden Fall waren meine Probleme psychosomatisch.

Ich fühlte mich wie durch ein Wunder geheilt. Clelia hatte etwas geschafft, woran Ärzte und Spezialisten gescheitert waren. Und sie hatte mir den entscheidenden Anstoß gegeben, um wieder Kontakt mit meinem Vater aufzunehmen.

Wenige Tage später nahm ich den Zug nach Caslano in der Nähe von Lugano. In diesem Dorf hatte ich die ersten drei Jahre meines Lebens verbracht. Dort lebte mein Vater. Ich läutete an der Tür, er öffnete und sah mich hingerissen an. Dann umarmten wir uns, aber wie! Ich weiß nicht, wie lange wir so stehen blieben. Er weinte, ich weinte – versunken in ein Tohuwabohu von Gefühlen: Freude, Kummer, Schuldgefühle, wieder Freude, alles zusammen kochte in mir hoch. Als wir uns voneinander lösten, wurde mir schmerzlich bewusst, wie seine Wohnung aussah: ein winziges Zimmer mit Bad, höchstens zehn Quadratmeter, aber voller Bilder. An den Wänden hing ein Patchwork aus seinen Öllandschaften und Sonnenuntergängen in Acryl. Überall Leinwände, selbst auf dem Boden, an der Wand, aneinandergelehnt, damit sie so wenig Platz wie irgend möglich einnahmen. Die drei Stücke Mobiliar, die er besaß, hatten auch schon bessere Tage gesehen. Sie wirkten regelrecht brüchig, genau wie mein Vater. Der prahlerische Jean-Paul Belmondo, als den ich ihn gekannt hatte, mit seinem stets offenen Hemd und dem charmanten Blick, war einem ausgemergelten Mann gewichen, den der Alkohol sichtlich gezeichnet hatte. Sein Haar und sein Lächeln waren verschwunden: Tatsächlich hatte er nur noch zwei Zähne im Mund, und die waren beide schlecht.

Auf der Stelle war der Zorn erloschen, den ich gegen ihn im Herzen getragen hatte. Ich wollte mich nur noch um ihn kümmern. Als ich am Abend im Zug zurück nach Hause fuhr, in meine Zweihundert-Quadratmeter-Villa mit Park, versuchte ich, meine jahrelange Dummheit beiseitezuschieben: Ich konnte mir nicht verzeihen, dass ich meinen Vater aus meinem Leben ausgeschlossen hatte, daher konzentrierte ich mich ganz auf das, was ich jetzt für ihn tun konnte.

Erstens: Ich hatte ihn zum Großvater gemacht. Und ich würde ihm die Freude machen, Großvater sein zu dürfen. Ich sehnte mich danach, ihn Aurora vorzustellen und den beiden beim Spielen zuzusehen. Wenn mein Vater eine Gabe hatte, dann war es seine Wirkung auf Kinder: Er verzauberte sie förmlich. Ich war überzeugt, dass Auri ihn lieben würde.

Zweitens: Ich würde ihm ein neues Gebiss bezahlen. Am Tag darauf vereinbarte ich einen Termin mit meinem Zahnarzt. Als er mich anrief und mir sagte, er sei so glücklich, endlich wieder in ein Kotelett beißen zu können, war dies eine der größten Freuden meines Lebens. Ich konnte die Vergangenheit nicht ändern, aber ich konnte für ihn etwas Gutes, Richtiges tun.

Während ich die Beziehung zu meinem Vater wiederherstellte, sah ich natürlich auch Clelia häufig. Nach den ersten Behandlungen kam sie nicht mehr nach Inverigo. Eros war nicht gerade scharf darauf, Zeit mit ihr zu verbringen: Er war misstrauisch und zog es vor, sie auf Distanz zu halten. Ich dagegen war total hingerissen von ihrem Wissen, das mich immer mehr verblüffte. Ich hielt sie für eine weise Frau, die mir helfen konnte, damit es mir besser ging. Schließlich hatte sie ja genau das schon getan: Sie hatte mich dazu gebracht, mit dem Rauchen aufzuhören und meinen Vater zu kontaktieren. Außerdem hatte sie Franchino geholfen und Eros ermöglicht, an jenem Konzertabend zu singen! Vielleicht wollte er gerade deshalb von ihr nicht mehr angefasst werden. Je weniger er sie zu sehen bekäme, desto besser, meinte er.

Ich hatte noch nie eine Therapie gemacht, nicht mal eine einzige Sitzung. Ich war mit dem Vokabular, den Techniken und Methoden der Psychologie nicht vertraut. Mit einem Menschen zu sprechen, der mich tief im Innersten zu verstehen schien, der mich besser kannte als ich mich selbst, der bereit war, mir zu helfen und ungelöste Probleme ans Licht zu bringen, kam mir an sich schon wie ein Wunder vor. Außerdem stellte sich während der Behandlungen immer wieder dieses Gefühl totalen Wohlbefindens ein, das ich schon beim ersten Mal gespürt hatte.

Und so fing ich an, immer wieder mit ihr zu telefonieren. Anfangs nur, um Termine zu vereinbaren. Doch bald überschritten die Telefonate die Grenzen eines normalen Therapeutengesprächs. Wir telefonierten bis zu sechsmal pro Tag. Manchmal rief ich an, dann wieder sie. Ich berichtete ihr einfach alles: jeden kleinen Fortschritt, jeden Hauch eines Zweifels, jede Unsicherheit, jedes schlechte Gefühl. Und davon hatte ich nicht zu knapp, obwohl ich ja ein scheinbar vollkommenes Leben führte.

Flecken auf einem wunderschönen Kleid

Orientierungslos trieb ich auf dem Meer des Lebens, ohne Kompass, ohne Koordinaten, ohne zu wissen, wo ich eigentlich war.

Es fiel mir schwer, mir einzugestehen, wie verloren ich mich fühlte. Schließlich führte ich nach Ansicht aller Beobachter ein märchenhaftes Leben. Aber Märchen enden immer mit dem berühmten Satz: »Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.« Niemand weiß, was das genau bedeutet. Deshalb haben wir entschieden zu hohe Erwartungen. Und die meinen stiegen in schwindelnde Höhen, zumal nach den unglaublichen Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren gemacht hatte.